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Warum dachte man eigentlich nie über die alltäglichen Dinge nach? Okay, manche taten es vielleicht, aber waren sie auch dankbar darüber? Jeder nahm es einfach so hin, dass diese Dinge existierten. Sie gingen davon aus, dass es normal wäre, über sie zu verfügen, über sie bestimmen zu können und jede Zeit die Möglichkeit zu haben, sich umzuentscheiden.
Aber so war es nicht. Oh nein, so war es ganz und gar nicht. Die Menschheit konnte so unglaublich egoistisch sein, dass sie es nicht einmal selbst merkten, dass sie es waren. Eben, weil sie so egoistisch waren!
Klar, auch ich war manchmal egoistisch, jeder war mal egoistisch. Aber es gab auch schon Momente, da musste ich einfach mal innehalten und darüber nachdenken, wie froh ich eigentlich sein konnte, diese Dinge zu besitzen. Egal ob es materielle Gegenstände oder Freunde waren. Man schätzte sie einfach nicht, weil man es eben gewohnt war, von ihnen umgeben zu sein. Wahrscheinlich würde sich ein Waisenkind wie im siebten Himmel vorkommen, wenn es plötzlich jemanden vor sich stehen hätte, der sich Sorgen um einen machte, der einen lieben würde.
Ich dachte auch nicht immer darüber nach, aber manchmal, manchmal tat ich es schon. Dann konnte ich mich aufregen und freuen zugleich, diese Dinge zu haben, oder jedenfalls gehabt zu haben.

Während ich wieder einmal meinen Gedanken nachhing, trugen mich meine Beine wie von selbst zu meinen Lieblingsplatz. Er befand sich mitten auf einem Feld, das riesig zu sein schien. Das Feld gehörte niemandem, jedenfalls hatte ich hier noch nie jemanden gesehen. Hier und da sah ich Maulwurfhügel und ein paar Vögel legten hier auch einen Zwischenstopp ein. Aber ansonsten war ich wohl der einzige Mensch, der sich hier hin wagte.
Und mitten auf diesem Feld stand eine Mauer. Es war nur ein Teil einer Mauer, die wohl einmal sehr lang gewesen sein musste. Ich war nicht sonderlich gut in Geschichte oder Geografie, aber ich konnte mir vorstellen, dass diese Mauer einmal eine bedeutende Markierung gewesen war. Jetzt stand sie einfach nur da, auf diesem Feld, einsam und verlassen. Und wenn auch ich mal das Gefühl hatte, keinen Halt mehr zu haben, ging ich ebenfalls hier hin. Nicht, dass ich verrückt sein sollte und denken würde, die Mauer würde mich verstehen. Es war einfach nur beruhigend, dort sitzen zu können und zu wissen, dass du der einzige Mensch weit und breit warst. Dass du einmal keine Verpflichtungen hattest, dass du dich einmal nicht rechtfertigen musstest. Es war ein gutes Gefühl, einmal loslassen zu können. Schöner wäre es, für immer loslassen zu können.

Kaum hatte ich mein Ziel erreicht, ließ ich mich, an der Wand entlang, auf den Boden sinken. Ich spürte den kühlen Stein, der mir Halt gab. Das Gras, welches sich wie ein Teppich unter meinen Fingern anfühlte. Der Wind, der mir die Luft zum Atmen brachte. Es war das Gefühl der Freiheit, das mich immer wieder glücklich machte. Freiheit war etwas Unbezahlbares, aber niemand wusste es zu schätzen. Alle waren sie gefangen, in dieser neuen und hochmodernen Welt. Jeder dachte über alles nach, nur nicht über das Wesentliche. Das wurde immer vergessen. Dabei war es doch ziemlich wichtig, sich einmal Zeit zum Atmen zu geben. Zum Durchatmen, einfach nur, um zu entspannen. Ehrlich gesagt, ich war nicht besser. Ich war genauso egoistisch wie der Rest der Welt. Und genauso verloren in dieser neuen und hochmodernen Welt.
Mein Blick glitt nach oben, zum Himmel. Dort oben wäre ich bestimmt nicht so verloren gewesen.

