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Kapitel 1




Was soll man machen, wenn man weiß, dass alle gegen einen sind ? Man verschließt sich, verlässt die Realität und lebt in einer anderen Welt, zu der man nur selbst Zuritt hat. Man kommt sich verloren vor in der großen Menschenmenge. Das ist der Grund, warum man sich zu Hause einschließt und sich keinen Schritt vor die Tür mehr traut. man verliert den Anschluss an das Leben und vegetiert nur so vor sich hin. Man vertraut keiner Menschenseele, fühlt sich im Stich gelassen und einsam.
Oft werde ich gefragt wie ich mich fühle.
Nun, ich denke, das trifft es auf den Punkt.


Ich heiße Dena und bin 17 Jahre alt. Ich lebe zusammen mit meinen Eltern in einem kleinen Dorf, welches von einem Wald begrenzt ist. Geschwister habe ich keine, dafür aber eine Katze namens Filou. Sie ist pechschwarz und passt dadurch sehr gut zu mir Das Schwarze wird meist gemieden. Vielleicht ist das mit einer der Gründe, warum ich mich so sehr von anderen unterscheide.
Man sagt Schwarz sei keine Farbe, aber ich denke dem ist nicht so. Immerhin ist Schwarz genauso oft in unserem Leben vertreten wie jede andere Farbe, wenn nicht sogar noch häufiger. Es ist die einzige Farbe, die ich im Moment ertragen kann. Mein Zimmer ist komplett schwarz, und wenn sich doch einmal ein anderer Farbton in mein Zimmer verirrt, dann ist das höchstens ein dunkles grau oder ein sehr dunkles blau. Das ist dann aber so dunkel, dass es schon wieder fast schwarz ist.
Sieht man in meinen Kleiderschrank, so kommt man wohl ins Staunen. Dunkel über dunkel. Kein einziger bunter Farbklecks ist zu erkennen, sehr zum Leidwesen meiner Mutter.
Einzig und allein meine Zimmerwand ist weiß, denn meine Eltern erlauben mir nicht sie zu streichen.
Man könnte meinen mein Leben sei ein einziger Schwarz-Weiß-Film.
Ich kann diese hellen Farben wie Gelb und Orange nicht ausstehen. Das sind fröhliche Farben, gemacht für ein glückliches Leben. Doch meines ist alles andere als glücklich. Diese Farben verfolgen mich in meinen Träumen. In meinen Alpträumen, um genau zu sein.
Durch sie wurde meine Leben zu dem, was es jetzt ist.

Mit einem leisen Gähnen schlage ich mein Buch zu. Was auch immer Hardin wieder angestellt hat muss bis morgen warten. Mit müden Augen suche ich mein Zimmer nach meinem Handy ab. Ich sollte mir langsam wirklich mal eine Uhr an die Wand hängen. Als ich es nicht entdecke, lasse ich mich schwerfällig auf das Fußende meines großen Bettes fallen. Das schwache Licht, welches das Zimmer erleuchtet, mich aber gleichzeitig auch so einschläfert, kommt von der Lichterkette, die an der Wand am Kopfende meines Bettes befestigt ist. Die Kette bildet einen perfekten Rahmen um meine Fotowand. Eine Fotowand, die ich schon längst hätte entfernen sollen, rufe ich mir in Erinnerung. Mit halb geschlossenen Augen betrachte ich die Bilder. Natürlich sind es alles nur schwarz-weiß Drucke und ich finde, das verleiht den Fotos auch einen gewissen eleganten Touch.
Ich bin kein Mensch, der es liebt fotografiert zu werden. Lieber stehe ich selbst hinter der Kamera und drücke auf den Auslöser.
e hat mich schon immer interessiert - und vor allem fasziniert. Die Fähigkeit Momente, Augenblicke auf einem Bild festzuhalten, damit die Erinnerung an sie für immer bleibt. Ich habe es immer als einen positiven Aspekt angesehen Erinnerungen auf diese Weise zu schaffen. Doch mittlerweile ist mir klar geworden, dass sich hinter Fotos auch sehr schlechte Erinnerungen verbergen können. Momente, die man am Liebsten aus seinem Gedächtnis streichen, sie für immer vergessen möchte. Doch so ein kleines Blatt Papier kann einem diesen Plan zunichte machen.
Die Fotos an meiner Wand sind das perfekte Beispiel dafür.

Vergessen, ich möchte sie einfach nur vergessen. Diese Momente voller Glück und Zufriedenheit. Mit Personen, die ich mehr liebte als mich selbst. Bilder mit einem lachendem Mädchen mit einer Unmenge an Luftballons in der Hand. Einem Mädchen in einem hübsch geblümten Sommerkleid und einer viel zu großen Sonnenbrille auf der Nase. Einem Mädchen, das durch die Kamera hindurch in mich hineinzuschauen scheint. Einem Mädchen, welches mir so unglaublich ähnlich sieht.
Daneben Bilder von einem Mädchen mit Sommersprossen rund um die Nase. Auf einem anderen Foto trägt sie einen Strohhut auf dem Kopf und eine Zeitschrift in der Hand. Lächelnd sah sie in die Kamera. Auf dem Bild daneben stehe ich mit ihr zusammen vor einer Mauer. Es war einer der seltenen Moment gewesen, in dem ich mich fotografieren lassen habe. Arm in Arm strahlten wir beide dem Fotografen entgegen, der genau in dem Augenblick abgedrückt hatte, als eine Frau vorbei ging. Sie hatte eine schwarze Handtasche über der Schulter hängen, auf der ein silbernes Unendlichkeitszeichen gestickt war. Dieses Zeichen, welches die Kids von heutzutage immer und überall hin kritzeln.
Wir hielten es für keinen Zufall, dass das Zeichen mit auf das Foto gerutscht ist. Für uns war es das Zeichen dafür, dass unsere Freundschaft für immer halten würde. Heute, knapp zwei Jahre später, ist sie nicht mehr meine beste Freundin, meine zweite Hälfte, sondern meine schlimmste Feindin. Sie setzt alles daran mir das Leben zur Hölle zu machen. Und, bei Gott, sie ist erfolgreich.

Ich schloss meine Augen. Diese Bilder an der Wand sind die reinste Folter. Das mein Leben einmal so sorglos und glücklich war, kann ich mir jetzt gar nicht mehr vorstellen. Mein heutiges falsches, deprimierendes und einsames Leben scheint meinem alten höhnisch hinterher zu lachen, als wäre es ein schlechter Witz. Wäre es nicht mein eigens Leben, ich würde denken es wären zwei unterschiedliche von zwei völlig unterschiedlichen Personen.
Die Eine immer fröhlich, freundlich, nett. Jeder mag sie, möchte zu ihrem Freundeskreis dazugehören. Sie braucht sich nie anzustrengen; alles, was sie sich vornimmt, gelingt ihr auf Anhieb. Sie ist immer unter Menschen, da sie dieses Zusammengehörigkeitsgefühl so liebt. Und generell möchte sie jeder um sich haben, sodass sie gar nicht die Chance bekommt alleine zu sein.
Die Andere dagegen nur noch ein Schatten ihrer selbst. Immer traurig, deprimiert, müde. Müde vom Leben. Müde es Tag für Tag auf's Neue zu versuchen, doch ihr Leben wird sich nicht mehr ändern. Es gibt niemanden, den sie hat. Alle gehen ihr aus dem Weg, ja, weichen ihr regelrecht aus und meiden ihren Blick, wenn sie in der Nähe ist. Niemand möchte mit ihr etwas zu tun haben, obwohl sie noch nicht einmal genau wissen, was mit diesem Mädchen passiert ist. Klar, Gerüchte verbreiten sich schnell, und mittlerweile kennt sie jeder, jedoch kennt niemand die Wahrheit. Die ganze Wahrheit.
Niemand weiß wie sehr ich leide. Niemanden kümmert es wie es mir geht oder macht sich Sorgen um mich. Dabei hätte ich so gerne jemanden, dem ich meinen Schmerz, meine Sorgen anvertrauen könnte.
Ich habe Angst.
Nicht vor einer Person, einem Tier oder sonst was.
Ich habe einfach nur Angst.
Angst vor dem Leben.
Angst, nicht das zu schaffen, was ich mir vornehme. Am liebsten würde ich mich in meinem Zimmer einschließen, unter die Decke kriechen und nie wieder aus dem Bett steigen und mich der Realität stellen. Dem Leben, welchem ich so gerne entfliehen möchte.
Was würde ich dafür geben einfach in eines meiner Bücher abzutauchen. Hinein in die Geschichte zu gelangen, aber nicht wieder hinaus! In den Büchern gibt es meist ein Happy End, oder zumindest findet der Protagonist für jedes Problem eine Lösung, egal wie groß oder klein dieses sein mag.
"Dass uns eine Sache fehlt, sollte uns nicht davon abhalten, alles andere zu genießen." Jane Austen hatte für viele Situationen im Leben den richtigen Spruch parat.
Aber was ist, wenn diese eine Sache der Lebenswille ist ? Die Freude am Leben ? Dann gibt es nichts, was man noch genießen kann. Jedenfalls nicht jetzt, nicht hier. Nicht in diesem Moment.
Wie groß die Unterschiede der Personen oder wie schwer das Leben dieser auch gewesen sein mag, Jane hatte in ihren Büchern immer einen Ausweg gefunden.
Elizabeth hatte ihren Mr. Darcy, Emma ihren Mr. Knightley. Aber wo ist mein Mr. Darcy ? Warum habe ich nicht das Glück jemanden zu haben, der um mich kämpft ? Mich aufbaut, an mir Kritik übt und mich aber auch gleichzeitig auf den richtigen Weg führt. Hat nicht jeder so eine Person in seinem Leben verdient ? Braucht nicht sogar jeder solch eine Person ? Nicht etwa um seine Probleme zu lösen, sondern vielmehr um mit sich selbst im Reinen zu sein. Sich sicher sein zu können, dass man nicht alleine ist. Jeder braucht diese Sicherheit im Leben, diese wichtige Konstante. Doch offenbar ist sie nicht jedem vergönnt.

