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- Kapitel 1 -

 

Mia hatte den Alkohol, den Paige am Eingang der Disco noch schnell in sich rein gekippt hatte, nicht einmal mit dem kleinen Finger berührt und fühlte trotzdem ein leichtes Schwindelgefühl in sich aufsteigen, als sie sich schweratmend gegen die kühle Wand des dunklen Raumes lehnte.

  Direkt vor sich, nur ein paar Schritte entfernt, sah sie im bunten Scheinwerferlicht hin und wieder die Konturen von feiernden Menschen in der Dunkelheit aufblitzen, zusammen mit dem künstlich hergestellten Dampf, der sich in den Ecken der Disco sammelte. Die laute Musik dröhnte in ihren Ohren und war so stark aufgedreht, dass Mia langsam Kopfschmerzen davon bekam. Es war unmöglich, bei diesem Chaos einen klaren Gedanken zu fassen, geschweige denn richtig atmen zu können.

  Es kam ihr vor wie ein Rausch.

  Vielleicht hätte sie auch etwas länger an diesem Platz gestanden, um den Kopf freizubekommen, wenn sie im nächsten Moment nicht Paige erblickt hätte, die sich etwas unbeholfen durch die feiernde Menge schob und ihr mit einer Hand wild zuwinkte. Die Brünette schwankte etwas beim Gehen und stolperte fast auf ihrem Weg zu Mia. Sie war eindeutig betrunken, oder zumindest auf dem besten Weg dorthin.

  „Was ist los?“, rief sie über den Lärm der Musikanlagen hinweg, als sie wankend bei Mia angekommen war. Die hohen Schuhe machten es ihr nicht leichter.

  Mia presste sich derweil einfach gegen die Wand und schnappte immerzu nach Luft. „Atemnot!“, rief sie und winkte so lässig wie möglich ab. „Das geht gleich vorbei. Du weißt ja, wie das mit meinem Asthma ist.“ Und dann atmete sie wieder tief ein und aus.

  Sie wünschte sich, sie hätte im Inneren genau so lässig sein können, wie sie sich äußerlich gab. In Wirklichkeit brannten ihre Lungen nämlich wie die Hölle.

  Ob Paige ihre inneren Quallen bemerkte, während sie sich in einem so angetrunkenen Zustand befand, wusste Mia nicht genau, denn Paige sagte nichts dazu. Das Mädchen nickte bloß, bevor sie sich neben Mia stellte. „Hast du schon einen gesehen, der dir gefällt?“, schrie sie über die Musik hinweg. Sie roch etwas bitter.

  „Nicht wirklich“, gab Mia zu, als ihre Atmung allmählich wieder normal geworden war. Sie hasste ihre Atemprobleme, auch wenn sie glücklicherweise nicht ganz so oft vorkamen. Nur eben, wenn ihre Nerven zu sehr belastet wurden oder viel zu viele Leuten um sie herum waren – so wie in den letzten drei Stunden, die sie hier verbracht hatten.

  „Du solltest dir langsam einen aussuchen. Ich hab schon ein paar gesehen, die dir hinterher geguckt haben“, erwähnte Paige. Mit „dir“ meinte sie aber nicht wirklich Mia, sondern ihren Hintern. Mia wünschte, Paige würde diesen Teil ihres Körpers nicht ganz so sehr vermenschlichen.

  Mia zwang sich zu einem Grinsen. „Er soll mir nicht bloß hinterher schauen, sondern mit mir tanzen und mich küssen.“

  „Warum nicht einfach alles?“, lallte Paige und stieß sie leicht mit der Hüfte an. Während sie das sagte, war ihr Lächeln etwas schief – so wie immer, wenn sie betrunken war.

  Obwohl sie schon achtzehn und somit zwei Jahre älter als Mia war, war Paige gleichzeitig auch einen ganzen Kopf kleiner als ihre Freundin, was sie aber mit ihrem Dekolleté‘ einfach weg machte. Paige hatte die mit Abstand beeindruckendeste Oberweite, die man in ihrem Alter nur haben konnte, ohne dick zu sein. Das Mädchen war ein Stock – ein hübscher Stock, mit braunen Augen und dunklen, langen Haaren, die ihr glatt bis an die Hüften reichten.

  Paige war schön und hatte für gewöhnlich selbst viel Spaß beim Flirten: Nur heute, nachdem Mia ihr von ihrem Plan erzählt hatte, ignorierte sie alle Anmachsprüche und Blicke in ihre Richtung und konzentrierte sich mehr darauf, jemanden für Mia zu finden.

  Da Paige inzwischen aber viel zu weggetreten war, würde Mia das wohl doch selbst übernehmen müssen.

  „Paige? Kann es sein, dass du nicht nur vor der Disco getrunken hast, sondern ein bisschen mehr? Oder vielleicht sogar ein bisschen sehr viel mehr?“, fragte Mia skeptisch und betrachtete ihre Freundin von oben bis unten kritisch.

  Paige kicherte nur und piekte sie mit dem Finger spielerisch in die Seite. „Nö.“

  Mia seufzte. Es war eindeutig an der Zeit, das Dummerchen nach Hause zu bringen.

  „Gib mir noch eine halbe Stunde!“, rief sie, als ein neuer Song aufgelegt wurde, ein viel lauterer. Sie legte Paige beide Hände auf die Schultern und drückte sie gegen die Wand, damit ihre Freundin nicht umkippte. Dann versuchte sie, ihren Blick einzufangen. Die braunen Augen wirkten bereits etwas trübe und über ihre Wangen hatte sich ein rosa Schein gelegt, den selbst ihre Schminke nicht verstecken konnte. „Hast du mich verstanden, Paige? Du bleibst hier stehen, genau hier, wo ich dich sehen kann. Ich bin gleich zurück, versprochen.“

  „Amüsier dich ruhig“, lallte Paige und kniff Mia in die Wangen. „Und lass dir keine Zunge in den Hals stecken.“ Wieder kicherte sie.

  Mia verdrehte die Augen, bevor sie Paige losließ und sich wieder zurück in die Mitte der feiernden Menge kämpfte. Ständig trat ihr jemand auf den Fuß oder stieß ihr den Ellenbogen in die Rippen, aber sie ignorierte es und suchte mit den Augen stattdessen nach irgendeinem Jungen, der sie interessieren könnte.

  Sie wollte ihren ersten Kuss hinter sich bringen, und sie wollte es heute.

  Mia hatte bisher noch nie einen richtigen Freund gehabt, sie wollte es in der nächsten Zeit auch nicht so weit kommen lassen – nicht vor ihrem Schulabschluss. Nicht, bevor sie damit fertig war und sich nicht mehr nur darauf konzentrieren durfte. Das würde noch ein paar Jahre dauern.

  Aber so lange wollte sie nicht bis zu ihrem ersten Kuss warten – denn wenn sie am Ende ihrer Schulzeit doch noch als junge Erwachsene eine Beziehung einging, wollte sie zumindest diese Erfahrung bereits gemacht haben. Sonst käme sie sich seltsam vor. Irgendwie dumm, unreif.

  Mia begann, sich zu der viel zu lauten Musik zu bewegen und tanzte in lockeren, entspannten Bewegungen. Sie war sich recht sicher, dass bald irgendein Kerl ankommen würde. Sie und Paige hatten sich extra genau diese Disco ausgesucht, weil die Jungs in diesem Stadtteil wie Tiere waren – zumindest beim Feiern. Einer würde mit ihr tanzen, sie küssen und dann müsste Mia ihn nie wieder sehen, da sie ohnehin nicht sehr viel Zeit auf dieser Seite der Stadt verbrachte.

  Während sie wartete, drehte sie sich manchmal um und sah prüfend zu Paige, die immer noch da lehnte, wo Mia sie gelassen hatte, jetzt aber mit ihrem Handy in der Hand. Mia hoffte für sie über alles, dass sie in ihrem betrunkenen Zustand mit niemandem schrieb – sie hoffte es wirklich.

  So wie sie Paige aber kannte, machte diese vermutlich genau das und Mia wäre gerne zu ihr rüber gegangen, um sie davon abzuhalten, erinnerte sich dann aber daran, warum sie eigentlich hier war. Sie brauchte diesen Kuss und sie war nicht bereit, heute ohne ihn nach Hause zu gehen: Also tanzte sie weiter und wartete.

 

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  „Alisha Klenis“, sagte Finn mit einem beeindruckten Lächeln im Gesicht, während er der hübschen Blondine hinterher starrte, mit der Adam gerade getanzt hatte. Als sie endlich in der feiernden Menge verschwunden war, sah Finn mit bedeutungsvoll hochgezogenen Augenbrauen zu Adam. „Nicht schlecht. Wirklich nicht schlecht, Alter.“

  Adam zuckte nur die Schultern, auch wenn er innerlich sehr zufrieden mit sich war.

  Alisha Klenis war eine echte Schönheit. Ein wenig schräg, mit ihrer Angewohnheit, die blauen Augen immer ein bisschen zu weit offen zu halten, aber trotzdem ein richtiger Blickfang. Adam wusste, wie viele Jungs trotz ihres recht seltsamen Charakters an ihr interessiert waren und bereute es nicht, sie angesprochen zu haben.

  Immerhin war ein Tanz und ihre Handynummer dabei für ihn rausgesprungen – geschweige denn einer spannenden Geschichte für seinen Blog. Das war nämlich das Wichtigste: Wenn bei diesem Tanzabend nichts rauskam, wovon er erzählen konnte, war er ihm nichts wert.

  Heute war das glücklicherweise nicht der Fall. Es hatte sich tatsächlich für ihn gelohnt, hierher zu kommen und Adam stieß einen leisen Seufzer der Erleichterung aus. Eigentlich hasste er Discotheken, genauso wie die Anwesenheit vieler Menschen um ihn herum. Aber es war für seinen Ruf als Blogger ungeheuer wichtig, bei so ziemlich allem dabei zu sein. Er musste lächeln, mit Menschen reden und – vor allem – viel lachen, um bei den Leuten ein gewisses Bild von sich zu hinterlassen.

  Auch wenn das meiste daran von vorne bis hinten gestellt war.

  „Willst du verschwinden?“, wollte Finn wissen und lehnte sich zu Adam, um nicht schreien zu müssen. Seine roten Haare schienen bei dem bunten Scheinwerfer zu glühen. „Jetzt, wo du hast, was du wolltest?“

  Finn war in Ordnung. Für Adam war jeder, aber auch wirklich jeder Mensch außerhalb seiner Familie ein Fremder, auch wenn er sich mit ihnen unterhielt und in ihrer Gegenwart ständig ein Lächeln vortäuschte. Bei Finn war es leider nicht anders, aber wenn man Adams soziale Phobien berücksichtigte, kam Finn für ihn einem Freund wohl am nächsten.

  „Ich weiß nicht, ob ich gehe“, antwortete Adam mit gehobener Stimme. Die Musik war so laut, dass sie sich kaum verstanden. „Vielleicht tanze ich noch ein letztes Mal mit jemandem.“

  Er hatte nicht wirklich Lust dazu –, eigentlich so gar keine Lust, – aber heute waren viele Leute aus seiner Schule da, darunter auch Leser seines Blogs. Es war wichtig, zu zeigen, dass er nicht nur auf seiner Seite so tat, als hätte er jeden Tag viel Spaß, sondern auch im echten Leben feierte.

  Was tat man nicht alles für einen guten Ruf?

  „Wir sehen uns am Eingang!“, rief Finn ihm zu, bevor der Rotschopf begann, sich zur Tür zu bewegen. Sie waren zusammen hergekommen und würden auch gemeinsam nach Hause gehen, auf dem Weg vielleicht noch etwas essen. Adam hatte schon länger in einem neu eröffneten Laden vorbeisehen wollen, um das Essen dort zu kosten. Ein Beweisfoto durfte selbstverständlich nicht fehlen.

  Aber darum würde er sich später kümmern.

  Jetzt riss er sich noch ein letztes Mal zusammen und bewegte sich vom Rand der Menge weiter in ihren Mittelpunkt, dabei hielt er Ausschau nach hübschen Mädchen. Adam war bei seiner Auswahl sehr vorsichtig. Das Mädchen musste gut aussehen, das war seine schwerste Bedingung. Er durfte sich nicht mit überschminkten Mädels sehen lassen, aber auch keine Mädchen ansprechen, die in Begleitung unterwegs waren. Die Gefahr, bei einer Abfuhr von ihren Freundinnen ausgelacht zu werden, war einfach zu groß – wobei Adam eigentlich nie abgewiesen wurde. Er ging nur gerne sicher.

  Es dauerte nicht lange, bis seine Augen fanden, was er suchte: Nicht weit von ihm entfernt tanzte ein Mädchen, das er bisher noch nie in dieser Disco gesehen hatte. Sie hatte schwarze Locken, die ihr bis zur (wie ihm leider auffiel, relativ flachen) Brust reichten und bei jeder ihrer Bewegungen leicht auf und ab sprangen. Sie hatte selbst aus dieser Entfernung unglaublich dunkel geschminkte Wimpern, die ihre grünen Augen einrahmten und sie irgendwie hervorstechen ließen. Ihre Augenbrauen waren leicht geschwungen und die Lippen recht voll, auch wenn er nicht sagen konnte, ob das vielleicht nur an ihrem Lippenstift lag. An einem ihrer Ohren hatte sie sich mehrere Ohrlöcher stechen lassen und schien weitere Piercings in dem Bereich zu haben, auch wenn Adam nicht genau erkennen konnte, welche. Das eine sah aus wie ein Helix, für den Rest kannte er die Namen nicht. Bei ihrer Figur fielen ihm vor allem ihre langen Beine und Kurven auf. Er musste zugeben: Sie wusste, wie man sie einsetzte.

  Aber das eindeutig Beste an ihr war, dass sie – aus welchen Gründen auch immer – völlig alleine tanzte.

  Adam wartete noch ein paar Sekunden ab, bevor er begann, sich in ihre Richtung zu bewegen. Er ging nicht direkt auf sie zu, sondern in einem Halbkreis um sie herum, bis er ihr ganz nahe war. Sie tanzte mit dem Rücken zu ihm und sah ihn daher nicht kommen, als er ihr von hinten beide Hände auf die Hüften legte und sie mit einer schnellen Bewegung zu sich herum wirbelte.

  Sie wirkte im ersten Moment sehr erschrocken und wäre vermutlich ein wenig nach vorne gefallen, hätte er sie nicht an den Schultern abgefangen. Adam lachte entschuldigend, so als hätte er sie in Wirklichkeit nicht so stark drehen wollen und hob dann die Augenbraue, während er ihre Hand nahm. Seine übliche, charmante Geste. Sie war etwas kleiner als er, vielleicht auch etwas jünger, weswegen er zu ihr heruntersehen musste.

  Das Mädchen musterte ihn zuerst etwas skeptisch, was einige Augenblicke in Anspruch nahm, in denen sie sich einfach gegenüberstanden und sich ansahen. Als Adam bereits die Angst bekam, dass sie ihn abservieren würde, lächelte sie ihn plötzlich an und verschränkte ihre Hand mit seiner.

  Adam seufzte erleichtert auf und zog sie abrupt an sich ran, dann umfasste er ihre Taille. Sie begann wieder, leicht zu tanzen und er folgte ihren Bewegungen. Die beiden tanzten nicht so, wie er es gewohnt war, sondern mit viel mehr Augenkontakt und ein wenig langsamer, was ihn zwar nicht störte, aber etwas aus der Fassung brachte. Adam versuchte, einen gelassenen Gesichtsausdruck zu wahren und ignorierte die Tatsache, dass sie unentwegt auf sein Gesicht starrte. Auf seine Lippen. Außerdem spürte er wiederholt – wobei er nicht sagen konnte, ob das Absicht oder Zufall von ihr war –, wie sie mit ihrem Becken seine Hüfte streifte.

  So ging das noch eine Zeit lang weiter, bis er allmählich die Lust an dem Ganzen verlor. Adam überlegte sich bereits im Kopf, was er zu ihr hätte sagen können, um an ihre Nummer zu kommen. Mehr brauchte er nämlich nicht von ihr und daran, dass sie nicht gerade wie eine Schlampe aussah, konnte er erkennen, dass sie ohnehin auch nicht weitergehen wollen würde.

  Umso mehr überraschte es ihn, als sie ihre Hände auf seine Oberarme legte. Sie umfasste diese einmal, bevor sie ihre Hände weiter zu seinen Schultern wandern ließ, zu dem Kragen seines T-Shirts, rauf zu seinem Hals. Bevor er sich versehen konnte, wurde Adam mit einem herrischen Griff, den er ihr gar nicht zugetraut hätte, nach unten gezogen und ihre Lippen trafen hart auf seine.

  Es war mehr ein Schreck, als eine angenehme Überraschung, denn sie tanzte nicht nur anders als andere Mädchen, sondern küsste auch auf ihre eigene Weise. Irgendwie grob, als würde ihr das eigentlich keinen Spaß machen, aber Adam war das egal. Solange er sie kennenlernen durfte, sie ein paar Mal miteinander ausgingen und er eine gute Geschichte dabei fand, war es ihm das wert.

  Etwas vorsichtiger küsste er sie zurück und bewegte seine Lippen in gleichmäßigen Bewegungen auf ihren. Sie hatten beide aufgehört zu tanzen, aber Adam behielt seine Hände weiterhin an ihren Hüften. Mädchen mochten das angeblich.

  Sofort kamen, trotz der Lautstärke der Musik, die ersten anheizenden Pfeifgeräusche zu ihnen rüber und er glaubte, die neugierigen Blicke von Leuten um ihn herum auf sich spüren zu können. Sollte ihm recht sein. Vermutlich sahen ein paar seiner Leser diese Szene hier und würden es rumerzählen: Dieses Mädchen hatte ihn soeben, wenn er Glück hatte, zum Gesprächsthema gemacht.

  Dieser Gedanke ließ ihn zufrieden lächeln, als sie den Kuss beendeten und sich von einander lösten. Er sah zu ihr herunter. Adam hatte im Laufe seiner siebzehn Jahre schon einige Mädchen geküsst und die Reaktionen waren immer verschieden gewesen. Eine hatte wie wild gegrinst, eine andere war völlig rot geworden. Eine hatte sogar mal etwas wie eine Panikattacke gehabt, weil es ihr erster gewesen war, aber das, was dieses Mädchen tat, das hatte Adam noch nie erlebt.

  Sie drehte sich um – und ging.      

  Adam starrte ihr zunächst nur perplex hinterher, bis er begriff, was da eben passiert war und ihr nach hastete. Sie war ganz schön schnell.

  „Hey!“, rief er über den Lärm hinweg, als er sie eingeholt hatte.

  Sie tat, als würde sie ihn nicht sehen und blickte stattdessen durch den Raum. Suchte sie jemanden?

  „Hey!“, wiederholte Adam und griff nach ihrer Hand.

  Jetzt sah sie ihn doch noch an, aber von dem Lächeln von vorhin war nichts mehr übrig. Sie wirkte eher genervt, irgendwie kalt. „Was?“, fragte sie irritiert, als er ihre Hand wieder losließ.

  Adam gab sich Mühe, nicht ganz so dumm zu gucken, wie er sich gerade fühlte. „Was ist los?“, rief er.

  „Ich muss weg“, war die knappe Antwort.

  „Wie heißt du?“

  „Mia.“ Sie machte sich nicht einmal die Mühe, zurückzufragen.

  Adam kniff irritiert die Augen zusammen. Er hatte an diesem Abend alles erwartet, aber sicher nicht das. „Du musst also weg, ja? Wohin denn, auf einmal?“

  „Geht dich nichts an.“ Sie sagte es nicht einmal unhöflich, sondern einfach … desinteressiert. Als wären die letzten Minuten gar nicht geschehen. Als Adam diese Mia nur fassungslos anstarrte, wollte sie erneut abhauen, aber dieses Mal war er schneller.

  Er legte einen Arm um sie und zog sie in eine der Ecken hinter den Musikanlagen, dort, wo es etwas leiser war und man halbwegs normal reden konnte. Sie stieß ihn energisch weg, als sie dort ankamen und sah ihn fast schon wütend an. „Was soll das?!“

  „Das fragst du mich?“, entrüstete er sich. Er verstand sie nicht, aber nicht so, wie Jungs Mädchen normalerweise nicht verstehen konnten, sondern wirklich gar nicht.

  Mia verdrehte die Augen, als hätte er gerade etwas ganz Dummes gesagt. Als würde er sie nerven.

  „Ich will nichts von dir“, sagte sie gerade heraus und ohne jede weitere Erklärung, als hätte er ihr gerade seine Liebe gestanden.

  Adam sah sie nur an. Er konnte dieses Mädchen nicht fassen. „Aha. Danach sah das gerade auch aus.“

  „Hör zu“, begann sie und machte einen Schritt auf ihn zu. Sie war kleiner als er, benahm sich aber, als würde sie auf ihn herabsehen. „Ich wollte einen Kuss, nur einen Kuss. Nicht mehr.“ Während sie sprach, gestikulierte sie mit den Händen, als würde sie einen Vortrag halten. Sie war ganz schön eingebildet. „Du hast das, was ich von dir wollte erfüllt. Und jetzt kannst du abhauen.“

  Adam dachte nicht einmal daran. Obwohl ihm kurz die Worte fehlten, zwang er sich dazu, nicht einfach den Mund zu halten. „Hättest du nicht einfach deinen Freund küssen können?“, keifte er sie an. Er tickte nicht so aus, weil ihm besonders viel an ihr lag – hübsche Mädchen gab es wirklich genug – sondern weil er befürchtete, dass sie vorhin bei dem Kuss gesehen worden sein könnten.

  Falls sich jetzt rumsprach, dass er was von ihr wollte, sie ihn aber abgeschossen hatte … immerhin wusste er nicht, wie beliebt und bekannt sie in ihren Regionen war … das hätte nicht ganz so schön für ihn enden können. Vor allem, wenn auch noch Alisha das Ganze mitbekam. Dann müsste er zusehen, dass er nicht beide verlor.

  „Ich hab keinen“, war die trockene Antwort.

  „Wieso suchst du dir keinen?“ Adam hätte sie schütteln können.

  Sie schob auf arrogante Weise das Kinn vor. „Ich will keinen.“

  „Was?“ Was war das eigentlich für eine Verrückte? „Wie soll ich das bitte verstehen?“

  „Ich will keinen Freund, bevor ich mit der Schule abgeschlossen habe“, erklärte sie und verschränkte die Hände vor der Brust. „Ich muss mich konzentrieren können, um einen guten Durchschnitt zu erreichen.“

  Na, das war ja eine wundervolle Nachricht.

  Adam fuhr sich überfordert durch das braune Haar, als ihm klar wurde, dass er es hier nicht mit einer Verrückten zu tun hatte, nicht einmal mit einer Bitch oder einer Langweilerin. Er hatte tatsächlich mit einem Streber rumgemacht. Ein Streber, der ihn jetzt abschob, wie ihm gerade auffiel. Das war, eigentlich, nicht gut.

  Wirklich nicht.

  Adam stöhnte einmal genervt auf und rieb sich das Gesicht. Wäre er vorhin doch nur einfach gegangen.

  „Was ist los?“, fragte Mia und sah ihn mit nach wie vor verschränkten Händen an. Sie klang nicht besorgt, eher zynisch.

  „Ich glaube es einfach nicht, dass ich ausgerechnet von jemandem wie dir in aller Öffentlichkeit einen Korb kassieren konnte, nachdem wir klar und deutlich rumgemacht haben“, fauchte Adam, ehe er den Satz zurückhalten konnte. Er war schon früher hin und wieder unhöflich zu Mädchen gewesen, aber noch nie so dermaßen wie eben. Es tat ihm ein wenig leid, aber er hatte es nicht verhindern können. Vielleicht hätte er sich sogar bei ihr entschuldigt, wäre nicht das Folgende gekommen.

  „Wir haben nicht rumgemacht“, zischte sie ihn an. „Das war nur ein Kuss. Mein erster Kuss.“

  „Hat man bemerkt.“ Wieder zog er scharf die Luft ein, nachdem er das gesagt hatte. Was war heute eigentlich mit ihm los? Nur sie war schuld daran, sie stresste ihn so sehr, dass er mit einem Mal gemein wurde.

  Sie wurde aber nicht wütend. Mia zuckte nur die Schultern. „Und wenn schon. Besser einen schlechten ersten Kuss mit einem wie dir, als mit dem Typen, der es wert ist.“

  Langsam machte sie ihn richtig wütend. „Wofür hältst du dich eigentlich?“, fragte er sie langsam. Adam hatte nicht das größte Selbstwertgefühl, überhaupt nicht – dann bräuchte er diese ganze Selbstbestätigung über seinen Blog auch gar nicht –, aber wenn ihm ein Mädchen, deren oberste Priorität scheinbar die Schule war so etwas entgegen schleuderte, dann ... dann brodelte etwas in ihm auf. „Du hast eine ganz schön große Fresse für einen Streber. Wer ist in deinen Augen denn mehr wert als ich? Vermutlich hast du noch nie ein Wort mit Jungs gewechselt, die etwas anderes als ein wenig Kenntnisse in Mathe zu bieten hatten.“ Er begann fast gegen seinen Willen, sich über sie lustig zu machen und legte den Kopf schief. „Na, wer waren deine bisherigen Freunde? Poeten?“

  Kurz glaubte er, zu weit gegangen zu sein, als er sie zusammen zucken sah. Aber dieser Zustand der Verwundbarkeit blieb nicht lange, denn sofort stieß Mia ihm den ausgestreckten Finger vor die Brust. „Du hast keine Ahnung, mit was für Arten von Jungs ich bisher zusammen war!“, fauchte sie ihn an, ihre Stimme zitterte vor Wut. „Wirklich, nicht die geringste.“

  Adam schluckte und sah sich um. Ihr Wutanfall an sich war ihm egal, aber nicht, dass man sie sehen konnte. Ein paar Leute blickten bereits fragend zu ihnen herüber, da Mia ihre Aufregung recht deutlich zur Schau stellte. Hoffentlich dachten einige jetzt nicht plötzlich, dass er sie irgendwie verarscht hätte oder so ähnlich … hoffentlich würde auch nie jemand erfahren, wer sie eigentlich war …

  Adam sah wieder zu ihr und wollte gerade etwas sagen, als sie ihn unterbrach. „Und da du offenbar so sehr etwas gegen Streber hast, gebe ich dir was zum Schlucken – du wurdest gerade von einem benutzt.“ Sie schrie diese Worte nicht, sie kamen aber trotzdem laut und deutlich an seinen Ohren an, bevor sie sich umdrehte und verärgert davon stürmte.

  Und weg war sie.

  Adam stand bloß verdutzt in der Ecke, zu der er sie beide gebracht hatte und konnte ihr nur hinterher sehen. Er kratzte sich unbeholfen im Nacken. Das eben war ... seltsam gewesen.

  Er hatte sich immer so viel Mühe gegeben, seinen Ruf rein zu halten. War immer zu allen Höflich gewesen, ging mit allen Trends. Suchte sich die Mädchen ganz genau aus, mit denen er etwas anfing und war nett zu ihnen, ohne etwas für sie zu empfinden, damit es nie hinterhältig rüberkam, wenn er am Ende mit ihnen Schluss machte und einfach sagen konnte: „Es hat eben leider nicht geklappt, aber die gemeinsame Zeit ist schön gewesen.“

  Sie sagten meist dasselbe und dann war es das auch schon.