Ich kannte diesen Ort in und auswendig. An diesem Ort war ich oft anzutreffen, nur wusste das niemand. Ich glaubte auch nicht, dass es überhaupt irgendwen interessieren würde. Genauso wenig, wie sich die anderen für die Geschichten interessierten, die sich hier bestimmt schon abgespielt hatten. Mich dagegen interessierte es brennend. Gerne hätte ich jemanden gehabt, der sich zu mir gesetzt hätte, hier, in den Schatten der Mauer. Einfach nur, um mir zu erzählen was genau hier vor vielen Jahren passiert war. Aber da das nicht der Fall war, musste ich mir die Geschichten eben selbst ausdenken. Eigentlich war ich kein Alleinunterhalter, aber hier vergaß ich so etwas gern einmal. Es gab hier niemanden, vor dem ich mich verstellen müsste. Und es gab auch niemanden, der irgendetwas Peinliches sehen könnte, dass mir irgendwann einmal leidtun würde. Hier gab es nur mich. Mich und diese Mauer, die dazu anregte, über vergangene Zeiten nachzudenken.

Manchmal war es die Mauer selbst, über die ich mir Gedanken machte. Sie war nicht vollständig, nur ein Bruchteil dessen, was einmal existiert hatte. In den Anfängen ihrer Zeit war sie bestimmt einmal hunderte von Metern lang gewesen, doch jetzt existierte nur noch ein Bruchteil davon.
Manchmal dachte ich selbst, dass auch ich nur ein Bruchteil meiner selbst war. Jedenfalls im Moment. Ich war daran zerbrochen, mein Leben wieder in den alten Zustand zu versetzen.
Bevor die ganze Sache mit Alex passiert war, war mein Leben eigentlich ganz in Ordnung. Soweit jedenfalls. Ich hatte eben alles, was ich brauchte und ich hatte mir nie Gedanken darüber gemacht, dass andere Kinder diese Dinge nicht hatten und nur davon träumen konnten. Im Nachhinein kam ich mir ziemlich schäbig vor, wirklich davon ausgegangen zu sein, dass alles selbstverständlich war. Aber so war sie eben, die Menschheit.
Manchmal fragte ich mich, warum ich überhaupt über so etwas nachdachte. Vielleicht, weil ich nicht wusste, worüber ich sonst nachdenken sollte. Irgendwie musste ich mich ablenken. Ich war ja hierhergekommen, um zu entspannen und nicht, um über mein idiotisches Leben nachzudenken. Dann wanderten meine Gedanken nämlich immer unweigerlich zu Alex.

Es fühlte sich an wie ein schlechter Traum, als ich meine Gedanken doch schweifen ließ und unwillkürlich die letzten zwei Jahre Revue passieren ließ.
„Maria, guck! Da ist der Neue wieder!“, meine beste Freundin grinste mich verstohlen an und zeigte mit dem Zeigefinger auf den Neuling, der gerade die Schulcafeteria betreten hatte.
„Na und?“, meinte ich, grinste und verdrehte die Augen. Okay, eigentlich war ich mehr als nur neugierig, was den Neuen betraf. Ich hatte ihn heute Morgen zum ersten Mal gesehen. Er war zwar eine Klasse über mir, aber das hinderte einen ja nicht daran, trotzdem immer wieder neugierige Blicke in seine Richtung zu werfen. Und er sah gut aus, wenn ich ehrlich war. Sonst würde ich mich auch nicht so brennend dafür interessieren.
Okay, das klang jetzt etwas oberflächlich, aber es war doch so. Es war doch fast unmöglich, mit jemandem ein längeres Gespräch zu führen, wenn man denjenigen nicht attraktiv fand. Mochte oberflächlich klingen, aber insgeheim würde mir jeder zustimmen.


Ich erinnerte mich noch so genau daran, weil sich seit dem mein Leben verändert hatte. Von heute auf morgen war es auf den Kopf gestellt worden. Und erst im Nachhinein sollte ich merken, dass mein Leben mehr und mehr den Bach runterging.