Als ich das nächste Mal meine Augen aufschlage, strahlt die Sonne bereits in mein Zimmer. Ich muss wohl während meiner Grübeleien eingeschlafen sein. Müde drehe ich mich auf die Seite. Ich möchte nicht aufstehen, einfach liegen bleiben, für immer.
Alleine sein.
Doch daraus wird nichts werden. Denn wenn ich jetzt nicht aufstehe, wird meine Mom in mein Zimmer kommen, um nachzuschauen, ob ich schon wach bin. Ich hasse es, wenn jemand mein Zimmer betritt. Ich könnte jedes Mal ausflippen, wenn man auch nur einen Blick hinein wirft. Das ist schon immer so gewesen. Al sich noch klein war, habe ich immer angefangen wie eine Verrückte zu schreien, wenn meine Mom zu mir kam. Ich habe es nie gemocht, wenn jemand meine Sachen anfasst. Ich mag es auch jetzt noch nicht. Das war auch einer der Gründe, warum ich nie wirklich mit anderen Kindern gespielt hatte. Ich weiß noch, dass meine Mom die Sorge gehabt hatte, dass ich dadurch den Anschluss verpassen würde. Keine Freunde habe und generell nirgendwo dazugehören würde. Dass ich mich zu sehr abschotte. Denn auch mit der Zeit blieb mein Verhalten unverändert. Meine Mom hatte mich zu sämtlichen Psychologen geschleppt, in der Hoffnung sie könnten mich in Ordnung bringen. An mir musste irgendetwas nicht stimmen. Es musste einen Grund für meine Eigenart geben. Meine Mom hatte es wahnsinnig gemacht, dass ich so anders war, mich nicht so verhielt wie sie es wollte und wie es sich für ein Kind nun mal gehörte. Sie hatte immer eine perfekte kleine Familie gewollt, die zu diesem perfekten kleinen Häuschen, dem dahinterliegendem perfekten Garten und der, natürlich, perfekten Nachbarschaft passte. Doch dieses vermeintlich arrogante, hochnäsige, selbstsüchtige und eingebildete Mädchen, welches sich nur mit ausgesuchten Personen unterhielt und umgab, gehörte absolut nicht in ihr Bild einer perfekten Familie.
Es war immer schwierig gewesen es meiner Mom recht zu machen, und das ist es immer noch.
Ich hatte es versucht. Ich hatte mir Freunde gesucht, viele. Ich bin eine Zeit lang mit jedem gut klar gekommen, egal ob es "ausgesuchte" Personen waren oder nicht. Doch das hatte sich wieder geändert. Ich verstehe mich nun mal nicht mit jedem, zur Zeit sogar mit gar keinem.

Inzwischen bin ich aufgestanden und schaue aus meinem Fenster.
Ich bin niemand, der es lange mit ein und denselben Personen aushält, zumindest bin ich es jetzt nicht mehr. Es ist nicht so, dass ich nicht unter Menschen sein kann. Es ist eher so, dass ich, egal bei welchen Personen ich bin, nicht dazu gehöre. Ich bin bei ihnen, aber in gewisser Weise auch nicht. Genau so, wie bei dem Vogelschwarm, der gerade über das Dach des Hauses fliegt.
Alle Vögel aufgereiht, in perfekter Formation. Alle fliegen sie an einen besseren Ort, zusammen. Und doch gibt es immer einen, der das Schlusslicht bildet. Einen, der den anderen nur nachfliegt, um die Richtung zu behalten. Einen Nachzügler. Einen, der mit den anderen, und doch alleine ist. Auch ein Mitläufer, wenn man es so sehen will. Er versucht dabei zu bleiben. Versucht auf sich aufmerksam zu machen. Versucht wenigstens ein winziges Mitglied der großen Gemeinschaft zu sein.
Auch ich wäre gern ein Mitglied. Auch ich hätte gerne wahre Freunde. Aber ich kann mich nicht dazu überwinden mich jemandem zu öffnen. Ich würde so gern, doch och kann es nicht. Es ist wie eine Blockade in meinem Kopf.


Als ich gerade einen Fuß in die Schule setze, klingelt es zur ersten Stunde. Ich komme also schon wieder zu spät. Auf dem Weg zu meinem Spind begegnet mit keine einzige Person. Alles ist mucksmäuschenstill. Einzig und allein das Quietschen meiner Schuhe ist zu hören. Als ich endlich an meinem Spind ankomme, bin ich schon wieder in Gedanken versunken. Mit einem lauten Ächzen und einem harten Schlag dagegen lässt sich dieser dann auch öffnen. Ich schnappe mir mein Englisch- und Mathebuch, einen Block und mein Federmäppchen. Als ich gerade die Spindtür schließen möchte, fängt urplötzlich das Flurlicht an zu flackern. Erst denke ich, dass ich mir das nur eingebildet habe. Aber dann passiert es noch einmal. Es ist schon ein wenig gruselig in einem menschenleeren Gang mit flackerndem Licht zu stehen. Doch was soll mir schon passieren, denke ich, schlage den Spind mit einem kräftigen Stoß gegen die Spindtür zu und stoße im nächsten Moment einen spitzen Schrei aus. Ich hatte nicht bemerkt wie jemand die Schule betreten hatte, geschweige denn durch den Flur gelaufen war und sich neben mich gestellt hatte! Das kann alles nur Einbildung sein. So tief war ich nun auch nicht in meine Gedanken versunken gewesen. Ich strecke meine Hand aus und stupse mit dem Zeigefinger gegen die Schulter des Typen, der vor mir steht. Erstaunt reiße ich meine Augen auf als mein Finger auf etwas Festes trifft. Mit großen Augen sehe ich ihn an, und versinke regelrecht in diesen blauen Augen.
"Hi, ich bin Sam. Ich weiß nicht, ob du mich kennst. Ich bin eine Klasse über die..?"
Mir ist klar, dass er auf eine Antwort wartet. Jedenfalls deutet sein fragender Blick darauf hin. Und was mache ich ? Ich starre ihn mit aufgerissenen Augen an und bringe keinen Ton heraus. Und als wäre das noch nicht genug wird mir selben Moment bewusst, dass ich meinen Finger immer noch in seine Schulter bohre. Er folgt meinem Blick auf seine Schulter und grinst mich dann frech an. Schnell ziehe ich meine Hand zurück und versuche mich darauf zu konzentrieren, was er mich gefragt hatte.
"Ich..ja! Also, du..Sam..ja, ich weiß.",
bringe ich schließlich stotternd heraus. Er grinst mich nur an, ignoriert die Tatsache, dass ich mich benehme wie ein Kind, das seinem Staridol gegenüber steht, und drückt mir etwas hartes und spitzes in die Hand.
"Du hast bei deinem Sprint über den Parkplatz deinen Schlüssel verloren. Ich dachte den möchtest du vielleicht wiederhaben."
"Ähm..danke."
Nachdenklich schaue ich auf meinen Schlüssel. Ich bin mir sicher er war ganz unten in meiner Tasche gewesen.
"Ich denke du solltest langsam mal in den Unterricht, meinst du nicht ?"
"Was ? Oh..ja!"
Mit den Gedanken immer noch bei meinem Schlüssel ging ich an Sam vorbei und in Richtung meines Klassenzimmers. Gerade als ich an die Tür klopfen möchte, wird diese mit Schwung geöffnet. Und mit gegenüber steht Caila.

