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»Fliegen«


-Die Flügel ausbreiten und gehn-




Der Ausblick vom Hochhaus wäre einfach fantastisch gewesen, wären da nicht diese staubigen Abgase in der Luft. Die langsam aufkommende Nachtkälte, die bei der Dämmerung einsetzte, kroch der angehenden Frau unter die Haut. Fröstelnd zog sie die dünne halbzerrissene Strickjacke fester zu. Es war eines der dünnen Kleidungsstücke die ihr, neben dem zerrissenen Rock, noch geblieben waren. Die leeren blauen Augen mit der verwischten Schminke hatte, ließ sie ziellos über den Horizont gleiten. Das blonde Haar hing glanzlos und schlaff ihren Schultern hinunter, genauso schlaff baumelten ihre Beine über dem unendlich tiefen Hausabgrund. Erinnerungen überrollten sie ohne, dass sie groß etwas dagegen unternehmen konnte.

»Ruhig, mein Engel.« Er strich sanft mit seiner großen Hand über ihre Wange. Diese sanfte Geste passte nicht zu ihm.. nicht nach all dem, was er ihr schon angetan hatte. »Gleich tut es nicht mehr weh. Papa wird ganz sanft zu dir sein.« Seine andere Hand glitt an ihrem Oberschenkel entlang, während er seine Lippen grob gegen ihre presste.



Fest drückte sie ihre Handflächen gegen die Schläfen. Sie wollte nicht wieder daran denken. Sie wollte vergessen. Ihren Vater, ihre Vergangenheit, einfach alles.
Er hatte sie beschmutzt und verkauft, wenn sie nicht wollte, holte er sich es mit Gewalt. Nach den ersten zehn Malen hatte sie sich nicht mehr gewehrt und nur still vor sich hingestarrt. Nein, ihr Stiefvater war niemals ein zarter Mann gewesen. Seine groben Hände hatten sich tagtäglich schraubstockartig um ihre Arme geschlungen; noch jetzt trug sie die Male von ihm. Die tausenden Tränen hatte er ignoriert und einfach weiter gemacht.
Der Lebenssinn hatte sie von Tag zu Tag verlassen. Sie musste immer mit der Angst leben, dass er es wieder tat, sie wieder zwang. Ihre Mutter, die sah weg. Auch ihre Lehrer bemerkten, dass sie depressiv war, doch taten nichts weil sie dachten, dass es nicht ihr Gebiet ist.

Über Jahre hinweg änderte sich nie was, weder an ihren Gefühlen, noch an ihrem trostlosen Leben.
Schlafen war seit Langem schon ein Fremdwort für sie, wenn sie wirklich mal schlief, dann träumte sie vom fliegen. Alles was sie wollte ihre Flügel spreizen, frei sein und gehen. Über die Wolken wollte sie gleiten und die Freiheit spüren.
Immer hatte sie durchgehalten und ihre Tränen im Geheimen fließen lassen, doch nun war Schluss für sie. Sie hatte den Schlussstrich gezogen. Nachdem der letzte ihrer ‘Kunden‘ gegangen war, hatte sie sich aufgemacht. Hastig hatte sie sich ihre Kleidung übergestreift und war geflohen. Alles was sie hinterlassen hatte war ein Brief für ihre Mutter.



Liebe Mama,
wenn du das ließt, dann bin ich nicht verblieben.
Du sollst wissen, dass ich dich liebe, doch ich träumte vom fliegen.
Mach dir keine Angst, ich flieg nur soweit weg, dass ich dich noch sehen kann.
Ich hab es nicht mehr ausgehalten, doch jetzt bin ich glücklich in meiner neuen Welt.
Eine Welt ohne jede Gewalt, wie hier,
ohne Hass und ohne Wut und ohne jedes »Zieh dich aus und sei still.«
Eine Welt in der jedes kleine Mädchen fliegen kann, wenn´s will.
Lebe wohl Mama, dein kleines Mädchen wird auf dich warten.



Unterschrieben war das Ganze mit ihrem sterblichen Namen. Ob ihre Mutter wohl weinen würde, beim Anblick dieser Zeilen? Oder würde ihr Stiefvater es vorher finden und vernichten?
Sie hoffte eher auf ersteres, doch beeinflussen konnte sie es nicht. „Lebe wohl.“, flüstert sie in den Sonnenuntergang hinein, danach schließt sie die Augen, breitet die Arme aus und lässt sich über den Rand fallen. Alles wird leicht um sie herum; sie hebt ab. Sie breitet ihre Flügel aus und fliegt fort von hier.
Über die Wolken hinweg in ihre eigene Welt. Eine Welt in der sie hofft endlich Frieden zu finden. Ein einziges Mal in ihrem Leben war sie zufrieden, denn nun endlich da konnte sie es; fliegen.

Zwanzig Stockwerke später schlägt ihr toter Köper lächelnd auf dem Asphalt auf. Es ist still, keine Schreie oder Sirenen.
Am nächsten Morgen liest man von einem Mädchen in der Zeitung.
Von einem Mädchen, das aufgeben musste.
Eines Mädchens, das aus all der Gewalt und Angst keinen Ausweg mehr wusste.
Eines Mädchens, das niemals die Chance gehabt hatte zu lächeln oder zu leben.
Eines Mädchens, das niemals Liebe erfahren durfte.
Eines Mädchens, das als letzten Ausweg nur den Tod gesehen und gewählt hatte.


Drum lasst euch sagen, lernt euren Kindern das Lieben

,
denn sonst haben eure Kinder auch irgendwann mal die Träume vom fliegen

.
Davon frei zu sein

, hinweg zu kommen über das Lächeln, das matte,
so wie dieses Mädchen, das leider keine Chance

mehr hatte.

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Tag der Veröffentlichung: 08.05.2010

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