Mein Blick wanderte wieder zum Himmel. Ich sah einen Vogel, der immer näher zu kommen schien und sich anschließend auf die Mauer setzte. Er zwitscherte vor sich hin und schien ganz zufrieden mit seinem Leben zu sein.
Ich kannte jeden Fleck dieser Mauer, also wusste ich auch, dass sich unmittelbar unterhalb des Tieres die Stelle befand, die mich am meisten berührte. Ich rückte ein bisschen näher und merkte gar nicht, dass ich das arme Tier wohl etwas erschreckt hatte. Aufgescheucht von der schnellen Bewegung, die ich verursacht hatte, flatterte der kleine Freund davon und hinterließ nur eine dünne Feder, die langsam zu Boden fiel.
Während ich die Feder in die Hand nahm und langsam hin und her drehte, wanderten meine Augen zu dem Teil der Mauer, den ich eigentlich schon vorher genauer betrachten wollte.
Es sah von Weitem aus wie ein Fleck, doch ich wusste, dass es keiner war. Wenn man es näher betrachtete, merkte man, dass sich der Fleck mehr und mehr zu einem Herz formte. Vielleicht etwas unförmig, aber wer wusste schon, wie lange der Zeichner gebraucht hatte, das Herz dahin zu malen.
Ich sah es mir zum ersten Mal seit langem genauer an. Das Herz war nicht gleichmäßig, aber man konnte gut erkennen, was es darstellen sollte. Die Farbe war verblasst. An manchen Stellen hatte sich Moos gebildet. Aber trotzdem wusste ich, dass dieser Klecks ein Herz darstellen sollte. Und … Stopp. Was war das denn?
Ich runzelte die Stirn und rutschte noch näher hin. Meine Nase berührte fast den kalten Stein, aber das war mir egal. Jetzt sah ich zum ersten Mal wirklich, was außer dem Herz noch darauf abgebildet war. Zwei krakelige Buchstaben befanden sich in der Mitte. Buchstaben, die man als ein M und ein A entziffern könnte.
Es konnten Initialen sein. Es konnte auch eine römische Zahl darstellen. Es konnten aber genauso gut die Anfangsbuchstaben zweier Personen sein. Maria und Alex.
Und während ich mich schnell wieder auf meinen alten Platz setzte, fing ich an zu weinen. Eigentlich wollte ich es nicht, denn ich hatte schon oft genug geweint.

Er war toll. Ich war toll. Wir waren toll. Einfach ein Traumpaar, jedenfalls wurde uns das oft gesagt. Es war jetzt genau ein Jahr her, seit dem ich ihn zum ersten Mal gesehen hatte und dieses letzte Jahr war mit Abstand das Beste seit langem gewesen. Und wie schon erwähnt: Er war toll. Fürsorglich und witzig. Ausgeglichen und charmant. Attraktiv und entschlossen.
Jetzt im Nachhinein hatte ich eine wichtige Eigenschaft vergessen, die ich immer ignoriert hatte: Er war ein Arschloch und barsch.
„Was soll das heißen, ich darf nicht mehr mit Becky reden?“, ich hatte ihn ungläubig angestarrt, als er diese Meldung von sich gegeben hatte. Eigentlich hatten wir vorgehabt, uns einfach nur eine DVD anzusehen, aber Alex hatte wohl auch noch anderes vor. Obwohl er nett lächelte und besorgt aussah, fand ich seine Aussage im ersten Augenblick dämlich und ich hatte auch nicht vor, es zu machen. Aber das dachte ich eben nur im ersten Augenblick.
„Ach, Maria, Schatz. Du weißt doch, wie Becky ist. Sie ist einfach nicht der richtige Umgang für dich. Und ich mache mir Sorgen! Um dich! Becky kann ja machen, was sie will, aber ich möchte nicht, dass mein Mädchen mit so jemandem gesehen wird. Du weißt doch, wie das mit dem Ruf ist. Ist er einmal weg, kommt er auch nicht wieder“, seine sanfte Stimme hatte mich schon wieder etwas beruhigt und während er mir lieb lächelnd in die Augen gesehen hatte, hätte ich schon wieder dahin schmelzen können.



Becky hatte mich oft gefragt, warum ich sie ignorierte. Warum ich ihre Anrufe nicht entgegen nahm und warum meine Blicke so kühl und abweisend waren. Ich hatte ihr nicht geantwortet, jedenfalls nicht, als sie zum ersten Mal fragte. Irgendwann hatte ich ihr dann gesagt, sie solle sich um ihren eigenen Dreck kümmern. Sie solle ihr Leben auf die Reihe kriegen. Ich hätte keine Lust auf so jemanden wie sie.
Wir waren wie Schwestern, naja, wir waren es gewesen. Jetzt waren wir es nicht mehr und das war alles meine Schuld. Alex hatte mich aufmunternd angelächelt, als ich diese bösen Worte zu meiner ehemals besten Freundin, meiner Seelenverwandten, gesagt hatte. Ich hatte mich weggedreht und war zu Alex gegangen, der mir einen Arm um die Taille gelegt hatte und gesagt hatte, wie stolz er doch auf mich sein würde. Ich hatte ihn glücklich angelächelt und gedacht, jetzt könnte ich mein Leben richtig leben.