  Jetzt aber, nachdem er dabei gesehen worden war, dass er mitten in der Disco mit einem Mädchen rumgemacht und sie anschließend wegen irgendwas so wütend gemacht hatte, dass sie verschwunden war, konnten allerlei Gerüchte entstehen. Für einen normalen Menschen hörte sich das harmlos an, für einen Blogger seines Niveaus konnte es für ihn sein Todesurteil bedeuten – vor allem, weil er keine Ahnung hatte, wer diese Mia überhaupt war.

  Er hatte gerade erst begonnen, sich eine richtig gute Internet-Karriere aufzubauen und ließ es sich jetzt nicht von einem Bücherwurm kaputt machen. Nein, sicher nicht.

  Es war Finns vertrautes Gesicht, das neben ihm auftauchte, als ihm eine Hand auf die Schulter gelegt wurde und man ihn umdrehte. Mit einem schiefen Lächeln, das wohl etwas wie Mitgefühl ausdrücken sollte, sah sein Freund ihn an. „Ist wohl nicht so gut gelaufen, was?“

  „Wieso bist du hier?“, fragte Adam und hoffte, dass Finn gerade erst gekommen war.

  Finn zuckte die Schultern. „Ich hatte keine Lust, alleine zu warten und bin zurück gekommen. Hier drinnen ist es wärmer, als auf den Straßen. Wir haben Winter.“

  „Hast du mitbekommen, was gerade passiert ist?“, fragte Adam und spannte seine Schultern an. Natürlich wusste Finn es, immerhin schweifte er gerade vom Thema ab. Das tat er immer, wenn ihm etwas unangenehm war.

  Etwas nervös lachte Finn auf, dabei sah er Adam nicht an. „Ja.“ Und nach einer kurzen Pause: „Es fällt ein wenig auf, wenn zwei Leute am Rand der Menge stehen und die eine Person die andere anschreit.“

  „Anschreit?“ Es war ihm gar nicht so vorgekommen, dass sie wütend gewesen war. Eventuell hatte es aber von außen so gewirkt, weil sie die Musik hatte übertönen müssen. Es wurde immer besser und besser.

  Finn nickte bloß mit unsicherem Gesicht.

  „Haben es viele Leute mitbekommen?“, fragte Adam und lehnte sich etwas zu ihm vor, obwohl es eher unwahrscheinlich war, dass sie belauscht wurden. Aber wie gesagt – er ging gern sicher.

  „Man kennt dich, Adam“, seufzte Finn. „Es haben ein paar Leute schon geredet und … geguckt. Und …“

  „Und was?“, fragte Adam etwas nervös. 

  „Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, ein Mädchen hat euch fotografiert“, beendete Finn den Satz.

  Adam dachte nicht lange nach. „Wer?“

  „Ich weiß nicht, ob sie wirklich …“

  „Finn, wer?“

  „Die da.“ Finn wies zu einem Mädchen, das an der Wand des Raums lehnte und mit ihrem Handy rumspielte. Sie war recht klein und hatte braune Haare, sobald Adam es erkennen konnte. Finn zuckte die Schultern. „Aber wie gesagt, ich bin mir nicht sicher.“

  „Trotzdem danke“, sagte Adam und klopfte ihm einmal freundschaftlich auf die Schulter, bevor er durch die Menge stürzte und auf das Mädchen zulief. Er musste einige tanzende Leute aus dem Weg stoßen, aber im Moment hatte er dafür keinen Kopf. Er musste zu ihr.

  Sie hob kurz den Blick, als er bei ihr angekommen war. Nach dem verschmitzten Lächeln, das sie ihm schenkte, wusste er, dass Finn Recht gehabt hatte.

  Ohne ein Wort schnappte er ihr das Handy aus der Hand, was ihm nicht sonderlich schwer fiel, weil sie eindeutig getrunken zu haben schien. Erst, nachdem sie ihre leeren Hände für etwa fünf Sekunden verständnislos angestarrt hatte, sah sie zu ihm. „Hey!“, rief sie und wollte es zurück haben, aber Adam war bereits dabei, das Bild zu suchen.

  Er fand es. Da waren sie, eindeutig er und diese Mia. Ihre Hand an seinem Nacken, seine Hände an ihren Hüften, ihre beider Lippen auf denen des anderen. Man konnte alles genau erkennen, was bei der Dunkelheit in Discos nicht üblich war. Das der Scheinwerfer genau in diesem Moment genau auf die beiden gezeigt hatte, war reines Glück gewesen.

  „Entspann dich“, sagte Adam und tippte seine eigene Handynummer ein, um das Bild an sich selbst senden zu können. „Du wirst es gleich zurück bekommen.“

  „Was machst du da?“, fragte das Mädchen und versuchte, nach dem Handy zu greifen. Adam musste nicht einmal ausweichen, ihre Hand griff daneben. Er schüttelte den Kopf. Wie konnte man sich als Mädchen so besaufen? Hatte sie gar keine Angst?

  „Ich bin gleich fertig“, versicherte er ihr.

  Adam lächelte, als es in seiner Hosentasche vibrierte und er somit wusste, dass das Bild angekommen war. Ihm war nämlich erst eben aufgefallen, was diese heutige Begegnung mit Mia eigentlich in ihm ausgelöst hatte: Er hatte Angst vor Gerüchten und davor, dass etwas seinen bisher guten Ruf als Blogger ruinieren könnte, ja – aber gleichzeitig störte es ihn auch immens, dass dieses Mädchen – diese Verrückte! – sich tatsächlich einbildete, ihn ausnutzen zu können, auf so eine arrogante und selbstgerechte Art.

  Was war sie schon? Hübsch war sie, okay, das gab er zu – aber das war nicht von Bedeutung. Das reichte eindeutig nicht, um so mit ihm umgehen zu können.

  Sie hatte mit ihrer ignoranten Art etwas wie Ehrgeiz in ihm ausgelöst.

  „Hat es Spaß gemacht?“, fragte das ihm unbekannte Mädchen plötzlich und lächelte ihn fast hinterhältig an. Sie musste die Stimme etwas heben, damit er sie hörte.

  Adam sah sie verwundert an, während er ihr Handy zurückgab. „Was?“

  „Sie zu küssen? Kann sie’s gut oder eher nicht? Du warst ihr erster, weißt du?“, kicherte das Mädchen und steckte ihr Handy weg.

  Adam fuhr sich durch das Haar. „Es war in Ordnung.“

  Ihr Gesicht wurde ernst. Als würde sie mit einem Mal nicht mehr über ihre Freundin reden, sondern über ihre Tochter. Oder ihre kleine Schwester. „Hast du ihr die Zunge in den Hals gesteckt?“

  Wieder sah Adam sie verblüfft an. „Äh … Nein.“

  „Gut“, seufzte das Mädchen ehrlich erleichtert. Sie begann wieder zu grinsen. „Mein erster Kuss war nämlich auch mein erster mit Zunge … das war nicht schön … Viel zu viel Sabber.“

  „Aha.“ Adam machte einen Schritt zurück, in der Hoffnung gleich verschwinden zu können. Er wollte nicht mehr auf diese Mia treffen.

  „Wie heißt du?“, fragte das Mädchen ihn eindringlich.

  Er fragte sich, ob sie sich in ihrem Zustand überhaupt später an ihn erinnern würde. „Adam Dasker“, sagte er trotzdem knapp.

  „Paige“, antwortete sie und wies auf sich selbst. Dann vollführte sie eine nicht ganz so elegante Verbeugung, als wären sie hier in hochgebildeten Kreisen. „Paige Fulvi. Ich wollte nur fragen, weil sie eigentlich nichts von dem Kerl wissen wollte, den sie küssen würde. Ich dachte, vielleicht würde sie irgendwann zumindest deinen Namen erfahren wollen.“ Sie hielt inne. „Sie hat dich nicht gefragt, oder?“

  „Nein“, sagte Adam langsam und drehte sich um. Er hatte keine Lust mehr auf dieses Gespräch. „Tja, dann bis irgendwann. Ich hau jetzt ab.“

  „Da kommt sie ja!“, rief Paige plötzlich und begann wild zu winken, um die Aufmerksamkeit von irgendwem – und Adam war sich recht sicher zu wissen, von wem – auf sich zu lenken. Und dann wandte sie sich wieder an Adam. „Hey, Adam! Sie kommt!“

  Aber Adam war schon weit genug von ihr entfernt, um realistisch vortäuschen zu können, sie nicht zu hören und steuerte stur auf den Ausgang zu.

- Kapitel 2 -

 

Obwohl sie schon seit über sechs Jahren Freude waren und Mia während dieser Zeit um die tausend Mal bei Paige übernachtet hatte, war es für sie immer noch ein wenig ungewohnt, im Bett ihrer besten Freundin aufzuwachen. Es begann immer damit, dass sie die Augen aufschlug und sich fragte, warum es so sonnig im Zimmer war – bei sich zuhause waren die Rollladen über Nacht nämlich immer unten. Dann fragte sie sich, warum ihr Paiges ständiger Eigengeruch nach Vanille und Oliven in die Nase stieg, ehe sie erkannte, dass das Bett, in dem sie lag, größer war, als ihr eigenes.

  Dann schrak sie in der Regel hoch, um kurz darauf erleichtert festzustellen, dass sie nicht an irgendeinem fremden Ort, sondern nur bei Paige gelandet war. Mal wieder.

  An diesem Morgen war es nicht anders und Mia rieb sich den Schreck und das letzte bisschen Schlaf aus den Augen, nachdem sie sich ausgiebig gestreckt hatte. Sie setzte sich auf, bekleidet mit ihren Klamotten von gestern. Sie war viel zu müde gewesen, um sich umzuziehen, sich abzuschminken oder Paige die Treppe hoch zu ihrem Zimmer zu schleppen, weswegen sie ihre Freundin unten im Wohnzimmer auf der Couch abgelegt hatte. Vermutlich schlief sie dort immer noch ihren Rausch aus.

  Mia selbst war einfach in Paiges Zimmer gegangen und hatte sich dort sofort schlafen gelegt. Jetzt stand sie auf und nahm sich ein paar Sekunden, um zu sich kommen zu können. Sie hatte nichts getrunken, die Erinnerungen an den gestrigen Abend waren trotzdem irgendwie verschwommen und unscharf.

  Schwerfällig stand Mia auf und ging zu Paiges Schrank. Sie suchte sich ein paar der Sachen raus, die etwas weiter geschnitten waren und ihr passen würden, bevor sie die frische Jogginghose und das T-Shirt gegen die Shorts und das Top an ihrem Körper wechselte. Danach ging sie noch ins Bad, das auch in dieser Etage lag und wusch sich dort das Gesicht, kämmte sich die Haare und cremte sich ein wenig mit Paiges Sammlung aus Pflegeprodukten ein.

  Während sie das alles tat, benahm sie sich nicht besonders leise. Sie wusste, dass Paiges Eltern längst zur Arbeit gefahren sein mussten – anders würden sie sich dieses Haus auch nicht leisten können. Sie waren ständig arbeiten, auch samstags. Eigentlich bekam Mia nur etwas von ihnen mit, wenn sie mal am Sonntag bei Paige war oder diese von einem ihrer Elternteile angerufen wurde. Sonst waren sie praktisch nicht existent.

  Als sie halbwegs fertig war, ging Mia die Treppe runter und entdeckte zu ihrer Überraschung einen angeschalteten Fernseher und eine Müsli essende Paige im Wohnzimmer. Ihre Freundin saß im Schneidersitz auf der schwarzen Couch, auf der Mia sie letzte Nacht abgelegt hatte und sah sich gerade eine Sitcom an.

  Bei Mias Anblick nickte sie kurz. „Gutn Mrgn“, sagte sie mit vollem Mund. Bis auf die Tatsache, dass sie genau wie Mia mit ihren Kleidern von gestern aufgewacht und die Schminke in ihrem Gesicht etwas verschmiert war, sah sie eigentlich ganz gut aus. Nur die ein wenig verfilzten Haare und die leichte Verdunklung unter ihren Augen wiesen darauf hin, wie viel sie eigentlich in sich rein gekippt hatte. 

  „Wie trinkfest du bist“, wunderte Mia sich und ließ sich neben Paige auf die große Couch fallen. Paiges Eltern waren, wie man sich sicher schon denken konnte, relativ reich und so sah deren Zuhause auch aus. Die Möbel waren teuer und die Zimmer stilvoll eingerichtet.

  Paige kümmerte sich aber einen Dreck darum. Sie saß mit der Müslischüssel da, ohne jede Angst, etwas zu verschütten.

  „Hmm“, machte Paige und zuckte die Schultern.

  „Als ich runter gegangen bin, habe ich erwartet, dass du dich vor lauter Übelkeit winselnd auf dem Boden hin und her rollen würdest, so wie das eine Mal, als du Magendarmgrippe hattest.“ Mia musterte Paige von oben bis unten. „Im Vergleich zu meiner Vorstellung, siehst du echt gut aus.“

  „Ich fühl mich aber nicht so.“ Paige fasste sich an die Stirn und massierte sich die Schläfe.

  Mia verdrehte die Augen. Natürlich, Paige war 18 Jahre alt und wollte feiern, aber ein kleines bisschen Verantwortung für seinen eigenen Kater musste man in dem Alter schon übernehmen müssen.

  „Frühstück kannst du dir übrigens aus der Küche holen“, sagte Paige, während sie sich mit der Fernbedienung durch die Kanäle schaltete. „Und mit Küche meine ich Kühlschrank. Ich glaube, es ist noch Joghurt da.“

  „Schon verstanden“, sagte Mia und ging nach nebenan. Es war kein Joghurt da, also holte sie sich bloß ein Milchbrötchen aus einem der Schränke. Kauend kam sie ins Wohnzimmer zurück. „Kann es sein, dass jemand seine Pflichten als Koch vernachlässigt?“, fragte sie mit einem Grinsen.

  Da ihre Eltern den ganzen Tag unterwegs waren, war Paige für das Essen und somit auch für den Einkauf verantwortlich – was man leicht daran erkennen konnte, dass der Kühlschrank und die Lebensmittelschränke ständig leer waren.

  „Du klingst ja wie meine Mutter“, brummte Paige und fuhr sich durch das braune Haar. „Ich hatte keine Zeit, einzukaufen. Und da wir gerade bei meiner Mutter sind – haben meine Eltern gestern eigentlich was gesagt?“ Sie klang etwas nervös.

  „Keine Sorge“, antwortete Mia und setzte sich wieder neben sie. „Sie haben längst geschlafen, als wir gekommen sind. Ich hab sie nicht geweckt.“

  „Oh, gut“, seufzte Paige erleichtert. „Sie haben mich heute nämlich ein wenig schräg angesehen, als sie zur Arbeit gegangen sind.“

  „Woran das wohl liegt ...“, sagte Mia sarkastisch und betrachtete Paiges verschmierte Schminke.

  Paige seufzte. „Hoffentlich geht dieser Kater schnell vorbei. Ich habe übermorgen eigentlich eine Arbeit in Spanisch.“

  „Und du hast sicher noch nicht gelernt“, stellte Mia fest. Das war das einzige Fach, das die beiden nicht zusammen hatten. Mia hatte französisch gewählt, weil ihre Mutter ursprünglich aus Paris kam und Mia somit von klein auf mit dieser Sprache in Kontakt gekommen war. Schade, denn so konnte sie Paige nicht kontrollieren.

  „Ich werde heute alles durchgehen, dann wird es schon klappen“, winkte Paige ab.

  „Du klingst, als würdest du schon wieder sitzen bleiben wollen“, meinte Mia streng.

  „Hey, das war in der fünften! Seit dem bin ich doch recht gut durchgekommen!“, verteidigte Paige sich.

  „Nur weil wir uns dadurch begegnet und ich dich seit dem angetrieben habe“, entgegnete Mia.

 Paige verdrehte die Augen. „Wie auch immer.“ Dann lächelte sie plötzlich. „Jedenfalls kannst du es dir heute trotzdem nicht erlauben, die kleine Miss Verantwortung zu spielen.“ Sie beugte sich etwas zu ihr vor, als würden sie ein streng geheimes Gespräch führen. „Und, wie war es eigentlich? Hat es dir gefallen?“

  Mia wusste natürlich, wovon sie sprach. „Es war okay“, sagte sie emotionslos. Ihre Laune begann schlagartig, zu sinken.

  Paige reichte das nicht. „Konnte er gut küssen oder eher nicht?“, wollte sie wissen. „Er sah nämlich so aus, als ob er das gut könnte. Sogar richtig gut.“

  „Es war nicht schlecht.“ Mia erinnerte sich an diesen Kerl und die Wut von gestern kam wieder in ihr hoch. „Nur war ich selbst eben nicht so gut.“

  „Woher willst du das wissen?“

  „Er hat es mir selbst gesagt.“

  „Nein!“ Paige sah sie mit leicht geweiteten Augen an. Dann lachte sie ungläubig auf. „Das kann nicht dein Ernst sein.“

  „Doch.“

  „Wirklich?!“

  „Ja-a.“

  „Was ist das denn für einer?“ Paige wirkte empört, lachte aber auch ein wenig über die Situation. „Hat er sonst noch etwas gesagt?“

  „Er war vor allem wütend, weil er von einer wie mir abserviert worden ist.“ Mia lehnte sich zurück und ließ sich ganz tief in die Couch sinken. „Er wollte offenbar mehr, als nur einen Tanz. “

  „Was heißt abserviert?“

  „Nachdem ich ihn geküsst habe, ist er mir hinterher gegangen. Ich habe ihm gesagt, dass er seinen Zweck erfüllt hätte und jetzt abhauen könnte.“

  „Genau so?!“

  „Genau so.“ Mia musste bei der Erinnerung lächeln. Sie lebte vielleicht fast ausschließlich für die Schule, aber gefallen ließ sie sich nichts von anderen.

  Paige lachte, wieder, auf. „Oh Gott, das hört sich ja extrem peinlich an. Ich wusste gar nicht, dass du dich so hart mit anderen anlegen kannst.“

  „Kann ich eigentlich auch nicht.“ Mia strich sich das Haar aus dem Gesicht. Sie war selbstbewusst, sehr sogar, aber eigentlich war es nicht ihre Art, andere so direkt anzufahren – nur eben, wenn sie sich verteidigen musste. Sie hielt sich lieber im Hintergrund, nicht aus Angst, sondern um Stress zu vermeiden. „Der Kerl hat mich aber echt wütend gemacht. Vor allem …“

  Sie erinnerte sich daran, was er gesagt hatte. Über Typen, mit denen sie vorher zu tun gehabt hätte.

  Mia hatte bisher nur einen einzigen Freund gehabt, auch wenn das eher eine sehr … seltsame Beziehung gewesen war. Es war durch puren Zufall passiert, oder wie sie auch gern sagte, durch pures Unglück.

  Sie hatte sich eines Tages einfach nur auf dem Heimweg von der Schule befunden. Weil Paige an dem Tag aber krank gewesen war, hatte Mia alleine laufen müssen und eine Straße eingeschlagen, die sie sonst zwar nicht benutzte, von der sie aber wusste, dass sie sie schneller um eine damalige Baustelle vor ihrem Haus gebracht hätte.

  Und da hatte sie sie gesehen.

  Es war eine Gruppe von Jugendlichen im Alter von 18 oder 19 Jahren gewesen, die einen etwas jüngeren Jungen brutal zusammengeschlagen hatte. Sie hatten ihn getreten, auf ihn eingeschlagen und Mia glaubte sich wage daran erinnern zu können, wie ein zusehendes Mädchen auf ihn gespuckt hatte. Groß etwas dagegen unternehmen hatte Mia nicht können, denn sie waren bei ihrem Auftauchen gerade fertig geworden. Sie hatten ihn liegen lassen, auf dem Boden neben ein paar Mülltonen und sich lachend verzogen.

  Mia hatte damals nicht ahnen können, was sie sich selbst antat, indem sie zu Nick rübergegangen war und ihm aufgeholfen hatte. Sie hatte ihn zum Krankenhaus gebracht und sicher gestellt, dass seine Eltern informiert worden waren. Damit hätte es auch enden sollen, eigentlich.

  Nick Helly, ihr persönlicher Schrecken, hatte sie von diesem Moment nicht mehr aus den Augen gelassen. Er war ihr auf Schritt und Tritt gefolgt und damit meinte Mia nicht, dass sie ihm einfach nur gefallen hatte. Er hatte sie als sein Eigentum angesehen.

  Mia war damals erst 14 gewesen, Nick 17. Drei Jahre Unterschied, und trotzdem hatte es ihn nicht davon abgehalten, sie überall hin mitzuschleppen. Zu Partys, auf denen Minderjährige eigentlich nichts verloren hatten, Schlägereien, Treffen von Leuten, mit denen man eigentlich nicht abhängen sollte … Mia hatte nie was gesagt, weil sie viel zu viel Angst davor gehabt hatte, von ihm zusammen geschlagen zu werden.

  Ihr hatte er zwar nie etwas Schlimmeres als ein paar Kopfnüsse und einige Ohrfeigen angetan, aber sie hatte gewusst, dass es viel schlimmer hätte kommen können. Das Mädchen, das ihn damals angespuckt hatte, nachdem er verprügelt worden war, war nur wenige Monate nach dem Vorfall mit einem gebrochenen Arm im Krankenhaus gelandet. 

  Momentan konnte Mia aber ruhig schlafen gehen. Nachdem irgendwer sich dann doch getraut hatte, Nick anzuzeigen und andere diesem Beispiel gefolgt waren, hatte er eine Strafe nach der anderen bekommen, bis ihn das letztendlich zur Therapie und ins Jugendgefängnis gebracht hatte. Und angesichts dessen, dass seine Eltern durch reinen Zufall die ganzen Drogen gefunden hatten, die er bei sich zuhause im Kopfkissen versteckt hatte, würde das noch ein laaanger Aufenthalt werden.

  Ein halbes Jahr lang hatte Nick Mia in alles mit reingezogen und es war inzwischen anderthalb Jahre her, dass das endlich geendet hatte. Obwohl schon eine längere Zeit verstrichen war, ließ diese Erinnerung, jemandem völlig ausgeliefert zu sein, Mia nicht mehr los.

  Sie war schon vorher sehr auf die Schule fixiert gewesen, aber seit dem Erlebnis mit Nick hatte sie nichts anderes mehr vor Augen. Sie wollte einen guten Schulabschluss, um später einmal sicher zu sein. Um ohne Mann leben zu können und sich nicht binden zu müssen. Sie wollte selbstständig leben können.

  „Wieso hat er dich denn so wütend gemacht?“, hackte Paige nach. Offenbar war Mia etwas in Gedanken versunken.

  Sie räusperte sich. „Ich mag keine Kerle wie ihn, die so viel von sich halten.“ Mia betrachtete ihre blau lackierten Fingernägel. „Du hättest mal sehen sollen, wie er ausgetickt ist, als ihm sagte, dass ich mich auf die Schule konzentriere.“

  „Wenn der mal von deiner kriminellen Vergangenheit wüsste“, kicherte Paige.

  Sie wusste natürlich von Nick, besser als jeder andere in Mias Umfeld. Bei ihr hatte Mia sich ausgeheult, wenn er sie geschlagen oder – noch viel schlimmer – wenn sie dabei zugesehen hatte, wie er andere geschlagen hatte. Denn das, was er ihr angetan hatte, war noch zu ertragen gewesen. Bei anderen war sie sich da nicht so sicher.

  „Sag es endlich jemandem“, hatte Paige damals zu Mia gemeint und versucht, sie dazu zu bringen, Nick bei der Polizei zu melden, aber Mia war immer zu feige gewesen.

  Rückblickend wünschte sie sich manchmal, sie hätte ihn damals, bei ihrem ersten Treffen, einfach liegen lassen.

  „Kriminelle Vergangenheit“, äffte Mia sie nach und rollte mit den Augen. „Hör auf, das so zu nennen. Das hört sich ja an, als wäre ich drogenabhängig gewesen. Außerdem weiß ich nicht, was daran kriminell sein soll, sich von einem Jungen zusammenschlagen zu lassen.“

  Und nicht nur zusammenschlagen, fügte sie im Kopf hinzu. Nick hatte in ihrer „Beziehung“ regelrechte Stimmungsschwankungen gehabt. Mal hatte er sie mit Komplimenten überhäuft, mal hatte er sie auf Übelste beschimpft. Mal hatte er sie geschlagen, mal kaum von seinem Schoß gelassen.

  Geküsst hatte er sie aber nie. Zumindest nicht auf die Lippen.

  Paige entschied sich, die Sache mit Nick in Ruhe zu lassen. Nach ein paar Löffeln voller Milch und Müsli fragte sie: „Und du willst den Kerl wirklich nicht wiedersehen?“

  „Nein.“

  „So gar nicht?“

  „Es war nur ein Kuss“, sagte Mia und fasste abwesend an ihr linkes Ohr, an dem sie sich vor einiger Zeit ausgetobt hatte. Mia liebte Piercings, da ihre Mutter ihr aber verboten hatte, sie an sichtbaren Stellen anzubringen, hatte Mia mit ihr vereinbart, dass sie zumindest mit ihren Ohren machen konnte, was sie wollte. Ihre Mutter war damit zufrieden gewesen – zumindest bis zu dem Moment, als sie mit blassem Gesicht erkannt hatte, was ihre Tochter angerichtet hatte.

  Mia lächelte bei der Erinnerung. Sie hatte nicht alles auf einmal machen lassen, sondern erst nach und nach und hatte ihrer Mutter dann das Endergebnis präsentiert, bevor diese sie hatte aufhalten können. Zuerst hatte Mia sich ein zweites Ohrloch stechen lassen, dann einen Helix. Dem waren ein Scaffold und ein Conch gefolgt, was zusammen eine, in ihren Augen, sehr schöne Kombination ergab: Zwei Piercings oben, zwei unten und eins in der Mitte. Mia hatte das Ganze aber nur an einem Ohr machen lassen, ihr rechtes hatte nur ein einziges Ohrloch.

  Das reichte. Fürs erste.

  „Trotzdem glaube ich, dass du diesem Adam eine Chance geben könntest. Schließlich …“, begann Paige, kam aber nicht weit, weil Mia sie mit gerunzelter Stirn ansah.

  „Adam?“, fragte sie verwirrt. „Ist das sein Name?“

  Paige sah sie mit schief gelegenem Kopf an. „Äh … Ja?“

  „Woher weißt du das? Kennst du ihn?“, wollte Mia beunruhigt wissen.

  Und wenn es jetzt jemand aus ihrem Stadtteil war? Musste sie ihn nun öfter sehen?

  „Woher ich ihn kenne? Ich …“ Plötzlich hielt Paige inne. Sie hob die Augenbrauen und schlug sich die Hand vor den Mund. Ihr Blick wanderte zum anderen Ende der Couch, dorthin, wo ihr Handy lag. „Ach du Scheiße …“

  „Was ist denn los?“ Mia zupfte an ihren Ohrringen herum. Nick hatte damals ganz gerne an ihrem Ohrläppchen geknabbert und selbst das kalte Metall konnte das Gefühl von seinen Berührungen nicht vertreiben. Als hätte er sie mit einem Brandzeichen versehen.

  „Mia … Ich glaube, ich habe Mist gebaut“, sagte Paige und stellte ihre Schüssel weg, bevor sie nach ihrem Handy griff.

