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- Kapitel 1 -

 

 Obwohl es nicht einfach nur leichtsinnig, sondern in gewisser Weise völlig lebensmüde war, als junge Frau alleine in der Nacht durch einen Wald unterwegs zu sein, fühlte Agathe sich in ihrer Situation erstaunlich wohl – schließlich war es ja nicht das erste Mal, dass sie einen solchen nächtlichen Ausflug unternahm.

Es war derartig ruhig auf dem Pfad, auf dem sie lief, dass der Klang ihrer Schritte und das Pochen ihres Herzschlages in ihren Ohren wiederhallten, beides ungewöhnlich laut in dieser Stille. Agathe liebte diese nächtliche Ruhe, weil sie eine solche Abwechslung zu dem Lärm im Dorf bot.

Als Agathe weit genug gelaufen war, dass sie sicher sein konnte, von niemand gesehen werden zu können, bog sie ab und verließ den Pfad, auf dem sie vorher gelaufen war und stampfte mitten in den Wald hinein. Unter ihren Füßen zerbrachen Zweige und schreckten kleinere Tiere im Unterholz auf, aber darum kümmerte Agathe sich nicht. Sie hatte schon vor langer Zeit die Angst vor Mäusen oder Spinnen verloren, weil sie gelernt hatte, dass es viel größere Gefahren im Leben geben konnte.

Irgendwann erreichte sie eine Stelle, an der die Bäume besonders dicht bei einander standen und das Blattwerk über ihrem Kopf sie in einen dunklen Schatten tauchte, sodass Agathe sich vorkam, als würde sie mit der Nacht verschmelzen. In diesem Versteck angekommen, griff sie nach der Tasche an ihrer Schulter und legte diese auf dem Waldboden ab, bevor sie sich daran machte, ihre Sachen herauszuholen.

Es gab nicht viel, was sie brauchte. Nur die kleine Schaufel, die sie zum Graben verwendete, das Buch, in dem ihr gesamtes Wissen über Geister gesammelt war und die Knochen eines Toten, die sie auf einem Markt der Gaukler an sich hatte reisen können.

Es gab nicht viele Leute, die offen mit Menschenüberresten handelten, weil sie befürchteten, man würde ihnen Hexerei vorwerfen, weswegen solche Geschäfte auch meisten eher unter dem Tisch geführt wurden und daher sehr schwer zu arrangieren waren. Agathe gelang es trotzdem ein ums andere Mal, Knochen zu finden, um sie für ihre Rituale zu verwenden.

Falls jemand jemals herausfinden sollte, was sie hier eigentlich so heimlich trieb, würde man sie auf der Stelle gefangen nehmen. Man würde sie als Hexe verbrennen, was zwar keine schöne Vorstellung war, in ihr aber weniger Entsetzen auslöste, als der Gedanke, an einen fremden Mann verkauft werden zu können.

So weit würde Agathe es niemals kommen lassen.

Sie hockte sich hin und begann, mit der Schaufel ein Loch in den lockeren Waldboden auszugraben – nicht tief, aber groß genug, damit alle Knochen in ihrem Beutel Platz darin finden würden. Als sie fertig war, holte sie genau diese ehrfürchtig aus ihrer Tasche und legte sie in das Loch, bevor sie sie wieder zu schaufelte. Zum Ende hin strich Agathe die frische Erde mit ihren Fingern glatt und zeichnete mit einem dünnen Zweig das Symbol hinein, das sie in ihrem Buch gefunden hatte.

Als sie das Ganze zum ersten Mal getan hatte, hatte sie es nicht ernst genommen. Sie hatte nie wirklich erwartet, dass es hätte funktionieren können, sondern es eher aus reiner Verzweiflung getan. Es war nie von ihr geplant gewesen, ihre Hochzeit wirklich durch einen Mord zu verhindern. Damals war sie 16 gewesen, kurz nachdem sie ihren ersten Verlobten kennengelernt hatte. Heute war sie schon 25 und immer noch unverheiratet.

Und das lag nicht daran, dass nach dem Tod ihres ersten Zukünftigen keine weiteren gefolgt waren. Ständig hatte ihre Mutter neue Männer zu ihr angeschleppt, reiche Knaben, mit deren Geld sie sich hätten über Wasser halten können. Agathe hatte nach der Entdeckung, dass man Geister dazu verwenden konnte, Morde zu begehen, stets gewartet, bis ihre Verlobten ihr genug Geschenke gemacht hatten, die sie hätte verkaufen können, bevor sie sie umgelegt hatte.

So hatten sie und ihre Mutter bisher leben können und dass viele der Einwohner ihres Dorfes bereits glaubten, auf Agathe würde ein Fluch liegen, weil alle ihre Zukünftigen umkamen, war ihr egal. Genauso wie den Männern, die ihre Mutter für sie suchte, denn Agathe war – so, wie manche sagten – schön genug, um ein Risiko für sie in Kauf zu nehmen.

Trotzdem hoffte sie, dass die Suche nach einem Mann irgendwann aufhören würde und sie das alles nicht mehr machen müsste. Denn obwohl Agathe sich für Geister interessierte, machte ihr das, was sie nun schon so viele Jahre machte, keinen Spaß.

Sie erhob sich wieder und klopfte sich den Dreck von dem Kleid, ehe sie die Hand genau so ausstreckte, dass ihre Handfläche über den Knochen lag. Die Worte, die sie brauchte, um einen Geist zu rufen, kannte sie bereits auswendig. Sie brauchte das Buch schon lange nicht mehr dafür.

„Dann wollen wir mal beginnen“, murmelte Agathe, ehe sie alles aufsagte, was gesagt werden musste. Es ging mittlerweile leichter, als es früher mal gewesen war. Es fühlte sich auch nicht an, wie Töten – schließlich übernahm jemand anderes die Arbeit für sie.

Agathe vernahm hinter sich ein Knacken, als sie die Worte zu Ende gesprochen hatte und wusste, dass alles nach Plan gelaufen war. Sie hatte es geschafft und wäre spätestens morgen früh wieder frei, für eine gewisse Zeit.

Langsam drehte sich die Frau um und erblickte hinter sich eine dunkle Gestalt zwischen den Bäumen lehnen. Dieses Mal war es ein erwachsener Mann, auch wenn seine schmale Statur eher der eines Jungen ähnelte. Er war nicht groß, vielleicht nur etwas größer als Agathe selbst und hatte ein scharf geschnittenes Gesicht mit nah beieinander stehenden, blauen Augen. Seine Haare waren schwarz und ungekämmt, seine Haut sonnengebräunt. Ihr fiel auf, dass er vollständig in Schwarz gekleidet war und sie über die kurze Distanz zwischen ihnen hinweg anstarrte.

Agathe legte den Kopf schief und lächelte ihm zu. „Hallo.“

Er antwortete nicht – das taten die wenigsten Geister zunächst, die sie beschwor.

Davon ließ Agathe sich nicht einschüchtern, dafür hatte sie das schon zu oft gemacht. „Wie heißt du?“, fragte sie die regungslose Silhouette vor ihr, die so ausdruckslos dreinschaute.

Es folgten ein paar Sekunden Stille, bis der Mann sich zum ersten Mal regte. „Mein Name ist Basta“, meinte er tonlos. Er sah sich um, als könne er nicht begreifen, wie er hier her gekommen war, aber er wusste es. Alle Geister wussten immer, weshalb sie vor Agathe auftauchten.

„Basta“, wiederholte sie den Namen. „Ich heiße Agathe.“

Er nickte nur kurz.

„Basta, ich will, dass du etwas für mich tust“, begann Agathe mit fester Stimme und machte einen Schritt auf ihn zu. Er beobachtete sie schweigend dabei. „Und zwar gibt es einen Mann, den ich unbedingt loswerden muss. Verstehst du? Du musst ihn töten. Er muss noch tot sein, bevor die Sonne aufgeht.“

Wie alle anderen Geister, stellte auch Basta keine unnötigen Fragen. „Wie kann ich ihn finden?“, wollte er nur wissen.

