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Menschen verändern sich. Jeden Tag. Manche Veränderungen sind offensichtlich, zum Beispiel, wenn man sein Äußeres total auf den Kopf stellt. Dann fällt jedem diese Wandlung auf, sofort, auf den ersten Blick. Man wird sogar darauf angesprochen. Andere Veränderungen können zwar für einen selbst von großer Bedeutung sein, aber für andere unsichtbar bleiben. Vorurteile bilden sich, und dass, obwohl man sich verändert hat. Ich habe mich verändert und ich bin nicht stolz auf meine Taten. Aber obwohl ich es ganz offensichtlich bereue, scheint meine Veränderung für andere unsichtbar zu sein.

Ich bin Schülerin. Seit einem Jahr gehe ich wieder hier auf diese Schule. Seit einem Jahr ist mein Leben wieder normal, jedenfalls ansatzweise. Ich besuche eine öffentliche Schule und wohne bei meinen Eltern. Alles andere ähnelt mehr einem Albtraum, aus dem ich endlich erwachen möchte. Ich möchte dem ein Ende setzen, aber niemand scheint mich wirklich zu beachten. Jeder lebt sein Leben weiter, und jeder zerstört mein eigenes Leben jeden Tag aufs Neue ein bisschen mehr. Ich bin es leid, mich rechtzufertigen, deswegen habe ich es auch aufgegeben. Ich ertrage ihre Bemerkungen jeden Tag aufs Neue und tue so, als würden mich ihre Worte nicht verletzen, als wäre es mir egal, was alle von mir denken. Aber es ist mir nicht egal. Ich sehne mich nach Anerkennung, ich sehne mich nach jemandem, der mich versteht, der nickt und der mir zuhört. Jemand, der mich aufmuntert und mit dem ich auch einmal lachen kann. Ich weiß gar nicht mehr, wann ich das letzte Mal gelacht habe. Es kommt mir vor, als wäre es Ewigkeiten her.
Heute blicke ich auf meine Vergangenheit zurück und bereue es. Ich bereue jede einzelne Sekunde, die ich mit meinen ehemaligen Freunden verbracht habe. Ich bereue es, diese Diebstähle gemacht zu haben und ich bereue es, gedacht zu haben, mit Gewalt alles lösen zu können. Heute weiß ich, dass ich mit Gewalt nicht alle Probleme einfach so aus der Welt schaffen kann. Meistens genügt es, sich einfach hinzusetzen und sich mit dem Problem zu beschäftigen, die Gründe zu erörtern und darüber zu reden. Aber niemand gibt mir die Chance, darüber zu reden. Wahrscheinlich denken sowieso alle, ich hätte keine Probleme. Weil ich immer diejenige gewesen war, die Probleme mit Brutalität aus meinem Leben geschafft hatte. Aber ich habe mich wirklich verändert, warum will das niemand akzeptieren?

„Na, Natsch-Matsch? Wie geht’s unserem Ex-Knacki heute?“
Ich ignoriere Bemerkungen jeglicher Art. Manchmal stelle ich mir eine Welt vor, in der man mich akzeptiert, so wie ich bin. Mit allem drum und dran, dazu zählt auch meine Vergangenheit. Aber jedes Mal bringt mich so eine Aussage wieder auf den Boden der Tatsachen. Ich habe das Gefühl, diese Welt ist nur geschaffen worden, um es mir möglichst schwer zu machen. Als hätte ich es nicht schon schwer genug.
„Oho, seht mal! Sie heult! Bist wohl doch nicht so stark, was? Wartet, stopp, nicht, dass sie uns noch angreift wie so ein wildgewordenes Tier!“
In mir sammelt sich jede Menge Wut, aber ich habe gelernt, damit umzugehen. Ich schlucke es runter, wortlos. Ich wehre mich nicht, denn das ist zwecklos. Sie würden trotzdem weitermachen. Aber ich weiß auch, dass ich nicht ewig die ganze Wut in mir sammeln kann. Irgendwann wird dieses Fass überlaufen, irgendwann werde ich wieder wie früher. Aber ich kämpfe dagegen an, ich will es nicht. Man lernt aus seinen eigenen Fehlern, und genau das habe ich getan. Ich lerne auch aus Fehlern anderer, denn ich weiß, ich würde niemanden nur wegen seiner Vergangenheit verurteilen. Vergangenheit ist und bleibt unveränderbar, manchmal ist die Gegenwart wie ein zweites Leben. Man schließt mit den vergangenen Taten ab und fängt ein neues, besseres Leben an. Und dann denkt man, man hätte es geschafft, man hätte die Vergangenheit liegen lassen können. Während man noch in diesem Glauben lebt, fängt irgendjemand an, alte Geschichten hervorzuholen und sie zu verbreiten. Solche Erzählungen verbreiten sich wie ein Lauffeuer, es ist unmöglich, es aufzuhalten. Man sieht zu, wie sein eigenes Leben den Bach runtergeht. Ich könnte mir vielleicht ein drittes Leben aufbauen, aber dafür fehlen mir die Kraft und der Mut.