  Mia lachte auf. „Kann schon sein. Ich wollte dich eigentlich aufhalten, aber dann kam dieser Adam und ich habe dich vergessen.“ Schadenfroh lächelte Mia Paige zu. „Na, was hast du denn so geschrieben, während du breit gewesen bist? Wieder eine Nachricht an deinen Ex?“

  „Ich habe ein Foto gemacht.“ Paige bis sich auf die Lippe, während sie hektisch ihr Handy nach etwas durchsuchte. 

  „Wovon?“

  „Von dir.“

  „Mal was ganz Neues“, meinte Mia. Paige hatte schon oft versucht, ein peinliches Foto von ihr zu schießen. Mal war es beim Essen gewesen, mal beim Sportunterricht und manchmal auch beim Schlafen. Einmal hatte sie versuchte, Mia unter der Dusche zu überraschen.

  „Nein, du … es war in der Disco.“

  „Und wenn schon.“

  „Ich habe euren Kuss fotografiert und Adam …“

  Jetzt wurden Mias Ohren Spitz. Etwas alarmiert sah sie Paige an. „Was ist mit ihm?“

  „Ich war betrunken und … er war plötzlich vor mir, und … Er hat mein Handy genommen, einfach so …“ Paige starrte mit blassem Gesicht auf den Bildschirm.

  Mia riss ihr das Handy aus der Hand und sah das Foto. Es waren eindeutig die beiden, auf der Tanzfläche, beim Küssen. Sie nahm sich kurz die Zeit, ihn noch einmal zu mustern, auch wenn man bis auf die braune Sturmfrisur und das schwarze T-Shirt nicht viel erkennen konnte. Hier waren seine Augen geschlossen, aber Mia hatte sich ihre Farbe gemerkt. Sie waren braun gewesen.

  Wenig später merkte sie, dass das Bild an eine unbekannte Nummer verschickt worden war. Sie brauchte nicht lange, um darauf zu kommen, wer es gewesen war.

  „Was machst du da?“, fragte Paige besorgt, als Mia die Nummer wählte.

  Mia antwortete nicht. Sie legte das Handy an ihr Ohr und wartete. Sie wartete und wartete und kurz bevor die Mailbox ansprang, hob jemand auf.

  „Hallo?“, kam es am anderen Ende. Es klang müde und freundlich zugleich, auch wenn die Freundlichkeit irgendwie erzwungen wirkte. Als würde er in Wirklichkeit eigentlich schreien wollen.

  „Das Foto“, sagte Mia bloß.

  „Was? Wer ist da?“

  „Der Streber.“ Sie lehnte sich zurück. „Guten Morgen.“ 

  „Hast du eigentlich auch nur die leiseste Ahnung, wie spät es ist?“, fauchte er in den Hörer. Jede Freundlichkeit war aus seiner Stimme verschwunden.

  „Keine Ahnung. Acht? Neun?“

  „Halb acht, du Pfosten.“ Er atmete einmal tief durch. „Was willst du?“

  „Ich habe gerade erfahren, dass du meine Freundin überfallen hast“, sagte Mia. „Hast du vielleicht was zu sagen? Etwas, was mit einem Bild zu tun haben könnte?“

  Kurz herrschte am anderen Ende Stille. Dann lachte er plötzlich amüsiert auf. „Oh. Das.“

  „Wieso hast du dir dieses Bild geschickt?“

  „Stört dich das?“

  „Ich will nicht, dass du es hast.“

  „Das ist dein Problem.“ Er gähnte. „Ich bin immerhin auch auf dem Foto, also gehört es genauso sehr mir, wie dir.“

  „Dann lösche ich es eben sofort. Keiner von uns muss es haben“, sagte Mia genervt und bereute es mittlerweile, sich ausgerechnet auf diesen Adam eingelassen zu haben.

  „Damit bin ich nicht einverstanden.“ Er klang gelangweilt.

  Mia biss die Zähne zusammen, Paige musterte sie dabei besorgt von der Seite. „Wofür brauchst du es überhaupt?“

  „Wer weiß?“, fragte er und sie hatte allmählich das Gefühl, dass er sich einfach nur noch über sie lustig machen wollte. „Ich bin Blogger, da könnte man sowas immer gut gebrauchen. Als Beweis für eine Geschichte. Um wieder Gesprächsthema zu werden, falls es mal nicht gut läuft. Als Erinnerung. Als Druckmittel.“ Das letzte Wort sprach er mit vielsagender Betonung aus.

  Mia schnaubte. „Druckmittel? Sprichst du hier von Erpressung? Es ist mir egal, ob du das Bild öffentlich machst. Es wäre mir zwar nicht angenehm und ich würde mir wünschen, dass du es löschst, aber falls nicht, dann ist es auch kein Weltuntergang. Ich habe keine Angst davor.“ Und erstaunlicherweise stimmte das sogar.

  Dieses Mal schnaubte Adam. „Natürlich nicht. Wenn einer von uns schon Angst haben sollte, dann bin das ja wohl ich.“

  „Fängst du schon wieder damit an?!“, zischte Mia. „Ich sag dir mal was – das Thema Schule steht für mich ganz oben, ja, und ich verbringe auch die meiste Zeit damit, dafür zu lernen. Ich bin aber nicht gerade aus einem anderen Land hergezogen. Und achte auf mein Aussehen. Ich habe Freunde. Ich bin kein Stubenhocker, der seit Jahren gemobbt wird, so wie du vielleicht denkst.“ Sie musste sich beherrschen, um nicht laut zu werden. „Ich werde deinem scheiß Ruf nicht schaden. “

  Adam gab sich unbeeindruckt. „Ja, klar. Und ich schätze, ich habe dich genau deshalb noch nie zuvor bei irgendwelchen Feiern gesehen – weil du ja ein ach so aktives Leben führst.“

  Mia gab es auf. Sie entspannte sich etwas. „Du bist ein Schwein“, sagte sie nur.

  „Und du eine Langweilerin, die übers Telefon gerne einen auf großes Mädchen tut.“

  „Du kannst ja kommen und ich werd dir zeigen, dass es nicht nur übers Telefon gehen muss!“, fauchte Mia ihn an und war selbst überrascht von sich. So kannte sie sich gar nicht. Sie ging eigentlich jedem Streit aus dem Weg, nur eben nicht, wenn es sich absolut nicht vermeiden ließ.

  Aber bei dem Kerl konnte sie es sich nicht verkneifen.

  „Soll ich mich etwa für dich auf den Weg machen?“ Er lachte, als hätte er gerade einen schlechten Witz gehört. „Nein, danke.“

  „Da du ja anscheinend so viel mehr wert als ich sein sollst, kann ich mich ja auf den Weg machen“, meinte Mia aufsässig. „Nenn mir nur die Adresse.“

  „Hey“, sagte Paige leise und winkte mit der Hand, als würde sie Mia abkühlen wollen.

  Adam lachte wieder. Er klang gar nicht mehr so müde, eher belustigt. „Dein Ernst?“

  „Mein voller Ernst.“

  „Ich bitte dich.“

  „Rück schon raus mit der Sprache.“ Mia stand von der Couch auf.

  „Brevedinstraße 36, neben der Apotheke.“ Er schwieg kurz. „Du kommst ja eh nicht.“

  Mia würdigte seinen letzten Satz nicht einmal einer Antwort. Sie legte auf und warf Paige das Handy hin, ihre Freundin fing es erschrocken auf.

  „Du … willst nicht wirklich … oder?“, stotterte Paige. „Was hat er gesagt?“

  „Nichts als Unsinn“, sagte Mia. Sie rieb sich die Augen.

  „Und was machst du jetzt?“

  „Was wohl? Ich fahr zu ihm rüber und verlang dieses dumme Bild zurück.“ Langsam regte Mia sich wieder ab. Sie verschränkte die Hände vor der Brust, während sie so da stand.

  „Jetzt sofort?“

  „Natürlich nicht“, sagte Mia. „Ich fahr zuerst nach Hause, dusche, esse … und dann werde ich ihn erst aufsuchen.“

  „Das kenn ich ja gar nicht von dir“, wunderte sich Paige. „Dass du wegen so einer Kleinigkeit derartig ausrastest.“ Sie zog leicht den Kopf ein. „Bist du sauer?“

  „Ja – aber nicht auf dich“, sagte Mia.

  Ihr ging es nicht um das Bild, das Bild war ihr völlig egal. Es ging hier um mehr.

  Sie war schon länger auf die Schule fixiert und hatte sich deshalb des Öfteren Kommentare von anderen anhören müssen, nur hatte sie das bisher nie wirklich besonders interessiert, weil sie kein Problem darin gesehen hatte, schlau zu sein. Dieser Adam griff aber nicht mehr nur ihre Ansichten an, sondern ihre ganze Persönlichkeit. Er reduzierte sie auf das, was sie für richtig hielt – und das machte sie wirklich wütend.

  Adam hatte etwas in ihr ausgelöst, das ihr nicht gefiel. Und sie war bereit, zu ihm zu fahren, um ihm diese Gefühle in den Hals zu schieben.

- Kapitel 3 -

 

Kaum sechs Stunden später stieg Mia bereits geduscht und geschminkt aus dem Bus, mit dem sie zu Adam gefahren war. Sie war in diesem Stadtteil nicht oft unterwegs, kannte sich aber gut genug aus, um seine Straße zu finden. Das leuchtendrote Schild der Apotheke war ihr dabei sehr hilfreich.

  Mia schauderte ein wenig, als sie aus dem Bus stieg und ihr draußen die kalte Luft entgegenschlug. Es war ein zwar schneeloser Winter, dafür aber ein trotzdem sehr kalter. Sie wickelte den Schal etwas enger um ihr Gesicht und steckte die Hände dann sofort in die Taschen.

  Wenn sie sich heute diese Kälte anschaute, konnte sie kaum verstehen, wie sie und Paige gestern hatten in Shorts und Tops unterwegs sein können. Sie hatten sich draußen zwar in mehrere Schichten Wollen gewickelt, es war aber im Nachhein schwer vorzustellen, dass das gereicht hatte.

  Mit leicht schlagendem Herzen ging Mia die recht leere Straße entlang und blieb vor dem Haus mit der Nummer 36 stehen. Da sie Adams Nachnamen nicht kannte, klingelte sie einfach irgendwo an.

  Bei ihrem ersten Versuch hatte ihr eine ältere Dame geöffnet, die einen starken Geruch nach Katzen verbreitet hatte. Und Zigaretten.

  „Entschuldigung“, hatte Mia gesagt. „Wohnt Adam hier?“

  „Wer?“, hatte die alte Frau gefragt. Offenbar hatte sie sie einfach nicht gehört.

  „Adam“, hatte Mia langsam wiederholt und sich dabei den Schal vom Gesicht gezogen.

  „Eine Etage höher, rechte Tür, glaube ich“, hatte die Alte gesagt und ihr ohne Weiteres die Tür vor der Nase zugeschlagen, eventuell aus Angst, ihre Katzen hätten davonrennen können. Die hatten nämlich wie hungrige Tiger hinter ihrer Besitzerin hervor gelugt und Mia misstrauische Blicke zugeworfen.

  Sie war froh, vor der richtigen Tür angekommen zu sein, als sie eine Etage weiter ging. Vor der Wohnung standen abgetretene Sportschuhe in der Größe einiger ihrer Klassenkameraden. Selbst wenn Adam hier nicht wohnte, würde es zumindest einen Typen in seinem Alter geben, der sicher wüsste, welche Wohnung ihm gehörte.

  Nur wenige Sekunden, nachdem sie geschellt hatte, wurde die Tür von einer Frau mittleren Alters geöffnet, die Mia fragend ansah. Sie sah Adam vom Gesicht her kein Stück ähnlich, hatte aber dieselben, braunen Augen.

  „Hallo“, sagte Mia sofort.

  „Hallo?“, fragte die Frau mit einem leichten Lächeln. Sie trug einen schwarzen Bademantel, den sie eng um ihren schlanken Körper geschlungen hatte. Für ihr Alter war sie recht hübsch, wenn auch etwas schläfrig. Die braunen Haare waren unordentlich zusammengebunden. „Kann ich dir irgendwie helfen?“

  „Entschuldigen Sie bitte die Störung, aber wohnt Adam zufällig hier?“, fragte Mia höflich.

  Die Frau sah sie überrascht an. „Adam? Nun … ja.“

  Also war es doch die Mutter. Mia schluckte kurz. „Ach so, gut. Und ist er denn Zuhause?“

  „Er ist gerade im Bad“, sagte seine Mutter und rieb sich die Stirn. „Wieso fragst du denn? Wolltest du zu ihm?“ Sie klang nicht misstrauisch oder abwertend, sondern eher ein wenig angespannt. Als wäre sie es nicht gewohnt, dass Mädchen an ihrer Tür auftauchten.

  Oder vielleicht geschieht das ihrer Meinung nach ein wenig zu oft, dachte Mia und gab sich Mühe, nicht das Gesicht zu verziehen.

  Sie fischte schnell ihr Handy aus der Tasche und hob es mit einem entschuldigenden Lächeln hoch. „Wir haben uns gestern zufällig getroffen und er hat ein wenig mit meinem Handy rumgespielt … Jedenfalls hat er meine Sperrung verändert und mir hinterher nicht verraten, wie sie lautet. Ich komme seit gestern nicht mehr rein.“ Dann rollte sie mit den Augen, als würde sie über ein albernes Kind lachen. „Was für ein dummer Streich.“

  „Oh.“ Das hatte seine Mutter wohl nicht erwartet. „Wenn das so ist.“ Sie sah einmal schnell über die Schulter und wieder zurück. „Er müsste bald rauskommen. Willst du eben drinnen auf ihn warten?“

  „Danke“, sagte Mia und betrat die Wohnung.

  Leicht naiv, hätte manch einer nun über Mia sagen können, einfach so die Wohnung von jemand anderes zu betreten, aber nach den ganzen düsteren Orten, an die Nick sie damals mit geschleppt hatte, erschien ihr die Wohnung eines Fremden mehr als bloß harmlos.

  „Tut mir Leid, dass du wegen deines Handys extra hierher kommen musstest“, seufzte Adams Mutter, während sie die Tür hinter ihr schloss.

  „Nicht schlimm. Kann ja mal passieren“, sagte Mia bloß.

  „Willst du vielleicht einen Tee oder etwas anderes zum Aufwärmen?“, wollte die Frau wissen.

  Mia lehnte dankend ab.

  „Na gut, in Ordnung“, seufzte Adams Mutter. Sie musterte Mia einmal von oben bis unten. „Zieh dir ruhig die Schuhe und die Jacke aus, ich glaube er braucht noch ein paar Minuten. Bis dahin musst du nicht hier stehen und schwitzen.“

  Gehorsam schlüpfte Mia aus ihren Schuhen und stellte sie neben die Haustür. Dann zog sie ihren Mantel aus und häntge ihn an die Türklinke. Die Wohnung war recht gut beheizt und sie schwitzte tatsächlich schon ein bisschen.

  Das, was sie von der Wohnung bisher erhaschen konnte, war sehr schön. Grüne Wände mit dunklen Holzmöbeln, was zusammen ein wenig an einen Wald erinnerte. Es gab auch ein paar Bilder in gelben Rahmen an den Wänden, aber sie hatte keine Zeit, sie sich genauer anzusehen.

  „Komm mit, du kannst in der Küche auf ihn warten“, sagte die Frau und verschwand in einem Zimmer.

  Etwas nervös folgte Mia ihr. Das Ganze beunruhigte sie doch ein wenig, aber wenn sie daran dachte, was für ein Gesicht Adam machen würde, sobald er sie hier sah, kam ihre Entschlossenheit zurück. Schließlich war sie hier, um ihm und sich selbst etwas zu beweisen.

  „Woher kennt ihr euch eigentlich?“, fragte Adams Mutter verdächtig beiläufig, als Mia die helle Küche betrat.

  „Parallelklassen“, log Mia. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, auf welche Schule Adam ging.

  „Ah“, machte seine Mutter und setzte sich an den Tisch, auf dem eine aufgeschlagene Zeitung lag. Sie blätterte abwesend um. „Verstehe.“

  Mia sagte nichts mehr. Sie tat, als wäre sie furchtbar mit ihrem versperrten Handy beschäftigt, ehe sie eine zufallende Tür in der Wohnung hörte.

  „Mom? Ich bin jetzt fertig, falls du das Bad auch brauchst“, kam von irgendwoher eine bekannte Stimme. Mia hatte sie bisher nur mit Musik im Hintergrund oder übers Handy gehört, erkannte sie aber trotzdem. Sie sah nicht auf, als sie aus dem Augenwinkel jemanden an der Tür der Küche auftauchen sah. „Ich hab das Fenster aufgemacht, damit es nicht so stickig ist, aber …“, begann Adam, bevor er abbrach.

  Es folgte kurze Stille.

  Mia tat ihm immer noch nicht den Gefallen, aufzusehen und spielte mit ihrem Handy rum, dabei spürte sie förmlich, wie er sie anstarrte. Erst nach ein paar Sekunden steckte sie es wieder weg und sah auf. Als ihre Augen seinem verwunderten Blick begegneten, lächelte sie. Nicht frech, sondern zuckersüß.

  „Hi“, sagte sie dann zu Adam, der mit einer grauen Jogginghose und einem schwarzen T-Shirt in der Tür stand. Seine Haare waren nass und er hatte sich ein Handtuch um den Hals gelegt, an deren Enden er sich festhielt, als wäre es ein Rucksack.

  Er erwiderte ihren Gruß nicht. Er sah sie an, als könnte er sie nicht fassen. „Wirklich?“, fragte er besonders betont. „Ist das wirklich dein Ernst?“

  Sie hörte nicht auf zu lächeln. „Selbstverständlich.“

  Adam schnalzte mit der Zunge. Offenbar hatte er tatsächlich geglaubt, dass sie nicht kommen würde.

  „Ich denke du weißt, weswegen ich hier bin“, sagte Mia mit unschuldigem Unterton. Ein Blick zu seiner Mutter verriet ihr, dass diese nichts zu bemerken schien. „Ich …“

  „Das können wir auch auf meinem Zimmer klären“, sagte er schnell und war nur einen Wimpernschlag später bei ihr, um sie am Arm zu packen. Mia zog erschrocken die Luft ein, als er sie energisch mit sich zog, vermutlich aus Angst, sie würde vor seiner Mutter etwas von dem Bild erwähnen. „Wie gesagt, das Bad ist jetzt frei!“, rief Adam seiner Mutter über die Schulter zu, bevor er Mia zu seinem Zimmer zog.

  „Hab’s gehört!“, antwortete seine Mutter irgendwie belustigt. Sie klang etwas aufgeregt und auf einmal glaubte Mia nicht mehr, dass Adam oft von Mädchen Besuch bekam. Sie fragte sich, ob er überhaupt Besuch bekam.

  Mit einem starken Schwung stieß Adam Mia in sein Zimmer, bevor er die Tür hinter sich eilig schloss, als müsste er sie vor seiner Mutter verstecken. Als er sich zu ihr umdrehte, waren seine Lippen fest zusammengepresst.

  „Was soll das eigentlich?“, fuhr er sie an.

  Mia hörte auf zu lächeln und verschränkte die Arme vor der Brust, dabei schob sie ihr Kinn vor. „Ich habe dir gesagt, dass ich herkommen werde, wenn es sein muss“, sagte sie trotzig. „Ich will dieses verdammte Bild.“

  „Das kannst du vergessen“, sagte Adam hitzig. „Außerdem hast du mich in gewisser Weise für deinen ersten Kuss missbraucht. Ich muss dir also gar nichts.“

  Mia lachte überrascht auf. „Und wenn schon. Wenn es wirklich so schlimm gewesen wäre, hättest du mich weggestoßen oder wärst mir zumindest nicht hinterher gerannt. Erzähl mir nicht, dass es schlimm für dich gewesen ist.“

  „Argh, du verstehst das nicht!“ Er legte ihr eine Hand auf die Schulter, um vorbeikommen zu können, aber statt sie wegzustoßen, so wie sie es von Leuten aus der Schule gewohnt war, schob er sie lediglich sacht weg. Dann ging er zu seinem Schrank und riss sich das Handtuch vom Hals, ehe er begann, etwas zu suchen.

  Erst jetzt nahm Mia sich die Zeit, sein Zimmer genauer zu betrachten. Es war das Seltsamste, was sie je gesehen hatte. Ein Zimmer, das genau in der Mitte von einer unsichtbaren Grenze geteilt zu sein schien. Auf der einen Seite gab es eine Couch, einen kleinen Tisch mit einem Fernseher, ein Trainingsgerät mit ein paar Hanteln und einem Trainingssack, der an der Decke hing. Die Wand der rechten Zimmerhälfte war überseht mit Plakaten und Fotos, man sah kaum ein Stück von der Tapete, so vollgeklebt war sie. Allgemein war diese Hälfte des Zimmers völlig überfüllt, etwas chaotisch.

  Die andere hingegen war völlig leer. Es gab nichts außer einem Bett, einem Tisch und einem Schrank, die so farblos wie die Möbelstücke in einer Gefängniszelle waren. Die Wände waren völlig kahl, ohne Bilder, ohne alles. Diese Zimmerseite war aufgeräumt und wirkte beinahe unbenutzt, nur auf dem Schreibtisch waren lauter Zeitschriften und Notizblöcke verteilt.

  Während Adam immer noch leise fluchend in seinem Schrank nach etwas suchte, trat Mia vorsichtig an den Schreibtisch und betrachtete die Zeitschriften und Notizblöcke. Egal, was sie sah, alles schien mit demselben Thema zu tun zu haben: Psychologie. Adam hatte manche Artikel farbig markiert und sich Notizen auf einzelnen Blättern gemacht. Die Begriffe, die Mia am öftesten zu sehen bekam, waren „Soziale Phobien“, „Fremdbild“, „Selbstbild“ und „Identitätsverlust“. 

  Wenn sie sein Zimmer so betrachtete und daran zurück dachte, wie er gestern von seinem Ruf geredet hatte, wurde ihr fast klar, was hier eigentlich los war. Sie sah zu ihm rüber. „Du bist ja völlig krank.“

  Er drehte sich nicht zu ihr um, sondern schloss lediglich seinen Schrank. Mittlerweile trug er eine Sportjacke über seinem T-Shirt. Es war zwar warm in der Wohnung, aber immer noch Winter. „Bin ich nicht.“

  „Und ob“, beteuerte Mia.

  Er drehte sich zu ihr um. Sein Gesicht war nicht mehr wütend, nur noch ausdruckslos. „Und ich denke, du kannst das einfach so sagen, weil du dich für besonders schlau hältst, ja?“, zischte er sie an. „Du denkst, klug genug zu sein, um über mich urteilen zu können.“

  Wow, dachte Mia und trat einen Schritt zurück, während er sie so ansah, da hat jemand aber Komplexe.

  „Gerade du solltest nichts von Vorurteilen reden“, sagte sie, dieses Mal etwas gelassener. „Kaum hab ich dir gestern gesagt, dass mir Schule etwas wichtiger ist, als Beziehungen, hast du mich sofort als Streber abgestempelt und gedacht, du hättest gerade mit dem letzten Stubenhocker rumgemacht.“

  „Warst du denn jemals vorher in einer Disco?“, fragte Adam herausfordernd. „Oder irgendwo sonst, wo man feiern kann?“

  „Natürlich.“

  „Und wie lange ist das her?“

  „Nun …“ Sie war sich nicht ganz sicher.

  Adam hob eine Augenbraue. „Na, setzt dein riesen Gehirn etwa aus?“

  „Halt die Klappe“, fuhr sie ihn halbherzig an. Die Diskussion wich ins Kindische.

  „Was machst du in deiner Freizeit?“, fuhr er mit der Fragerei fort.

  Mia biss sich auf die Zunge. Fast hätte sie „lernen“ gesagt. „Shoppen. Kino. Überwiegend aber mit meiner besten Freundin unterwegs sein.“

  „Klingt ja unglaublich spannend“, sagte Adam trocken.

  „Ich habe meine Gründe dafür, so zu leben, wie ich es tue“, beteuerte Mia verärgert. Sie verstand nicht genau, was mit ihr los war. Ihre Beziehung zu Nick hatte sowohl ihre Einstellung zu Jungs und Freunden, als auch Teile ihrer Persönlichkeiten stark verändert und dafür hatte sie sich nie rechtfertigen müssen. Sie war nicht schuld daran, diese Erfahrung gegen ihren Willen gemacht zu haben.

  Sie kam sich vor wie vor Gericht.

  „Und ich habe meine Gründe dafür, das Bild zu behalten.“ Adam wies auf die Notizbücher. „Ich habe Probleme“, sagte er etwas leiser. Mia unterbrach ihn nicht. „Ich hab …  Ich will nur nicht, dass es so stark auffällt und deshalb täusche ich eben ein wenig etwas anderes vor.“ Er wies zu der Zimmerhälfte, die voller Sportgeräte und Plakate war. „Das geht im Internet am besten. Im Internet kannst du jeder sein, der du sein willst.“ Er seufzte einmal. „Du kannst dir nicht vorstellen, wie anstrengend das ist. Ich habe so lange gebraucht, um mir das alles aufzubauen …“ Er klang schon fast erschöpft.

  „Wäre es nicht leichter, einfach zur Therapie zu gehen, statt das Ganze so auf dich zu nehmen?“, fragte Mia etwas vorsichtiger.

  Sie glaubte immer noch ein wenig daran, dass Adam ein Arsch war, aber sie musste zugeben, dass ihre Wut ein wenig abgekühlt war. Er hatte eben ein paar Probleme im Kopf, die ihn ihr gegenüber etwas grober machten. Das lag ja auch nicht daran, dass er etwas gegen sie persönlich hatte, sondern einfach fürchtete, sie könnte seinem Ruf schaden, weil er nicht wusste, wie andere Menschen darauf reagieren würden, wenn sie ihn mit einem Mädchen wie ihr sahen.

  Und Mia wusste, dass er sogar ein wenig recht hatte. Sie übersah die abfälligen Blicke nicht, die ihr manche Leute aus der Schule hinwarfen, das Geflüster, wenn sie von Lehrern gelobt wurde, nur ignorierte sie sie für gewöhnlich, weil sie ihr egal waren. Adam waren sie aber nicht egal.

  Erst, als sie erkannte, wie sehr sie seinem Ruf mit dem Korb von gestern in seinen Augen eigentlich schaden konnte, fühlte sie sich zum ersten Mal wirklich unwohl in ihrer Haut.

  „Wäre es nicht leichter, einfach zur Therapie zu gehen“, äffte Adam sie nach und setzte sich auf die Couch. Er sah sie mit zusammengekniffenen Augen an. „Du solltest dich mal hören. Genau wie die ganzen Erwachsen redest du, zu denen meine Mutter mich geschleppt hat. Warum meinen eigentlich alle, besser als ich zu wissen, wie ich am besten mit meinen Problemen klarkomme?“

  „Es war nur ein Vorschlag“, verteidigte sich Mia frustriert.

  „Und ich danke dir unglaublich dafür“, sagte Adam sarkastisch. „Schließlich wäre ich niemals von selbst darauf gekommen. Wo hat man dir das beigebracht? Im Französischunterricht?“

  Mia verdrehte die Augen. Sie konnte verstehen, dass seine Angst vor der Beschädigung seines Rufes wegen ihr ihn etwas zickig werden ließ, aber er übertrieb es langsam mit seiner Feindseligkeit.