Agathe wies in die Richtung, aus der sie gekommen war. „Hier in der Nähe gibt es ein Dorf. Dort findest du ein Gasthaus, in dem er zur Zeit übernachtet. Du wirst ihn schnell erkennen, denn anders als der Rest der Menschen, kommt er nicht von hier, sondern aus einer Stadt – und so sieht er auch aus.“

Wieder nickte Basta, dann glitt sein Blick zurück zu den Bäumen. Die meisten Geister, die Agathe rief, waren nur halb am Leben. Ihre Blicke wirkten starr und tot und obwohl Basta auch nicht gerade gesprächig oder wild war, glaubte sie in seinen Augen etwas Lebhaftes hinter der Ausdruckslosigkeit seines Gesichtes zu entdecken.

Agathe entschied sich, es einfach zu ignorieren.

„Noch irgendwelche Wünsche?“, fragte Basta sie und guckte ein letztes Mal zu ihr.

Agathe, etwas überrascht von der Frage, lächelte erneut. „Hab deinen Spaß dabei.“

 

- Kapitel 2 -

 

 Als Agathe am nächsten Morgen aufwachte, hörte sie bereits menschliche Stimmen auf den Straßen des Dorfes in ihr Zimmer dringen. Sie hörte ein paar Leute streiten, einige Frauen redeten miteinander und Kinder lachten, während sie sich mit lauten Schritten durch die Gassen jagten. Es waren die üblichen, nervigen Geräusche der Menschen ihrer Heimat.

Agathe hätte sie alle umlegen können – aber wenn sie das täte, gäbe es keine Händler, die frische Nahrung brachten. Es gäbe keine Schneider, die neue Kleidung für sie herstellen würden und es gäbe keine Ärzte, an die man sich hätte wenden können, wenn man erkrankte.

Ob Agathe es wollte, oder nicht – sie war ein Mensch und Menschen mussten in Gesellschaften leben, auch wenn diese in ihnen das Verlangen weckten, sich zu übergeben.

Schwerfällig setzte Agathe sich in ihrem Bett auf und schob sich die Decke vom Körper. Sie trug immer noch ihre Kleider vom gestrigen Tag, die teilweise mit Staub und Dreck bedeckt waren. Sie würde sich umziehen müssen, bevor ihre Mutter sie so zu Gesicht bekam.

Da sie gerade dabei war; ein Blick zur Seite offenbarte ihr das leere Bett ihrer Mutter und verriet Agathe, dass diese längst wach sein musste. Es würde am besten sein, wenn sie ihr schnell folgte, also stieg Agathe aus ihrem Bett und zog sich um. Als sie fertig war, band sie sich die schwarzen Haare mit einem Band zusammen und begab sich zur Treppe.

Agathe und ihre Mutter gehörten zu den wenigen Menschen im Dorf, die ein mehrstöckiges Haus besaßen, was – wie einige Bewohner sagten – bei einer verwitweten Frau und deren einziger Tochter an einem Wunder grenzte.

Woran das wirklich lag, musste Agathe wohl nicht erklären.

„Guten Morgen“, nuschelte sie, als sie das Ende der Treppe erreicht und somit die Küche betreten hatte. Ihre Mutter saß gerade am Tisch und aß in Gedanken versunken ihr Essen. Als sie Agathes Gruß hörte, hob sie überrascht den Kopf.

„Guten Morgen, mein Schatz“, sagte sie und schenkte ihrer Tochter ein Lächeln, das dunkle Haar zusammengebunden, aber trotzdem mit ein paar widerspenstigen Strähnen im Gesicht. Ihre Mutter wurde langsam alt, das stellte Agathe in letzter Zeit immer wieder fest, wenn die Morgensonne ihre müden Gesichtszüge derartig beleuchtete. Ihre Mutter nickte zu dem Teller neben ihr, den niemand angerührt hatte. „Für dich habe ich auch etwas gemacht.“

„Danke“, meinte Agathe nur und setzte sich dann ihrer Mutter gegenüber an den Tisch. Eier mit Brot. Kaum die Hälfte der Bewohner dieses Dorfes konnte sich ein solches Frühstück leisten.

„Hast du gut geschlafen?“, fragte ihre Mutter sie.

Agathe schob sich etwas von dem Essen in den Mund. „Wie immer“, log sie. Sie hatte gut geschlafen, aber nicht die ganze Nacht lang. Vielleicht gerade mal ein, oder zwei Stunden. „Ist etwas vorgefallen? Du siehst nachdenklich aus“, wollte Agathe wissen. Sie wusste längst, was kommen würde, aber es war wichtig, ihre Rolle überzeugend zu spielen. Mit unschuldigen Augen sah sie auf, als ihre Mutter seufzte.

„Es ist erstaunlich“, meinte diese müde und spielte mit einer ihrer Strähnen. „Manuel ist tot. Kannst du dir das vorstellen? Einfach im Schlaf erstickt, ohne jede Vorwarnung. Man hat ihn heute Morgen in dem Gasthaus von Frank gefunden, er war schon lange nicht mehr am Leben.“

Agathe legte sich eine Hand auf die Brust und tat überrascht, indem sie die Augen aufriss und leicht den Mund öffnete. „Nein, das … Ist das wirklich wahr?“

Ihre Mutter nickte bedrückt. „Schon wieder ist einer deiner Verlobten so plötzlich verstorben.“ Ihre Mutter hatte noch nie Agathe im Verdacht gehabt, und wenn doch, dann versteckte sie es gut. Sie war eine einfache Frau, die schon allein froh war, ihr Leben als Witwe und alleinerziehende Mutter irgendwie in den Griff zu bekommen – dabei verdrängte sie gerne mal ein paar Dinge, auch wenn diese vielleicht völlig offensichtlich waren. Agathes Mutter dachte nicht über die Hintergründe der ganzen Todesfälle nach und darüber war Agathe mehr als froh.

Denn so würde sie, wenn es nicht anders ging, dieses Spiel bis in alle Ewigkeiten spielen und sich selbst mit ihrer Mutter ein gutes Leben bieten können.

„Das ist so schrecklich“, murmelte Agathe und stocherte in ihrem Essen.

Ihre Mutter nickte. Nach ein paar Sekunden lehnte sie sich seufzend in ihrem Stuhl zurück. „Na ja, aber zumindest haben wir ja noch den Ring, den er dir geschenkt hat.“

„Ganz genau“, meinte Agathe aufmuntern und dachte an das dumme Stück Metall oben in ihrem gemeinsamen Schlafzimmer. Schmuck bedeutete ihr nichts, solange er keine dämonischen Kräfte besaß, denn dann war es bloß unnützer Stoff.

„Frank ist auch tot“, erwähnte ihre Mutter plötzlich, was Agathe wirklich die Luft wegbleiben ließ.

Sie verschluckte sich an ihrem Essen und hustete ein paar Mal, ehe sie klar sprechen konnte. „Was?“ Die Überraschung in ihrer Stimme hatte noch nie so echt geklungen.

„Die Treppe runter gefallen“, erklärte ihre Mutter und schüttelte den Kopf. „Es ist wirklich ein Trauerspiel. Gleich zwei Tote an einem Morgen, am selben Ort.“ Sie verzog traurig den Mund. „Man könnte wirklich glauben, etwas Böses würde in diesem Dorf leben.“

Es könnte aber auch Zufall sein, dachte Agathe im Stillen. Dass ihr Verlobter durch Bastas Hand gestorben war, musste nicht zwingend heißen, dass es auch den Besitzer des Gasthauses getroffen hatte.

Agathe hatte Frank nie gemocht. Auch er hatte zu den Männern gehört, die versucht hatten, sich ihre Gunst zu erwerben und ihr während dieser Versuche viel zu nahe gekommen waren. Agathe konnte menschlichen Kontakt nicht ausstehen, in keinster Weise, weswegen sie auch nur selten das Haus verließ. Denn wenn sie es mal tat, dann geriet sie beinahe zwanghaft in Situationen wie ihre letzte Auseinandersetzung mit Frank, aus der sie nur heil herausgekommen war, weil sie ihm im letzten Moment eine schallende Ohrfeige verpasst hatte.