Mit ausdruckslosem Blick sieht sie mich an. Ich bin nicht besonders groß, aber ich habe das Gefühl unter ihrem Blick Zentimeter um Zentimeter zu schrumpfen. Noch vor ein paar Wochen hatte sie mich immer mit vor Wut verzerrtem Gesicht angesehen, mich bei jeder sich bietenden Gelegenheit lächerlich gemacht, mir jeden Schultag zur Hölle gemacht. Jeden Tag hatte ich Angst davor gehabt ihren vor Wut funkelnden Augen zu begegnen, doch jetzt würde ich diesen Zorn liebend gerne wieder in ihren Augen sehen. Das Ausdruckslose in ihrem Blick ist viel unheimlicher, dazu diese vollkommene Ruhe, die von ihr ausstrahlt. Jedes Mal, wenn sie so vor mir steht, spannt sich mein ganzer Körper an und wartet nur auf den nächsten Schlag. Doch der ist bis jetzt immer ausgeblieben. 
Ich sehe sie an. Sie, die einmal meine beste Freundin gewesen war. Die immer zu mir gestanden hatte, mir vertraut hatte, egal was war. Doch dieses Vertrauen habe ich verspielt.
"Die Damen..?"
Ein Blick an Caila vorbei und ich sehe einen Kurs, inklusive Lehrer, der uns anstarrt. Ich quetsche mich an ihr vorbei, darauf bedacht sie nicht zu berühren, und husche an meinen Platz ganz hinten im Raum. Caila dagegen tritt auf den Gang und schließt die Tür mit einem leisen Klicken hinter sich. 
"Miss Kuss, schön, dass sie uns mit Ihrer Anwesenheit beehren!", dröhnt es auch sogleich vom Lehrertisch. 
"Was war denn diesmal ? Bus verpasst ? Verschlafen ? Unterwegs verlaufen ?"
Ich werfe Herrn Mied einen vernichtenden Blick zu, murmle eine Entschuldigung von wegen verschlafen und lasse mich tief in meinen Stuhl sinken. Ja, das Schuljahr hat vor zwei Monaten angefangen und ja, ich hatte es bis jetzt auch geschafft in jeder einzelnen Mathestunde zu spät zu kommen aber deswegen musste er ich nicht so der Klasse vorführen! Aus jeder Ecke ist Getuschel zu hören, wobei manche sich weniger Mühe geben leise zu sprechen als andere. Noch schlechter gelaunt als ich sowieso schon war, ziehe ich meinen Block unter meinem Buch vor und fange an darauf herumzukritzeln. 
"Okay, Leute. Ich habe hier ein paar Aufgaben für euch, die ihr bitte in Partnerarbeit löst. Ich muss jetzt zum Rektor zu einer Besprechung. Wenn ich wieder da bin, habt ihr die Aufgaben gelöst!"
Bei dem Wort 'Partnerarbeit' hatte ich meinen Kopf mit so einem heftigen Ruck gehoben, dass es in meinem Nacken knackte. Ich hass Partnerarbeit. Nicht umsonst hatte ich mich dieses Schuljahr allein an einen Tisch gesetzt, naja unter anderem deswegen.
"Tyson, gehen Sie bitte zu Dena, ja ?"
Na großartig! Natürlich musste mir der Unbeliebteste des Kurses zugeteilt werden! So langsam bekomme ich das Gefühl, dass selbst Herr Mied mich nicht ausstehen kann. 
"Ähm..kannst du vielleicht deine Tasche..?"
Mit genervtem Blick schaue ich langsam zu ihm auf. Tyson gehört zu der Sorte Junge, die einen Kopf über alle anderen ragt. Mit seinen matschbraunen Augen und den kurzen dunklen Haaren sah er aus wie so ziemlich jeder hier. Kein Wiedererkennungsmerkmal ist an ihm. Würde man ihm einmal auf der Straße begegnen, man würde ihn nicht im Gedächtnis behalten, sofern man ihn denn überhaupt erstmal wahrnehmen würde. Betont langsam nehme ich meine Tasche von meinem Nachbarsitz, nur um sie gleich darauf auf den Tisch abzusetzen. 
"Ähm..wie möchtest du denn die Aufgaben machen, wenn du gar keinen Platz zum Schreiben hast ?"
"Wer sagt denn, dass ich sie machen möchte ?", kontere ich leise, so leise, dass er es mit Sicherheit nicht einmal gehört hat. Ich rücke mit meinem Stuhl bis zum Tischende, um möglichst viel Raum zwischen mich und Tyson zu bringen, der gerade dabei ist sich umständlich hinzusetzen. Als er sich umdreht, um den Stuhl zurück zu ziehen, fegt er mit seiner Tasche, die er locker geschulter hatte, den Nachbartisch leer. Natürlich wird er auch gleich von den anderen wüst beschimpft und als Trottel abgestempelt. Um die anderen wieder zu beruhigen, bückt er sich, um die Sachen wieder aufzuheben. Dabei fällt jedoch der gesamte Inhalt seines Rucksacks auf den Boden, da er, wie immer eigentlich, vergessen hatte ihn zu schließen. Leise fluchend stopft er alles wieder zurück und pflanzt sich schließlich auf den Platz neben mich. Wie kann man nur so tollpatschig sein ? Er sieht zwar auf den ersten Blick eher wie jeder andere durchschnittliche Typ aus, aber das liegt vermutlich auch mit an seiner Kleiderwahl. Jeden Tag trägt er ausgebeuelte Jeans mit genauso weiten Pullis drüber. Aber da ich mit ihm auch im selben Sportkurs bin, weiß ich, dass er nicht gerade zu den Untrainierten hier gehört. Leicht schüttel ich meinen Kopf. Warum sitze ich hier und denke über Tysons Körper nach ? Bin ich jetzt schon so weit gesunken ?
"Fass mich nicht an!", zische ich Tyson mit zusammengebissenen Zähnen an. Er hat es mittlerweile geschafft seine Sachen auf den Tisch zu legen, ohne irgendein Chaos zu verursachen, und war gerade dabei gewesen seine Hand nach mir auszustrecken. Mit einem leicht entsetztem Blick sieht er mich an, zieht dann aber seine Hand zurück. Verlegen streicht er sich durch die Haare und fummelt an seinem Block herum. 
"Ent..entschuldigung!", bringt er schließlich stotternd hervor, wobei er mir einen schnellen Seitenblick zuwirft. 
"Also..wollen wir dann anfangen ?"
Als das Stundenklingeln mich endlich erlöst, packe ich meine Sachen zusammen und renne förmlich aus dem Zimmer. Luft, ich brauche dringend frische Luft. Ich laufe in Richtung Parkplatz und lass mich, dort angekommen, auf der kleinen Mauer nieder, die an den Sportplatz grenzt. Mit geschlossenen Augen mache ich ein paar tiefe Atemzüge und spüre wie ich langsam wieder ruhiger werde. Doch gleich darauf springt mein Puls auch schon wieder in die Höhe. Ich öffne meine Augen und das Gefühl beobachtet zu werden, wurde bestätigt. Wenige Schritte von mir entfernt steht Tyson und sieht mich besorgt an.
"Ist alles in Ordnung ? Du bist so aus dem Zimmer gestürmt, dass ich dachte, dir wä.."
"Alles bestens, danke! Und tschüss!"
Warum lange mit Freundlichkeit um sich werfen, wenn es sowieso nichts bringt. Mit der Zeit hatte ich gelernt, je freundlicher man war, umso mehr Fragen musste man beantworten. Wenn ich allerdings gleich klar machte, dass ich keinen Bock auf die Leute habe, dann ziehen sie meist schnell wieder ab. Ganz so als hätte ich eine todbringende ansteckbare Krankheit, und die Frage nach dem Befinden läge nur der guten Erziehung zu Grunde. In Erwartung er würde sich verziehen, schließe ich wieder meine Augen und konzentriere mich auf meine Atmung. Ruckartig reiße ich sie jedoch wieder auf, als sich jemand neben mich setzt. 
"Kannst du mich nicht einfach mal in Ruhe lassen!", platzt es aus mir heraus, ohne dass ich ihm auch nur einen Blick zuwerfe. Doch das hätte ich lieber mal getan, denn neben mir hatte sich nicht Tyson gesetzt, sondern Sam.
"Oh..enschuldige. Ich dachte.."
"Ich wäre jemand anders ? Ja, den Eindruck hatte ich auch.", meint er lächelnd. Hat schon imer diese Grübchen gehabt ? Mir jedenfalls fallen sie jetzt erst auf. Wie hypnotisiert starre ich ihn an. Warum gibt er sich überhaupt mit mir ab ? Und warum rede ich üerhaupt mit ihm ? Ich weiß doch genau, dass er, sobald er wieder bei seiner Clique ist, sich über mich lustig macht, mich vor allen als dämlich darstellt. 
"Alles klar ?"
"Ja, klar." Langsam rutsche ich von der Mauer bis ich stehe. Sam sieht mich fragend an und setzt an etwas zusagen, wird jedoch von seinen Freunden mit einem Schlag auf den Rücken gestoppt. 
"Ey, was machst du denn hier mit der Verrückten ? Bist du lebensmüde ?", kommt auch sogleich der alltägliche Spruch. So sehr diese Sprüche auch schmerzen, jeden Tag das selbe zu hören wird auf dauer dann auch langweilig. So langsam könnten sie sich auch mal was Neues ausdenken. Jeder an dieser Schule urteilt über mich. Jeder gibt seine Meinung zu irgendwas, obwohl er noch nicht einmal weiß, zu was genau. Ohne Sam nochmal anzuschauen, gehe ich über den Parkplatz und zurück in die Schule. 
Er ruft mich nicht zurück, bittet mich nicht zu bleiben. Also hatte ich mit meiner Vermutung, dass er sich nur über mich lustig machen will, wohl gar nicht so falsch gelegen. 