Manchmal musste ich an Marionetten denken, wenn ich darüber nachdachte, was ich alles in meinem Leben getan hatte, und warum. Es war, als hätte man mir unsichtbare Fäden angelegt und es war, als hätte man Alex die Führung überlassen. Er hatte mit mir gespielt, er hatte mich Dinge machen und sagen lassen, die ich sonst nicht einmal gedacht hätte. Er hatte auf mich eingeredet und ich hatte ihm gutgläubig alles von den Lippen abgelesen. Ich war Maria, die Marionette, gewesen.
Ich war mir nicht sicher, was ich jetzt war. Ein Wrack? Ein Bruchteil meiner selbst? Nur noch Maria? Ein Mensch, ein winziges kleines Lebewesen auf dieser großen weiten Welt, in diesem großen Universum? Ich wusste nicht, was ich sein wollte. Ich hatte Alex‘ Freundin sein wollen. Ich hatte nicht Beckys beste Freundin sein wollen. Vielleicht war ich sogar freiwillig zur Marionette geworden.

Ich war der Meinung, dass ich wieder einmal gemerkt hatte, dass eine eigene Entscheidung zu treffen auch seine Vorteile hatte, als ich zu Alex das erste Mal „Nein!“ gesagt hatte. Im ersten Moment kam es mir richtig vor. Dann hatte ich es wieder bereut und jetzt fand ich meine Reaktion mehr als nur richtig.
Ich hatte „Nein!“ gesagt, aber Alex hatte meine Entscheidung wohl nicht wirklich richtig gefunden gehabt. Anfangs hatte er sie akzeptiert, aber ich sollte noch merken, dass er sich mit so etwas nicht zufrieden gab. Er hatte es immer wieder versucht. Immer und immer wieder, aber ich hatte einfach nicht locker gelassen. Auch wenn er mich die ganze Zeit beeinflusst hatte, ich hatte gemerkt, wie toll es doch eigentlich war, eine eigene Meinung zu haben, und die musste ich auch vertreten. Allerdings war dieses Thema dann doch etwas heikler, als einfach nur einer Freundin aus dem Weg zu gehen.
Aber er hatte es nicht verstanden, er hatte es einfach nicht akzeptiert. Und ich sollte auch noch merken, dass er sich damit nicht zufrieden gab. Ich gab nicht nach, also suchte er sich einfach jemanden, der es wollte. Und er fand jemanden. Natürlich fand er jemanden, er war Alex. Der Schulschwarm. Hinter mir gab es eine Reihe an Mädchen, die sich darum rissen, auch nur einmal mit ihm zu sprechen. Ich war manchmal tierisch eifersüchtig gewesen. Die ganzen Blicke der fremden Mädchen hatten mir doch etwas Angst gemacht. Aber Alex hatte immer abweisend reagiert, er hatte mich damit beruhigt. Aber nach meinem „Nein!“ ging alles wirklich den Bach runter.

Vor zwei Monaten hatte ich ihn erwischt. Mit einer seiner Mitschülerinnen. Er hatte mich nicht gesehen, aber ich ihn. Ich hatte mich wortlos umgedreht und war davon gelaufen. Ich hatte nicht gewusst wohin. Ich war hier hin gegangen. Und seit dem Tag an ging ich eigentlich fast täglich zu dieser Mauer.

Ich hatte mich von Alex getrennt. Ich hatte meine beste Freundin verloren. Ich hatte ein Leben, das ich so gar nicht leben wollte. Ich musste täglich Alex und seine neue Freundin sehen. Ich musste Becky sehen, die Ersatz gefunden hatte. Ich musste mich im Spiegel ansehen. Und ich wollte das alles nicht mehr.
Ohne noch einen Blick auf das Herz an der Wand zu werfen, stand ich auf und wischte mir meine Tränen weg. Mein Blick glitt zum Himmel und mit dem Gedanken, das alles nicht mehr zu wollen, machte ich mich auf den Weg.

Impressum

Texte: Coverbild © by newcastlemale von Devianart. http://newcastlemale.deviantart.com/
Tag der Veröffentlichung: 03.08.2011

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