Das war aber noch kein Grund gewesen, ihn umzubringen. Agathe stand ohnehin viel zu stark unter dem Verdacht, eine Hexe zu sein, weil all ihre Verlobten starben. Wenn auch noch Menschen, die sie nicht leiden konnte umkamen, würde niemand mehr seine Zweifel haben.

„Ich habe das heute von einigen Frauen gehört, als ich Eier vom Bauernhoff holen gegangen bin“, erzählte ihre Mutter. „Später muss ich noch einmal hin, um den Bauern mit den Tieren zu helfen.“

„Gibt es etwas, was ich machen kann?“, fragte Agathe sofort. Ihre Mutter war die einzige Person, der sie gerne ihre Hilfe anbot. Außerdem hatte sie somit eine Beschäftigung, mit der sie sich ablenken konnte. Franks Tod setzte ihr etwas zu sehr zu. Oder besser gesagt, was dahinter stecken könnte.

„Du könntest schon einmal mit den Kleidern anfangen, die ich für Manuela wiederherstellen soll“, sagte ihre Mutter. Die Frau besaß keine richtige Arbeit, sie suchte sich Aufgaben, wo es welche gab. Das meiste ihres Lebensunterhaltes verdienten die beiden ohnehin über Agathes sterbenden Männer.

„In Ordnung“, sagte Agathe und schob ihren Teller beiseite. Ihr war der Appetit vergangen; sie würde ihre Mahlzeit später beenden.

„Ich mache mich dann gleich auf den Weg“, sagte ihre Mutter und stand auf, um zu ihr gehen und Agathe einen flüchtigen Kuss auf die Stirn geben zu können. „Hab einen schönen Tag.“

Agathe zwang sich zu einem Lächeln. „Du auch.“ Sie stand auf und griff nach dem Haufen an Kleidern, der bearbeitet werden musste und trug ihn nach oben: Von dort aus hörte sie, wie ihre Mutter das Haus verließ und als sie endlich allein war, stieß sie hörbar die Luft aus.

Sie hatte keine Ahnung, was sie nun denken sollte. War wirklich Basta für Franks Tod verantwortlich oder war es doch Zufall gewesen? Welchen Grund hätte der Geist gehabt, den Mann umzubringen?

Diese Fragen ließen sie selbst dann nicht in Ruhe, als sie begann, ein Kleid nach dem anderen zu flicken und sie zu waschen, bis sie sauber waren. Das erforderte nicht besonders viel Kraft, aber was noch sehr viel wichtiger war, war, dass Agathe es Zuhause erledigen konnte.

Agathe hatte Probleme mit Menschen. Sie sprach nicht gerne mit ihnen und wurde auch nicht gerne von ihnen wegen ihrer „Schönheit“ angestarrt. Vor allem missfiel es ihr aber, von anderen Personen als ihrer Mutter berührt zu werden, da sie da jedes Mal das Gefühl hatte, in Flammen aufzugehen. Sie wusste nicht, woher dieser grundlose Hass rührte, aber er bewegte sie dazu, so viel Zeit wie möglich Zuhause zu verbringen und jedem Kontakt mit anderen aus dem Weg zu gehen.

Ihre Mutter und das Fenster in ihrem Schlafraum waren ihre einzige richtige Verbindung zu der Außenwelt. So oft hatte Agathe schon mehrere Stunden an ihrem Fenster gestanden und die Leute draußen von oben beobachtet, versteckt im Schatten, sodass sie von niemandem gesehen werden konnte.

Nachdem sie einige Stunden lang gearbeitet und das letzte Kleid fertiggestellt hatte, erhob Agathe sich erschöpft von ihrem Bett und sammelte den Haufen darauf. Dann drehte sie sich um und ging zu dem Fenster, von dem sie eben erzählt hatte.

Ein Blick daraus zeigte ihr das übliche Bild: Eine Straße, auf der einige Händler standen und vorbeigehenden Menschen ihre Ware anboten. Und etwas weiter weg, eine Gruppe von Frauen, die gerade einkaufte und dabei freundschaftlich miteinander redete. In ihrer Mitte, Angelina.

Angelina war die Quelle aller Gerüchte, die es um Agathe gab. Sie wären auch ohne die junge Frau entstanden, da alle Leute im Dorf die Tode ihrer Männer und Agathes ständiges Hocken im Haus befremdlich fanden, aber ohne Angelina hätten sie sich nie im Leben so derartig schnell verbreitet. Dabei kannten sich die beiden kaum. Agathe bekam nur etwas von Angelina mit, wenn sie draußen auf der Straße mal wieder von irgendwelchen Männern abgegraben wurde und die hochgewachsene Blondine sie dabei aus eifersüchtigen Augen beobachtete …

Heute war Agathe mit dem Beobachten dran. Sie fixierte Angelina ganz genau, ehe etwas sehr Sonderbares geschah: Angelina stand direkt an einem weiteren, mehrstöckigen Haus und schien es nicht zu bemerken, als in einem der oberen Fenster plötzlich ein erschreckt wirkender Mann auftauchte. Er taumelte rückwerts auf das Fenster zu und stieß mit dem Ellenbogen gegen einen auf der Fensterbank stehenden Kräutertopf, als er dieses erreichte.

Der Topf fiel, aber statt auf dem harten Boden aufzuprallen, traf er genau Angelinas Kopf und zersprang in tausend kleine Teile. Die Frau fiel mit dem Gesicht voran nach vorne und blieb regungslos liegen. Um ihren Kopf bildete sich nur langsam aber sichtbar eine dunkle Pfütze.

Der Mann im Fenster hatte keine Augen für dieses Geschehen. Er stand immer noch mit dem Rücken dazu gewandt und starrte mit blassem Gesicht in sein Haus hinein, mit der Hand machte er eine abwehrende Bewegung. Fast, als würde er einen Geist sehen.

Agathe reichte es. Sie riss sich vom Fenster los, hörte aber noch, wie Angelinas Freundinnen draußen schreiend zu ihr stürzten. Das, und ihren eigenen rasenden Herzschlag.

Völlig benommen lehnte Agathe sich gegen die Wand und schnappte nach Atem. War das möglich? War es wirklich möglich, dass der Geist, den sie beschwört hatte, nicht verschwunden war, nachdem er seine Aufgabe erfüllt hatte? Sie hatte nicht die Zeit, weiter darüber nachzudenken, als sie plötzlich die Präsenz einer weiteren Person im Raum spürte und zur Seite blickte.

In einer Ecke des Zimmers, rechts von ihr, nur einige Schritte entfernt, lehnte Basta.

Agathe hatte noch nie einen Geist bei Tageslicht gesehen, da sie sie immer nur nachts beschworen hatte. Danach waren sie immer wieder verschwunden gewesen und sie hatte sie nie wieder zu Gesicht bekommen – bis heute. Denn heute war alles anders.

„Nett, dich wieder zu sehen“, sagte Basta mit einem Mal, seine Stimme etwas spöttisch.

Agathe klappte der Mund auf. Noch nie hatte ein Geist sich über sie lustig gemacht. „Was machst du hier?“, fauchte sie augenblicklich und stieß sich von der Wand ab, um vor ihm zurück weichen zu können. „Du müsstest schon längst verschwunden sein.“

„Verschwunden. So?“, fragte er desinteressiert und steckte die Hände in die Taschen seiner Jacke, bevor er sich gelangweilt umsah. Basta wirkte so teilnahmslos, als wäre nichts dabei, dass er hier war.

„Ja“, meinte Agathe, die zum ersten Mal seit langer Zeit Unsicherheit in ihrer eigenen Stimme finden konnte. „Du dürftest nicht mehr leben. Jetzt, wo du deine Aufgabe erfüllt hast.“

„Hmm.“ Er fuhr sich durch das Haar, als er sie ansah. Agathe musste schlucken. Heute war sein Blick anders, als gestern Nacht. Die Augen hatten noch dieselbe Farbe, schienen aber fast in Blau zu lodern. Sie waren sehr, sehr viel lebendiger und Agathe fragte sich unwillkürlich, ob es gestern nicht doch nur die Müdigkeit nach seiner Wiederbelebung gewesen war, die ihn hatte so trübe aussehen lassen.