  „C'était juste une idée“, sagte sie in fließendem Französisch, was so viel wie „es war nur ein Gedanke“ bedeutete. Es war nur dazu da, um ihn etwas zu provozieren und es wirkte.

  Adam sah sie mit gehobenen Augenbrauen an. „Du bist so ein Miststück“, sagte er fast erstaunt. Als wunderte er sich, warum ihm das nicht schon früher aufgefallen war.

  „Ich bin das Miststück? Was habe ich denn bitte getan?“, fragte sie ihn mit gehobener Stimme.

  „Du hast mich geküsst und mich dann stehen lassen, sodass es alle sehen konnten!“, fauchte er auf einmal. Mia zuckte zurück. „Das allein ist schon schlimm genug, aber dass ich nicht nur von einem einfachen Mädchen, sondern von einem Streber ohne ersten Kuss und ohne richtigen Ruf stehen gelassen worden bin, lässt mich wirken wie den letzten Versager!“ Er wandte genervt den Blick ab.

  Mia hätte gern zurückgeschrien, aber ihr fehlten die Worte. Sie fing tatsächlich an, zu glauben, dass das alles ihre Schuld war, was teilweise sogar stimmte – schließlich hatte sie sich durch den Kuss selbst in diese Lage gebracht. Sie fragte sich, ob es das Ganze denn überhaupt wirklich wert gewesen war.

  Wieso ging immer alles so fürchterlich schief, wenn sie etwas mit Jungs zu tun hatte?

  Sie verbrachten ein paar Sekunden in Stille. Dann warf Mia verzweifelt die Hände in die Luft. „Was soll ich denn machen? Was willst du jetzt von mir hören?“

  „Ich will einen vernünftigen Vorschlag, wie wir das klären können“, sagte er, ohne sie anzusehen. „Und zwar einen, der nicht akzeptiere dich, wie du bist, denn so bist du am besten lautet, weil das nämlich kompletter Quatsch ist.“

  „Wie wäre es damit?“, fragte Mia, nachdem sie geräuschvoll die Luft ausgestoßen hatte. „Du gibst mir dieses Bild und es landen keine sonstigen Aufnahmen von mir im Internet. Dafür kannst du über jedes fiktive Erlebnis mit mir erzählen, das du willst. Wenn mich jemand darauf anspricht, werde ich allem zustimmen.“ Das war ein gefährliches Angebot, aber ihr war ohnehin egal, was andere über sie dachten – Ihm aber nun einmal nicht und das würde sie wohl oder übel akzeptieren müssen. Er hatte ein Recht auf seine Meinung.

  „Das reicht nicht“, sagte Adam stur, nachdem er darüber nachgedacht hatte.

  „Wieso nicht?“

  „Weil man uns zusammen sehen muss. Nur so glauben es die Leute wirklich, wenn es schon keine Aufnahmen im Internet gibt.“

  „Dann treffen wir uns eben ein paar Mal, spazieren an öffentlichen Orten und tun so, als hätten wir was am Laufen – damit es auch alle sehen“, schlug Mia erschöpft vor. Sie wurde langsam müde und wollte eigentlich nur nach Hause. Sie musste noch ein Referat in Geschichte vorbereiten, das sie nicht vermasseln durfte. Und ihr Zimmer aufräumen.  

  „Das ändert immer noch nichts daran, dass du … du bist“, entgegnete er.

  Mia trat zu ihm und sah fasziniert von so viel Ignoranz zu ihm herunter. „Du bist echt richtig gemein“, sagte sie. „Aber nicht so, wie andere Jungs, sondern irgendwie unbewusst. Das ist richtig scheiße.“

  „Du wolltest doch, dass ich mich nicht so viel verstelle“, warf Adam ein und sah mit düsterem Gesichtsausdruck zu ihr hoch. Wieso führte er sich so auf, wenn sie ihm schon entgegen kam? „Ich sage zu dir das, was ich denke.“

  „Vielleicht müsstest du nicht so wütend auf mich sein, wenn du hin und wieder auch anderen sagen würdest, was du denkst, statt jedem nur das zu geben, was sie sehen und hören wollen“, feuerte sie zurück. So wichtig, wie sein Ruf ihm war, konnte sie sich gut vorstellen, dass er seine Wut oft runterschluckte und freundlich blieb. Mia beruhigte sich etwas, als sie darüber nachdachte. „Wer weiß sonst noch von deinen Problemen?“, fragte sie dann müde.

  „Außer dir? Keiner.“

  „So gar keiner?“

  „Niemand außer meinen Eltern.“

  „Wie soll das denn bitte gehen? Hast du nie mal Freunde zu dir eingeladen?“

  „Damit sie das hier sehen?“ Adam wies einmal durch sein Zimmer. „Wohl kaum.“

  „Wofür eigentlich diese seltsame Aufteilung?“, fragte Mia und betrachtete die chaotische Zimmerseite.

  „Hier mache ich gelegentlich kurze Videos oder Fotos.“ Adam zuckte die Schultern. „Es soll eben so aussehen, als würde ich selbst Zuhause so leben, wie ich auf meinem Blog vorgebe.“

  „Du hast dir dafür extra Sportgeräte gekauft?“, fragte Mia und betrachtete die Hanteln. „Nur für Show?“

  Er lächelte leicht wegen der Frage, zum ersten Mal. „Nein, die benutze ich wirklich“, sagte er und unter der ganzen Gepresstheit seiner Stimme hörte Mia einen fast schon belustigten Ton heraus. Mia wusste nicht, was sie darauf antworten sollte, aber glücklicherweise nahm er ihr diese Aufgabe ab, als er plötzlich aufsprang und sie fast umschmiss. „Magst du eigentlich Drush?“, fragte er sie aus heiterem Himmel.

  Drush war ein Energie Drink, der seit gerade mal einem halben Jahr verkauft wurde, jetzt schon aber extrem angesagt bei Jugendlichen war.

  Mia blinzelte ihn verwirrt an. „Äh … ja?“, sagte sie unsicher.

  Adam ging zu dem kleinen Tisch, auf dem sein Fernseher gegenüber seiner Couch stand und öffnete eine der beiden Schubladen. Er holte eine blaue Dose mit der Aufschrift „Drush“ heraus und warf sie Mia zu. „Hier.“

  Mia fing sie geschickt auf, konnte aber nicht umhin, als ihn fragend anzusehen. „Was soll das jetzt?“

  „Ich finde, dass das Zeug scheußlich schmeckt“, sagte Adam, als würde es alles erklären.

  „Und ich soll es jetzt für dich trinken?“

  „Ja.“

  „Wieso hast du überhaupt etwas davon Zuhause, wenn du es nicht magst?“

  „Weil es gerade schwer angesagt an meiner Schule ist“, erklärte er. „Ich brauche die Dose für Bilder. Pass also auf, dass du sie nicht kaputt machst. Man soll nicht erkennen können, dass es immer dieselbe ist.“

  „Ist das dein Ernst?“, fragte sie ihn ein bisschen fassungslos. „Du schleppst leere Dosen von Drush mit dir rum, um sie für Fotos benutzen zu können?“

  „Ich habe zwei andere Geschmackssorten im Schrank liegen“, sagte er. „Ich glaube, es würde auffallen, wenn es immer dieselbe Farbe wäre.“

  „Malade“, murmelte Mia, während sie die Dose aufmachte und einen kräftigen Schluck nahm. Es schmeckte nach prickelnder Blaubeere.

  „Was soll das jetzt heißen?“, fragte Adam mit gerunzelter Stirn, während er sich wieder hinsetzte.

  „Das ist krank“, wiederholte Mia in seiner Sprache.

  Adam schnaubte verächtlich. „Nenn es, wie du willst. Das ist meine Sache.“

  „Wie auch immer.“ Mia setzte sich auch auf die Couch und sah ihn an, die Dose an den Lippen. „Gehst du jetzt auf mein Angebot ein oder nicht?“ Er schaute noch etwas skeptisch drein. „Es ist besser, als nichts“, betonte sie dann.

  Außerdem reist mein Geduldsfaden bald, fügte sie in Gedanken hinzu, ertränkte die Worte aber in einem weiteren Schluck.

  „Gut, okay .. ich gehe darauf ein … unter einer Bedingung“, sagte er.

  „Welche?“ Erstaunlich, dass er in seiner Position überhaupt daran dachte, Bedingungen zu stellen. Mia schloss genervt die Finger um die Dose in ihrer Hand.

  Es war das erste Mal, dass sie ihn fast verlegen sah. Er senkte den Blick und schluckte kurz. „Du erzählst niemandem etwas davon“, sagte er leise. „Von nichts, was du eben hier gesehen hast.“

  Ou.

  „Schon gut, mach ich nicht“, winkte sie ab und lockerte ihren Griff wieder.

  „Ich meine das ernst, du darfst es keinem sagen“, wiederholte er und fasste sie an einer Schulter, sodass sie fast das Drush verschüttete.

  „Keine Sorge. Ich behalte es für mich. Versprochen“, sagte sie mit einem leichten Lächeln, das beruhigend wirken sollte.

  Dieses Versprechen kam nicht ganz ohne Hintergedanken, das musste sie zugeben.

  Adam hatte ihr mit seiner heftigen Reaktion auf ihr Image klar gemacht, dass es ihr vielleicht nicht schaden würde, zumindest hin und wieder das Haus mit jemand anderes als Paige zu verlassen … Oder auf Partys zu gehen … oder irgendeinem Verein beizutreten …

  Schließlich müsste sie nicht gleich ihre ganzen Prinzipien gegenüber Jungs und Schule aufgeben, sondern bloß ihren Alltag ein kleines bisschen umstellen … oder nicht?

  Vielleicht hätte Adam ihr wirklich ein wenig dabei helfen können, ihren Ruf zu verbessern.

  In gewisser Weise … halfen sie sich gegenseitig in dieser Sache – zwar aus egoistischen Gründen, aber dennoch. Sie konnten einander von Vorteil sein. 

- Kapitel 4 -

 

Obwohl die Schule noch nie ein wirklich angenehmer Ort für sie gewesen war, war Mia vor allem heute besonders froh gewesen, nach Schulschluss durch ihre Wohnungstür zu treten und sich in ihrem Zimmer auf das Bett fallen zu lassen. Das hatte nicht daran gelegen, dass heute Montag war – nicht überwiegend –, sondern daran, dass sie die Anwesenheit anderer Leute um sich herum und ihre Blicke auf sich noch mehr gespürt hatte, als üblich.

  Für gewöhnlich schaltete sie im Unterricht völlig ab und konzentrierte sich allein darauf, was der Lehrer sagte, aber nicht heute. Heute hatte sie ihre Mitschüler genauer betrachtet. Sie hatte die Zettel, die heimlich herum gereicht worden waren mit den Augen verfolgt, aber es war nie einer bei ihr gelandet. Sie hatte genau aufgepasst, wenn jemand unter dem Tisch mit dem Handy eine Nachricht an seine Freunde geschickt hatte, aber ihr eigenes hatte nie vibriert. Während des Unterrichtes hatte sie Gesprächen vor und hinter ihrem Tisch gelauscht und dabei Themen aufgeschnappt wie Filme, Musik oder Partys.

  Über nichts davon war sie wirklich informiert gewesen und es war ihr zum ersten Mal richtig klar geworden, wie stark sie gesellschaftlich eigentlich hinterher hing.

  Das deprimierte sie. Und sie hasste Adam dafür, dass er ihr das so dermaßen vor Augen geführt hatte, denn vorher hatte sie mit sich und ihrer Einstellung in Frieden leben können. Jetzt kam es ihr vor, als würde ihr ständig etwas im Nacken sitzen, das ihr leise ins Ohr flüsterte, wie wenig ihr Umfeld eigentlich von ihr hielt.

  Das erklärte vielleicht auch ihre schlechte Laune während ihres ersten, gestellten Dates mit Adam. Während des gesamten Dates.

  „Könntest du bitte aufhören, so zu gucken?“, motzte Adam sie an, während sie beide mit einem Milchshake in der Hand über die Straße gingen. Er hatte alles andere als sanft eine Hand um ihre Hüfte geschlungen und drückte sie etwas an sich, was ziemlich nervte, da sie so kaum trinken konnte.

  „Lass mich in Ruhe. Heute war ein beschissener Tag“, entgegnete Mia bloß und zog an ihrem Strohhalm. Eigentlich war es viel zu kalt für einen Milchshake, aber Adam hatte darauf bestanden. Am Ende hatte Mia nachgegeben.

  „Was war denn los? Hast du eine Zwei in Mathe bekommen?“, fragte Adam. Er musste nicht einmal Sarkasmus in seine Stimme packen, um ihr zu zeigen, wie spöttisch dieser Satz sein sollte.

  „Ich hatte seit der sechsten keine Zwei mehr in Mathe“, erwiderte Mia lediglich. „Um so schlecht abzuschneiden, müsste ich bei einer Arbeit völlig breit sein.“

  Bei diesem Kommentar musste Adam sogar ein bisschen schmunzeln.

  Es war das erste Mal, dass sie einander sahen, seit Mia bei ihm Zuhause aufgetaucht war, um ihn zu zwingen, das Foto zu löschen. Das war am Samstag gewesen und sie hatten sich darauf geeinigt, am Montag miteinander auszugehen. Dann hatte Mia ihm ihre Adresse gegeben und war gegangen, um an ihrem Referat zu arbeiten und für die anstehende Deutscharbeit zu lernen.

  Das hatte wegen der Kopfschmerzen, die sie am damaligen Abend bekommen hatte nicht ganz so gut geklappt und am Sonntag hatte sie den ganzen Tag auf ihren kleinen Bruder Devin aufpassen müssen.  Heute nach der Schule hatte Adam sie sofort abgeholt und die Arbeit war morgen. Der heutige Abend war also ihre letzte Chance, sich vorzubereiten. Sie musste pünktlich daheim sein.

  „Hat uns eigentlich schon jemand von deinen Lesern gesehen?“, wollte Mia halbherzig wissen.

  „Einige“, sagte Adam zufrieden, während sie um die Ecke bogen. Sie waren nicht in der Innenstadt, sondern nur in seiner Gegend, die Straßen waren trotzdem recht gefüllt. Mia kannte kaum jemanden von den Menschen, die an ihnen vorbei gingen, aber Adam jeden einzelnen von ihnen. Ständig musste er jemanden begrüßen oder jemandem zunicken.

  Er hatte Mia vor etwa zwei Stunden bei ihr Zuhause abgeholt, nachdem sie völlig genervt und erschöpft von der Schule gekommen war. Das Überraschende – er war mit Blumen bei ihr aufgetaucht, ein ganzer Strauß. Eigentlich eine nette Geste: zumindest wenn man nicht so wie Mia die Absicht dahinter erkannte.

  „Ich werde damit nicht durch die Stadt rumlaufen“, hatte sie sofort gesagt.

  Er hatte sie enttäuscht angesehen, wie ein dummer, kleiner Welpe. „Warum nicht?“

  „Weil das albern ist … Außerdem ist er viel zu groß“, hatte sie geantwortet. Dann hatte sie gefragt: „Haben die restlichen Mädchen, mit denen du sonst aus warst, auch die Blumen zum Date mitgeschleppt?“

  „Denen habe ich nie welche gebracht“, war seine Antwort gewesen. „Zumindest keinen ganzen Strauß. Das wäre auffällig gewesen. Aber da du ja eh schon in meine Probleme eingeweiht bist, dachte ich vielleicht, dass …“

  „Nein.“

  Und damit hatte die Diskussion auch geendet.

  Jetzt waren sie hier, in einer Straße voller Cafés und Läden, aber statt einen von ihnen zu betreten, liefen sie draußen durch die Kälte und taten, als hätten sie irre viel Spaß mit den viel zu kalten Shakes, bei dem viel zu kalten Wetter.

  Mia sah etwas hektisch auf ihre Armbanduhr. Sie konnte nicht anders, sie musste ständig an die Arbeit denken, die morgen anstand. Das war das erste und letzte Mal, dass sie auf den letzten Drücker lernte.

  „Hast du es irgendwie eilig?“, fragte Adam genervt, weil das nicht das erste Mal war, dass sie nach der Zeit gesehen hatte.

  „Wir schreiben morgen noch eine Arbeit“, sagte Mia, ehe sie sich halten konnte. Innerlich verfluchte sie sich schon dafür, das gesagt zu haben, weil sie wusste, dass Adam sich wieder über sie lustig machen würde, aber da es schon einmal raus war, musste sie sich nicht mehr bremsen. „Ich habe noch nicht gelernt, sondern mir nur ein paar Notizen erstellt.“

  „Du bist ja ein richtig böses Mädchen“, sagte er mit spöttischem Lächeln.

  Mia funkelte ihn verärgert an. „Hör auf. Du weißt, dass es mir wichtig ist.“

  „Ja, ich weiß.“ Er blieb stehen und löste seine Hand von ihrer Hüfte. Erst, als er das tat und der kalte Wind wieder an ihren Körper gelang, bemerkte Mia, wie warm die Stelle, die er festgehalten hatte eigentlich gewesen war und schauderte. „Was hältst du davon?“, fragte Adam auf einmal. „Es ist ungefähr sechs Uhr. Du schenkst mir noch eine Stunde, dann bist du für heute frei.“

  „Rede nicht mit mir, als wäre ich eine Nutte“, ermahnte Mia ihn und zitterte.

  Adam grinste. „Stimmt, eine Nutte müsste ich hierfür bezahlen. Bei …“ Mia boxte ihn auf den Oberarm, ehe er fortfahren und sie auch nur ansatzweise in irgendeinen Vergleich verwickeln konnte. Überrascht griff Adam an die schmerzende Stelle. „Ouch.“

  „Heul nicht rum.“ Mia rieb sich die Hände. Ihre Fingerspitzen waren taub vor Kälte. Sie blickte ihn an. „Wir machen es folgendermaßen: Ich bleibe noch eine Stunde. Wir setzen uns aber irgendwo hin. Ich will nicht mehr rumlaufen.“

  „Von mir aus.“ Er griff nach ihrem Oberarm, um sie mit sich zu ziehen. „Komm mit. Ich weiß, wo wir uns hinsetzen müssen, damit wir uns ausruhen können.“

  „Und natürlich auch damit wir für alle Leute schön sichtbar sind“, fügte Mia hinzu, während sie sich von ihm über die Straße ziehen ließ.

  Er sah mit bedeutungsvoll hochgezogenen Augenbrauen über die Schulter zu ihr. Seine Mundwinkel zuckten. „Selbstverständlich.“

  Über seinen Ton musste sie sogar ein wenig lachen. Zum ersten Mal bei diesem Date.

  „Kann ich dich was fragen?“, wollte sie wissen.

  „Schieß los.“

  „Ist noch nie jemand wegen dir misstrauisch geworden? Wollte nie jemand zu dir nach Hause oder mal bei dir übernachten? Wie kommt es, dass dich keiner gut genug zu kennen scheint, um dich zu durchschauen? Ernsthaft, wieso merkt keiner, dass du auf allen deinen Bildern dieselben Dosen Drush hast?“ Sie schüttelte fassungslos den Kopf. „Ich kann das nicht verstehen.“

  „Man muss sich nur gut rausreden können“, sagte er, bevor sie bei einer Bushaltestelle ankamen und Mia begriff, was er wollte. Er wollte ausgerechnet bei der Bushaltestelle sitzen, weil es für alle Vorbeigehenden so wirken sollte, als wären sie irgendwohin unterwegs. Man würde denken, dass sie etwas zusammen unternahmen, wobei Adam sie bloß in den Bus setzen würde.

  Nicht schlecht, dachte Mia für sich. Nicht nett, aber auch nicht schlecht.

  „Darf ich dich jetzt auch etwas fragen?“, wollte Adam wissen, als sie bei der Bushaltestelle angekommen waren.

  Mia zögerte nicht mit der Antwort. „Nein.“ Sie lächelte etwas.

  „Wie kommt es eigentlich, dass du mit sechzehn noch nie geküsst worden bist?“, fragte er, als hätte er ihren Einwand nicht gehört.

  Mia stöhnte genervt auf. „Darüber willst du jetzt wirklich reden?“

  „Es interessiert mich einfach. Ich mein … du bist nicht so hässlich.“

  „Ich kenne dich kaum länger als einen Tag und du bist trotzdem einer der nervigsten Menschen, die ich je getroffen habe“, stellte Mia fast verwundert fest.

  Adam hob eine Hand, um sie zum Schweigen zu bringen. „Lenk jetzt nicht vom Thema ab. Also, zu deinem Kuss. Hattest du noch nie einen Freund? Zu beschäftigt bisher gewesen?“ Zum ersten Mal fragte er sie etwas über die Schule, dass nicht herablassend klang. Es klang wie eine ehrliche Frage.

  Mia tat, als würde sie den Fahrplan studieren, um ihn nicht ansehen zu müssen und trank aus ihrem Shake, um über eine Antwort nachdenken zu können. „Doch, ich hatte mal einen“, antwortete sie schließlich.

  „Und?“

  „Ist nicht so gut gelaufen.“

  „Was hat er gemacht? Dich betrogen?“

  „Nein.“

  „Angelogen?“

  „Non.“ Mia hoffte insgeheim, ihn mit ihrem Französisch so sehr nerven zu können, dass er sie in Ruhe lassen würde, aber das war nicht der Fall. Adam fragte munter weiter.

  „Hat er dich bedrängt?“

  „Non.“

  „Also was dann?“ Er nahm auch einen Schluck aus seinem Shake.

  „Was sollen die ganzen Fragen?“

  „Nichts, ich bin nur neugierig. Du tust ja auch so, als hättest du was zu verbergen.“

  „Ich habe etwas zu verbergen?“, lachte Mia auf und sah ihn mit gehobenen Augenbrauen an. „Ich bitte dich. Das musst gerade du mir nicht sagen.“

  „Aber ich weiß, wie man sich unauffällig benimmt“, meinte Adam. „Solange keiner ahnt, dass du etwas zu verbergen hast, wird auch keiner misstrauisch.“ Er hielt kurz inne und sah zu Boden. Abwesend tippte er mit seiner Schuhspitze gegen den Asphalt. „Okay, pass auf“, sagte er dann, als er wieder auf sah. „Für jede Frage, die ich dir stellen kann, darfst du mich auch eine fragen. Wir wechseln uns ab.“

  Mia hätte aus Reflex fast abgelehnt, biss sich dann aber auf die Zunge. Ein paar Dinge gab es da schon, die sie gern gewusst hätte. Nicht über Adam, sondern über seine Probleme. Ihr erschien dieses Thema viel zu interessant, als dass sie hätte ablehnen können. „Okay“, sagte sie leise, immer noch etwas unsicher, worauf sie sich da gerade einließ.

  „Gut.“ Adam wirkte zum ersten Mal ihr gegenüber fast freundlich. Dann musterte er sie von oben bis unten. „Also, dein Freund. Ich will nicht wissen, was er gemacht hat, aber wie schlimm war die Erfahrung, die du mit ihm machen musstest?“

  Mia verzog keine Miene. „Ich will nach ihm keinen anderen mehr.“

  Adam pfiff mit einem leichten Grinsen durch die Zähne. „Das ist heftig.“

  „Ich bin dran. Seit wann hast du diese … Probleme?“

  „Eigentlich schon immer.“ Er presste die Lippen etwas zusammen, aber ansonsten änderte sich nicht viel in seinem Gesicht. Dafür, dass er nicht oft darüber zu reden schien, hatte er sich ganz schön gut im Griff – aber andererseits, wenn er es schon täglich vor allen anderen verstecken musste ...

  „Und wann hast du es bemerkt?“

  Er wies mit dem Finger auf sie. „Du bist nicht dran.“

  Mia verdrehte die Augen.

  „Seit wann ist dir Schule so wichtig?“, fragte Adam.

  „Eigentlich schon immer“, äffte Mia seine vorherige Antwort nach. Mehr sagte sie nicht dazu, sondern kam zu ihrer eigenen Frage. „Also. Wann hast du deine Probleme bemerkt?“

  „Mit etwa fünf oder sechs Jahren zum ersten Mal. Mit elf ist es schlimmer geworden“, erklärte er. „Wie lange willst du dich noch so auf die Schule konzentrieren?“

  „Bis zum Schullabschluss. Hat das, was du da hast, einen Namen?“

  „Ich bin mir da nicht ganz sicher. Wir waren deshalb nie beim Arzt, weil ich mich geweigert habe. Wie viele Freunde hast du?“

  „Eine beste Freundin. Das reicht mir. Du erinnerst dich sicher. Die Kleine in der Disko.“

  „Die mit der Oberweite?“

  Mia lachte. Sie hatte Paige nicht mehr gesehen, seit sie bei ihr am Wochenende aufgewacht war, weil ihre Freundin heute nicht zur Schule gekommen war. Vermutlich ihre Arbeit schwänzen. Mia hatte bisher nicht die Zeit gehabt, sie anzurufen. „Ja, genau die. Und du? Wie viele hast du?“

  Adam zögerte etwas. „Relativ viele zum Schein. In echt irgendwie keine. Es gibt einen, der sich dafür hält, aber … nein. Finn. Nicht wirklich.“ Er war nicht besonders traurig, als er das sagte. So, als wäre er gar nicht einsam, sondern eher froh, Menschenkontakt vermeiden zu können.

  Mia nickte.

  „Gehst du oft feiern?“, fragte Adam. Er wollte immer noch prüfen, wie aktiv sie ihr Leben gestaltete.

  Mia versuchte, nicht wütend zu werden. „Nicht oft, aber hin und wieder schon.“ Das war ein wenig geflunkert, aber so viel, wie er gegenüber anderen log, war das wohl okay. „Hast du Geschwister?“, fragte sie.

  „Nein. Du?“

  „Einen kleinen Bruder. Devin.“

  „Ist er auch so wie du?“

  „Klug? Hübsch? Talentiert? Werd mal konkreter.“

  Er bis sich auf die Lippe, um nicht zu schmunzeln. „Angergiert, wollte ich sagen“, brach er dann gefasst heraus.

  „Für die Schule? Gott, nein.“ Sie versuchte sich daran zu erinnern, wann Devin seine Nase das letzte Mal in ein Buch gesteckt hatte. Es war eine scheinbar unmögliche Herausforderung für sie. Sie sah Adam an. „Wie lange hast du schon deinen Blog?“

  „Seit etwa zwei Jahren. Vielleicht ein wenig länger.“ Er musste kurz überlegen, schien aber das Richtige gesagt zu haben. „Was willst du später mal machen?“

  „Das weiß ich noch nicht so recht. Vermutlich irgendwas in der Richtung von Pädagogik.“

  Adam griff sich schockiert an die Brust. „Was denn? Eine Person wie du hat tatsächlich noch nicht seine ganze Zukunft geplant?“ Er schnaubte gespielt. „Das ist heftig.“

  „So sieht’s aus“, sagte Mia mit einem Schulternzucken und versuchte, nicht zu sehr auf seine Provokation einzugehen. Dann funkelte sie ihn kurz an. „Und hör auf, mich immer Streber zu nennen.“

  „Das Wort ist nie gefallen“, schnurrte er.