Kapitel 2




Nach der Schule bin ich direkt nach Hause gegangen. 
Nachdem ich auf dem Parkplatz regelrecht vor Sam geflüchtet war, habe ich möglichst versucht ihm aus dem Weg zu gehen. Zweimal war er mir noch über den Weg gelaufen und hatte versucht mit mir zu reden, zweimal konnte ich mich irgendwie aus der Situation retten. Oder besser gesagt, ich wurde aus der Situation gerettet.


Das erste Mal hatte auf einmal Mr Mied neben uns gestanden und um ein Gespräch unter vier Augen mit mir gebeten. Daraufhin war Sam gegangen, was ich auch nur zu gern sah, jedoch hatte mich das nicht um das Gespräch mit Mied gebracht.
Heute morgen hatte er wohl unter anderem mit dem Rektor auch über meine Verspätungen gesprochen. Um größeren Bestrafungen aus dem Weg zu gehen, hatte er mich nun vor die Wahl gestellt. Entweder ich hielt zwei Vorträge, zum einen über Extremwertaufgaben und zum anderen über den Gauß-Algorithmus. Oder ich löse innerhalb einer Woche zwei dicht bedruckte Aufgabenblätter über diese Themen. Extremwertaufgaben und der Gauß-Algorithmus waren in den letzten beiden Monaten durch genommen worden und da ich nun mal immer zu spät gekommen war, und mich abgehetzt nicht wirklich auf den Unterricht konzentrieren konnte, hänge ich nun ziemlich hinterher. Ich hatte mich letztendlich für die Vorträge entschieden, auch wenn ich keine Ahnung habe, wie ich das ordentlich präsentieren soll, wenn ich noch nicht einmal verstehe, über was ich überhaupt rede. Zumindest würde es keine größere Bestrafung geben.
Als ich mich dann umgedreht hatte, um möglichst schnell von Mied wegzukommen, hatte ich bemerkt, dass Tyson an seinem Spind uns gegenüber gestanden und zugehört hatte. Als Sam dann auch noch um die Ecke gebogen kam, und gesehen hatte, dass ich nicht mehr mit Mied beschäftigt war, hatte ich mich schnell aus dem Staub gemacht. Doch nach der vierten Stunde hatte er dann auf einmal wieder vor mir gestanden und mir den Weg versperrt. Mit verschränkten Armen hatte er mich mit wütendem Blick angefunkelt und eine Erklärung für mein fluchtartiges Verschwinden verlangt. Doch ich hatte keinen Ton herausgebracht. Seine Augen hatten meine Aufmerksamkeit vollkommen in Besitz genommen. Diese strahlenden blauen, funkelnden Augen, in denen man regelrecht versinken konnte.
"Dena, hey. Ich hab vorhin gehört wie du mit Mied geredet hast. Ich kann die gerne bei deinen Vorträgen helfen."
Es hatte eine kleine Weile gedauert bis ich realisiert hatte, dass das nicht von Sam, sondern von Tyson gekommen war, der urplötzlich auch neben mir gestanden hatte. Doch in diesem Moment war ich dankbar für seine Anwesenheit gewesen. Ich hatte mich reichlich unwohl gefühlt, so eingesperrt zwischen den beiden, und das war meine Chance gewesen zu verschwinden.
"Klar, gerne. Danke!", hatte ich deshalb nur erwidert, mich bei Tyson, meinen Widerwillen überwindend, eingehakt und mit ihm davongestapft. Seitdem war er mir heute nicht mehr von der Seite gewichen. Und wenn nicht sowieso schon alle über mich reden würden, dann wäre es spätestens ab heute so gekommen. Mit dem streberhaftesten aller Streber durch die Schulflure zu streifen, macht einen nicht gerade zu einer Beliebtheit. Auch wenn ich zwischen uns einen Abstand gehalten hatte, in den eine Herde Elefanten Platz gehabt hätte, hatte er sich nicht davon abbringen lassen, ununterbrochen auf mich einzureden. Ich hatte mich sogar leise auf die Toilette geschlichen, ein paar Minuten gewartet und war dann erst wieder nach draußen gegangen. Nur um festzustellen, dass Tyson vor der Tür auf mich gewartet hatte. Dieser Typ wollte einfach nicht verstehen, dass ich in Ruhe gelassen werden wollte. Dass ich keine Gesellschaft haben wollte, ob es sich um ihn oder sonst wen handelte, war dabei vollkommen egal.
Nach der Schule war er mir durch die Flure gefolgt wie ein verlorenes Hündchen. Um ihn endlich loszuwerden, hatte ich mich schließlich dazu breitschlagen lassen mich mit ihm heute Nachmittag zu treffen, um mit der Ausarbeitung der Vorträge anzufangen. Hätte ich das nicht getan, er wäre mir sicherlich bis nach Hause gefolgt.