„Hast du sie umgebracht?“, fragte Agathe heiser. „Frank und Angelina.“

„Wer sonst?“, fragte er zurück und tat etwas, was Agathe noch nie bei einem Geist beobachtet hatte: Er grinste sie an. Seine Zähne waren perlenweiß und scharf, fast wie die eines Tieres.  

Sie verdrängte diesen Gedanken schnell. „Warum?“, wollte sie wissen und versuchte, tapfer zu klingen, aber ihre Stimme brach.

Basta hob eine Augenbraue. „War das nicht dein Wunsch?“, fragte er.

„Du solltest meinen Verlobten umbringen!“, rief sie.

„Weil er dich gestört hat“, warf Basta gelangweilt ein, dann zuckte er die Schultern. „Ich dachte, da entsorge ich den alten Kerl und diese Ziege gleich mit.“

„Darum habe ich dich nicht gebeten.“ Agathe zitterte.

Wieder zuckte Basta die Schultern. „Und wenn schon.“

„In Ordnung“, stieß Agathe aus und versuchte, nicht die Fassung zu verlieren, wenn sie schon keine Kontrolle mehr über die Situation hatte. „Du hast getan, worum ich dich in gewisser Weise gebeten habe. Warum verschwindest du nicht einfach?“ So war es bisher immer gelaufen.

„Zuerst will ich dafür bezahlt werden.“ Bastas Augen funkelten mit einem Mal.

Agathe wusste nicht, was sie hätte sagen sollen. Noch nie hatte ein Geist etwas von ihr als Gegenleistung verlangt. „B-Bezahlung?“

Er nickte fast schon zufrieden. „Ganz genau, Kleine.“

Kurz befürchtete Agathe das Schlimmste, als er seinen Blick an ihr rauf und wieder runter laufen ließ. Schützend verschränkte sie die Arme vor der Brust und wich zurück. „Was willst du?“, fragte sie, dieses Mal sichtlich verängstigt.

Basta lachte bei ihrer Reaktion nur auf. „Nicht dich, keine Sorge“, meinte er und grinste boshaft, bevor sein Gesicht wieder ernst wurde. „Wenn du mich zurück geholt hast, kannst du das sicher wiederholen. Es gibt jemanden, den du für mich beschwören musst, so, wie du es bei mir getan hast. Sobald das erledigt ist, sind wir quitt.“

„Wer soll das sein?“, fragte Agathe. Wen konnte dieser Kerl schon zurückholen wollen? Ihr war nicht wohl dabei. Basta schien eine grausame und skrupellose Person zu sein und bei demjenigen, den er so sehnlich zurück holen wollte, würde das sicher nicht anders sein. Es könnte gefährlich werden, Basta zu helfen – für alle.

„Das siehst du, wenn es soweit ist“, meinte Basta grinsend.

„Vergiss es“, sagte Agathe halb erstickt, bevor sie mit dem Rücken gegen die Wand stieß. „Ich werde dir nicht helfen.“

„Oh doch, das wirst du“, erwiderte Basta und war mit nur einigen Schritten bei ihr. Er griff nach einem ihrer Handgelenke und zog sie mit einem Ruck näher an sich, sodass sie fast gegen ihn stieß. „Du stehst in meiner Schuld, Kleine“, zischte er und zeigte drohend seine Zähne dabei.

Agathe hatte zu viel Angst, um etwas zu erwidern. Sie war nicht einmal in der Lage, sich über seine Berührung zu ärgern. Noch nie zuvor hatte ein Geist sie berührt und zu ihrer großen Enttäuschung musste sie nun feststellen, dass es sich nicht anders anfühlte, als bei Menschen.

Es war genauso unangenehm und störend.

„Also?“, fragte Basta nach einer Weile, in der sie ihn nur aus geweiteten Augen angestarrt hatte und beugte sich leicht zu ihr vor, ihr Handgelenk immer noch umklammernd. Agathe schnappte den Geruch von Pfefferminz auf, auch wenn sie nicht wusste, woher er kam. „Wirst du mir helfen?“

Was blieb ihr denn für eine Wahl? Agathe presste die Lippen zusammen und nickte widerwillig.

„Gut“, meinte er zufrieden, ließ sie los und lachte wieder auf. Sein Lachen klang dunkel und obwohl er eher schmaler gebaut war, hatte Agathe das Gefühl, als würde er den gesamten Raum mit seiner Anwesenheit einnehmen. Nie zuvor hatte Agathe so viel Ehrfurcht vor jemand anderes gehabt und dass es kein verletzbarer Mensch, sondern ein womöglich unkontrollierbarer Geist war, machte es nicht gerade besser.

Ich stecke mächtig in der Klemme, dachte Agathe und bereute es zum ersten Mal, nachts rausgegangen zu sein, um ihre Spielchen mit den Toten zu treiben – denn dieses Mal, hatte eindeutig sie verloren.

- Kapitel 3 -

 

 Es war ein seltsames Gefühl, das Haus bei Tag zu verlassen.

Agathe blinzelte als aller erstes verwirrt in die Sonne, als sie auf die Straße hinaustrat: so viel Licht bekam sie für gewöhnlich nicht zu sehen – oder zu spüren. Die Sonnenstrahlen trafen auf den schwarzen Umhang, den sie sich übergeworfen hatte, um nicht sofort von allen angestarrt zu werden, und wärme ihre Haut.

„Beweg dich“, fuhr Basta sie hinter ihr leise an, weil sie wie angewurzelt im Türrahmen stehen geblieben war.

Agathe machte leise murrend Platz. Sie war schon von den ersten Leuten bemerkt worden: Einige drehten desinteressiert die Gesichter in ihre Richtung, andere steckten unauffällig die Köpfe zusammen, wie immer eben. Aber niemand schien den dunkelgekleideten Mann neben ihr in Augenschein zu nehmen, was ein wenig erstaunlich war.

Schließlich hätte es ein weiterer Verlobter sein können, auf dessen Todesursache man hätte Wetten abschließen können.

„Kann nur ich dich sehen?“, fragte Agathe, den Mund hinter der Hand versteckt, weil sie nicht den Eindruck erwecken wollte, Selbstgespräche zu führen. So würde sie sich nur selbst auf den Scheiterhaufen bringen.

„Ich zeige mich nur denen, von denen ich gesehen werden will“, erwiderte Basta, ehe er ihr einen Stoß in den Rücken gab. „Los, ich will es endlich hinter mich bringen.“

Nicht nur du, dachte Agathe im Stillen, behielt diesen Gedanken aber für sich. Sie warf sich ihre Kapuze über den Kopf und begann, die Straße entlang zu gehen, in Richtung Wald. Auf dem Weg sah sie noch die Stelle, an der es Angelina getroffen hatte und das blutige Durcheinander, das die junge Frau hinterlassen hatte. Von der Leiche selbst war nichts mehr zu sehen.

„Woher wusstest du, dass Frank und Angelina mich stören?“, fragte sie und zog die Kapuze des Umhanges enger, damit man ihr Gesicht nicht sah, während sie sprach.

„Du bist eine mächtige Hexe“, sagte Basta, während er neben ihr herlief. Er sah sich nicht in dem Dorf um, während er ging und wirkte auch in keinster Weise neugierig. Eher genervt.

„Ich bin keine Hexe“, entgegnete Agathe.

„Jedenfalls hast du trotzdem sehr viel Macht“, fuhr Basta desinteressiert fort. „Du hast diesen Leuten allein durch deinen Hass Schlechtes angehängt. Du hast sie indirekt verflucht. Vielleicht hast du es selbst nicht bemerkt, aber für Geister ist die schwarze Magie, die sie umgeben hat, sehr gut sichtbar.“

„Schwarze Magie?“ Agathe konnte nicht anders, als sich gierig über die Lippen zu lecken und schämte sich fast wieder dafür, dass sie in einem solchen Moment an ihre Interessen dachte.