  „Eine Person wie du klingt für mich stark nach einer Umschreibung und das ist auch verboten.“

 Sie sah, dass Adam etwas erwidern wollte, aber sie gab ihm nicht die Chance. Sie war wieder mit Fragen dran. „Trinkst du?“, wollte sie wissen.

  „Meinst du etwa Alkohol?“

  „Ja, genau.“

  „Nein. Viel zu ungesund.“ Er kniff skeptisch die Augen zusammen. „Du etwa?“

  „Nichts Hochprozentiges. Nur Bier, hin und wieder.“ Mia hoffte, dass man ihr nicht ansehen konnte, wie zufrieden sie in diesem Moment mit sich war. Sie wollte lässig wirken. „Und wie sieht es bei dir mit Rauchen aus?“, fragte sie.

  Er schüttelte den Kopf. „Auch nicht. Jetzt sag bloß nicht, dass du …“

  „Nein“, antwortete Mia sofort, ohne ihn ausreden zu lassen. „Geht nicht. Asthma.“

  „Durch und durch ein Bücherwurm“, grinste Adam. Er lächelte heute etwas zu oft für ihren Geschmack, wenn man bedachte, wie scheiße ihr Date eigentlich gelaufen war.

  „Ein Bücherwurm, der trinkt“, entgegnete Mia, in dem armen Versuch, sich irgendwie zu verteidigen. Ihr Shake wurde langsam leer und es entstand ein komisches Geräusch, wenn sie an ihrem Strohhalm zog.

  „Vermutlich das Einzige, was dich von den restlichen Nerds unterscheidet“, meinte Adam und Mia musste sich zusammenreisen, um bei dem Wort „Nerd“ nicht zusammenzufahren.

  Klar hatte sie das schon öfter über sich ergehen lassen müssen – aber wenn sie ehrlich sein sollte, kannte sie kaum jemanden, der mit Begriffen wie „Streber“ und „Nerd“ so oft um sich warf, wie Adam.

  „Nicht ganz“, sagte sie. „Das und meine Schönheit hier.“ Und dann strich sie sich das Haar hinters Ohr, sodass mit einem Mal ihre ganzen Piercings zu sehen waren.

 Zunächst sah Adam eher gelangweilt dorthin – als er aber erkannte, was er da eigentlich sah, schnappte er entsetzt nach Luft. „Ach du … Hast du dir das selbst angetan?“, fragte er heiser und trat einen Schritt auf sie zu, ihr Ohr betrachtend.

  Mia lächelte, weil sie ihn so aus der Fassung gebracht hatte. „Ja.“

  „Warum?“, fragte Adam verständnislos.

  „Ich finde Piercings schön. Sie müssen aber an einer Stelle sein, die nicht ganz so sichtbar ist.“

  „Und im Sommer, wenn du dir mal die Haare hochsteckst?“ Er sah sich jeden Piercing genau an. „Bist du damit noch nie irgendwo hängen geblieben oder so?“

  „Bin ich nicht. Wieso reagierst du so übertrieben? Es sind ja nicht viele.“

  „Nein, natürlich nicht!“, entgegnete er sarkastisch. „Gar nicht viele. Nur …“

  „Fünf Stück“, sagte sie. „Zwei oben, zwei unten. Eins in der Mitte.“

  „Ist das andere Ohr auch so ..?“, fragte Adam vorsichtig. Er schien fast Angst vor der Antwort zu haben.

  Mia lachte leise, während sie ihr Ohr wieder hinter ihren schwarzen Haaren versteckte. „Nein, das andere hat nur ein einziges Ohrloch, mehr nicht. Wieso wunderst du dich eigentlich so? Hast du diese Piercings in der Disco gar nicht gesehen?“

  „Doch, aber sehr undeutlich“, erklärte er ausweichend. „Ich hätte nicht gedacht, dass es so viele sind.“ Er warf ihr einen scheuen Blick zu. „Sag mal … Wäre es eigentlich okay, wenn ich ein Bild davon machen könnte?“, fragte er dann plötzlich.

  Mia sah ihn etwas verblüfft an. „Äh … Na ja, solange man mein Gesicht nicht sieht, müsste das eigentlich klar gehen.“ Sie nickte. „Also, warum nicht.“

  „Wow. Danke“, meinte Adam und etwas in seinen grünen Augen schien aufzuleuchten. Mia beobachtete diesen Vorgang ganz genau, bis sein Blick an ihr vorbeiwanderte, zu etwas hinter ihr. Er suchte nach seinen Lesern. Und mit großer Wahrscheinlichkeit überlegte er bereits, wie er sich selbst zusammen mit Mia am besten auf seinem Blog präsentieren konnte.

  Adam war ganz schön krank. Nicht im Sinne einer Behinderung, sondern eher einer Störung. Obwohl ihm menschlicher Kontakt sehr unangenehm zu sein schien, war es ihm trotzdem wichtig, was andere über ihn dachten und dass sie ihn auch bloß nicht durchschauten.  Deshalb spielte er alles Mögliche im Internet vor, fakete fast sein ganzes Leben, um alle für sich zu gewinnen. Das war nicht normal.

  Trotzdem hatte Mia nicht gerade das Gefühl, dass es ihm missfiel, plötzlich jemanden zu haben, der in sein Geheimnis eingeweiht war. Nicht, dass er sie mochte oder so – aber es wirkte fast, als würde es ihm gut tun, nicht ständig freundlich sein zu müssen und seinen ganzen Frust an ihr auslassen zu können. Jetzt, da sie ohnehin Bescheid wusste. Jetzt, da sie ohnehin versprochen hatte, niemandem etwas zu erzählen und in dieser Sache mit drinnen hing. Jetzt, da er wusste, dass sie nur ein Streber war, um den er sich nicht sorgen musste – bis auf sie Tatsache, ob sie zusammen von Leuten gesehen wurden, die Mias nicht gerade besonders schönen Ruf kannten.

  Zusätzlich würde Adam sicher immer die Frage im Hinterkopf haben, ob Mia ihr Versprechen wirklich hielt, wenn er doch so viel Angst vor der Wahrheit hatte. Immerhin konnte er ihr nicht hunderprozentig vertrauen, wenn sie sich kaum kannten.

  Moment …

  „Hey“, sagte Mia in einem zwar gefassten, aber auch dunklen Ton, als Adam gerade in seine Tasche griff, um für das Foto sein Handy rauszuholen. „Kann es sein, dass wir dieses Frage-und-Antwort-Spiel nur gespielt haben, damit du etwas Persönliches über mich erfährst, wodurch du dir mein Schweigen erkaufen kannst?“ Sie erinnerte sich an seine Formulierung, als sie bei ihm Zuhause gewesen war. „Als zusätzliches Druckmittel zu dem Bild von uns?“

  Adam lachte etwas nervös. „Was? Na ja … Nicht wirklich, nein, ich mein …“ Ihm schienen die Worte auszugehen. Er schluckte und sah etwas verlegen weg.

  Natürlich. Er hatte sie zu aller erst auf ihren Ex-freund angesprochen, was denn sonst?Und danach auf ihre Gründe, so auf die Schule fixiert zu sein. „Wenn du mein Geheimnis erzählst, erzähl ich deins“, hieß es in diesem Fall. Er hatte etwas haben wollen, mit dem er sie zum Schweigen hätte erpressen können, falls sie auf den Gedanken gekommen wäre, seine Phobien rum zu erzählen.

  Was für ein Arsch.

  „Du bist unmöglich“, seufzte Mia genervt und rollte mit den Augen. Sie sah zu den Autos, die an ihnen vorbeisausten.

  „Was habe ich denn gemacht?“ Er klang irritiert.

  „Vergiss es.“ Mia warf ihren leeren Becher in die Mülltonne. „Du hast es gerade richtig verbockt.“

  „Wie denn?“, fragte Adam sie mit gerunzelter Stirn. „Habe ich was verpasst?“

  „Weißt du … Wenn ich dir schon helfe, dann kannst du mir zumindest mit ein wenig Vertrauen entgegen kommen und nicht nach etwas suchen, womit du mich hinterher erpressen kannst“, begann sie langsam und verschränkte die Hände vor der Brust. Außer ihnen war niemand an der Haltestelle, auf der Straße gegenüber gingen aber ein paar Leute an den Cafés vorbei. „Und wenn du schon probierst, zum ersten Mal an diesem Tag ein vernünftiges Gespräch mit mir zu führen, dann versuch zumindest nicht ganz so deutlich zu zeigen, dass du solche Hintergedanken dabei hast.“

  „Wieso zickst du deswegen jetzt so rum?“, fragte er und fasste sich an den Kopf, als wäre er mit der Situation überfordert. „Du weißt doch, warum wir das hier machen. Es soll nicht so wirken, als wäre ich von einem Streber bloß für seinen ersten Kuss missbraucht worden.“

  „Ich mache das nicht, um dir zu helfen“, stellte Mia augenblicklich klar, weil er sie immer mehr aufzuregen begann. „Ich will nur, dass du dieses Bild von uns beiden löschst“, zischte sie. „Das war der Deal.“

  „Ja, ich weiß“, sagte Adam.

  Und dann folgte eine kleine Pause, in der beide einfach nur nebeneinander standen und Mia weiterhin so tat, als würde sie die Fahrzeiten der Busse checken. Einer käme in fünf Minuten, der nächste in vierzig. Beide fuhren in die Richtung, die sie einschlagen musste.

  Sie sah auf, als Adam sich nach einer Weile räusperte. „Du hast aber immer noch nicht vor, jemandem etwas zu erzählen, oder?“, fragte er achtsam, als hätte sie ihn für diese Frage schlagen können.

  Mia seufzte und sah wieder auf den Plan. „Nein, Adam“, sagte sie dann. „Hab ich nicht. Wir machen das hier eine Weile, du löschst dann das Foto und suchst dir eine Neue, die du vorzeigen kannst. Danach tun wir einfach so, als hätten wir nie etwas miteinander zu tun gehabt.“

  „Okay, gut“, meinte er erleichtert. Offenbar hatte sie genau das ausgesprochen, worauf er gehofft hatte.

  „Könntest du dir trotzdem vorstellen, in der Zeit, in der ich dir helfe, zumindest ein kleines bisschen netter zu mir zu sein?“, fragte Mia.

  „Klar. Entschuldige“, sagte Adam halbherzig. Er sah sie nicht einmal an, während er das sagte, sondern guckte zur anderen Straßenseite rüber.

  „Du hast gesagt, dass du dir sonst immer Mühe gibst, damit Leute dich mögen. Ich weiß also, dass du freundlich sein kannst, wenn du willst“, ermahnte Mia ihn.

  „Bin ich normalerweise auch. Nur bei dir sehe ich das unbewusst irgendwie als unnötig, weil du … ohnehin Bescheid weißt“, sagte er und Mia biss die Zähne zusammen, weil sie wusste, warum er beim Sagen dieses Satzes gezögert hatte. Er hatte den letzten Teil nicht wirklich sagen wollen. „Weil du ein Niemand bist und mir deine Meinung nicht wichtig ist“, das stand unausgesprochen zwischen ihnen im Raum.

  Und das brachte das Fass allmählich zum Überlaufen.

  Mia sah zur gegenüberliegenden Straßenseite und erstarrte kurz vor Schreck, als sie dort ein vertrautes Gesicht stehen sah. Sandy Bleed, inmitten einer ihrer Cliquen und mit ihrem Handy in der Hand. Die braungebrannte Brünette war gerade aus einem der Cafés gekommen, zusammen mit ein paar ihrer Freunde, die Mia nicht kannte, weil sie eine andere Schule besuchten. Anders als Sandy, mit der Mia seit mehr als drei Jahren einige Kurse zusammen hatte.

  Die beiden hatten nicht viel miteinander zu tun und es hatte nur eine einzige Situation gegen, in der sie und Mia indirekt ineinander geraten waren. Sandy hatte ein halbes Jahr nach Beginn des Kurses die Arbeiten austeilen müssen, die die Klasse zuvor geschrieben hatte und obwohl sie länger als sechs Monate zusammen den gleichen Kurs besucht hatten, hatte Sandy, als Mias Mappe an der Reihe gewesen war, nur verwirrt gucken und ganz laut „Wer ist denn bitte Mia Frelk?“ fragen können. Aber nicht vorsichtig, flüsternd, sondern so, dass es alle auch mitbekamen. Nach einem halben Jahr des gemeinsamen Unterrichts.

  Mia hasste dieses Stück Dreck.

  Trotzdem spürte sie etwas wie Zufriedenheit, als sie sah, wie das Mädchen mit neugierig schief gelegtem Kopf zu Mia und Adam rüber sah. So, wie sie mit den Augen an ihm hing, wusste sie sicher, wer er war und was er tat. Sicher fragte sie sich auch, warum er mit jemandem wie Mia unterwegs war und woher jemand wie sie solche Bekanntschaften hatte.

  Schlecht für Adam, gut für Mia.

  Auch, dass genau in diesem Moment der Bus kam, war ihr sehr gelegen. Mia sah zu Adam. „Ich gehe jetzt dann mal“, sagte sie und trat auf ihn zu, um ihn zu umarmen – genauso sichtbar und auffällig, wie Sandy es immer tat, wenn sie beliebt wirken wollte.

  Es war eine steife Umarmung. Weder erwiderte Adam sie richtig, noch entspannte er sich. Er schlang nur ganz kurz die Arme um sie und Mia ließ ihn genauso schnell wieder los.

  Verständnislos sah er sie an. „Wir haben besprochen, dass du in einer Stunde gehst.“ Er war plötzlich blass geworden.

  „Ja. Aber ich habe es mir anders überlegt“, erwiderte sie stur.

  „Du kannst mich nicht stehen lassen.“ Adam wollte sie am Handgelenk packen, aber Mia wich ihm aus. Von der Seite wirkte es vielleicht so, als würden sie gerade rumalbern, doch es herrschte eine sehr angespannte Stimmung.

  Sie sah ihn ausdruckslos an. „Und ob ich das kann.“ Ein Blick in Sandys Richtung verriet ihr, dass sie beobachtet wurden. Ganz genau und mit vollem Interesse.

  Als der Bus vor ihr zum Stehen kam, sah Mia über die Schulter. „Bis zum nächsten Mal“, sagte sie zu Adam, ehe sie einstieg und ihm so jede Möglichkeit auf Protest wegnahm.

  Sie war mit einem Mal so wütend und müde und frustriert, dass sie einfach nur ins Bett wollte. Oder mit Paige reden. Eins von beidem.

  Als sie sich im Inneren des Fahrzeuges hinsetzte und den Kopf gegen die kühle Scheibe lehnte, sah sie im Vorbeifahren noch, dass Adam mit verstreutem Gesichtsausdruck und in die Taschen gesteckten Händen den Nachhauseweg eingeschlagen hatte. Er sah etwas hektisch hin und her, als wäre es ihm peinlich, alleine unterwegs sein zu müssen.

  Sandy hingegen hatte begonnen, mit einer ihrer Freundinnen wild zu diskutieren und völlig erstaunt zu reden.

  Mia schloss die Augen und atmete tief durch. Sie hatte gerade etwas angestellt, etwas Großes, und etwas noch sehr viel Größeres würde in der Schule morgen auf sie zukommen. Da war sie sich sicher. 

 

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  Adam konnte es nicht fassen, dass sie ihn tatsächlich hatte einfach stehen lassen.

  Das Schlimme daran war nicht, dass er alleine nach Hause laufen musste – das fühlte sich mit Kopfhörern im Ohr gar nicht so seltsam an –, sondern dass sie ihn mit dieser Aktion aus der Fassung gebracht hatte und er keinen entspannten Gesichtsausdruck wahren konnte. Er konnte es nicht kontrollieren, ob sein Gesicht rot anlief oder nicht, oder ob sich seine Kiefer unbewusst anspannten, und so lief er mit leicht eingezogenem Kopf die Straße zu seiner Wohnung entlang und hoffte, nicht besonders aufzufallen.

  Das war eine ganz miese Aktion von Mia gewesen, wirklich. Natürlich, er hatte sie anscheinend mit irgendwas verärgert, aber ihr abruptes Abhauen war nicht weniger scheiße. Er war richtig sauer auf sie. Er hoffte, dass sie ihre dämliche Arbeit am nächsten Tag richtig verhaute.

  Sein Ärger ging so weit, dass er sich mittlerweile überlegte, das Bild von den beiden einfach online zu behalten. Er wusste, dass er Mia eigentlich versprochen hatte, es zu löschen, aber das war gelogen gewesen. In Wirklichkeit hatte er es noch am selben Abend, an dem sie ihn geküsst hatte, bei sich hochgeladen. Während ihres Gespräches in seinem Zimmer war es schon lange online gewesen.

  Ursprünglich hatte er vorgehabt, es eine Zeit lang drinnen zu behalten und dann rauszunehmen, sobald ein paar Wochen vergangen waren – jetzt aber spielte er mit den Gedanken, es zu behalten.

  Mia durfte nur nichts davon erfahren, was nicht passieren würde, solange sie seinen Blog nicht las. Das tat sie nicht, das wusste er. Also würde sie auch nicht wütend auf ihn werden, zumindest nicht aus diesem Grund. Sie würden ihren Deal beibehalten.

  Adam war irgendwie froh, dass sie diesen Vorschlag gemacht hatte. Er hatte sich nie getraut, jemanden in seine Probleme einzuweihen, weil ihm die Meinung der Person zu wichtig gewesen war. Er hatte Angst gehabt, man hätte anders über ihn denken können – aber Mia war ein Niemand, hielt ohnehin nicht viel von ihm und schien auch wirklich nichts weiter erzählen zu wollen.

  Nur war sie etwas zickig, was das Ganze ziemlich schwer machte. So gute Nerven besaß er nicht.

  Adam seufzte, als er das leuchtendrote Schild der Apotheke neben seinem Haus sah und wusste, dass er fast da war. Es hatten ihn bereits ein paar seiner Leser mit Mia gesehen und er hatte kurz vor seinem Date mit Mia sowohl trainiert, als auch geduscht. Alle Hausaufgaben für den nächsten Tag waren erledigt und seine Mutter wäre bis zum Abend noch bei der Arbeit.

  Er würde heute also für den Rest des Tages entspannen können, komplett abschalten. Ein Glück, dass ihm nicht oft wiederfuhr.

  Er beschloss, es zu genießen, solange er noch konnte.

- Kapitel 5 -

 

Egal, wie lange sie sich auch einredete, dass das bloß eine Einbildung ihrerseits war – Mia spürte die auf sie gerichteten Blicke genau so deutlich, wie am Tag zuvor, dieses Mal aber in veränderter Form. Die Leute streiften sie nicht länger einfach nur mit den Augen und ließen sie dann einfach liegen, sondern schienen sie mit ehrlichem Interesse zu begaffen.

  Allen voran, Sandy Bleed.

  Es war fast erschreckend, wie klein Mias Überraschung über die unglaubliche Geschwindigkeit der Verbreitung von Gerüchten über sie und Adam war. Seit sie heute Morgen zusammen mit Paige das Schulgebäude betreten hatte, glaubte sie, ständig beäugt und gemustert zu werden. Auch das ständige Getuschel hinter ihrem Rücken störte sie.

  Eigentlich war das doch genau das, was sie gewollt hatte. Sie hatte Adam doch dazu nutzen wollen, um sich selbst zum ersten Mal seit Jahren wieder etwas in den Vordergrund zu befördern – aber wirklich genießen konnte sie es nicht. Es fehlte noch irgendwas, irgendwas Entscheidendes.

  Vielleicht lag es aber auch an der vermasselten Arbeit, die sie heute geschrieben hatte, dass ihre Laune sich nicht bessern konnte. Sie war gestern wegen eines Unfalls, der die Straße blockiert und den Bus zu einem Umweg gezwungen hatte, viel zu spät nach Hause gekommen. Zeit zum Lernen war ihr da auch nicht mehr geblieben, sie hatte heute nur schnell etwas wiederholen können.

  „Reg dich mal ein wenig ab“, sagte Paige, als sie sah, auf welche aggressive Weise Mia sich kaltes Wasser auf die Hände laufen ließ, um es sich ins Gesicht spritzen zu können. „Der Wasserhahn hat die Arbeit nicht erstellt, sondern Herr Blibis.“

  „Daran ist nur dieser Adam Schuld“, sagte Mia und stellte das Wasser ab. Dann fuhr sie sich mit den feuchten Händen ein paar Mal durch die Haare. Es war immer noch Winter, trotzdem schien sie in Flammen zu stehen. Bei ihr brodelte es unter der Oberfläche.

  „Ich verstehe immer noch nicht, warum du gestern bei ihm warst“, meinte Paige und lehnte sich neben Mia gegen das Waschbecken. Sie waren alleine auf dem Mädchenklo. „Ich dachte, du wärst schon am Samstag bei ihm gewesen, um ihn wegen dem Bild zusammenzuscheißen.“

  „War ich auch“, sagte Mia und betrachtete sich im Spiegel. Der Stress war ihr deutlich anzusehen. Unter ihren Augen waren dunkle Ringe, was vielleicht aber auch nur verschmierte Mascara war. Sie hatte sich recht viel Wasser ins Gesicht gespritzt.

  „Und wozu warst du dann gestern bei ihm?“

  Mia sah über die Schulter. Das Gefühl, beobachtet zu werden, ließ sie heute einfach nicht los. „Das ist kompliziert“, murmelte sie.

  „Wie soll ich das bitte verstehen?“, fragte Paige, dabei betrachtete sie ihr Spiegelbild. Sie trug ihre Haare offen und eine Kette mit einem Ying-Yang-Anhänger um den Hals, der sich angeblich farblich ihrer Stimmung anpasste. Gerade war er dunkelblau.

  „Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll“, sagte Mia. „Wir müssen uns aus ganz bestimmten Gründen treffen … Es wird auch noch ein paar Mal vorkommen … Aber ich musste ihm versprechen, dass ich niemandem erzähle, warum.“

  „Da läuft aber nichts, oder?“, fragte Paige und sah Mia über den Spiegel an. Ihre braunen Augen glänzten verschwörerisch.

  „Mit dem? Bitte.“ Mia verzog den Mund.

  „Okay“, sagte Paige ohne jeden Sarkasmus. Kein anderer hätte ihr das geglaubt. Paige tat das auch nur, weil sie Mia und ihre Prinzipien kannte, genauso wie ihre Vorgeschichte mit Nick. „Aber süß ist der schon“, warf Paige dann mit einem verschlagenen Lächeln ein. „Und ganz schön gut gebaut.“

  „Er trainiert.“ Mia erinnerte sich an die Trainingsgeräte, die sie im bunten Teil seines Zimmers gesehen hatte.

  „Das ist dir also auch aufgefallen?“, fragte Paige grinsend und stieß Mia spielerisch mit ihrer Hüfte an.

  „Das hat er mir erzählt.“

  „Und was erzählt er dir sonst noch?“

  „Nicht viel …“ Da war es wieder, dieses dumme Gefühl, jemanden hinter sich zu haben. Mia drehte sich um, zu den drei Kabinen, die es im Mädchenklo gab. Sie waren schon eine Weile hier drinnen und seitdem war weder jemand raus, noch rein gegangen. Aber …

  Mia gab Paige mit einer Geste zu verstehen, dass sie ruhig sein sollte, während sie sich leise auf die Knie fallen ließ. Als sie ihren Kopf in die Nähe des Bodens brachte, sah sie ein einzelnes Paar Schuhe in einer der Kabinen. Schwarze Chucks, um genau zu sein. Sie musste nicht lange überlegen, wer es war. Mia formte stumm Sandys Namen mit den Lippen, als sie sich wieder aufrichtete. Paige verstand sie und nickte, dann grinste sie. „Also läuft da wirklich rein gar nichts zwischen euch?“, fragte sie, als wäre nichts gewesen.

  „Er sieht gut aus, aber mehr auch nicht“, meinte Mia und zuckte die Achseln, dabei hoffte sie, dass Sandy an ihrer Überraschung über diese Worte da drinnen erstickte. „Wir werden uns noch ein paar Mal treffen, sonst nichts. Ich würde dir ja sagen, warum, aber ich musste ihm hoch und heilig schwören, dass ich nichts erzählen werde.“ Mit einem Nicken zur Kabine nannte Mia zusätzlich den zweiten Grund, warum sie Paige nichts anvertraute.

  „Von mir aus. Solange nichts zwischen euch passiert, ist es mir ohnehin relativ egal“, winkte Paige ab. „Das ist dann euer Ding.“

  „Jetzt aber mal zu dir“, sagte Mia, weil ihr das Thema mit Adam langsam zum Hals raushing. Dass Sandy eben mitbekommen hatte, dass ausgerechnet der kleine Streber Mia nichts von einem berühmten Blogger wollte, machte es aber etwas erträglicher. „Du warst gestern nicht da. Ganz zufällig, wenn eine Arbeit geschrieben wird, für die du nicht gelernt hast.“ Mia legte den Kopf schief. „Gibt es vielleicht irgendwas zu gestehen?“

  „Jetzt spiel nicht meine Mutter“, sagte Paige. „Ich schreibe sie ja morgen nach, dann ist alles in bester Ordnung.“

  „Versuch einfach, bis dahin nüchtern zu bleiben“, sagte Mia, während sie das Mädchenklo verließen. Draußen auf dem Schulhoff blieben sie aber unmittelbar davor stehen, weil Mia Sandys blödes Gesicht sehen wollte, wenn sie rauskam. Paige musste sie von ihrem unausgesprochenen Plan nichts erzählen – sie verstand es auch so.

  Zwei völlig verschiedene Mädchen, die aber mit derselben Gehässigkeit gegen die Leute vorgingen, die sie nicht mochten. Mia liebte Paige.

  „Du tust ja, als ob ich jeden Tag trinken würde!“, empörte Paige sich.

  Das kühle Wetter half Mia beim Runterkommen.

  „Wir wissen aber beide, dass du unberechenbar bist“, sagte Mia betont freundlich. „Ich muss dich schließlich nicht daran erinnern, wie viele Nachrichten ich schon von dir bekommen habe, während du ein wenig über den Durst getrunken hast.“

  „Erinner mich nicht daran“, jammerte Paige und vergrub das Gesicht beschämt in den Händen. „Ich hab auch an diesem Wochenende in der Disco Nachrichten verschickt, vor allem an Amy und Liam … Wieso zur Hölle hast du mich nicht aufgehalten?!“ Sie sah vorwurfsvoll auf.

  „Ich wollte ja, aber ich war ein wenig … nennen wir es verhindert“, sagte Mia ausweichend.

  Genau in diesem Moment öffnete sich die Tür des Mädchenklos und ein Mädchen mit schwarzen Chucks kam heraus – nur leider nicht das Mädchen, das Mia erwartet hatte. Raus kam nicht Sandy Bleed, sondern Kathy Zurick. Zwar nicht ganz so gut, als wenn es Sandy gewesen wäre, aber auch in Ordnung. Sie war ein genauso großes Plappermaul wie die andere und würde den Inhalt von Mias und Paiges Gespräch sicher wie ein Lauffeuer in ihrer Stufe verbreiten.

  Wie erwartet, sah Kathy sofort zu ihnen rüber, ehe sie erschrocken den Blick abwandte und davonhastete, direkt zu ihren Freundinnen.

  Mia starrte ihr hinterher, während ein kleines Lächeln auf ihrem Gesicht wuchs. Eigentlich albern, dachte sie bei sich. Das, worüber sie gerade lächelte, war nichts weiter als Kinderscheiße, die sie in ein paar Jahren nicht mehr interessieren würde.