Jetzt sitze ich an meinem Tisch, den Schlüssel links von mir, mein Buch rechts. Ganz ehrlich, ich habe genauso wenig Lust darauf mich jetzt mit Mathe zu beschäftigen als mich mit Tyson zu treffen. Deshalb schnappe ich mir mein Buch, lege mich auf mein Bett und fange an zu lesen. Vielleicht würde Tyson jetzt endlich kapieren, dass ich nichts mit ihm zu tun haben möchte.
Ein Klopfen an meiner Tür reißt mich aus meinen Gedanken. Ein Blick auf die Uhr zeigt, dass ich mittlerweile schon seit drei Stunde lese. Wie schnell die Zeit vergehen kann, wenn man ein gutes Buch in der Hand hat. Erneut klopft es und ich schlage ergeben mein Buch zu.
"Was ?", blaffe ich als ich aus der Tür trete und sie hinter mir gleich wieder schließe. Meine Mom verzieht nur kurz das Gesicht, äußert sich aber nicht weiter, sondern reicht mir das Telefon.
"Für dich!", ist alles was sie noch sagt, dann macht sie auf dem Absatz kehrt und verschwindet im Wohnzimmer. Ich sehe hinunter auf das Telefon in meiner Hand. Hätte sie mir nicht wenigstens sagen können wer dran ist ? Langsam, schon fast in Zeitlupe, hebe ich das Telefon an meine Ohr, doch es ist nichts zu hören. Nur ein leises Rauschen.
"Hallo ?"
"Hallo ? Dena, bist du das ?"
Oh Gott, Tyson. Warum ruft der denn jetzt an ? Ja, warum wohl. Weil du ihn versetzt hast, du dumme Gans, rufe ich mir in Erinnerung. Aber woher hat er meine Nummer ? Ist jetzt auch völlig egal, ich verspüre jedenfalls nicht das Verlangen danach mit ihm zu reden.
"Sorry, falsch verbunden!", murmle ich in den Hörer und lege auf. Ich weiß, dass das nicht besonders nett ist aber was soll's. Ich gehe zurück in mein Zimmer und schlage mein Buch wieder auf. Nach ein paar Minuten bin ich schon wieder in meiner Fantasie versunken. Umso heftiger schrecke ich auf als das Telefon neben mir wieder anfängt zu klingeln. Ohne nachzusehen wer es ist und ohne ran zu gehen, drücke ich den Anruf weg. Sicher ist sicher. Mittlerweile habe ich keine Lust mehr zu lesen. Ich stehe also auf, lege mein Buch auf den Nachttisch neben meinem Bett, und gehe in die Küche, um mir etwas zu essen zu machen.

Als ich am nächsten Morgen aufwache, fühle ich mich schlecht. Nicht körperlich, ich habe eher ein schlechtes Gewissen. Es war gestern nicht richtig gewesen Tyson so abzuservieren. Während ich mich für die Schule fertig mache, fasse ich den Entschluss mich bei ihm zu entschuldigen. Aber mehr auch nicht. Wahllos ziehen ich mir eine Jeans und einen Pullover aus meinem Schrank und ziehe sie mir ohne zu schauen, welche Teile es sind über. Unten in der Küche wartet schon das Frühstück auf mich, was mit meine Mom gemacht hat. Schnell schlinge ich die Pancakes runter und spüle noch mit etwas O-Saft nach, dann muss ich auch schon los.
Ich schaffe es heute ausnahmsweise mal pünktlich in die Schule. Bei mir müsste man eher das im Klassenbuch vermerken als mein Zuspätkommen. Das würde viel mehr Sinn ergeben und die Lehrer hätten auf jeden Fall weniger zu schreiben.
Als ich die Sporthalle betrete, fällt mein Blick gleich auf Tyson. Gut, er ist auch schwer zu übersehen mit seiner Größe. Ich möchte gerade zu ihm rüber gehen, da pfeift Miss Tink, die Sportlehrerin, in ihre Trillerpfeife, und das auch noch direkt neben mir.
"Okay Leute, Volleyball, los geht's! Sucht euch einen Partner und spielt euch ein!"
Na super, sonst noch was ? Als hätte ich nicht schon genug Probleme, durfte ich mich jetzt wohl auch noch mit der Wand einspielen. Rasch finden sich alle Paare zusammen, bis am Ende nur noch Sam, Caila, Tyson und ich übrig waren. Ein Blick zu Tyson sagt mir, dass ich besser nicht in seine Nähe gehen sollte. Aber das brauchte ich auch nicht, denn aus den Augenwinkeln nehme ich eine Bewegung war. Und als ich mich umdrehe steht Sam auch schon vor mir.
"Wir beide ?", fragt er lächelnd und ich nicke nur stumm. Alles und jeder ist besser bevor ich mich am Ende noch mit Caila zusammentun muss. Wie spielen uns ein bis Miss Tink wieder einen schrillen Pfiff von sich gibt. Und wieder genau neben mir! Ich glaube die ganze Schule hat was gegen mich.
"Okay, dann wollen wir mal schauen, ob wir ein ordentliches Spiel zustande bekommen. Caila, Sam, Mannschaften wählen!"
"Dena!"
Ich kann nicht anders als Sam anzustarren. Hinter mir geht auch sogleich das Getuschel los und es werden ungläubige Blicke getauscht.
"Na los, komm schon!", ruft Sam mir entgegen und ich setze mich langsam in Bewegung. Nur am Rande bekomme ich mit wie die Caila und Sam die Mannschaften aufstellen. Tyson landet mit bei mir.
"Tyson, ich wollte mich noch für gestern entschuldigen. Ich wollte nicht.."
"Spar es dir!"
Verblüfft sehe ich ihn an. So schroff hatte ich ihn noch nie erlebt. Und ich kenne ihn jetzt schon ziemlich lange. Seit der fünften Klasse, um genau zu sein.
"Ich wollte doch nur.."
"Ich sagte lass gut sein!"
"Dena, komm schon, du hast Angabe!"
Das kann ja nur schief gehen. Ich liebe Sport, wirklich. Nur nicht gerade den Sport, der irgendwas mit Bällen zu tun hat. Sobald welche in meiner Nähe sind, sollte man schleunigst das Weite suchen.
"Wenn's geht heute noch!", ruft Miss Tink quer durch die Halle. Also gut, dann mal los. Ich hole einmal tief Luft, schnappe mir einen der Bälle, die in der hinteren Halle verstreut auf dem Boden liegen und gehe in Position. Der Pfiff ertönt und ich schlage den Ball in Richtung gegnerisches Feld. Oder zumindest hatte ich das vor. Denn tatsächlich prallt der Ball so ungünstig an meinem Arm ab, dass er scharf nach links fliegt. Direkt auf Tyson zu, der nach vorn auf das Netz schaut und den Ball somit nicht sieht. Der Ball prallt zum Glück an der Schulter ab und nicht am Kopf, wie ich erst befürchtet hatte. Das hindert Tyson allerdings nicht daran mir einen finsteren Blick zu zuwerfen. Alle anderen haben inzwischen auch schon angefangen über mich zu lachen aber das ist ja nun nichts Neues. Nach einem neuerlichen Pfiff geht das Spiel weiter und ich versuche möglichst nicht nochmal in die Nähe des Balles zu kommen. Da ich aber natürlich gezwungen bin die Angaben zu machen, wenn ich an der Reihe bin, bleibt mir nichts anderes übrig als mich völlig verkrampft meinem Schicksal zu ergeben. Fein säuberlich gehen alle meine Schläge ins Netz. Was schon mal ein Fortschritt ist, denn immerhin treffe ich jetzt niemanden mehr unbeabsichtigt.
Kurz vor Stundenschluss war Caila an der Reihe mit der Angabe. Ich weiß nicht warum aber auf einmal beschleicht mich ein mulmiges Gefühl. Als der Pfiff ertönt sehe ich noch wie der Ball auf mich zugerast kommt. Dann fühle ich nur noch den Schmerz in und an meinem Kopf. Alles was ich höre ist lautes Gelächter rings um mich herum, dann heben mich zwei starke Arme hoch und tragen mich durch die Halle. Ich möchte mich wehren, der Person sagen, dass sie mich auf der Stelle runter lassen soll, aber ich bekomme kein Wort heraus. Noch bevor wir aus der Sporthalle sind, wird auch schon alles schwarz um mich herum.