Vor zwei Wochen habe ich gesehen, wie zwei Jungs aus meiner Schule einen Zettel an meinen Spind geklebt haben. Hier ist das Territorium des Ex-Knackis. Betreten auf eigene Gefahr. Eltern haften für ihre Kinder. Ein Sicherheitsabstand von mindestens fünf Metern wird empfohlen.

Ich hatte den Zettel wortlos heruntergerissen, in Stücke zerrissen und weggeschmissen. Ich habe so getan, als würde es mich nicht interessieren, aber sie haben trotzdem auf mich gezeigt und gelacht.

Ich bin das schwarze Schaf meiner Familie, daran wird sich nichts ändern. Diese Veränderung wird ausbleiben. Niemand akzeptiert, dass ich mein Leben jetzt im Griff habe, und meine Taten bereue. Alle verschließen ihre Augen vor diesen wichtigen Veränderungen. Sie schalten auf stur und interessieren sich nicht wirklich dafür, was ich dazu zu sagen habe. Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr. Manchmal bin ich stark genug, meine Gefühle zu verbergen, aber manchmal bricht die Mauer, die ich mir so sorgfältig aufgebaut habe, zusammen. Wie ein Kartenhaus, das von einem kleinen Windstoß einfach umgeweht wird. Und jedes Mal, wenn diese Mauer, die mich doch eigentlich vor den Worten und Taten meiner Mitmenschen schützen sollte, bröckelt, verliere ich ein bisschen mehr Lebensmut.

Gestern ist ein Wunder passiert, jedenfalls bezeichne ich es insgeheim als ein Wunder, mein ganz persönliches Wunder. Er war wie mein Retter, mein Ritter in der silbernen Rüstung, der auf seinem starken Ross angeritten kam, um mich vor den Sticheleien und Provokationen der anderen zu schützen. Er hatte sein imaginäres Schutzschild ausgebreitet und währenddessen den Übeltätern eine ewig lang erschienene Rede gehalten. Er hatte immer wieder auf mich gezeigt und den Kopf geschüttelt und ich war immer zusammengezuckt.
Danach ist er gekommen, hat mich angesehen und gelächelt. Ich wollte etwas sagen, aber ich konnte nicht, denn ich war sprachlos. Er hatte genickt und gesagt: „Kein Problem.“ Ich werde es nie vergessen. Er hat, ohne es zu wissen, meine Schutzmauer wieder ein bisschen aufgebaut. Seit dem habe ich ihn ein paar Mal gesehen. Er muss neu auf dieser Schule sein. Und obwohl er gesagt hatte, es wäre egal, was dieses Mädchen in der Vergangenheit getan hatte, glaubte ich nicht, dass er mich ein zweites Mal beschützen würde. Ich sollte eines besseren belehrt werden.

Seit dem drehen sich meine Gedanken meistens um den mysteriösen neuen Schüler, der wohl mehr Herz hatte, als alle Schüler meiner Schule zusammen. Aber ich war mir trotzdem sicher, dass er mich wahrscheinlich genauso ausschließen, auslachen und verspotten würde, wenn er wüsste, was ich getan hatte. Er war auch nur ein Mensch, obwohl er für mich so etwas wie ein strahlender Ritter, Brad Pitt und Jesus in einem war.

Vielleicht ist er ein besserer Mensch, als ich gedacht hatte. Heute hat er sich wieder für mich eingesetzt und dieses Mal konnte ich ihn endlich anlächeln. Und er hat zurückgelächelt! Ich hatte gehofft, ich könnte wieder seine wundervolle Stimme hören, aber genau in diesem Moment hatte es geläutet und die Chance war verstrichen. Ich hatte mich auf den Weg in meine Klasse gemacht, ohne mich noch einmal umzudrehen und seit dem habe ich ihn nie wieder gesehen. Das ist jetzt eine Woche her. Aber es geht mir besser, denn mein strahlender Brad-Pitt-Jesus hat mir geholfen, meine Schutzmauer ein bisschen weiter aufzubauen.
Ich glaube, ich bin verrückt. Kann man vielleicht so verzweifelt sein, um einen Menschen in Gedanken zu erschaffen, der dann so real wirkt, als wäre er wirklich da? Bin ich dann selbst ein kleines Wunder, oder vielleicht doch einfach nur verrückt?

Impressum

Texte: Coverbild © by JordanRobin von Devianart. http://jordanrobin.deviantart.com/
Tag der Veröffentlichung: 11.08.2011

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