  Aber jetzt konnte sie nicht anders.

  „Ich dachte, es wäre Sandy gewesen“, bemerkte Paige.

  „Dachte ich auch.“

  „Es war bloß diese Kathy.“

  „Die wird aber genauso wenig erwartet haben, dass ich diesen Adam nicht mögen würde.“

  „Woher willst du wissen, dass sie ihn überhaupt kennt?“

  „Sie und Sandy sind doch befreundet, zusammen lästern sie über alles, was atmet.“ Mia vergrub das Gesicht in ihrem Kragen, weil es einfach viel zu kalt war. Glücklicherweise würde die Pause gleich enden. „Sicher wird Sandy ihr von ihm erzählt haben. Und jetzt hat Kathy doch tatsächlich solche Neuigkeiten aufgegriffen. Sie werden viel zu besprechen haben.“

  „Seit wann machst du dir denn über sowas Gedanken?“, grinste Paige.

  „Seit mir ein gewisser Jemand eingeredet hat, ich sei nicht gut genug für ihn.“ Mias Lächeln verschwand bei der Erinnerung, wie Adam sich ihr gegenüber verhielt. Es machte sie krank, wie schlecht man mit anderen Menschen umgehen konnte.

  „Warte, sprichst du von Adam?“ Paige legte den Kopf schief. „Ich dachte er ist derjenige, der sich weiter mit dir treffen will.“

  „Wie gesagt, es ist kompliziert.“

  „Oh nein, nein. Scheiße. Er will nicht, dass man weiß, dass du ihn abgeschossen hast, oder?“, rief Paige auf einmal aus. Wie sie darauf kam, wusste Mia nicht, aber ihr Gesichtsausdruck gab Paige die nötige Antwort, ehe sie lügen konnte. „Wusste ich es doch“, meinte Paige und lachte ausgelassen. „Ach du meine Güte, ist das geil.“

  „Nun … ja“, meinte Mia und lächelte. Es würde ohnehin nichts mehr bringen, es zu leugnen. Außerdem war es Paige. Ihre Paige. Sie würde es nicht weiter erzählen.

  „Und jetzt benutzt du ihn, um dein Ansehen bei diesen Kühen zu steigern, während du seinen Ruf mit Sprüchen wie eben zerstörst …“ Wieder lachte Paige. „Das ist zu clever, selbst für dich.“

  „Ich will seinen Ruf nicht zerstören oder so“, warf Mia schnell ein, dabei sah sie sich einmal um, ob sie belauscht wurden. Die nächste Gruppe von Jugendlichen war zu weit weg, um sie zu hören.

  „Das hätte er aber verdient, wenn er tatsächlich versucht, dir weiß zu machen, du wärst zu schlecht für ihn.“ Paige packte Mia an den Oberarmen. „Du bist ein echt böses Mädchen, Mia Frelk. Würde ich dich nicht kennen, würde ich glatt sagen, du würdest nur vieren in der Schule schreiben.“

  Mia lachte über diesen Kommentar.

  „Ich bin so froh, dass du endlich was gegen diese ganzen Typen unternimmst, die dich ständig runter machen“, sagte Paige und meinte es auch so.

  „Ich unternehme immer etwas“, erwiderte Mia überrascht. „Ich lasse es nie auf mir sitzen, wenn mir jemand blöd kommt.“

  „Ja, genau, aber das ist nur Verteidigung.“ Paige stemmte die Arme in die Hüften. „Es wird mal langsam Zeit für einen Angriff.“

  „Dass du immer so übertreiben musst“, sagte Mia.

  „Den Ruf von anderen benutzen, um sich selbst hoch zu pushen … Das gefällt mir“, meinte Paige, als hätte sie Mias letzten Satz nicht gehört. „Das gefällt mir richtig, richtig gut. Es wird noch eine Menge Spaß machen.“ Sie klatschte einmal in die Hände.

  Und insgeheim stimmte Mia ihr ein wenig zu. Jetzt, da ihre beste Freundin in die Sache miteinbezogen war, glaubte sie, an dem Punkt angekommen zu sein, an dem ihr ihre Image-Erneuerung sogar Spaß machen könnte. Sie war fast überzeugt davon, dass es so sein würde.

 

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  Für Adam war es nichts Ungewöhnliches, persönliche Fragen zu beantworten.

  Er nahm sich fast jeden Tag mindestens eine halbe Stunde Zeit dafür, um auf Kommentare zu antworten. Das war wichtig, weil man nur einen positiven Eindruck machte, wenn man sich Zeit für seine Leser nahm. Das tat er und er beantwortete alle Fragen mit taktvollen Antworten, die alle zufrieden stellen sollten.

  Dabei kamen auch mal öfter seltsame Fragen, wie „Kannst du einen Kopfstand machen?“, oder „Denkst du über Kinder nach?“

  Mittlerweile war er fast alles gewohnt, fast alles hatte man ihn schon gefragt. Trotzdem war er etwas überrascht gewesen, als er heute nach der Schule nach Hause gekommen war und für ihn unverständliche Fragen zu dem Bild mit ihm und Mia gefunden hatte.

  „Läuft es gut zwischen euch?“, hatte eine Userin gefragt. Sie küssten sich auf dem Bild, warum hätte es also schlecht laufen sollen?

  „Liebt sie dich eigentlich?“, hatte jemand anderes gefragt.

  „Seid ihr wirklich zusammen?“, hatte auch ein paar Mal dort gestanden. Alle diese Kommentare hatten etwas Skeptisches an sich gehabt, was in Adam leichte Panik geweckt hatte.

  Hatte Mia etwa jemandem was von ihrem Deal erzählt? Wenn ja, dann konnte er alles vergessen, was er sich in den letzten zwei Jahren aufgebaut hatte. Er hätte es wirklich vergessen können.

  Aber weil keiner direkt schrieb, dass er aus erster Hand wusste, dass die beiden nicht zusammen waren, verzichtete Adam darauf, Mia anzurufen und komplett auszurasten, sondern trieb stattdessen Sport, um sich abzulenken.

  Es war jedoch egal, wie lange und wie oft er seine Übungen wiederholte – immer wieder wanderten seine Gedanken zu seinen Lesern und dem Mädchen, das innerhalb von Sekunden sein jetziges Leben hätte zerstören können. Einfach so, und das machte ihm Angst.

  So sehr, dass er beschloss, das mit dem Beantworten von Kommentaren erst einmal sein zu lassen. Zum ersten Mal, seit er seinen ersten Post gemacht hatte. 

- Kapitel 6 -

 

  Seit dem Gespräch mit Paige waren jetzt drei Tage vergangen. Es war also Freitag, um genau zu sein und somit auch endlich Wochenende. Mia hatte sich vor Glück kaum auf den Beinen halten können, als sie nach der Schule nach Hause gekommen und neben der Eingangstür innerlich zusammengebrochen war.

  Dieses Mal kam ihre schlechte Stimmung aber nicht von dem Geflüster hinter ihrem Rücken, das die Gerüchte um sie und Adam ausgelöst hatten – dieser Tumult hatte sich im Laufe der letzten Tage ein wenig gelegt –, sondern vor allem wegen dem „roten Besuch“, der ihr seit Dienstagabend so zusetzte und auf den Magen schlug.

  Nein, die Periode war nichts Schönes. Absolut nichts Schönes.

  Daher war es ihr eigentlich ganz recht, dass ihre Eltern an diesem Abend ausgingen und sie lediglich mit ihrem kleinen Bruder Devin Zuhause bleiben musste. Denn wenn ihre Eltern aus dem Haus waren, bedeutete es für Mia Folgendes: ein ruhiger Devin, der den ganzen Tag lang nichts weiter tat, als Videospiele zu zocken, weil keine Mutter da war, die ihm einredete, es sei schlecht für ihn und eine auf der Couch lümmelnde Mia, die nichts weiter tun musste, als Fernsehen zu gucken, sich zu entspannen und abzuwarten, bis ihre Menstruation vorbei war. Vielleicht würde sie für sich und Devin noch eine oder zwei Pizzen bestellen müssen, das wäre es dann aber auch schon.

  Genau so verlief dieser Freitagabend für sie: Mia lag in einer grauen Jogginghose und weißen Socken auf der Couch, der Oberkörper in ein schwarzes, weites T-Shirt gehüllt. Ohne BH, verstand sich. Neben sich eine Tüte Chips und eine Flasche Cola, auch eine Tafel Schokolade.

  Diesen Luxus hatte sie sich gründlich verdient.

  „Pass auf, dass Devin nicht zu lange an der Konsole sitzt“, hatte ihre Mutter sie gebeten, als sie in der Tür gestanden hatte. Das war jetzt fast eine halbe Stunde her.

  „Ja, klar“, hatte Mia leichthin geantwortet, obwohl ihr das nicht im Traum eingefallen wäre. Natürlich würde sie Devin jetzt nicht von seiner Beschäftigung losreisen. Dann müsste sie ihn ja andauernd sehen und hören.

  „Devin!“, rief Mia, als ihr Film von Werbung unterbrochen wurde. Sie griff nach der Fernbedingung und schaltete auf stumm, bevor sie sich genüsslich auf der Couch ausstreckte. „Hast du jetzt Lust auf Pizza oder soll ich später anrufen?“

  „Jetzt!“, kam die Antwort aus seinem Zimmer.

  „Okay. Für dich wieder mit Pilzen, stimmt’s?“

  „Ja-a!“ Ihm war anzuhören, dass sie ihn gerade störte.

  Mia seufzte und stemmte sich hoch. Es war ungewohnt, das Wochenende alleine zu beginnen, ohne zu lernen. Für gewöhnlich büffelte Mia sich durch den Stoff, falls mal wieder eine Arbeit, ein Referat oder ein Test bevorstand oder verbrachte den freien Freitag bei Paige, weil sie deren Haus dann ganz für sich hatten. Mia hatte überlegt, heute zu ihr zu gehen, aber dann hätte sie Devin mitnehmen und ihn dort beschäftigen müssen, wofür sie heute keine Nerven hatte. Sie hätte auch Paige hierher einladen können, aber in so einem Zustand wollte sie von niemandem gesehen werden.

  Als sie stand, lief Mia zur Küche und fuhr auf ihrem Weg dorthin zusammen, weil es plötzlich an der Tür schellte. Sie sah in den Flur und fragte sich, wer es sein konnte. Ihre Eltern eher nicht. Falls sie etwas vergessen hätten, wären sie schon früher zurückgekommen, um es zu holen.

  Mia lief den Flur entlang und blickte durch den Türspion – und wenn sie da stehen sah, glaubte sie nicht. Sofort riss Mia die Tür auf, woraufhin sie in das Gesicht eines verwunderten Adams schaute.

  „Was machst du denn hier?“, fragte Mia nicht weniger erstaunt.

  „Wenn du meine Anrufe ignorierst, hab ich ja gar keine andere Wahl, als persönlich hierher zu kommen“, sagte Adam kalt, als er sich wieder gefasst hatte. Sie hatte ihn erschreckt, indem sie die Tür mit solchen Schwung aufgemacht hatte.

  Jetzt fiel ihr die Sache mit den Anrufen wieder ein. Adam hatte seit Dienstag versucht, sie zu erreichen, aber sie hatte ihn dauernd weggedrückt und ignoriert, weil sie immer noch sauer wegen der verhauten Arbeit und völlig fertig von ihren Bauchkrämpfen gewesen war. 18 unbeantwortete Anrufe, 13 ungelesene Nachrichten und nun dieser erfolgreiche Versuch, sie Zuhause aufzufinden. Man sah, dass er zu vielem bereit war.

  „Ich bin heute wirklich nicht in der Stimmung, mit dir Freund-und-Freundin zu spielen.“ Mia rieb sich die Augen. Sie hatte, seit sie von der Schule nach Hause gekommen war, nur im Bett gelegen und wollte trotzdem nichts lieber, als wieder zurück auf die Couch.

  „Ich seh schon.“ Adam musterte sie missbilligend von oben bis unten, dann sah er an ihr vorbei. „Darf ich jetzt rein oder was?“

  „Halt, halt!“, sagte sie, als er an ihr vorbei wollte. „Bist du nicht mal auf die Idee gekommen, dass meine Eltern was dagegen haben könnten?“

  „Soll ich mit ihnen reden?“, fragte er unbeeindruckt. „Ich bin gut im Überreden.“

  „Nun … sie sind nicht da, aber …“

  „Wo ist dann das Problem?“

  „Du kannst dich nicht einfach selbst einladen.“

  „Dann lass uns raus gehen.“

  „Ich geh nicht mit dir raus.“ Allein der Gedanke daran ließ sie vor Schwäche zittern.

  „Dann komm ich eben rein.“ Er kniff irritiert die Augen zusammen.

  „Wozu denn? Es sieht uns dann doch eh keiner.“

  „So wie du zur Zeit aussiehst, ist es auch besser so“, sagte Adam und fuhr schnell fort, ehe Mia ihn mit geröteten Wangen anfauchen konnte. „Außerdem können wir den Tag auch drinnen verbringen, solange wir zumindest ein paar Bilder machen.“

  „Ich mache keine Bilder mit dir! Ich tue auch nur so, als würde ich mit dir ausgehen, um das einzige Bild loszuwerden, auf dem wir richtig zusammen zu sehen sind.“

  Zum ersten Mal wurde er etwas weniger ernst, eher nervös. Oder eher bittend? „Aber wenn da zum Beispiel nur unsere Hände oder Beine zu sehen sind ..?“, fragte er kleinlaut.

  Mia schnalzte mit der Zunge. „Ist das wirklich nötig?“

  „Ja“, sagte er bestimmt. Dann verdüsterte sich sein Gesicht etwas, als er sie ansah. „Übrigens wollte ich dich darauf ansprechen. Hast du jemandem von unserem Deal erzählt, oder was?“

  Der plötzliche Stimmungswechsel in seinem Gesicht ließ Mia die Schultern einziehen. Scheiße, dachte sie für sich, als ihr das Gespräch mit Paige auf dem Mädchenklo einfiel. Sie waren belauscht worden und nun dachten einige Leute, dass Mia gar kein allzu großes Interesse an Adam hatte. Aber danach fragt er nicht, redete sie sich ein. Von dem Deal hast du niemandem erzählt, fuhr sie im Kopf fort, das Versprechen hast du gehalten. Die einzige, die es inzwischen wusste, war Paige – aber die war selbst darauf gekommen. Mia hatte ihr nicht einmal richtige Hinweise geben müssen.

  „Äh … Nein, hab ich nicht“, sagte sie so unschuldig, wie sie nur konnte. „Wieso?“

  „Die Leute sind nicht ganz so überzeugt davon, dass wir zusammen sind.“ Er wirkte angespannt, während er das sagte. Seine Augen hatten immer noch etwas Finsteres.

  Mia legte sich demonstrativ eine Hand aufs Herz. „Ich bin schockiert“, sagte sie so ernst, dass es schon wieder sarkastisch klang.

  „Das solltest du auch sein“, meinte Adam, als hätte er ihren zynischen Unterton nicht bemerkt. „Schließlich ist es deine Schuld.“

  „Meine?!“

  „Mia, wer ist da?“, kam es aus dem Wohnzimmer. Devin. Mal wieder dann, wenn es so gar nicht passte.

  „Ja, deine“, fuhr Adam fort, als hätte er nichts gehört. „Ich bin mir nämlich ganz sicher, dass du es rumerzählt hast.“ Adam war noch nie richtig freundlich zu ihr gewesen, aber jetzt schien er wirklich wütend zu sein. Und noch etwas erkannte Mia unter dem strengen Blick: er hatte Angst. Vielleicht sogar etwas Panik, auch wenn er sie, für seine Verhältnisse, noch recht gut unterdrücken konnte.

  Aber Mia hatte nichts rumerzählt, zumindest nicht das, woran er dachte. Sie zog die Lippe zwischen die Zähne, als sich ihr schlechtes Gewissen meldete. Sie hätte nicht so laut über ihn mit Paige reden dürfen, vor allem nicht, nachdem sie die Anwesenheit einer anderen Person bemerkt hatte. Sie mochte Adam nicht besonders, aber das war trotzdem nicht okay gewesen.

  „Nochmal. Ich habe nichts gesagt“, erklärte sie, in diesem Fall aber mehr, um ihn zu beruhigen, als ihn anzulügen.

  „Trotzdem hast du was damit zu tun.“ Er schien durch sie hindurch zu sehen, während er das sagte und Mia hätte sich am liebsten im letzten Loch vor ihm verkrochen. „Es geht nämlich nicht nur darum, was du gesagt oder auch nicht gesagt hast. Es geht auch darum, wie du dich verhältst.“

  „Okay, ich habe keine Lust aufs Raten. Was genau habe ich angestellt?“, fragte sie und tat, als wäre sie von diesem Gespräch gelangweilt. In Wirklichkeit zog sich ihr Magen erneut zusammen.

  „Weil du meine ganzen Anrufe ignoriert hast, konnten wir nicht ausgehen“, sagte er wütend. „Wenn wir schon nicht in der Öffentlichkeit gesehen werden, dann müssen wir zumindest gemeinsame Bilder hochladen, aber du bist ja dagegen. Ich habe seit dem Date am Montag nichts von mir sehen oder hören lassen, weder im Netz, noch im Alltag. Das ist meine längste Durststrecke.“ Er zischte ihr den letzten Satz fast ins Gesicht.

  „Als ob du früher jeden Tag etwas hochgeladen hättest“, sagte Mia ungläubig und skeptisch zugleich.

  Bei diesem Satz schnappte er zornig nach Luft. „Aber doch nicht fünf Tage am Stück nichts!“, fauchte er sie an, die Stimme so derartig gehoben, dass sie zusammen zuckte.

  Für einen Moment konnte Mia ihn nur mit großen Augen ansehen, weil er so laut geworden war. Dann riss sie sich aber zusammen und feuerte mit derselben Lautstärke zurück. „Und was soll ich jetzt bitte machen?!“, schrie sie.

  Er verzog keine Miene.

  „Mia?“, fragte Devin, bevor er im Flur auftauchte. Mit den schwarzen Haaren und den grünen Augen war es nicht schwer zu sagen, dass er Mias Bruder war. Nur eben jünger, kleiner und mit einer leichten Zahnlücke zwischen den weißen Zähnen. Etwas überrascht sah er Adam an. „Ou … Hallo.“

  Es war erstaunlich, wie schnell Adam seine Wut verrauchen lassen konnte. Es gab nichts mehr zu sehen von der Zornesröte, kein böser Unterton in der Stimme. Lässig lehnte er sich in den Türrahmen und nickte Devin mit einem schwachen Grinsen zu. „Hey, Kleiner.“

  „Devin, ich komme gleich“, sagte Mia, als ihr einfiel, dass sie eigentlich eine Pizza hatte bestellen wollen, bevor dieser Typ hier aufgetaucht war. „Geh einfach.“

  „Wer ist das?“, fragte Devin gelangweilt, so frech wie er war, und musterte Adam desinteressiert. Er wusste inzwischen auch, dass Mia eigentlich nichts von Jungs wollte.

  „Ich bin ihr Freund“, sagte Adam gerade heraus und erntete dafür einen genervten Blick von Mia. Dass er diese Nummer selbst vor ihrem kleinen Bruder durchzog, unglaublich.

  Devin schien ihm kein Wort zu glauben. „Als ob.“ Er kannte sie eben gut.

  „Doch, das bin ich wirklich“, versicherte Adam so ehrlich, dass Mia ihm selbst fast geglaubt hätte.

  Jetzt sah Devin Mia an. „Ich dachte, du wärst lesbisch.“

  „Devin!“, rief Mia aus und fuhr zu ihm herum. Okay, vielleicht kannte er sie doch nicht ganz so gut. „Um das klarzustellen – ich bin weder seine Freundin, noch lesbisch!“

  Sie hörte Adam hinter sich lautlos lachen.

  Als sie sich zu ihm umdrehte, lächelte er übers ganze Gesicht. „Das ist nicht witzig“, sagte sie.

  „Doch, sehr sogar“, meinte er schmunzelnd, bevor er seinen Blick prüfend über sie gleiten ließ. „Vor allem, weil mir erst jetzt auffällt, dass du zur Zeit sogar ein wenig aussiehst, wie eine ...“

  „Lass es, ich will das Ende dieses Satzes nicht hören. Mir geht es gerade eben nicht so gut, in Ordnung?“, unterbrach Mia ihn barsch. Sie spürte, wie sich ein pochender Schmerz an ihrer Schläfe zu bilden begann.

  „Kann es sein, dass du deine Tage hast?“, fragte Adam daraufhin, wahrscheinlich ohne zu ahnen, dass er genau ins Schwarze getroffen hatte.

  „Ja, genau, Adam. Das habe ich. Und jetzt?“, fuhr Mia ihn an und wurde direkt wieder an ihren schmerzenden Magen erinnert. Sie griff sich an die Seite.

  „Ich glaube, ich gehe jetzt besser …“, hörte sie Devin hinter sich murmelnd sagen. Adam sah das Mädchen vor sich währenddessen nur etwas verstört an.

  „Für sowas habe ich jetzt wirklich keine Zeit“, sagte Mia, weil sie dringend aufs Klo musste. Und sie wollte duschen, jetzt sofort. Sie griff nach Adams Arm und zerrte ihn in den Flur. „Los, komm rein.“

  „Also bist du doch einverstanden?“, fragte Adam erleichtert, als sie die Tür hinter ihm schloss. Obwohl Devin weg war, kam seine Wut von vorhin nicht zurück.

  „Davon habe ich nichts gesagt“, erwiderte Mia, während er aus seiner Jacke schlüpfte. „Da ich mir aber ziemlich sicher bin, dich heute sowieso nicht mehr loswerden zu können, ist es jetzt auch egal, ob ich dich freiwillig rein lasse, oder nicht.“

  „Du bist doch auch letzte Woche einfach so bei mir vorbeigekommen … und damals kannten wir uns kaum“, meinte er, während er aus seinen Schuhen schlüpfte. Ohne auf sie zu warten, verließ er einfach den Flur und ging auf direktem Weg ins Wohnzimmer. Mia folgte ihm und sah, wie er sich gerade umblickte. Devin war wieder in seinem Zimmer verschwunden. „Hier lebst du also?“, fragte er langsam und guckte sich um. Sein Blick blieb an der Chipstüte auf dem Sofa hängen, zusammen mit der Flasche Cola. „Interessant.“

  „Was hast du erwartet?“, fragte Mia spöttisch. „Lauter Zeugnisse und Tests an den Wänden, zusammen mit einem überdimensional großen Taschenrechner?“ Sie übertrieb extra ein wenig und beschreib gerade das typische Zuhause eines Strebers in Comics oder albernen Kinderserien.

  Adam lächelte nur, ohne sie anzusehen.

  Mia war das eigentlich ganz recht, denn jetzt hatte sie Zeit, in die Küche zu gehen und von dort aus das Telefon zu benutzen. Als sie es gefunden hatte, wählte sie die Nummer ihrer liebsten Pizzeria und bestellte zwei Pizzen. Als die Bestellung fertig war und Mia auflegen konnte, warf sie einen raschen Blick auf die Uhr. Ihrer Erfahrung nach blieb ihr noch etwas mehr als eine halbe Stunde, bis der Lieferant hier sein würde. Bis dahin konnte sie schnell unter die Dusche.

  „Wohin gehst du jetzt?“, fragte Adam sie, als sie aus der Küche ins Wohnzimmer kam und an ihm vorbei schlenderte, um ins Bad gelangen zu können.

  „Ich gehe duschen“, war ihre Antwort. „Du kannst bis dahin machen, was du willst. Stell den Fernseher wieder auf laut oder so.“

  „Ich soll hier ernsthaft rumsitzen und Fernsehen gucken?“, fragte Adam, der gerade erst aufgehört hatte, sich umzusehen. Er studierte Mias Wohnung ganz genau.

  „Du wolltest ja kommen. Ich werde jedenfalls nicht auf meine Dusche verzichten, um dich zu unterhalten.“

  „Darf man überhaupt duschen, wenn man ..?“, fragte Adam jetzt etwas verlegen. Er war bei dieser Frage fast vorsichtig.

  Mia blieb in der Tür zum Flur, der zu den Schlafzimmern und dem gemeinsamen Bad führte stehen. „Was? Seine Periode? Das müsstest du doch am besten wissen.“ Und dann ging sie, ohne ihm die Möglichkeit zu geben, etwas zu erwidern.

  Sie hörte die Geräusche von Schusswaffen aus Devins Zimmer, als sie das daneben liegende Bad betrat und wusste, dass er sich wieder an seine Videospiele gesetzt hatte. Sie schloss die Tür hinter sich ab und sah erst einmal in den Spiegel: Sie sah wirklich scheiße aus. Das unordentlich zusammengebundene Haar hatte sich zusätzlich auch noch gelöst und fiel ihr in lauter Strähnen ins Gesicht. Mia seufzte und löste das Haargummi, bevor sie begann, sich die Sachen abzustreifen und schließlich in die Dusche stieg. Sie duschte mit normalem Wasser, weil man das tun sollte, wenn man seine Tage hatte und versuchte es so schnell hinter sich zu bringen, wie sie nur konnte. Nicht nur, weil der Pizzalieferant jederzeit hätte kommen können, sondern auch, weil es ihr irgendwie unangenehm war, zu duschen, während Adam bei ihr Zuhause war.

  Mann, wäre das ein Drama gewesen, wenn ausgerechnet jetzt ihre Eltern nach Hause gekommen wären.

  Nach ein paar Minuten unter dem Wasserstrahl stellte sie diesen ab und griff nach dem Handtuch. Sie streifte sich ihre Sachen wieder über, die zwar nicht besonders schön, aber trotzdem frisch waren und cremte ihr Gesicht ein. Dann schmierte sie sich etwas Öl in die Haare und kämmte es einmal durch, ohne es zu föhnen. Ein Blick in den Spiegel verriet ihr, dass sie nach dieser Erfrischung gleich viel annehmbarer aussah. Nicht mehr so krank, nicht mehr so fertig.

  Mia verließ das Bad wieder und ging zurück ins Wohnzimmer, um festzustellen, dass Adam weg war. Einfach nicht mehr da und ihr kam der schreckliche Gedanke, dass er in ihr Zimmer gegangen sein könnte, um herumzuschnüffeln. Allein die Vorstellung ließ ihre Gefühle kollabieren und es bildeten sich binnen weniger Sekunden Wut, Angst, Aufregung und Hass in ihr.

  Falls Adam wirklich in Mias Zimmer gegangen war, um dort nach persönlichen Informationen über sie zu suchen, dann konnte er sich sicher sein, dass es nur noch eine einzige Nachricht geben würde, in der er erscheinen würde – nämlich in seiner Todesanzeige in der Zeitung. 

  „Adam!“, rief sie und stürmte in den Flur, regte sich aber sofort wieder ab, als sie die Stimmen hörte, die aus Devins Zimmer kamen.

  „Die Fortsetzung fand ich trotzdem nicht ganz so gut wie das Original, weil das erste Spiel einfach besser animiert ist“, hörte sie Devin sagen. „Dazu kommen die Level in der roten Halle.“

  Zögernd trat Mia an die offene Tür zum Zimmer ihres Bruders, um ihn dort zusammen mit Adam auf dem Boden sitzend vorzufinden. Sie saßen beide vor dem Fernseher, auf dem Devin eigentlich nichts anderes tat, als zu zocken. Er hielt ein Spiel in der Hand und zeigte es Adam.