Als ich wieder zu mir komme, spüre ich harten Untergrund unter meinem Rücken und etwas kühles auf meiner Stirn. Ich öffne meine Augen, und im nächsten Moment bekomme ich Angst. Was ist mit meinen Augen ? Warum sehe ich nichts ? Erst nachdem ein paar Sekunden verstrichen waren, wird mir klar, dass mit meinen Augen alles in Ordnung ist. Irgendjemand hatte nur den Raum verdunkelt, was natürlich zur Folge hatte, dass ich nichts sehe. Ich warte noch einen Augenblick bis ich mich an die Dunkelheit gewöhnt habe, dann versuche ich mich aufzusetzen. Doch gerade als ich mich auf meine Arme stützen wollte, bemerke ich einen Schatten an der gegenüberliegenden Wand. Er ist noch dunkler als der Rest des Raumes, und er bewegt sich. Als der Schatten sich erhebt und langsam auf mich zukommt, erkenne ich die Konturen eines Jungen, eines großen Jungen. In der festen Annahme, dass es Sam war, der mich aus der Halle getragen hatte, murmle ich einen leisen Dank. Doch ich schaffe es nicht ihn komplett auszusprechen. Bilder blitzen vor meinem inneren Auge auf. Bilder aus jener Nacht.
Eine schemenhafte Gestalt, die sich langsam auf mich zubewegt. Schritt für Schritt kommt sie näher und beugt sich zu mir herunter, sieht aber an mir vorbei auf eine andere Person, die sich hinter mir befindet. Ich versuche meinen Kopf in die Richtung zu drehen aber ein brennender Schmerz in meinem Nacken und Kopf hält mich davon ab. Alles, was ich sehe, ist das schadenfrohe schiefe Grinsen und die vor Freude funkelnden Augen dieser Person vor mir.
Mit einem Schrei komme ich wieder zu mir, als ich eine Hand auf meiner Schulter spüre. Ich schreie wie am Spieß, versuche die Hand abzuschütteln. Trete, schlage, kratze um mich, doch man lässt mich einfach nicht los. Die Tür zum Krankenzimmer wurde aufgerissen und wenige Sekunde später ist das Zimmer hell erleuchtet. Jetzt erkenne ich auch, dass es Tyson ist, der mich festhält und mit irritiertem Blick mustert. Hastig rutsche ich auf dem steinharten Bett so weit wie nur möglich von ihm weg und erleichtert stelle ich fest, dass er mich loslässt. Zusammengekauert sitze ich in der hintersten Ecke des Zimmers und schaue mich panisch um. Tyson, die Krankenschwester Missy und Miss Tink sehen mich an als hätte ich nicht mehr alle beisammen, wobei bei Tyson zusätzlich noch ein Funken Besorgnis im Blick liegt. Missy ist die Erste, die sich aus ihrer Erstarrung löst und kommt langsam auf mich zu. Leise und beruhigend auf mich einredend, als wäre ich ein verschrecktes Tier, kommt sie mit ausgestreckter Hand auf mich zu. Ich presse mich gegen die Wand, kneife die Augen fest zusammen, umschlinge mit meinen Armen meine Beine und schluchze leise vor mich hin.
"Liebes, was ist denn los mit dir ?"
Missy ist gut zwei Meter vor mir stehen geblieben. Offenbar traut sie sich nicht näher an mich heran.
"Ich möchte nach Hause. Kann ich gehen ?", presse ich mit zusammengebissenen Zähnen hervor. Schlimm genug, dass ich vor Missy und der Tink anfange zu weinen, aber musste ausgerechnet auch noch Tyson dabei sein ? Mir ist das so peinlich, ich möchte einfach nur von hier verschwinden.
"Liebes, du hast dir ziemlich den Kopf gestoßen. Ich halte es für keine gute Idee dich jetzt gehen zu lassen."
"Ich kann sie bringen. Ich bin mit dem Auto da.", bietet Tyson auch gleich an.
"Nein! Mir geht es gut. Das bisschen Kopfschmerzen werd' ich schon verkraften. Kümmer dich um deinen eigenen Kram!", blaffe ich ihn an und wische mir wütend über das tränenverschmierte Gesicht. Das hat mir gerade noch gefehlt. Kann man mich nicht einfach mal in Ruhe lassen!
"Gut!"
Ein Blick in seine Gesicht zeigt, dass sich sein anfangs besorgter Gesichtsausdruck in eine reservierte Miene verzogen hat. Der Blick, der mich trifft ist kalt und ohne jegliches Gefühl. Na klasse, toll gemacht Dena. Du schaffst es wirklich dir jeden auf dieser Schule zum Feind zu machen.
"Oh Tyson, das wäre wirklich sehr nett von dir! Vielen Dank!"
Ohne auf meine Einwände zu achten, unterhalten sich die drei als wäre ich nicht zufällig eine der hier Anwesenden. Für die drei ist es anscheinend schon beschlossene Sache, dass Tyson mich nach Hause fährt, denn Missy und Miss Tink verlassen nach ein paar Minuten den Raum. Ich bringe es nicht über mich Tyson anzusehen. Wut und Scham zugleich machen sich in mir breit. Ich versuche dagegen anzukämpfen aber das miese Gefühl bleibt.
"Möchtest du dich noch umziehen oder willst du so gehen ?", wendet er sich schließlich an mich. Ich blicke ihn an, einen gehässigen Spruch schon auf der Zunge. Mein Gesichtsausdruck muss das wohl angedeutet haben, denn mit einem:"Also..so!", geht er zur Tür und hält sie mir auf.

Ich hatte mich schließlich dazu überwunden mich von ihm bringen zu lassen. Aber auch nur, weil ich absolut keine Lust habe durch den Regen zu stapfen, der vor knapp einer Stunde eingesetzt hatte.
In seinem Auto riecht es nicht wie in jedem anderen nach diesen Duftbäumen oder nach kaltem Rauch. Seines riecht nach alten Büchern.
Ich sehe zu ihm rüber und musste unwillkürlich lächeln. Er sitzt mit leicht zusammengekniffenen Augen neben mir, den Blick konzentriert auf die Straße vor uns gerichtet. Ich weiß nicht warum, aber das Bild eines lesenden Tyson passt einfach nicht zu ihm. Klar, er ist der Streber und benimmt sich mit Sicherheit auch wie einer, aber dennoch kann ich ihn mir nicht so vorstellen.
"Wo wohnst du eigentlich ?", fragt er auf einmal als wir schon mitten in der Stadt rumkurven. Ich nenne ihm widerstrebend meine Adresse und lasse mich in den Sitz sinken. Bis jetzt hat niemand gewusst wo ich wohne. Nach dem Unfall vor knapp drei Jahren, durch den sich mein Leben in die reinste Hölle verwandelt hatte, sind meine Eltern und ich in einen kleinen Vorort gezogen, weil wir in der Stadt einfach keine Ruhe mehr gehabt hatten.
"Hey..ähm..es wäre echt nett, wenn du niemandem sagst, wo ich wohne."
"Warum sollte ich es denn jemandem sagen ?"
"Na, weil.. Ich weiß nicht."
Unsicher sehe ich ihn an. Konnte ich ihm in der Hinsicht vertrauen ? Aber was bleibt mir auch anderes übrig. Andererseits scheint er mir auch nicht gerade der Typ dafür zu seine einfach irgendwas auszuplaudern. Egal wie sauer er auf betreffende Person ist..
Als er sich mir auf einmal zuwendet, sieht er mich fragend an.
"W..was ?"
"Wir sind da.", ist alles, was er sagt. Verblüfft schaue ich aus dem Fenster, die Zeit war wie im Flug vergangen. Ein paar Minuten herrscht Schweigen zwischen uns. Doch es ist kein angenehmes, sondern eher ein schwerwiegendes, drückendes Schweigen. Verzweifelt überlege ich, was ich sagen könnte, aber mein Kopf ist leer. Und schmerzt immer noch ziemlich stark.
"Hast du..möchtest du vielleicht noch mit rein kommen ?", frage ich schließlich leise. Da von ihm keine Reaktion kommt, nehme ich an, dass er nicht möchte. Ehrlich gesagt habe ich auch nichts anderes erwartet. Die letzten Tage war ich immerhin nicht besonders nett zu ihm gewesen. Ich greife nach dem Türgriff, doch kurz davor bleibt meine Hand wie erstarrt stehen. Tyson hatte meine andere Hand in die seine genommen und streicht gedankenverloren über meinen Handrücken. Mit einem Lächeln, was allerdings nicht seine Augen erreicht, sieht er mich schließlich an.
"Klar, gerne."