„Man nennt es auch den bösen Blick.“ Basta legte den Kopf in den Nacken und blinzelte genau wie Agathe vorhin in die Sonne. „Wenn du verhasste Menschen ansieht und ihnen währenddessen etwas schlechtes Wünscht. Es passiert zwar nicht immer genau das, was man will, aber etwas von dem Hass bleibt in Form von schlechter Energie an den Menschen hängen.“

Agathe sagte nichts mehr. Niemals hätte sie gedacht, etwas wie einen bösen Blick zu beherrschen. Sie fragte sich unwillkürlich, ob sich das trainieren ließ.

„Wohin genau gehst du?“, fragte Basta irgendwann, als sie den Rand des Dorfes erreicht hatten. Das hatte nicht lange gedauert. Es war ein winziger Ort.

„In den Wald“, erklärte Agathe. „Ich will nicht gesehen werden.“

Basta verzog den Mund, gab aber keine Bemerkung ab.

„Wen soll ich denn nun eigentlich für dich zurückbringen?“, wollte Agathe wissen und schlug die Kapuze zurück, als sie das Dorf verlassen und den Wald betreten hatten, der es umgab.

„Einen Mann namens Capricorn“, erklärte Basta dann und wurde plötzlich eine Spur leiser. Seine Stimme klang zum Zerreisen gespannt.

Agathe runzelte die Stirn. „Capricorn?“, fragte sie.

Abrupt blieb Basta stehen. „Sag mir nicht, dass du den Namen noch nie zuvor gehört hast“, empörte er sich und fixierte sie mit einem raubtierhaften Glanz in den blauen Augen.

Agathe hatte das Gefühl, etwas Falsches gesagt zu haben und bekam es wieder mit der Angst zu tun. Sie wich ein paar Schritte zurück und stolperte dabei fast über eine Wurzel. „Nein, tut mir leid“, flüsterte sie leise.

„Aber …“ Basta fuhr sich durch das Haar. „Wir sind doch in der Tintenwelt, oder?“

„In der was?“ Sie verstand kein Wort.

„Naterkopf“, sagte Basta dann hitzig. „Hast du schon einmal den NamenNaterkopf gehört?“

Das verstand sie sogar. Agathe nickte.

Daraufhin seufzte Basta erleichtert. „Gut“, murmelte er. „Also bin ich doch noch in der richtigen Welt.“ Wovon sprach er da? Agathe konnte ihm nicht folgen.

„Der Naterkopf ist tot“, sagte sie und schien Basta damit wieder aus der Fassung zu werfen, denn er hob überrascht den Kopf und sah sie verwirrt an. Beinahe schon fassungslos.

„Was sagst du da?“

„Der Naterkopf war mal ein König“, erklärte Agathe. „Ein grausamer König. Aber jetzt ist er tot, und das schon seit über zehn Jahren.“

„Zehn Jahre?!“, rief Basta aus und wurde bleich. Kurz hatte er genauso wenig Farbe im Gesicht, wie alle anderen Geister, die Agathe bisher gerufen hatte.

Agathe realisierte, dass Geister womöglich wussten, dass sie tot waren, aber nicht, wie lange. Aus seiner Reaktion schlussfolgerte sie, dass Basta den Naterkopf zu seinen Lebzeiten noch persönlich gekannt haben musste.

Das überraschte sie kaum.  

Agathe betrachtete Basta genauer. Sie sah ihn zum ersten Mal richtig aufgelöst, denn bisher hatte er die ganze Zeit überlegen geklungen. Die Tatsache, dass er schon so lange verstorben war, schien ihm zuzusetzen. Es dauerte auch ein wenig, bis er sich gefangen hatte. Als es so weit war, warf er Agathe einen scharfen Blick zu, der diese versteifen ließ.

Na Wunderbar, dachte sie. Jetzt hat er schlechte Laune.

„Wir fangen an“, befahl Basta dann plötzlich knurrend. Ihm schien es allmählich zu viel zu werden.

„Was denn?“, fragte Agathe und hob eine Augenbraue. „Jetzt?“

„Wann denn sonst?“, fauchte er sie an.

Sein Ton ließ sie zusammenfahren, aber Agathe kämpfte sich dazu durch, ihn wütend anzufunkeln. „Ich brauche dafür aber zunächst etwas, das diesem Capricorn gehört und das er ständig bei sich getragen hat.“

Basta breitete die Arme aus, um zu zeigen, dass er nichts bei sich trug. „Ich habe nichts“, erklärte er tonlos. „Funktioniert es nicht nur mit einem Namen? Nicht viele heißen Capricorn in dieser Welt.“

Da war es schon wieder. Von was für Welten sprach er?

Agathe biss irritiert die Zähne zusammen. „Doch, mit einem Namen könnte es auch funktionieren, aber dafür bräuchte ich länger. Mit persönlichen Gegenständen oder gar Überresten des Toten ginge es besser, aber ich schätze, das steht nicht zur Auswahl.“ Sie seufzte.

„Fang einfach an“, knurrte Basta sie an. Er besaß nicht gerade viel Temperament, dafür, dass er gestern noch so ruhig gewesen war.

Wütend über seinen Befehlston kniff Agathe die Augen zusammen, sagte aber nichts mehr, sondern griff nach der Tasche um ihre Schulter und holte das Buch hervor, das sie vor so langer Zeit einem Händler auf dem magischen Jahrmarkt abgekauft hatte. Dieses Buch hatte ihr Leben verändert.

Agathe brauchte einige Minuten, um sich das Kapitel über Beschwörung mithilfe eines Namens durchzulesen, denn das hatte sie bisher noch nie versucht. Als sie sich sicher war, es verstanden zu haben, legte sie das Buch beiseite und streckte die Hände aus, dann entspannte sie sich.

Basta stand etwas abseits und beobachtete die Szene mit skeptischem Blick.

Pass bloß auf, dachte Agathe genervt. Du wirst noch staunen.

Aber es geschah nichts, ganz egal, wie konzentriert sie auch die nötigen Worte für die Beschwörung aufsagte. Selbst, nachdem sie einen zweiten Versuch unternommen hatte, war nichts geschehen und Agathe wusste aus Erfahrung, dass es nichts mehr bringen würde. Entweder es funktionierte sofort, oder gar nicht. So etwas konnte man nicht erzwingen.

„Es klappt nicht“, brach sie heraus. Sie fühlte sich plötzlich wieder wie 16, wie bei ihrem ersten Versuch, dunkle Magie zu nutzen. Damals war so ziemlich alles schief gegangen, worin sie sich probiert hatte und obwohl sie sich seitdem stark weiterentwickelt hatte, fühlte sie sich mit einem Mal wieder wie eine blutige Anfängerin.

Agathe drehte sich um, um einen missgelaunt dreinschauenden Basta neben sich zu finden. Ein Schatten hatte sich über sein Gesicht gelegt, sonst rührte sich nichts darin. „Wieso?“, fragte er gereizt.

„Ich weiß nicht genau. Ich glaube, der Name reicht nicht aus …“

„Was für eine miserable Hexe bist du eigentlich?“, fuhr er sie energisch an.

Agathe versuchte, ihr Zusammenzucken vor ihm zu verstecken, indem sie nicht weniger wütend zurückfeuerte. „Ich bin keine Hexe! Und in dieser Art von Magie kenne ich mich noch nicht genug aus, da reicht der Name allein eben nicht, also schrei mich nicht an.“

Basta stieß etwas wie ein Grollen aus und fuhr entnervt herum, um seinem Ärger Luft zu machen, was Agathe nur recht sein konnte. Sollte er sich doch abregen.

„Wir brauchen also persönliche Gegenstände von ihm“, murmelte Basta irgendwann.

„Weißt du, wo du welche finden kannst?“

Er nickte nachdenklich. „Ja. Er hatte mal eine Burg, eine Festung. Falls von ihr nach all der Zeit etwas übrig geblieben ist, dann wird sich dort etwas finden lassen.“

„Wundervoll.“ Agathe stieß angespannt ihren Atem aus. „Dann schlage ich vor, dass du alles holst, was nützlich sein könnte und dann wieder kommst.“

„Du wirst mich begleiten“, stellte Basta augenblicklich klar und drehte sich zu ihr um, er heftete seinen Blick an sie.