  „Die Level fand ich immer am schwersten“, sagte Adam und nahm ihm die Hülle aus der Hand, drehte sie in seinen Händen hin und her. „Zusammen mit denen in der verlassenen Fabrik.“

  „Bei denen saß ich richtig lange fest“, meinte Devin frustriert. „Bin tagelang nicht vorangekommen.“

  „Na, ihr beiden?“, fragte Mia und verschränkte die Hände vor der Brust, dabei beobachtete sie die Jungs ganz genau. Vielleicht auch nur Adam. Sie war nämlich wirklich interessiert darin, wie dieser es geschafft hatte, so schnell zu Devin vorzudringen.

  „Endlich bist du da!“, sagte Devin und drehte sich zu ihr um. „Mama sollte doch einen zweiten, neuen Kontroller für mich kaufen. Weißt du, wo er ist?“

  „Wohnzimmer. In der ersten Schublade des Wandschranks.“

  „Okay“, sagte Devin und sprang auf, ehe er an ihr vorbei aus dem Zimmer hastete.

  Mia sah ihm kurz hinterher, bevor sie sich wieder an Adam wandte und eine Augenbraue hob. „Ich hätte nicht gedacht, dass jemand wie du die Zeit hat, Videospiele zu spielen.“

  Adam legte den Kopf schief und lächelte. „Ich hab’s noch nie gespielt, ehrlich gesagt. Ich hab mir nur ein paar Lets-Plays während des Trainings angehört, um zu wissen, worum es geht.“ Er lachte selbst ein wenig darüber und Mia hatte keine Wahl, als mit einzusteigen.

  „Das ist ein Witz“, sagte sie, mehr belustigt von sich selbst, als von Adam, weil sie sowas nicht hatte kommen sehen.

  „Nein.“ Er lachte wieder leise und rieb sich fast beschämt die Augen. „Das ist aber schon länger her.“

  „Ja, ja“, sagte Mia schmunzelnd, beließ es aber dabei.

  „Du bist jetzt also fertig?“, fragte Adam jetzt und hörte auf zu lachen.

  „Ja.“

  „Heißt das, dass für mich noch die Möglichkeit besteht, dich irgendwie zu einem Foto überreden zu können?“, fragte er achtsam und sah sie erwartungsvoll an.

  Sicher nicht. „Vielleicht“, meinte sie nach außen hin, während sie diesen Vorschlag innerlich schon lange verworfen hatte. „Kommt darauf an. Passt es dir jetzt, wie ich aussehe, oder gibt es noch etwas, was dich stört?“

  „Ich würde dir empfehlen, einen BH anzuziehen … aber wirklich stören tut es mich nicht“, sagte Adam, woraufhin Mia sofort wütend die Arme vor der Brust verschränkte.

  „Du Bastard“, fauchte sie. Adam grinste sie bloß dämlich an.

  „Was ist los?“, fragte Devin, der hinter Mia aufgetaucht war, einen zweiten Kontroller in der Hand. Er ging in sein Zimmer und setzte sich wieder vor den Fernseher, neben Adam.

  „Nichts“, antwortete Mia, bevor Adam es tun konnte.

  „Okay.“ Devin schien kaum zuzuhören, während er die CD aus ihrer Hülle holte und in die Spielkonsole legte. Als das Spiel gerade hochfuhr, blickte er mit glänzenden Augen wieder zu Adam. „Spielst du ne Runde?“

  „Wie … was?“, fragte Adam etwas erschrocken.

  „Dann kannst du mir zeigen, wie man die Alarmanlagen in der roten Halle umgeht.“

  Mia lachte einmal auf. Das würde ja witzig werden.

  „Es ist ehrlich gesagt schon eine Weile her, dass ich es gespielt habe“, versuchte Adam sich da jetzt rauszureden.

  „Ja, Devin. Vielleicht solltest du etwas Leichteres mit ihm spielen, wie … Autorennen“, schlug Mia vor, wohlwissend, dass dieses Spiel von jedem Jungen gespielt werden konnte. Sie hatte es selbst mal probiert und so, wie Adam gerade dreinsah, war ihm leicht anzusehen, dass er selbst in diesem Spiel keinerlei Erfahrungen besaß. Devin würde ihn auf der Rennstrecke vernichten. Das wäre sehr, sehr witzig.

  „Dann also Autorennen?“, fragte Devin.

  Adam hatte die Lippen zu einer schmalen Linie zusammengepresst. „Warum nicht?“, fragte er recht beherrscht, während er Mia einen schnellen Seitenblick zuwarf. Darin sah Mia Wut und Verachtung.

  Seine Probleme mussten ja wirklich riesig sein, wenn ihm selbst wichtig war, was Kinder über ihn dachten. Wichtiger als das, was sie über ihn dachte.

  Mia rollte über ihre eigenen Gedanken die Augen. Sie kam sich albern vor, wenn sie so dachte. Immerhin beleidigte er sie nicht absichtlich damit. Jedenfalls nicht immer.

  „Ich glaube, ich habe um die drei verschiedenen Autospiele für die Konsole, aber dieses eine hier ist das Beste“, sagte Devin, während er an die Kommode rückte, auf der der Fernseher stand und ein Spiel daraus hervor holte. Er legte es ein und startete es, der Bildschirm leuchtete hell auf, bevor er Abspann kam.

  Mia biss sich auf die Lippen, als ihr ein hinterhältiger Gedanke kam.

  „Devin? Würde es dir was ausmachen, wenn ich auch mal eine Runde drehe?“, fragte sie und setzte sich ebenfalls auf den Boden, etwas weiter hinter Adam und ihrem kleinen Bruder.

  „Das würd ich gerne sehen“, sagte Devin. „Spielst du dann gegen Adam?“

  „Klar“, sagte Mia und schnappte sich einen Kontroller. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Adam erleichtert aufatmete. Vielleicht dachte er, er hätte nun die Chance zu gewinnen, aber das konnte er getrost vergessen. Mia hatte schon oft mit Devin spielen müssen und vor allem dieses Spiel beherrschte sie inzwischen perfekt.

  Sie freute sich bereits darauf, sein Gesicht zu sehen, wenn sie ihn fertig machte.

  „Dann also wir beide, ja?“, fragte Adam und nahm den zweiten Kontroller. Er betrachtete ihn von allen Seiten.

  „Jepp. Es sei denn, du hast Angst“, meinte Mia unschuldig.

  Adam stieß nur ein leises Schnauben aus.

  Und dann begann das Spiel.

 

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  „Wie zur Hölle hast du das gemacht?!“, fragte Mia völlig überfordert. „Ich wusste nicht einmal, dass das bei diesem Spiel möglich ist! Wie … Wie konntest du mein Auto kaputt machen?“

  Kaputt war gar kein Ausdruck. Das Ding sah aus, als würde es gleich auseinander fallen.

  „Keine Ahnung“, meinte Adam nicht weniger überanstrengt, als sie. „Ich wollte das ja nicht einmal, ich mein …“

  „Und ob du das wolltest!“, unterbrach Mia ihn scharf. „Du hast mich einfach gegen die Wand gestoßen, als ich an dir vorbeigefahren bin! Immer und immer wieder! Sag mir nicht, dass das keine Absicht war.“ Sie legte den Kontroller vor sich ab. Ihr Auto würde ohnehin keinen Zentimeter mehr weiter kommen.

  Sie spielten inzwischen seit etwa zehn Minuten und in dieser Zeit hatte Mia Adam um mindestens fünf Runden überholt, weil er bei jeder Kurve ins Schleudern geraten und gegen jedes Hindernis gekracht war. Das hier wäre eigentlich Mias finale Runde gewesen und sie hätte nur am Ziel ankommen müssen, aber als sie zum wiederholten Mal an Adam hatte vorbei fahren wollen, hatte er sie mit seinem Auto plötzlich gegen die Wand gestoßen – so oft und stark, dass ihr Fahrzeug jetzt scheinbar hin war.

  „Was soll ich jetzt machen?“, fragte Adam unschlüssig, während Devin sich neben den beiden nur noch den Bauch vor Lachen hielt. Er fand das alles ungeheuer witzig.

  „Du, mein Lieber, schiebst mich jetzt ganz langsam und vorsichtig zum Ziel, damit ich so gewinne, wie ich es verdient habe“, sagte Mia.

  Adam ließ die Schultern hängen. „Können wir uns an diesem Punkt nicht auf ein Unentschieden einigen?“

  „Nein.“

  „Aber …“

  „Non.“ Wieder wechselte Mia ins Französische. 

  „Kannst du das bitte lassen?“

  „Seulement si vous jouez juste“, meinte Mia, was so viel wie „erst, wenn du fair spielst“ bedeutete.

  „Was heißt das?“, fragte Adam genervt.

  „Erst, wenn du fair spielst“, gab Devin ihm die Antwort.

  Adam sah ihn verwundert an. „Woher weißt du das denn?“

  „Unsere Mutter ist Französin.“ Devin zuckte die Achseln.

  „Warte mal …“ Adam sah zu Mia. „Ich dachte, du hättest das in der Schule gelernt. Heißt das, du hast mich die ganze Zeit verarscht?!“

  Mia lächelte, konnte aber nicht antworten, weil es an der Tür schellte. Sie stand auf und hastete aus dem Zimmer. „Spielt ohne mich weiter“, sagte sie über die Schulter, bevor sie in der Flur bog.

  Es war der Lieferant, der ihr ihre Bestellung brachte. Mia holte das Geld aus der Küche, das ihre Eltern ihr zurückgelassen hatten, bezahlte für die beiden Pizzen und bedankte sich bei dem Mann in Form von großzügigem Trinkgeld. Als das erledigt war, nahm sie die beiden Schachteln und trug sie in Devins Zimmer, weil sich ohnehin niemand die Mühe machen würde, sich in der Küche an den Tisch zu setzen, um ordentlich zu essen.

  „Pizza ist da“, sagte Mia, als sie in Devins Zimmer zurückkam.

  „Super“, sagte Devin, ohne sie anzublicken. Er und Adam spielten bereits eine zweite Runde und dieses Mal schien Adam, entgegen Mias Erwartung, sogar ganz gut mithalten zu können. Er wirkte dabei aber wirklich, wirklich konzentriert, was ihre Mundwinkel etwas hochwandern ließ.

  Es war erstaunlich, wie schnell er Devin um seinen Finger gewickelt hatte.

  Mia setzte sich dieses Mal nicht zwischen den beiden Jungs auf den Boden, sondern eher neben Adam, um von ihrem kleinen Bruder nicht gehört zu werden. Als sie im Schneidersitz saß, legte sie die beiden Pizzaschachteln ab und lehnte sich zu Adam vor. Sie war ganz nah an seinem Ohr, als sie flüsterte: „okay, du hast gewonnen.“

  „Hmm?“ Adam zuckte sichtlich zusammen, als ihr warmer Atem seine Haut streifte, fasste sich aber schnell wieder, um das Spiel nicht zu verlieren. Er hielt sich gut, er und Devin waren fast gleich auf.

  „Ich bin immer noch dagegen, dass du das Bild von unserem Kuss reinstellst, aber wenn du willst, können wir ein anderes machen, um deinen Lesern zu bestätigen, dass wir ein Paar sind“, flüsterte Mia.

  „Ah, ja“, murmelte Adam, die Augen immer noch auf den Bildschirm gerichtet. Er schien kaum zu blinzeln.

  Mia lehnte sich wieder von ihm weg und entschied, es erst einmal sein zu lassen. Vor ihr hatte ein Junge eindeutig zum ersten Mal Videospiele für sich entdeckt. Sie hätte ihm ins Ohr schreien können, er hätte sie trotzdem nicht gehört.

  „Das war echt knapp“, sagte Devin, als er als erster durch das Ziel raste. Adam kam schnell hinterher.

  „War ein spannendes Rennen“, meinte Mia, während sie ihr erstes Pizzastück zerkaute.

  Adam sagte nichts. Er stieß langsam die Luft aus und starrte an den Bildschirm, als gäbe es dort immer noch etwas Wichtiges zu sehen. Seine Kiefer waren angespannt, wie Mia auffiel.

  „Entspann dich ein wenig“, raunte Mia Adam zu und reichte ihm ein Pizzastück, weil es ihr fast leid für ihn tat, wie sehr ihn diese kleine Niederlage zu zerfressen schien. Im Internet war er vielleicht ein großer Junge, aber hier draußen, im echten Leben, war er noch recht unerfahren. „Niemand ist gleich beim ersten Mal perfekt.“

  Sie hätte einen Kommentar zu ihrem ersten Kuss erwartet, der laut Adam ja so scheiße gewesen sein soll, aber Adam sagte nichts. Er sah nur kurz das Pizzastück an, nahm es ihr leise vor sich hin murmelnd aus der Hand und biss ein Stück ab.

  Mia nahm das als ein gutes Zeichen.

  „Noch ne Runde?“, fragte Devin.

  „In Ordnung“, sagte Adam gefasst, obwohl Mia den Eindruck hatte, dass er innerlich eigentlich insgeheim darauf brannte, noch einmal zu spielen, um gegen Devin gewinnen zu können.

  „Hast du gehört, was ich vorhin gesagt habe?“, fragte sie Adam, als dieser sich bereits ein Auto aussuchte.

  „Was denn?“

  „Das mit dem Bild.“

  „Ach, ja, das. Ja, ja, hab ich.“

  „Und?“

  „Ich finds klasse, dass du einverstanden bist.“ Adam wandte sich an Devin, während er sein Handy aus der Hosentasche holte. „Warte eben einen Moment, ich bin gleich bereit.“

  „Ich such schon einmal eine neue Strecke aus“, meinte Devin. „Wie wär’s mit der Wüste?“

  „Was gibt es denn noch?“, wollte Adam wissen. Mit seinem Handy ging er in diesem Moment sehr halbherzig um.

  „Es gibt noch ein paar Optionen, ich fand noch eine andere Strecke ganz gut …“

  „Adam“, sagte Mia ungeduldig.

  „Ich mach ja schon.“ Er aktivierte seine Kamera, bevor er sie auf Mia richtete.

  Mia strich sich das feuchte Haar ins Gesicht, um es besser verbergen zu können und drehte sich etwas weg, dabei tat sie, als würde sie in ihr Pizzastück beißen.

  „Da hat aber jemand schon Erfahrung damit, sein Gesicht vor Aufnahmen zu schützen“, lachte Adam, schien mit dem Resultat aber ganz zufrieden zu sein.

  „Paige versucht es immer wieder.“ Mia setzte sich wieder normal hin. „Und zwar überall und zu jeder Zeit. Beim Essen, beim Sport, beim Schlafen, beim Duschen …“ Sie machte eine Handbewegung, die zeigte, dass die Liste noch ewig weiterging.

  „Die Letzteren würd ich gerne mal sehen“, lachte Adam leise auf.

  Und Mia konnte nicht anders, als das Grinsen zu erwidern. „Würdest du nicht. Paige ist eine schreckliche Fotografin.“

  „Oh Gott …“, murmelte Devin in stiller Verlegenheit und tat, als würde etwas mit seinem Kontroller nicht stimmen. Er betrachtete ihn sehr eingehend.

  „Entschuldige. Vielleicht sollte ich sowas nicht in Anwesenheit von kleinen Kindern sagen“, meinte Adam.

  Mia musste noch mehr grinsen. „Mach ruhig. Er hält sich in letzter Zeit ohnehin für viel zu erwachsen. Wenn er schon Forderungen wie ein Großer stellt, sollte er auch in der Lage sein, sich sowas anzuhören.“

  „Nur weil ich mehr Taschengeld will, heißt das nicht, dass ich mich für völlig erwachsen halte!“, entgegnete Devin.

  „Devin, du wolltest genauso viel, wie ich im Monat bekomme.“

  „Ja, das ist doch gerecht.“

  „Nein, eben nicht. Ich habe in deinem Alter auch weniger bekommen.“ Mia schlang den letzten Rest ihrer Pizza hinunter. „Und jetzt spiel einfach weiter und vergiss die Sache mit der Gerechtigkeit.“

  Devin schnaubte noch, sagte aber nichts mehr.

  Es wunderte Mia ein wenig, dass Adam nicht direkt nach dem Erreichen seines Zieles gegangen war. Er war geblieben und hatte noch einige Runden lang mit Devin gespielt, aber jedes Mal verloren. „Jetzt spiel ich wirklich ernst“, hatte Adam nach seiner geschätzt fünften Niederlage gesagt, die Stimme voller Entschlossenheit.

  Mia hatte bloß leise für sich gelacht, was aber nicht nur einmal vorgekommen war. Den wilden Gesprächen der beiden während der Rennen zuzuhören, war für sie besser als der Film gewesen, den sie vor Adams Erscheinung geguckt hatte.

  „Hör auf, mich an die Wand zu fahren!“, hatte Devin irgendwann gerufen. „Der Scheiß, den du bei Mia abgezogen hast, wird bei mir nicht klappen.“

  „Ich kann das nicht kontrollieren!“

  „Ich bitte dich! Inzwischen kannst du das gut genug, verarsch mich also nicht.“ Und nach einer paar Sekunden: „ich habe gesagt, dass du damit aufhören sollst!“

  So war das noch eine Zeit lang weiter gegangen, bis Mia irgendwann einen Blick auf die Uhr geworfen hatte. „Mom und Dad kommen wahrscheinlich bald …“, hatte sie leise gemurmelt, aber nicht so leise, dass es von niemandem gehört worden war.

  Adam hatte sofort aufgehört zu spielen und selbst auf die Uhr gesehen. „Es ist echt spät“, hatte er mit gerunzelter Stirn festgestellt. „Ich glaube, ich sollte jetzt gehen.“

  Mia hatte sich auf die Zunge beißen müssen, um ein höfliches „du musst noch nicht gehen“ zurückzuhalten. Sie wollte ihn nicht hier behalten oder so. In den Flur begleitet hatte sie ihn trotzdem, auch während er in seine Schuhe und seinen Mantel geschlüpft war, hatte sie ihn nicht verlassen.

  „Hey, da du jetzt hast, was du wolltest …“, hatte sie gesagt, als er gerade fertig geworden war. „Kann ich jetzt davon ausgehen, dass du das Bild von uns beiden endgültig gelöscht hast?“

  Er hatte sie seltsam angesehen – mit einem Blick, den sie nicht ganz hatte zuordnen können und der fast etwas wie Misstrauen in ihr erweckt hatte.

  „Ich hab’s gelöscht“, hatte er dann aber gesagt und die Tür geöffnet. „Mach dir keine Sorgen darum, es ist alles okay. Wir sehen uns dann noch?“, hatte er gefragt.

  „Ja.“

  „In Ordnung.“ Er hatte schwach gelächelt, was eher einem schiefen Grinsen geähnelt hatte. „Dann … Bis irgendwann.“ Und dann war er gegangen.

  Mia seufzte und lehnte sich gegen die Wand, als er fort war. Ihr Kopf pochte etwas.

  „Ist Adam weg?“, fragte Devin, der sofort hinter ihr aufgetaucht war.

  „Ja, ist er.“

  „Ich fand ihn echt nett.“

  „Ja, er kann ganz nett sein.“ Mia verschränkte die Hände vor der Brust und lehnte den Kopf an die glatte Tapete ihres Flures. „Manchmal.“

  „Ist er jetzt eigentlich wirklich dein Freund oder nicht?“, fragte Devin. Er gab sich Mühe, desinteressiert zu wirken, schien es aber in Wirklichkeit wissen zu wollen.

  Mia fuhr sich über das Gesicht. „Nein.“

  „Wirklich nicht?“

  „Wirklich nicht.“

  „Ou.“ Er klang etwas enttäuscht. „Das ist irgendwie schade. Was ist er denn für dich?“

  „Nichts.“

  „Nicht einmal einfach nur ein guter Freund?“

  „Nicht einmal das.“ Sie hatte keine Lust darüber zu reden. Mia stand nicht auf Adam, keinesfalls. Nein, das würde sie sich nicht erlauben. Sie hatte Mitleid mit ihm, mehr war aber nicht drin. Er hatte wegen seiner psychischen Probleme einen so starken Drang danach, es jedem Recht zu machen, dass er sich ständig nur verstellen und dadurch kaum das richtige Leben genießen konnte. Heute hatte er so entspannt gewirkt, dass Mia weich geworden und ihm das Foto mit ihr gegönnt hatte, damit er sein blödes Spiel im Netz fortsetzen konnte.

  Vielleicht mochte sie ihn inzwischen ein wenig, aber mehr war nicht drin. Mehr würde sie sich nicht erlauben, für ihn zu fühlen.

  „Ich finde, ihr würdet gut zusammen passen“, meinte Devin nach einer Weile der Stille.

  „Nur weil wir beide gerne Pizza essen und deine Videospiele spielen? So läuft das nicht, Devin.“

  „Willst du etwa, dass da was läuft?“

  Sie drehte sich zu ihm um. „Wieso fragst du mich das alles überhaupt?“

  „Weil das so ungewohnt ist!“, sagte er. „Du, mit einem Jungen.“

  „Daran solltest du dich lieber auch nicht gewöhnen.“ Mia verließ den Flur und ging nicht mehr ins Wohnzimmer, zurück zu ihrem Film, sondern auf direktem Weg zu ihrem Zimmer. Dort ließ sie sich in ihr Bett fallen und verkroch sich unter die Decke, um in Ruhe ihre Magenkrämpfe und die Kopfschmerzen überstehen zu können.

  Ihr wurde bewusst, dass sie die Sache mit Adam schnellstens beenden musste. Sie würde sich noch ein paar Mal mit ihm treffen, um ihm dabei zu helfen, seinen Ruf zu erhalten, aber dann würden sie getrennte Wege gehen.

  Bereits in ein paar Wochen würde ihr Leben wieder so werden wie früher und sie würde sich nicht ständig von jemandem anhören müssen, wie langweilig und uninteressant es auf andere wirkte. Sie würde wieder ganz normal mit Paige abhängen und sich von allen anderen dieser Ratten in der Schule fernhalten – genau wie früher.

  Sie freute sich schon drauf.

- Kapitel 7 -

 

  „Kannst du jetzt bitte das Handy weglegen? Du musst mir nämlich schon nicht beweisen, dass du ein Privatleben hast“, motzte Adam sie zum wiederholten Mal an diesem Tag an, weil Mia andauernd Nachrichten von Paige erhielt und sie einfach nicht ignorieren konnte. „Ich glaube es dir auch so.“

  „Ich kann nun einmal nicht anders“, meinte sie ausweichend.

  „Und ob du das kannst. Wie viele meiner Anrufe hast du in der letzten Woche noch einmal ignoriert? 15? 20?“, fragte Adam.

  „Das ist was anderes. Sie ist meine beste Freundin. Und du bist … Du.“

  Adam schnaubte bei dieser Bemerkung, gab es aber auf, Mia vom Handy bekommen zu wollen. Sie saßen sich gegenüber an dem Tisch eines Cafés in der Nähe von Adams Wohnung und genossen das erstaunlich gute Wetter. Dieser Sonntag war zwar immer noch etwas kalt, aber eindeutig besser als die letzten Wochen.

  Heute zitterten auch ausnahmsweise mal Mias Finger nicht, als sie über den Display strich und sich die Nachrichten ansah, die sie und Paige sich zugeschickt hatten, seit Adam sie abgeholt hatte.

  Er will sich heute wieder treffen, hatte Mia sofort an Paige geschrieben.

  Wohin bringt er dich?, hatte sie zurückgefragt.

  Wir sind in einem Cafe, bei ihm in der Nähe.

  In der Öffentlichkeit???

  Ja.

  Ou, mach ihm bitte eine Szene.

  Mal sehen.

  Bitte, bitte. Für mich. Und daneben ein Smiley mit riesigen Augen.

  Mia musste lächeln. Adam war am Freitag bei ihr gewesen, aber Mia war nach seinem Gehen viel zu müde gewesen und war noch vor dem Heimkommen ihrer Eltern eingeschlafen. Am Samstag hatte sie Paige aber gleich am Morgen angerufen und ihr von allem erzählt.

  Es war eine lange Unterhaltung gewesen.

  „Also glaubst du, dass er tatsächlich etwas von dir wollen könnte?“, hatte Paige sie ganz aufgeregt gefragt.

  „Nein, sicher nicht“, hatte Mia geantwortet. „Aber ich glaube, dass es ihm gut tut, hin und wieder mit jemandem zusammen zu sein, der …“ Der über seine Probleme Bescheid weiß, hatte sie sagen wollen, aber das konnte sie Paige nicht anvertrauen. Sie hatte Adam versprochen, niemandem davon zu erzählen. Dass er sich nur mit ihr traf, um seinen Ruf zu wahren, darauf war Paige immerhin auch ohne sie gekommen.

  „Was denn jetzt?“, hatte Paige gefragt.

  „Nichts. Vergiss es.“ Mia hatte während des Telefonates ständig in den Spiegel geguckt und sich die Haare gerichtet. „Jedenfalls habe ich nicht vor, seinen Ruf weiterhin irgendwie für mich auszunutzen. Ich treffe mich noch ein paar Mal mit ihm, damit er Ruhe gibt und dann ist es vorbei.“

  „Komm schon“, hatte Paige sie überzeugen wollen. „Mach zumindest etwas Peinliches in der Öffentlichkeit. Du weißt, dass er es ein kleines bisschen verdient hätte.“

  Und so war das noch eine Zeit lang weiter gegangen.

  „Worüber schreibt ihr eigentlich die ganze Zeit?“, fragte Adam etwas genervt, dabei hielt er seine Flasche Cola fest umklammert. Mia hatte auch eine, die bisher aber unangerührt geblieben war.

  „Über Zeugs halt …“, murmelte Mia. Ich sag dir später, wie es gelaufen ist, schrieb sie schnell an Paige, ehe sie das Handy endgültig wegpackte. Sie lächelte Adam unschuldig an und legte die Hände ordentlich auf den Tisch. „Okay. Meine ganze Aufmerksamkeit gehört jetzt dir.“

  Adam starrte sie bloß irritiert an. „Du scheinst heute ja eindeutig besser drauf zu sein, als am Freitag“, sagte er und nahm einen Schluck von seiner Cola.

  „Kann man so sagen“, meinte Mia und jubelte innerlich noch einmal darüber, dass ihre Tage sich verzogen hatten. Sie war wieder frei und konnte schmerzlos leben – zumindest für den nächsten Monat.

  „Aha. Haben deine Eltern eigentlich etwas darüber gesagt, weil ich am Freitag da war?“, wollte Adam wissen.

  „Ich hab ihnen nicht davon erzählt. Devin scheinbar auch nicht“, erwiderte Mia. „Was haben deine Leser zu dem Bild von mir gesagt? Ist alles wieder in Ordnung?“, fragte sie, um das Thema zu wechseln.