Kapitel 3




 
"Ähm..möchtest du was trinken ?"
Verlegen stehen wir in der kleinen Küche und wissen nicht, was wir sagen oder machen sollen. Es sind zwar erst drei Monate seit dem Unfall vergangen, aber dennoch genug Zeit, dass ich einfach keine Gesellschaft mehr gewohnt bin. Warum habe ich ihn auch dazu eingeladen zu bleiben ? Was weiß ich denn schon über ihn ? Nichts. Genau, gar nichts. Er könnte hier jetzt sonst was anstellen und ich könnte nichts dagegen unternehmen. 
"Klar."
"Was ?", blinzle ich ihn verwirrt an. Ich sollte mir angewöhnen nicht mehr so viel vor mich hin zu grübeln. Vor allem, wenn ich nicht alleine bin. 
"Was zu trinken.. Wäre nett..?"
"Oh..ja, klar. Wasser ? Cola ? Einen Tee ?"
"Wasser.?"
Irgendwie schafft er es eine festgelegte Entscheidung als Frage rüber zu bringen. Ich drehe mich schnell um, damit er mein Lächeln nicht sieht, und reiche ihm dann ein Glas. Dabei achte ich penibel darauf ihn nicht zu berühren. Das entgeht ihm natürlich nicht und er sieht mich wieder so komisch an. Gerade als er dazu ansetzen wollte etwas zu sagen, klingelt das Telefon, und rettet mich so vor den ,mit Sicherheit, nicht sehr freundlichen Worten, die Tyson mir an den Kopf geworfen hätte. 
Es ist meine Tante Charlotte. Ich konnte mich noch nicht einmal melden, da fängt sie schon an zu erzählen. Von ihrer Arbeit, der anstehenden Hochzeit ihrer Freundin, dem geplanten Umzug. Minute um Minute verstreicht, ohne dass ich zu Wort komme. Ich räuspere mich, doch es kommt keine Reaktion von ihr, sie redet einfach weiter ohne mich zu beachten. Ich öffne meinen Mund, um sie darauf aufmerksam zu machen, dass ICH am Telefon bin und nicht meine Mom, da schreckt mich das Geräusch von zerspringendem Glas auf. Panisch versuche ich meine Tante loszuwerden. Ich wusste es! Er ist genauso wie die Anderen. 
"Charlotte! Ich kann.."
"Dena ?! DENA ?!!"
"Ja, ich..."
Weiter komme ich nicht, denn ohne ein Wort des Abschieds hat sie aufgelegt und alles, was ich noch höre, ist das dröhnende Tuten an meinem Ohr.

Tyson! Wie eine Irre haste ich aus dem Flur zurück in die Küche. Ich bin mir nicht sicher, was ich erwartet habe. Vielleicht einen Außer-sich-vor-Wut-Tyson, der vor Zorn die gante Kücheneinrichtung auseinander nimmt. Oder einen Zurückgewiesen-wordenen-Tyson, der es kaum erwarten kann es mir heimzuzahlen, indem er die Wohnung Stück für Stück zerstört. In meinem Kopf spielen sich gerade die unterschiedlichsten Szenarien ab, aber keine davon trifft auch nur annähernd auf das zu, was in der Küche vor sich geht. Als ich hinein gestürmt komme, sehe ich erst einmal gar nichts. Ein paar Schritte um den großen Küchentisch und es zeigt sich auch warum. Tyson hockt mit einem Handbesen auf dem Boden und versucht die Überreste des Glases, welches ich im gegeben hatte, zusammenzufegen. 
"Was..?"
"Es..es tut mir leid, wirklich! Ich habe kurz nicht aufgepasst, und schon lag es unten. Ich..ich wollte das nicht!", stottert er herum, als er bemerkt hat, dass ich vor ihm stehe und ihn anstarre. Klar, man nennt in nicht umsonst den tollpatschigen Tyson. Wie hatte ich nur denken können, dass er mir Böses will! Mit schlechtem Gewissen so über ihn gedacht zu haben, helfe ich ihm die Scherben aufzusammeln. Ich sollte mich glücklich schätzen, dass überhaupt jemand was mit mir zu tun haben wollte. Auch wenn es ein Streber ist. Dabei sieht Tyson überhaupt nicht aus wie ein typischer Streber. Er ist sportlich, trägt relativ gute Kleidung, auch wenn die ihm nicht gerade schmeichelt, und ist auch nicht so besserwisserisch drauf wie die meisten. Außerdem ist er auch nicht so auf die Schule fixiert, wie es ja normalerweise der Fall ist.
"Ähm..soll ich dir jetzt eigentlich noch bei den Vorträgen helfen ?", kommt auch prompt die Frage, die meine Überlegungen deutlich ins Schwanken bringt. Wir sind gerade erst aus der Schule gekommen und er denkt schon daran Schulaufgaben zu erledigen ? Was ist das denn für einer!
"Klaaaar...warum nicht.", versuche ich möglichst motiviert zu antworten, was wohl mehr schlecht als recht funktioniert. Mit schiefem Grinsen sieht Tyson mich schüchtern an.
"Muss ja nicht jetzt sein. Ich wollte nur mal fragen, ob ich dir helfen kann..", sagt er leise und schaut mir dabei in die Augen. Ich versuche mich an einem Lächeln, aber ich bin mir sicher, dass es mehr als gekünstelt aussieht. 
"Kann ich mal auf die Toilette ?"
"Klar. Die erste Tür, wenn du die Treppe hoch kommst."