Agathe hob beide Augenbrauen. „Wie bitte?“

„Du wirst mich zu Capricorns Burg begleiten“, wiederholte er sachlich. „Dort werden wir alle seine Sachen sammeln, damit du ihn beschwören kannst. Sobald er wieder da ist, kannst du gehen.“

„Nein“, sagte Agathe sofort. „Ich gehe nirgendwohin mit dir mit.“ Allein der Gedanke, ihr Haus für mehr als ein paar Stunden zu verlassen, veranlasste sie dazu, schwerer zu atmen, aber Basta machte das nichts.

Ehe Agathe überhaupt wusste, wie ihr geschah, war er auch schon bei ihr, um sie zu packen und gegen den nächstbesten Baum zu schleudern. Agathe war so mitgenommen von der Wucht, mit der sie gegen den Stamm krachte, dass ihr die Luft aus den Lungen gepresst wurde. Noch enger wurden ihre Atemwege, als Basta sie an ihren Unterarmen packte und sie beide links und rechts von ihr an den Baum hinter ihr presste, sodass Agathe sich nicht mehr rühren konnte.

Zitternd hob sie den Blick und guckte in das wütende Gesicht des Mannes, das nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt war. Das war viel zu nahe, viel zu viel. Agathe wollte ihn wegstoßen, aber Bastas Griff war eisern.

„Jetzt hör mal zu, Kleine“, begann er bedrohlich leise zu zischen und suchte ihren Blick. Agathe hasste Augenkontakt und hätte weggesehen, wäre die Angst, ihn dadurch nur noch wütender zu machen, nicht größer gewesen als ihre Abneigung. „Du hast mich gerufen, was von mir verlangt und jetzt bist du dran, deinen Teil dafür zu erfüllen. Du wirst mit mir kommen, ob du willst oder nicht, und du wirst tun, was ich dir sage, weil du in meiner Schuld stehst.“ Er drückte ihre Unterarme etwas fester. Eine Warnung. „Verstehen wir uns?“

„Wieso kannst du nicht alleine gehen?“, fragte Agathe, das Zittern in ihrer Stimme war nur allzu deutlich zu hören. Sie wollte, dass er sie losließ. Seine Berührungen trieben ihr Tränen in die Augen. „Sobald ich das mitbekommen habe, kannst du dich einfach in Luft auflösen und an einem anderen Ort wieder erscheinen, anders als ich. Ohne mich bist du ohnehin schneller. Wieso holst du nicht Capricorns Sachen und bringst sie einfach hierher, statt mich den ganzen Weg hinter dir herzuschleppen?“

„Weil ich nichts mit mir nehmen kann, wenn ich so plötzlich von einem Ort in den nächsten wechsle“, knurrte er. „Du wirst mit mir kommen und sie selbst holen müssen.“

Agathe hätte am liebsten geheult, einfach wegen allem, was gerade so über sie hereinstürzte, aber vor allem, weil er sie nach wie vor festhielt. Sie spürte seinen Atem auf der Wange und es erfüllte sie mit dem vertrauten Ekel, den sie empfand, wenn jemand ihr zu nahe kam.

„Wenn du dich mir widersetzt, bringe ich dich um“, flüsterte Basta und legte den Kopf schief, während er ihr Gesicht musterte. Dass er sie aus dieser Nähe betrachtete, schüchterte sie nur noch mehr ein. „Ab jetzt hast du mir zu gehorchen, ist das klar?“

„In Ordnung“, brach Agathe hervor, mit einem Geräusch, das einem Schluchzen ähnelte. „In Ordnung, ich tue, was du sagst, wirklich! Aber bitte lass mich los!“

Es schien ihn zu verwirren, dass sie weniger auf seine Todesdrohung, statt auf seine Berührungen reagierte. „Was?“

„Ich habe Berührungsängste“, stotterte sie in ihrer Panik. „Ich kann das einfach nicht ertragen. Bitte! Bitte, lass mich endlich los“, flehte sie hysterisch und merkte viel zu spät, was sie gerade gesagt hatte. Oder besser gesagt, zu wem sie es gesagt hatte.

Basta ließ ihre Unterarme los, aber nur, um seine Hände gleich darauf mit einem hinterlistigen Grinsen auf ihre Schultern zu legen. „Berührungsängste. So so“, meinte er fast sanft und ließ seine Hände an ihren Oberarmen langsam rauf und wieder runter wandern, so, als würde er sie extra quälen wollen.

Agathe biss auf die Lippe, um nicht zu schreien. Sie hatte eben einen Fehler gemacht, einen schlimmen.

„Wir werden jetzt zu Capricorns Burg aufbrächen, Kleine“, sagte Basta und sah sie streng an, die Augen kniff er dabei zusammen. „Und jetzt, da du weißt, was ich von dir weiß, schätze ich, dass es unterwegs keine Probleme geben wird.“ Er legte den Kopf schief und grinste wieder hämisch. „Oder?“

Agathe schüttelte wie betäubt den Kopf. Sie hätte alles getan, damit er sie losließ. „Nein“, sagte sie trocken. „Auf keinen Fall.“

- Kapitel 4 -

 

Nicht einmal irgendwelche ihrer Sachen hatte Basta Agathe holen lassen, bevor er sie so überstürzt verschleppt hatte – wobei verschleppt es hier vermutlich nicht ganz traf. Zum gehen erpresst passte da schon besser, da Agathe ihm wie ein widerstrebender Hund durch den Wald folgte, weil sie nicht berührte werden wollte.

Das ist doch Unfug, dachte sie und fuhr sich mit der Hand durch die dunklen Haare, bemüht, nicht zu weinen. Zu dem eigentlichen Augenblick war der Schock über seine Berührungen größer gewesen, als dass sie hätte etwas davon mitbekommen können, aber jetzt hatte Agathe sich wieder beruhigt und erinnerte sich an seine Worte.

Er hatte ihr gedroht. Er hatte gesagt, er würde sie umbringen, wenn sie nicht tat, was er wollte.

Noch nie hatte man Agathe mit dem Tod gedroht. Man hatte sie schon mehrmals im Leben belästigt, ja, auch beschimpft und geschlagen, aber noch nie war es so weit gekommen, wie heute.

Das alles nahm sie mehr mit, als sie es von sich selbst erwartet hätte.

„Weißt du überhaupt, wohin wir gehen müssen?“, fuhr sie ihn irgendwann an. Sie liefen schon seit einer Stunde und Agathe spürte, wie sich ihr Zuhause hinter ihr immer weiter und weiter entfernte. Es war zum Haareraufen.

Von dem Ärger in ihrer Stimme ließ Basta sich nicht beeindrucken. Er hatte das Glänzen ihrer Augen vorhin längst bemerkt und wusste mittlerweile genauso gut wie sie, dass er dazu fähig war, ihr ihre Lage so ungemütlich wie nur möglich zu gestalten. Er hatte hier das Sagen, auch wenn sie es gewesen war, die ihn gerufen hatte. Er hatte die Kontrolle.

„Ich kenne den Weg“, antwortete er über die Schulter hinweg. Agathe war überrascht von der Bestimmtheit in seiner Stimme. Für sie schien es fast so, als würde er die ganze Zeit ziellos durch den Wald laufen. „Ich bin schon einmal in deinem Dorf gewesen, im Auftrag von Capricorn. Ich kann mich noch erinnern, wie man zurück kommt.“

„Was für eine Art von Auftrag denn?“, fragte Agathe misstrauisch und schlang die Arme um sich, während sie über Wurzeln und Stein zu ihren Füßen hinweg stieg.

Darauf antwortete Basta nicht.

Das gefällt mir immer weniger, dachte Agathe und biss die Zähne zusammen. Ich muss zusehen, wie ich hier wieder rauskomme.

„Wie lange ist der Weg?“, wollte sie wissen. Was würde ihre Mutter denken, wenn Agathe so lange wegblieb? Oh Gott, sie würde die nächsten Tage ganz alleine im Haus leben und arbeiten müssen, krank vor Sorge. Agathe fühlte sich schon jetzt furchtbar deswegen.

„Wir werden noch heute Nacht ankommen, wenn wir durchlaufen“, meine Basta.