  Er zuckte die Achseln. „Ja, scheint zumindest so.“

  „Übrigens … da wir gerade dabei sind …“, begann Mia vorsichtig und erinnerte sich an das, was sie sich am Freitag hatte durch den Kopf gehen lassen. „Ich wollte mal darüber reden. Über diese Sache hier.“

  „Ich ahne schon, dass es nichts Gutes sein wird“, sagte Adam und spannte sich sichtlich an. „Was ist los?“

  „Ich will aufhören“, brach Mia dann heraus. „Mit den Treffen, meine ich. Mit diesem Getue.“

  „Aber es war deine Idee!“ Adam warf fast verzweifelt die Hände in die Luft. „Ich wusste, dass es soweit kommen würde und du kein Bock mehr darauf hättest … Aber wieso genau?“ Er sah sie mit zusammengekniffenen Augen an. Als wäre sie der Feind.

  Es überraschte Mia, dass er sich gar nicht auf das Ende ihrer Treffen freute. Aber anderseits … Es war für ihn schließlich immer noch besser, mit einem Streber nur gesehen, statt von einem abserviert zu werden. Nicht gut, aber besser.

  „Ich weiß auch nicht genau. Es … stört mich einfach irgendwie.“ Mia schluckte.

  „Scheiße“, murmelte Adam und umfasste seine Flasche so stark, dass Mia glaubte, sie würde gleich zerspringen.

  „Adam, entspann dich und gerate nicht in Panik. Das ist nicht so schlimm.“

  „Und was soll ich jetzt machen?“, fauchte er sie an. „Das Ganze hat kaum eine Woche gehalten.“ Er atmete einmal tief durch, bevor er mit sachlicher Stimme fortfuhr. „Nehmen wir mal an, dass du ein nicht ganz so großes Opfer bist, wie ich am Anfang angenommen habe … Und es meinen Ruf nicht umbringt, wenn ich mit dir gesehen werde …“

  „Ist das ein Kompliment?“, fragte Mia spöttisch.

  „Du bist und bleibst ein Streber, der kaum ein soziales Leben hat“, fuhr er fort, als hätte er sie nicht gehört. „Abgesehen vielleicht von Aktivitäten mit ihrer besten Freundin.“ Er sah kurz dahin, wo Mias Handy war. „Wenn man weiß, dass wir beide uns direkt geküsst haben, da aber nicht mehr als nur eine Woche lang was zwischen uns gelaufen ist … und man weiß, dass du bist, wie du bist … dann wirkt das ja auf jeden Umstehenden, als hätte ich dich nur ausgenutzt.“ Er seufzte übermüdet. „Ich wirke wie das letzte Arschloch.“

  Mia fragte sich, wie man so viel in diese Sache hinein interpretieren konnte. Als würden die Leute wirklich über sowas nachdenken … Sie konnte sich nicht vorstellen, dass das jemanden interessierte. Aber andererseits – sie interessierte sich auch für völlig andere Dinge, als die meisten Menschen in ihrem Alter.   

  „Weißt du, was ich machen könnte?“, sagte Mia.

  Er hob eine Augenbraue, sah sie dabei immer noch aufgebracht an. „Was?“

  „Ich hole Paige und lass sie ein paar Bilder von mir machen – jedes Mal mit verschiedenen Frisuren, in verschiedener Kleidung und an anderen Orten. Dann kannst du die Fotos in regelmäßigen Abständen hochladen, damit es so wirkt, als würden wir zusammen etwas unternehmen.“ Sie knetete ihre Finger ineinander. „Und? Was hältst du davon?“

  „Ich weiß nicht“, murmelte Adam. „Denkst du nicht, dass es jemand bemerken könnte?“

  „Wenn keiner deinen Trick mit der Drush-Dose durchschaut, dann wird dieser kleine Schwindel auch keinem auffallen“, beruhigte Mia ihn.

  „Hmm.“ Adam wirkte, als wäre er immer noch dagegen. Er hatte aber kein passendes Argument.

  „Falls irgendwer Verdacht schöpft, rufst du mich einfach an und wir treffen uns noch einmal, um allen zu zeigen, dass wir zusammen sind“, fuhr Mia fort. „Würde dich das zufrieden stellen?“

  „Das ist ein wenig riskant“, murmelte er. Er war gar nicht begeistert.

  „Dir würde es ein wenig gut tun, hin und wieder etwas Riskantes zu machen“, wies Mia ihn zurecht und griff zum ersten Mal nach ihrem eigenen Getränk. Sie hatte einen Strohhalm in die kleine Flasche gesteckt und stieß ihn mit dem Finger hin und her. „So durchgeplant und vorsichtig, wie du dein Leben führst.“

  „Was weißt du schon vom Risiko?“, fragte Adam herablassend. Sie hatte ihm eindeutig die Laune verdorben.

  Mia zuckte zusammen, als sie sich daran erinnerte, in wie viele zwielichtige Häuser sie mit Nick gegangen war, um sich dort mit seinen Kumpeln zu treffen. Hinter jeder dieser Türen hätte ein Vergewaltiger oder ein Verrückter auf sie warten können.

  „Mehr, als du denkst“, sagte sie kühn und nahm endlich einen Schluck. Die Flüssigkeit kribbelte angenehm in ihrem Mund.

  „Dann erzähl mal“, sagte Adam herausfordernd und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.

  „Was?“

  „Was du so alles riskiert hast.“ Sein Gesichtsausdruck war völlig starr, während er sie ansah. „Wenn du mich schon dazu aufforderst, solltest du selbst etwas zu bieten haben.“

  „Ich will nicht darüber reden“, murmelte Mia und tastete abwesend an ihr Ohr. Mit den Fingern fuhr sie an dem kalten Metall ihrer Piercings entlang, sie zog einmal sacht an ihrem Ohrring.

  „Dachte ich es mir“, sagte Adam. „Dir fällt nichts ein.“

  „Mir fällt sehr wohl etwas ein!“, fauchte sie ihn an.

  „Dann erzähl es doch.“

  „Nein.“ Sie biss sich auf die Lippe. Die Versuchung war sehr groß, aber sie wollte das alles hinter sich lassen.

  „Kann ich dir jetzt mal einen Vorschlag machen?“, fragte Adam. „Du hast doch meine Nummer, richtig? Selbst wenn wir jetzt aufhören, uns zu treffen, kannst du mich jederzeit anrufen, sobald du etwas Riskantes gemacht hast, von dem du mir auch erzählen kannst.“ Den letzten Teil sagte er mit leicht bissigem Unterton in der Stimme.

  „Und was hab ich davon?“, fragte Mia gelangweilt.

  „Ein besseres Selbstwertgefühl, zum Beispiel“, sagte Adam. „So, wie du gerade dreinschaust, scheinst du nämlich selbst etwas enttäuscht von dir zu sein, weil du nichts zu bieten hast.“

  „Du doch auch nicht“, entgegnete sie hitzig.

  „Ich habe das aber auch nie behauptet“, warf Adam ein. „Ich lebe, wie du schon gesagt hast, nach Plan und voller Vorsicht. Wie ein Jäger.“

  Mia schnaubte. „Wohl eher wie Beute.“

  „Im Gegensatz zur Beute bin ich doch derjenige, der den Überblick hat“, sagte Adam. „Während mein ganzes Umfeld von mir verarscht wird. Mit deiner Hilfe. Du bist also der Köder.“

  „In welcher Welt ist der Köder schlauer als der Jäger?“

  „Bei der Jagd spielt die Intelligenz keine Rolle. Nur das Geschick ist wichtig.“

  „Das hier ist die dümmste Diskussion, die wir je hatten.“

  „Warum? Weil du am Verlieren bist?“

  Mia seufzte und hob den Arm. „Adam, rede mit der Hand.“

  „Hallo, Hand.“

  Das war soo unlustig und soo taktlos, dass es fast schon wieder ein wenig witzig war und Mia hätte sich am liebsten selbst eine Ohrfeige verpasst, als ihre Mundwinkel zu beben begannen.

  „Ich denke mal, dass ich gewonnen habe“, sagte Adam zufrieden.

  „Und ich denke, dass diesen einen Sieg ich dir schon gönnen kann“, schmunzelte sie. „Also, zurück zum eigentlichen Thema – du wärst einverstanden, dass wir diese Treffen für’s erste beenden?“

  Adam knurrte etwas vor sich hin. „Von mir aus.“

  „Es sei denn natürlich, dass ich dir ans Herz gewachsen bin“, säuselte Mia neckisch. „Dann musst du mir das nur sagen und ich lasse mich überreden … Vielleicht.“

  Adam verdrehte die Augen. Ein Nein hörte sie von ihm aber nicht.

  An dem Tisch neben ihnen begannen die Leute gerade, aufzustehen und zu gehen, weil sich das Mädchen über das Wetter beschwert hatte. Es war ein Pärchen, ein wenig älter als Mia und Adam, aber nicht weniger dick eingekleidet.

  Mia wurde an ihre friedenden Hände erinnert und knüpfte ihre Jacke etwas fester zu. „Es ist echt kalt“, murmelte sie.

  Wieder schoss ihr durch den Kopf, dass sie noch einen Gruppenplan für ihre Klasse erstellen musste. Mias Stufe würde am nächsten Wochenende zu einer anderen Schule fahren, um dort an einem Sportfest teilzunehmen, und da Mia – wer hätte es erwartet? – die Klassensprecherin war, musste sie noch entscheiden, wer in welches Team gehörte und wer zu welcher Sportart antrat. In der Halle gab es nicht genug Platz, weswegen das Ganze draußen stattfinden würde. Allein bei dem Gedanken, in dieser Kälte in Sportklamotten rumrennen zu müssen, schwand Mias Motivation auf das Ganze, aber da führte kein Weg dran vorbei. Sie würde mitkommen und teilnehmen müssen, ob sie nun wollte, oder nicht.

  Adam sah sofort auf. „Dir ist kalt?“

  Mia blinzelte verwirrt. „Ja, ich mein … Dir nicht?“

  „Nein.“ Adam fuhr sich mit gespreizten Fingern durch das Haar. „Okay, dann beenden wir das hier am besten.“

  „Aber wir sind doch gerade mal eine Stunde hier.“ Mia sah sich um. „Reicht das denn?“

  „Eigentlich nicht, aber wenn dir kalt ist, muss das nicht unbedingt sein.“ Adam hob die Hand und rief die Kellnerin zu sich. Er bedankte sich höflich und sagte, dass der Aufenthalt der beiden sehr angenehm für sie gewesen war, bevor er zahlte – für beide Getränke, zu Mias Überraschung.

  „Das wäre nicht nötig gewesen“, sagte sie flüsternd, während die beiden aufstanden, um den Tisch zu verlassen, nachdem die Kellnerin gegangen war.

  „Ist schon okay. Sieh es als eine Art Danke“, sagte Adam, als sie sich von dem Café entfernten.

  „Für was?“

  „Dass du das bis hierher mitgemacht hast.“ Er sah zum Himmel. „Auch wenn du jetzt damit aufhörst.“

  „Hör auf. Ich werde dir ja noch helfen, falls du mich mal wirklich brauchst.“ Mia blieb stehen. Sie waren an einem Punkt angelangt, an dem sie sich trennen mussten. Adam musste nach Hause, nach rechts. Mia zur Bushaltestelle, nach links. Mia sah zu Adam und hob einen Mundwinkel. „Das hier ist unser letztes Treffen, für die nächste Zeit.“

  Er nickte nur. 

  „Bringst du mich zur Bushaltestelle?“

  „Nein.“

  „Du bist doch wohl nicht sauer auf mich, weil ich das hier beendet hab.“ Sie sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an.

  „Nein.“ Er klang nicht sehr überzeugend.

  „Okay, dann musst du mich eben nicht begleiten. Umarmst du mich?“ Sie wollte sehen, wie lange sie ihn provozieren konnte.

  „Nein.“ Adam sah sie nicht einmal an, sondern ließ seinen Blick schlechtgelaunt über die Straße wandern.

  „Bist du sicher? Das würde aber sehr realistisch wirken. Du weißt ja … wir sind ein Paar und so.“ Sie zwinkerte.

  „Lieber nicht.“

  „Wie du willst. Vielleicht sollte ich dann etwas anderes machen, um deine Leser zu unterhalten. Sicher sind ein paar von ihnen hier irgendwo in der Nähe. Na, Adam? Soll ich etwas Peinliches machen?“ Sie wusste auch schon, was. Mia tat, als hätte sie etwas in der Hand und stieß sich den unsichtbaren Gegenstand gegen die rechte Wange, ihre Zunge gegen die Innenseite der linken. Dann bewegte sie beides gleichmäßig hin und her. Es war eine recht deutliche Anspielung.

  „Hör auf“, sagte Adam schnell.

  Mia machte weiter.

  „Mia!“, fuhr er sie an.

  „Du weißt, was du machen musst“, säuselte sie. „Ich habe dir zwei Optionen gegeben.“

  Anscheinend war er immer noch zu wütend, um sie zur Bushaltestelle zu begleiten, aber für eine kurze, halbherzige Umarmung reichte ihre Erpressungsmethode.

  „Dann … Bis irgendwann“, sagte sie, als er sie wieder los ließ.

  „Ja … Bis dann“, sagte er genauso langsam wie sie, ehe er sich unentschieden umdrehte. Er schlenderte nur langsam davon, als hätte er etwas vergessen und Mia sah ihm kurz hinterher, bevor sie sich selbst auf den Weg machte.

  „Ich schicke dir die Bilder demnächst!“, rief sie noch über die Schulter.

  Er antwortete mit einem kurzen Winken, drehte sich aber nicht zu ihr um.

  Es war ein seltsames Gefühl, jetzt einfach zu gehen. Sie hatte Adam am Anfang ihrer Bekanntschaft gar nicht leiden können und hatte erst jetzt begonnen, ihn halbwegs zu mögen. Das ausgerechnet an diesem Punkt zu beenden, war fast ein wenig schade.

  Und ob sie sich das nun einredete, oder nicht – sie glaubte, dass er auch begonnen hatte, sie trotz ihrer niedrigen Stellung in der Gesellschaft ein bisschen zu mögen. Sie tat ihm gut, einfach, weil er offen mit ihr reden konnte.

  Aber wenn er das nicht zugab, dann war das sein Problem. Oder nicht?

  Mia dachte noch eine Weile darüber nach, aber als sie Zuhause ankam und sich an den Gruppenplan für ihre Klasse setzte, wurde dieser Gedanke ganz schnell von anderen ersetzt, wichtigeren. Adam verschwand aus ihrem Kopf und kehrte für die nächste Zeit auch nicht mehr dorthin zurück.

  Sie begann, ihn zu verdrängen.

 

 

- Kapitel 8 -

 

    „Ich wusste gar nicht, dass es Nagellack von dieser Marke gibt“, rief Paige aus, als sie vor einem Regal in der Drogerie stehen blieb und die beleuchteten Gläschen in verschiedenen Farben sah. Mia verdrehte innerlich die Augen, als sie ihrer Freundin folgte. So lief das immer ab, wenn sie in einen Laden gingen, der ansatzweise etwas mit Schuhen, Klamotten oder Make up zu tun hatte. Paige vergaß nicht nur sich selbst, sondern auch alles um sich herum.

  „Weißt du – dafür, dass deine Eltern so viel Geld haben und du dir eigentlich alles leisten könntest, was du dir wünscht, lässt du dich ganz schön schnell von Kleinigkeiten beeindrucken.“ Mia trat mit ihrer Schultasche auf dem Rücken neben Paige und betrachtete die Schönheitsartikel mit eher oberflächlichem Blick. Sie machte sich aus sowas nicht viel. Sie ließ sich gerne mal von Paige schminken und trug hin und wieder Eyeliner mit Lippenstift auf, aber sonst interessierte sie sich nicht weiter für solche Sachen.

  „Das ist doch schön“, meinte Paige, ihre Augen so fixiert auf dem Nagellack, wie die eines Tigers auf seiner Beute. „Wäre doch langweilig, wenn man alles haben würde, was man will. Ich mein – was würde man dann noch wollen?“

  „Wunderschöne Logik“, lächelte Mia. „Und da wir gerade davon reden – erinnerst du dich eigentlich überhaupt noch, warum wir eigentlich hierher gekommen sind? Ich helfe dir mal auf die Sprünge: Es ist dein Vorschlag gewesen.“

  Das Lächeln auf Paiges Gesicht verschwand und sie wirkte plötzlich eher zerstreut. Dann lächelte sie nervös. „Ach … tatsächlich?“

  „Ja, tatsächlich. Also, weißt du noch, was du wolltest oder hat der Nagellack dich schon zu stark in die Irre geführt.“

  „Ich wollte … ich wollte …“ Paige sah sie um. „Was wollte ich nochmal?“

  „Ich finde es süß, dass du dich in Drogerie märkten genauso aufführst, wie in deinen betrunkenen Zuständen“, schmunzelte Mia. „Fixier-Spray für Schminke, das wolltest du.“

  „Ach ja, genau“, meinte Paige. Mit leicht angesäuertem Gesichtsausdruck fügte sie hinzu: „für morgen.“

  Heute war Freitag und die Schule hatte vor etwa einer Stunde für die beiden geendet. Eigentlich etwas Gutes, nicht wahr? Wochenende. Etwas, worauf man sich immer freuen konnte – außer, wenn man so wie die beiden an zwei auf einander folgenden Samstagen zu einem Sportfest ihrer Schule gehen musste.

  Die Schule stahl ihnen in gewisser Weise zwei Mal den schönsten Tag vom Wochenende.

  „Wozu brauchst du eigentlich das Fixier-Spray?“, fragte Mia und umfasste mit den Händen den Henkel ihrer Schultasche. Sie und Paige waren gleich nach Schulschluss hierher gekommen, danach würden sie mit dem Bus nach Hause fahren. „Wir werden morgen ohnehin nichts anderes tun, als Sport. Schmink dich doch einfach nicht.“

  „Wirklich, Mia?“, fragte Paige und kniff die Augen zusammen. „Wir werden morgen den ganzen Tag im Freien verbringen, schwitzend, bei Kälte. Gerötete Nase und Wangen, tränende Augen, schlaffe Klamotten, vermutlich fettige oder verfilzte Haare und ein sehr, sehr kränklicher Blick, weil wir alle an einem Samstag nicht ausschlafen können.“ Sie machte eine dramatische Pause. „Und du willst wirklich so gesehen werden? Ohne Make up?“

  „Wenn du es so formulierst …“, murmelte Mia und dachte, dass zumindest ein wenig Schminke nicht schaden würde. Sie seufzte. „Ich finde das scheiße. Wenn sie uns schon zwingen, zu diesem Fest zu kommen, könnte es etwas später stattfinden.“

  „Wir sollen uns um acht Uhr vor unserem Schulgebäude treffen, um dann zu einer anderen Schule zu fahren“, murmelte Paige. „Und dann werden wir dort den ganzen Tag draußen verbringen, in nichts als Sportklamotten.“ Sie verzog den Mund. „Ich bin eine der Schnellsten in unserer Stufe. Vermutlich werde ich mehr als einmal rennen müssen. Wenn dieses Fixier-Spray nicht hält, was es verspricht, werde ich aussehen wie ein Hamster. Ein verschwitzter, hässlicher Hamster.“

  „Ich glaube, dass, wenn du wirklich mehrmals rennen solltest, die Leute eher auf andere Teile deines Körpers achten werden, als dein Gesicht“, meinte Mia und versuchte, nicht allzu auffällig auf Paiges Oberweite zu gucken, die selbst unter der geöffneten Winterjacke leicht zu erkennen war.

  Paige grinste. „Auf diesen Anblick können sie lange warten. Ich werde einen Pulli mit so wenig Ausschnitt anziehen, dass mein Kopf kaum durch passen wird.“ Sie zwinkerte. „Ich habe da so einen für alle Fälle.“

  Mia lächelte nur. Die beiden liefen durch die Gänge, nachdem Paige es geschafft hatte, sich von dem Nagellack loszureißen.

  „Das, was mich am meisten stört, ist, dass wir morgen weder Pläne machen, noch richtig ausschlafen können“, seufzte Paige.

  „Oder uns besaufen“, fügte Mia grinsend hinzu, denn vermutlich hatte Paige genau das vorgehabt.

  „Genau!“, meinte Paige lachend, als hätte sie Mias Sarkasmus nicht gehört. Sie fuhr sich einmal durch das Haar. „Hättest du denn irgendwelche Pläne gehabt?“

  „Bis auf Ausschlafen? Nicht wirklich …“, meinte Mia.

  „Ach, ja. Das mit Adam ist ja vorbei.“

  „Ja …“

  Es war jetzt fast eine Woche her, dass Mia das mit Adam beendet hatte. Sie hatte ungefähr zehn Bilder von sich gemacht, auf denen man zwar nicht ihr Gesicht, dafür aber ihr gepiercstes Ohr erkennen konnte. So würde niemand bezweifeln, dass es immer dasselbe Mädchen war, von dem Adam ständig Bilder hoch lud. Adam hatte sich einmal knapp dafür bedankt und ihr ohne jede Ironie viel Glück bei ihrem Abschluss gewünscht. Dann war es vorbei gewesen.

  Seitdem hatte sie nichts mehr von ihm gehört, genauso wie von Sandy und Kathy. Man sprach nicht mehr über Mia und Adam, die Geschichte hatte aber ihre Spuren hinterlassen. Die Leute verhielten sich Mia gegenüber jetzt anders. Nicht besser oder freundlicher, sondern eben … anders. Obwohl sie kaum etwas dafür hatte tun müssen, hatte Mia ihr Ansehen in der Schule durch nur wenige Treffen mit Adam enorm gesteigert.

  Und obwohl sie es sich nur widerwillig eingestand – es gefiel ihr eigentlich ganz gut.

  „Ich verstehe ehrlich gesagt bis heute nicht ganz, was da zwischen euch gelaufen ist“, meinte Paige. „Ich weiß, du darfst mir nichts erzählen, aber ich begreife es nicht. Du hast doch nur mit ihm abgehangen, weil er sich dafür geschämt hat, von einem Streber abserviert worden zu sein. Hattest du keine Hintergedanken? Du hast ihm nicht einmal eine kleine Szene in der Öffentlichkeit gemacht, obwohl er so ein Arsch gewesen ist?“

  „Ich hatte zu Beginn so etwas in der Art vor, aber …“ Mia suchte nach den richtigen Worten. „Er hat auch ohne mich genug Probleme.“

  „Okay“, war alles, was Paige dazu sagte. Es ging sie nichts an und Mia war froh, dass sie nicht weiter nachfragte. „Du hast also nichts gegen ihn?“

  „Ich kann lediglich verstehen, dass er nicht ganz selbst dran schuld hat, dass er ist, wie er ist“, sagte Mia. Es war schon merkwürdig gewesen, die Sache einfach so zu beenden, aber sie hatte schon eine Arbeit wegen ihm verhauen und hatte das nicht noch einmal vor. Adam sollte zusehen, wie er selbstständig mit seinen Problemen klarkommen würde und Mia müsste das auch.

  „Dann ist es ja gut.“ Paige ließ ihren Blick durch die Gänge wandern. „Ich meine, wenn er wirklich … oh mein Gott, da ist es ja endlich!“ Das Spray kam in Sicht und sofort schlugen in Paiges Kopf wieder die Glocken, die alle anderen Gedanken übertönten.

  Mia war es eigentlich ganz recht. Sie wollte nicht mehr über das Thema reden.

  Ihr Leben hatte sich gebessert, Adam hatte sie geholfen. Sie hatte ihren ersten Kuss gehabt, er ein paar Bilder, die er hochladen konnte.

  Und damit hätte es eigentlich gelaufen sein müssen.

 

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  „Hey?!

  Adam schrak aus seinen Gedanken, als er Finns ungeduldige Stimme neben seinem Ohr hörte. „Hmm, was?“

  „Hast du gehört, was ich gerade gesagt habe?“, fragte Finn und sah ihn mit schief gelegenem Kopf an.

  „Äh, nein. Nicht wirklich.“

  „Du bist heute nicht ganz bei dir, kann das sein?“

  Adam schüttelte den Kopf. Draußen war es kalt und der Wind schlug ihm ins Gesicht, trotzdem schien sein Kopf völlig überhitzt zu sein. „Es ist alles okay“, log er. „Tut mir leid. Vergiss es einfach, bitte. Was hast du gesagt?“

  „Ich habe gerade gefragt, ob der Film, in den wir gehen, nicht ausverkauft ist“, wiederholte Finn, während die beiden über die Straße liefen. Sie waren auf dem Weg ins Kino.

  „Denke nicht. Er ist zwar neu, aber so beliebt dürfte er nicht sein.“ Eigentlich war es Adam völlig egal. Normalerweise fühlte er sich nirgendwo so gut, wie Zuhause, weil er sich da nicht verstellen musste, aber heute war es ihm vorgekommen, als würde ihm die Decke auf den Kopf fallen.

  „Weißt du … Ich war etwas überrascht, als du angerufen hast“, meinte Finn dann irgendwann.

  Kein Wunder. Adam war sehr darauf bedacht, nicht zu viel mit nur einer Person zu unternehmen, weil er Angst hatte, sie dann näher kennenzulernen. Man würde ihn durschauen, sein echtes Gesicht erkennen – und das wollte er nicht. Deshalb unternahm er nur mit verschiedenen Leuten etwas und suchte sich stets neue Bekanntschaften, rief niemanden zu regelmäßig an.

  Nur mit Finn hing er seit mehreren Jahren herum, auch wenn er ihn nicht regelmäßig anrief.

  „Ich hatte mal wieder Lust, was zu unternehmen“, sagte Adam und zuckte die Schultern, dabei versuchte er, lässig zu wirken.

  Er fühlte sich nicht gut. Ein paar der Bilder, die Mia ihm von sich geschickt hatte, hatte er bereits hochgeladen, aber es schienen ihm immer noch nicht ganz alle zu glauben, dass sie zusammen waren. Mittlerweile gab es die verrücktesten Gerüchte und er verstand nicht, woher sie kamen. Einmal war er kurz davor gewesen, nach seinem Handy zu greifen und sie anzurufen, um mit ihm rauszugehen, aber irgendwas hatte ihn davon abgehalten.

  Und es war ein Schock für ihn gewesen, als er festgestellt hatte, dass es daran gelegen hatte, dass er nicht schwach vor ihr erscheinen wollte. Es wurde ihm langsam wichtig, was sie über ihn dachte und er verstand einfach nicht, warum. Bisher hatte ihn das kein Stück interessiert, von Anfang an nicht. Seit ihrem ersten Gespräch hatte er keinen Wert auf ihre Meinung gelegt.

  Warum sich das so plötzlich änderte, konnte er nicht erklären. Er konnte nicht erklären, was da in seinem kranken, dummen Kopf vorging. Manchmal hasste er sich selbst und diese Probleme in seinem Unterbewusstsein richtig.

  „Weißt du, wie lange der Film geht?“, fragte Finn.

  „Bin mir nicht ganz sicher. Wieso?“

  „Ich wollte nur gerne vor elf Uhr Zuhause sein … Du weißt, wegen dem Sportfest morgen und so.“ Finn und Adam bogen um die Ecke.

  Ach ja, genau, das Sportfest. Morgen würde seine ganze Stufe an einem Samstag zur Schule kommen und an diesen Wettkämpfen teilnehmen müssen, zu denen noch zwei weitere Schulen eingeladen waren. Lauter Leute, vor denen er sich richtig verhalten musste, weil jeder seiner Schritte beobachtet wurde und kein Fehler von einer so großen Menschenmenge vergessen werden würde.

  Es kribbelte ihn schon in den Fingern, so nervös war er.

  Es würde ein langer Tag werden.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 13.04.2017

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