Es kommt mir vor wie eine halbe Ewigkeit, dass er hoch gegangen ist. Aber tatsächlich sind nur fünf Minuten vergangen. Langsam schlendere ich auf die Treppe zu und schleppe mich hinauf. Nur, um dann wie angewurzelt stehen zu bleiben.
Ich bin mir absolut sicher, dass ich meine Tür heute morgen zu gemacht hatte. Jetzt steht sie einen Spalt weit offen und die am Himmel stehende Sonne wirft einen Schatten auf den Boden. Den Schatten einer großen Person. Mit Schwung stoße ich die Tür auf, und treffe zum zweiten Mal an diesem Tag Tysons Schulter.
Ich weiß nicht, was ich zuerst machen soll. Ihn anschreien, weil er unerlaubt in mein Zimmer gegangen ist, oder mich entschuldigen, weil ich ihn schon wieder, unbeabsichtigt, getroffen hatte. Mir wird jedoch die Entscheidung abgenommen.
"Tut mir leid. Ich bin in's falsche Zimmer und dann.."
"Es sollte dir auch leid tun! Wenn du schon siehst, dass es das falsche Zimmer ist, dann kannst du auch wieder raus gehen. Keiner hat dir erlaubt hier rein zu gehen, geschweige denn hier drin zu bleiben. Niemand darf in mein Zimmer. Niemand!"
Das Letzte schreie ich ihm schon fast entgegen. Er sieht mich so erschrocken, schockiert und gleichzeitig zerknirscht an, dass ich nicht anders kann,als mit meiner Schimpftirade aufzuhören. 
"Und es tut mir leid.", füge ich noch leise hinzu. Er wirft mir einen kurzen Blick zu, in dem ich die Unsicherheit in seinen Augen deutlich sehen konnte. In gewisser Weise sind wir uns ziemlich ähnlich. Keiner möchte etwas mit uns zu tun haben. Wir haben beide keine Freunde, zumindest nehme ich das an. Ich habe ihn jedenfalls noch nie mit irgendjemandem in der Schule zusammenhocken sehen. Wir sind also beide nicht wirklich gut dran, und doch bringe ich es fertig hier vor ihm zu stehen und ihn anzuschreien.
Auffordernd deute ich mit dem Kopf auf die Tür. Ähnlichkeiten hin oder her, das ist kein Grund ungefragt in Zimmer zu gehen, die einen nicht zu interessieren haben. Wie ein kleines Kind, welches bei einer Dummheit erwischt worden ist, flitzt er aus der Tür und verschwindet im Badezimmer. Dieser Junge hat etwas Merkwürdiges an sich. Und damit meine ich nicht, dass er in jedem Schulfach der Beste ist. Nein, ich meine etwas ganz anderes. Jede Person hat doch zwei Seiten an sich, von denen er jedoch nur eine der Welt zur Schau stellt. Tyson hat, da bin ich mir sicher, drei Seiten. Die Streberseite: der Lehrerliebling, der Außenseiter, der einsam vor sich hin Vegetierende, der Schüchterne und Unsichere. Auf der anderen Seite der Starke, der sich nichts gefallen lässt. Vor allem nicht von einem 18-jährigen depressiven Mädchen, welches seine Laune an ihm auslässt. Und dann ist da noch der Sensible, der Mitfühlende. Der, der einfach nur versuchen möchte zu helfen, jedoch nie die Chance dazu bekommt, da er immer abgewiesen wird.
"Alles okay ?"
Vor Schreck stoße ich einen kleinen spitzen Schrei aus, als Tysons Hand sich auf meine Schulter legt. Schnell zieht er sie wieder zurück und wirft mir einen nicht zu deutenden Blick zu. Ich möchte mich gerade abwenden und zur Tür gehen, als mir auffällt wo ich stehe. Tyson hatte sich meine Fotowand angesehen. Das glückliche Leben eines Mädchens, welches es so nicht mehr gibt. Tyson stellt sich hinter mich und folgt meinem Blick auf die Wand.
"Du und Caila, hm ?"
Seine Stimme klingt nicht wie sonst. Sie hat einen Unterton, den ich nicht wirklich einordnen kann.
"Ja, Caila und ich. Aber das ist Vergangenheit."
Selbst ich höre wie traurig meine Stimme klingt. Ich blicke zu Tyson und merke, dass er mich nachdenklich mustert. Er steht so nah hinter mir, dass es schon wieder unangenehm ist. Ich ertrage keine körperliche Nähe mehr. Nicht seit diesen grauenvollen zwei Monaten, die auf alle Fälle die schlimmsten zwei Monate meines Lebens gewesen sind. Er steht so nah, dass ich erkennen kann, dass seine Augen nicht nur braun sind, so wie ich es immer angenommen hatte. Klar, sie sind braun, aber den äußeren Rand bildet ein blassgrüner Ring. Warum mir das jetzt auffällt, weiß ich nicht. Auch Tyson schien für einen kurzen Moment in seinen Gedanken versunken gewesen zu sein. Denn er schüttelt leicht den Kopf, wie um sich von ihnen zu befreien, und tritt ein paar Schritte zurück. Dabei stößt er an mein Bücherregal. Durch den Stoß kommt ein Buch, welches ganz oben auf dem Regal steht, ins Schwanken und fällt schließlich um. Runter vom Regal, denn es hatte genau an der Kante gestanden. Es prallt an dem Kopf meiner Stehlampe ab und fällt zu Boden. Die Lampe allerdings kippt, durch den Aufprall des Buches, mit Schwung zur Seite und trifft auf das Fensterbrett. Die halb volle Wasserflasche, die auf meinem Fensterbrett steht, kommt daraufhin ins Wanken und kracht schließlich gegen den Blumentopf, der neben der Flasche steht und außerdem auch die einzige Blume in meinem Zimmer beinhaltet. Naja, Blume kann man das auch nicht gerade nennen. Es ist eine Efeupflanze. Der Topf rutscht wie nicht anders zu erwarten, an die Fensterbrettkante und fällt Richtung Boden. Die Ranken der Pflanze hatten sich allerdings während ihres Wachstums in meiner Lichterkette verheddert, und während der Topf nun auf den Boden fällt, wird die Kette von der Wand mit nach unten gerissen. Da ich alle meine Bilder mit Klebeband an der Wand befestigt hatte, und nicht alle direkt auf der Wand, sondern auch auf der Kette geklebt hatten, reißen mit einem lauten Ratschen schließlich auch meine ganzen Fotos, eins nach dem anderen, von der Wand und fallen zu Boden. Das alles geschieht wie in Zeitlupe und als mir schließlich bewusst wird, was da gerade passiert ist, höre ich auch schon Tysons panische Stimme hinter mir.
"Dena, wirklich, oh Gott, das tut mir leid! Ich weiß nicht..Gott! Dena, ich wollte nicht.. Scheiße!.."
Ich gehe zu dem Blumentopf, stelle ihn auf das Fensterbrett zurück und versuche den größten Teil der Erde wieder in den Topf zu schaufeln. Hinter mir höre ich ein leises Rascheln, beachte es aber nicht weiter.
"Ist schon gut, wirklich. Irgendwann hätte ich sowieso..", der Rest des Satzes bleibt unausgesprochen. Denn ich hatte mich umgedreht, um ihn anzusehen..doch da ist keiner mehr. Vor dem Haus wird eine Autotür zugeschlagen und ein Motor gestartet. Mit schnellen Schritten bin ich an meinem Fenster und sehe gerade noch Tysons Auto die Straße runter fahren.
Ich hätte nicht so abweisend zu ihm sein sollen, ihn nicht anschreien sollen, generell einfach ein wenig freundlicher zu ihm sein sollen. Doch dafür ist es jetzt zu spät. Ich habe es mal wieder versaut. Ich zwinge mich die aufkommenden Tränen hinunter zu schlucken und mache mich daran die Unordnung zu beseitigen.
Als ich endlich damit fertig bin, dröhnt mein Kopf wie verrückt und ich muss mich an meiner Tür abstützen um nicht zu fallen. Cailas Ball hatte mich wohl doch härter getroffen als ich angenommen hatte. Die Welt fängt an sich zu drehen und ich kann alles nur noch verschwommen sehen. So langsam kriecht die Panik in mir hoch. Vor meinen Augen blitzen bunte Punkte auf, die immer dunkler werden. Sie sammeln sich am Rand meines Blickfeldes und werden immer dichter. Wie eine Invasion wird die schwarze Wand immer dicker und dichter, bis schließlich nur noch ein kleines Loch übrig ist, aus dem ich etwas aus meiner Umgebung erkennen kann. Mir ist so schwindelig und übel, dass ich befürchte mich auf den Teppich zu übergeben. Ich beuge mich ein Stück nach vorn, um dem etwas vorzubeugen, da bleiben meine Augen an einem schwarzen Schatten auf der Treppe hängen. Die große schemenhafte Gestalt kommt immer näher bis sie vor mir steht. Ich versuche aufzuschauen, um zu sehen wer es ist, doch mir fehlt die Kraft dazu. Mit einem Stöhnen krache ich auf den Boden, als mich schließlich die letzte Kraft in meinen Armen verlässt. Ich nehme noch wahr wie ich hochgehoben werde und auf einmal habe ich ein Bild vor Augen. Nicht in meinen Gedanken oder in meiner Einbildung. Es sticht klar heraus auf der hellen Haut des Armes unter meinem Kopf, allerdings kann ich nicht genau erkennen um was es sich bei dem Bild handelt. Es ist irgendein Zeichen, so viel ist sicher. Und das ist auch das Letzte, was ich sehe, dann wird es schwarz.


Als ich wieder zu mir komme, ist mein Zimmer kaum mehr wieder zu erkennen. Ich hatte eine Weile gebraucht um die von Tyson verursachte Unordnung zu beseitigen, aber diese Unordnung war nichts im Gegensatz zu dem, wie mein Zimmer jetzt aussieht. Es herrscht pures Chaos. Meine Bücher stehen nicht mehr ordentlich aufgereiht in meinem Regal, sondern sind in meinem ganzen Zimmer auf dem Boden verstreut. Die Fotos, die ich fein säuberlich auf meinen Schreibtisch gelegt hatte, klebten jetzt an meiner Zimmertür. Doch irgendetwas ist anders an ihnen. Ich möchte aufstehen, um nachzusehen, was mit den Fotos ist, als mein Blick an etwas hängen bleibt. Meine Efeupflanze, die ich wieder etwas zurecht gemacht hatte, liegt nun in Einzelteile zerfetzt auf meiner Bettdecke, und somit auch über mir, da ich unter der Decke liege. Mein Bett ist in dunkles grün getaucht, 'als wäre die Erde über mir zugewachsen' schießt es mir durch den Kopf. Nein, diese Gedanken müssen aufhören. Sie quälen mich schon seit Wochen. Ich steige aus dem Bett und gehe hinüber an die Tür. Mein Blick wandert über die Fotos, bis es mir wie Schuppen von den Augen fällt. Natürlich ist an diesen Fotos etwas anders. Ich starre auf die Bilder und kann es einfach nichts fassen. Wer auch immer in meinem Haus gewesen, mich ins Bett getragen und mein Zimmer verwüstet hatte, hatte mich auf den wenigen Fotos, auf denen ich zu sehen bin, mit schwarzem Stift durchgestrichen. Doch nicht einfach ein bloße Linie, nein. Es ist immer ein Kreuz, wie es in der Kirche oder auf Gräbern zu finden ist. Das ist jedoch noch nicht das Schlimmste. Über die Bilder steht mit großen Buchstaben 'MÖRDERIN' auf meine Tür geschrieben. Erschrocken weiche ich ein paar Schritte zurück und wende mich von der Tür ab. Das ist zu viel, einfach viel zu viel! Doch dadurch, dass ich mich abewende, erkenne ich nur das viel größere Übel in meinem Zimmer. An der Wand über meinem Bett steht genauso schwarz und fettgedruckt wie auf meiner Tür: 'DU BIST DIE NÄCHSTE!!'

Impressum

Texte: Alle Rechte liegen bei mir
Bildmaterialien: Google
Tag der Veröffentlichung: 28.12.2012

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