Augenblicklich stemmte Agathe die Versen in den Boden und stoppte. „Durchlaufen?“, fragte sie und veranlasste Basta, sich mit einer genervten Miene zu ihr umzudrehen.

„Gibt es ein Problem?“

„Ich kann nicht durchlaufen. Anders als du, muss ich schlafen. Und essen oder trinken.“ Sie dachte an das Frühstück zurück, das ihre Mutter für sie gemacht und das sie hatte einfach stehen lassen. Sie konnte wirklich so eine Idiotin sein.

Basta schnalzte in einer verächtlichen Geste mit der Zunge. Agathe hatte das Gefühl, dass alles an ihrem Verhalten ihn nervte. Als sei er nie selbst ein Mensch gewesen.

„Was schlägst du vor?“, fragte er und sah sie mit zusammen gekniffenen Augen an.

„Keine Ahnung“, meinte Agathe. „Aber durchlaufen werde ich nicht können, ich hatte schon letzte Nacht nicht genug Schlaf.“

Sie sah an der Art und Weise, wie Basta den Mund verzog, dass er diese Aussage nur zu gerne mit einer bissigen Bemerkung versehen hätte, aber er seufzte nur stattdessen. „Auf dem Weg gibt es ein weiteres Gasthaus, das zwar eigentlich für Händler gedacht ist, für dich aber auch einen Platz haben müsste. Zu essen und zu trinken bekommst du dort auch.“

„In Ordnung“, meinte Agathe und ließ ihre Hand in die Tasche ihres Umhanges gleiten, dort wo die Münzen waren, die sie für Notfälle immer mit sich trug. Es war gefährlich, mit Geld unterwegs zu sein, aber Agathe war ohnehin nie wirklich unterwegs. Sie hätte sich früher nicht einmal vorstellen können, das wenige Geld jemals wirklich gebrauchen zu können.

„Also bist du damit einverstanden?“, fragte Basta und sah sie spöttisch an. Er tat, als würde alles, was sie verlangte, viel zu viel sein.

Agathe schenkte ihm einen feindseligen Blick. Sie hatte so furchtbare Angst vor ihm – aber auch etwas wie ein Rückgrat. Und obwohl sie sicher nicht die beste darin war, sich selbst gegen andere in direkter Konfrontation zu verteidigen, würde sie sich von ihm nicht so weiterhin behandeln lassen. „Einverstanden? Er hört sich sogar wundervoll an.“ Sie legte so viel Sarkasmus in ihre Stimme, wie sie nur konnte.

Basta ließ seinen Blick ein weiteres Mal mit ausdrucklosen Augen über ihren Körper gleiten, bevor er sich erneut daran machte, sie durch den Wald zu führen. Agathe konnte es eigentlich nur noch recht sein, denn desto früher sie ihm mit Capricorn half, desto eher würde sie wieder nach Hause dürfen – und momentan wünschte sie sich nichts mehr.

Das Gasthaus, von dem er gesprochen hatte, erreichten sie erst, als es bereits dunkel geworden war. Auf dem Weg dorthin hatten sie nicht miteinander gesprochen, kein einziges Mal. Basta war ohnehin, wenn er sie nicht wegen irgendwas anfuhr, nicht gerade die gesprächigste Person und Agathe war beschäftigt genug damit gewesen, sich darauf zu konzentrieren, ihre Zähne nicht allzu laut klappern zu lassen.

Zusammen mit der Nacht war auch die übliche Kälte über sie hereingebrochen und da sie nicht die Zeit gehabt hatte, sich umzuziehen, musste Agathe mit der Kleidung auskommen, die sie am Körper trug. Sonst hatte sie nur ihre Tasche, in der nichts weiter als ihr Buch, eine kleine Schaufel und ein Wasserbeutel drinnen waren.

„Na endlich“, murmelte Agathe, als sie das Gasthaus erblickte und blieb stehen, die Arme um sich geschlungen. Sie hatte sich bereits die Finger abgefroren.

„Ich schätze, hier kannst du übernachten“, murmelte Basta leise. Er klang nicht begeistert davon, dass sie halten wollte, statt weiter zu gehen, aber damit würde er auskommen müssen.

„Ich weiß nur nicht, ob ich genug Geld dabei habe“, flüsterte Agathe.

„Das wird kein Problem sein. Ich bin mir sicher, dass du dir da auch so mit ein wenig Überzeugungskraft einen Platz beschaffen kannst“, meinte Basta. Agathe sah aus dem Augenwinkel, wie er den Kopf in ihre Richtung drehte, um sie noch einmal zu betrachten.

Basta war einer der ganz, ganz wenigen Menschen, die Agathe wegen ihrer sogenannten „Schönheit“ nicht dauerhaft anstarrten – Agathe hatte nicht gewusst, ob es Basta nicht aufgefallen war, weil er ein Geist war oder ob es ihn schlichtweg nicht interessiert hatte. Nach dieser Bemerkung war sie sich aber sicher, dass es das Letztere gewesen sein musste.

Ihr Blick verdunkelte sich. „Was meinst du damit? Ich werde keinen von den Schweinen dort drinnen verführen oder so ähnlich, das kannst du vergessen.“

Basta hob beschwichtigend die Hände. „Nur ein Vorschlag“, sagte er langsam.

„Steck dir deinen Vorschlag sonst wo hin“, knurrte Agathe, während sie sich an ihm vorbei drängte und auf das Gasthaus zusteuerte. Schon von Weitem hörte man das Gelächter und Geschrei der Menschen durch die Nacht hallen und als Agathe vor der Tür ankam, schlug ihr ein widerwärtiger Geruch nach Erbrochenem und Alkohol entgegen.

„Händler, ja?“, fragte sie Basta. Sie musste sich die Hand auf den Mund pressen, während Basta, der neben ihr aufgetaucht war, nicht einmal das Gesicht verzog, was ihr nur noch mehr auf die Nerven ging. Agathe betrat das Innere des Gasthauses mit skeptisch zusammengekniffenen Augen, auf der Lauer liegend.

Drinnen war es stickig und voll, zu ihrem Erstaunen tanzten im Eingangsbereich trotz der späten Stunde noch einige Leute. Musik gab es keine, aber das schien niemanden besonders zu stören, denn dafür benebelte der Alkohol, den man in Form von Röte auf ihren Gesichtern sehen konnte, zu sehr ihren Verstand. Die Leute hatten ihren Spaß, auch ohne Musik.

„Und an solchen Orten warst du zu deinen Lebzeiten, ja?“, fragte Agathe angewidert.

„Jetzt hör sich einer diese Prinzessin an“, meinte Basta verächtlich. „Es ist besser als der Waldboden – oder nicht, Kleine? Gib dich damit zufrieden.“

Agathe versuchte, so wenig wie möglich von der verdorbenen Luft hier drinnen einzuatmen, während sie sich geschickt durch die Menschenmenge wand, auf den Tressen am Ende des großen Raumes zu. Es gelang ihr, den tanzenden Menschen soweit auszuweichen, dass keiner von ihnen mit ihr in Berührung kam – schließlich hatte Agathe genug Übung darin.

Sie grinste über ihren Erfolg, den Tressen ohne jeden Schaden fast erreicht zu haben, als sie plötzlich einen kräftigen Griff an ihrem Arm spürte, dann wurde Agathe heftig zur Seite gerissen und gegen eine der Wände gepresst.

„Hey!“, sagte eine Stimme, die nicht gerade nüchtern klang, dafür aber tief und gefährlich. Als Agathe sich erholt hatte und verwirrt hochblinzelte, sah sie, dass ein fremder Mann sie in diese Lage gebracht hatte und sie nun verschmitzt anlächelte. Auf seinem Gesicht lag ein rötlicher Schimmer und sein Blick war etwas trübe, aber trotzdem noch fokussiert genug, um sich gierig auf Agathes Körper richten zu können. „Dich hab ich hier ja noch nie gesehen“, meinte er fast beiläufig. „Was macht eine solche Schönheit wie du denn hier?“

Er hielt sie fest, das war das einzige, woran Agathe denken konnte. Als sie versuchte, sich zu befreien, schien er es nicht einmal zu merken. Der Mann war fast zwei Köpfe größer als sie. „Ich …“, stammelte sie, aber ihr Mund versagte.

Hinter dem Mann erblickte sie Basta, der die Szene mit verschränkten Händen und einem Grinsen auf dem Gesicht beobachtete. Wie konnte man nur so ein verdammtes …

Agathe hatte gar nicht die Zeit, den Gedanken zu Ende zu denken, denn plötzlich nahm der Kerl vor ihr ihr Gesicht zwischen seine Finger – ihr Gesicht! Agathe hätte weinen können.

„Eigentlich ist es ja egal, was du hier machst“, meinte er und nahm sie noch einmal in Augenschein. Etwas in seinem Gesichtsausdruck gefiel ihr gar nicht. „Es kommt eher darauf an, wie lange du noch bleiben willst. Und bei wem.“ Wieder grinste er.

„Lass mich los“, murmelte Agathe halbherzig, wurde von ihm aber grob zurück gestoßen, als sie sich rühren wollte.

„Wohin so eilig?“, fragte er, bevor er eine Hand auf ihre Hüfte legte.

Agathe presste die Lippen zusammen. Sie war keine Kämpferin, sie war eine Maus. Eine Maus, die so schüchtern und verklemmt war, dass sie Geister beschwören musste, um sich Menschen von Leib zu halten, die sie störten. Ohne ihre Fähigkeiten war Agathe trotz ihres großen Selbstwertgefühles und dem Hass, den sie gegenüber dem Rest der Welt hegte, nur ein Feigling. Sie kam in Situationen wie dieser alleine nicht zu recht.

Deshalb war sie auch nicht überrascht, als sie sich selbst dabei erwischte, wie sie ihre Augen flehentlich zu Basta wandern ließ, den das alles immer noch zu amüsieren schien. „Hilf mir“, formte sie lautlos mit den Lippen, bevor ihre Sicht kurz hinter einem Tränenschleier verschwamm.

Basta hob eine Augenbraue. „Wieso sollte ich? Vielleicht ist das ja genau das, was du brauchst. Vielleicht benimmst du dich hiernach ja ein wenig.“

„Bitte“, brach Agathe stumm hervor, ihre Lippen bebten. „Ich habe dich zurück gebracht.“

„Ich bin dir nichts mehr schuldig.“

„Du hast selbst gesagt, dass ich Capricorn für dich zurück holen müsste, wenn du alle erledigst, die mich stören“, sagte sie wandt seine eigenen Worte gegen ihn.

Der fremde Kerl vor ihr runzelte die Stirn. „Was sagst du da ..?“

„Das waren deine Worte!“, schrie Agathe nun in ihrer Hysterie, als ihr die ersten Tränen in die Augen schossen.

Zu ihrer Erleichterung sah sie aber, wie Basta entnervt seufzte. Kurz darauf war er auch schon bei dem Kerl und packte ihn grob im Genick. Das schien zunächst nicht viel zu bewirken, bis der Mann sie abrupft losließ und sich in einem Hustenanfall an die Kehle griff. Sein Gesicht wurde noch röter, als es ohnehin schon war und er beugte sich vor, um Luft zu schnappen.

Agathe nutzte die Gelegenheit, um sich aus dem Staub zu machen – dabei lief sie aber nicht zum Tressen, sondern zum Ausgang zurück und als sie durch die großen Tür nach draußen stürmte, konnte sie die Tränen nicht mehr halten. Draußen angekommen begann sie dann doch leise vor sich hin zu weinen und vergrub das verheulte Gesicht in der Hand.

Die Stellen ihres Körpers, die er berührt hatte, juckten und kratzten und Agathe hätte sich am liebsten die eigene Haut abgezogen.

„Was soll das denn jetzt?“

Sie wäre fast zur Seite gesprungen, als Basta plötzlich neben ihr auftauchte und sie skeptisch von der Seite musterte.

„Was?“, fragte Agathe heftig und drehte sich etwas weg, damit er sie nicht weinen sah.

„Ich dachte, du wolltest im Gasthaus schlafen?“

„‘Nen Dreck werd ich“, spuckte Agathe voller Abscheu, bevor sie begann, sich mit wackeligen Schritten vom Gasthaus zu entfernen, zu dem Wald.

Basta, der neben ihr herlief, grinste. „So spricht aber keine Dame.“

„Lass mich in Ruhe.“

„Ich habe dir gerade geholfen.“ Er klang nicht beleidigt – vielmehr, als würde er sie provozieren wollen.

Agathe fuhr wütend zu ihm herum. „Nachdem du einfach so dagestanden und zugesehen hast! Ich hoffe, es war unterhaltsam!“, fuhr sie ihn zornig an, weitere Tränen folgten.

In Bastas Gesicht rührte sich nicht, er schaute nur spöttisch drein. „Komm mir jetzt bitte nicht so an“, meinte er höhnisch. „Tu nicht so, als wärst du ein verletzliches, kleines Mädchen. Nicht nur, dass das ohnehin keine Wirkung auf mich hätte – zudem kenne ich auch die Wahrheit.“

„Was weißt du schon über mich?“, fauchte Agathe ihn leise an, eine Hand zur Fast geballt.

Sie erreichten wieder den Wald und verließen die Lichtung, in der sich das Gasthaus befand.

„Du bist nicht anders als ich“, grinste Basta. „Dir gefällt es, andere zu töten, auch wenn du es vielleicht nicht wahrhaben willst.“

„Nur weil ich Menschen töte, heißt das nicht zwingend, dass es mir auch gefällt“, entgegnete Agathe. „Sonst würde ich doch auch keine Geister dafür beschwören, sondern es selbst übernehmen.“

„Das tust du, weil du zu viel Angst hast, selbst erwischt zu werden, und nicht, weil es dir missfällt“, erwiderte Basta selbstsicher. „Dir gefällt es sehr wohl, Menschen sterben zu sehen. Anders kann ich die letzten Worte, die du vorherige Nacht zu mir gesagt hast, gar nicht aufnehmen.“ Agathe sah ihn überrascht an und Basta legte schmunzelnd den Kopf schief. „Du erinnerst dich? Hab deinen Spaß dabei, oder so ähnlich. Das hast du zu mir gesagt und du hast nicht gerade einen gekränkten Eindruck gemacht.“ Er lachte auf. „Das ist seltsam, da dir ja anscheinend so viel an anderen liegt und du ja ein so verletzliches Mädchen bist.“

Agathe antwortete nicht.

Das schien für Basta eine Art Aufforderung zu sein, weiter zu sprechen. „Aber das ist nicht schlimm, wirklich. Ich meine, ich bin nicht anders.“ Er leckte sich über die Lippen. „Zu meinen Lebzeiten hätte ich dich wahrscheinlich sogar für deine Art gemocht.“

Schweigend blieb Agathe an einem der Bäume stehen und ließ den Kopf hängen. Hatte er recht? Sie hatte schon immer gewusst, wie groß ihr Hass gegen alle anderen gewesen war, aber hatte er sie wirklich zu einer Mörderin werden lassen, die nicht nur aus Notwehr handelte? War sie unbewusst wirklich zu jemandem wie Basta geworden?

Es war Agathe nie aufgefallen, dass ihr isoliertes Leben in ihrem Zimmer so etwas mit ihr angestellt hatte. Und plötzlich kam sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben wirklich … schrecklich vor.

„Willst du nun etwa hier schlafen?“, fragte Basta.

Sie zuckte die Schultern, während sie sich hinsetzte und sich mit dem Rücken gegen den Baum lehnte, die Beine streckte sie aus. „Ich gehe jedenfalls nicht in das Gasthaus zurück. Dort waren mir viel zu viele Männer. Kaum war ich drinnen, ist sofort so ein Mist passiert. Das wäre sicher nicht das letzte Mal in dieser Nacht, wenn ich drinnen geblieben wäre.“

Basta grinste wieder. Obwohl er so aggressiv war, tat er es oft. Ein Geist mit Stimmungsschwankungen.

Agathe versuchte, es sich so bequem wie möglich zu machen, aber nichts konnte es mit ihrem Bett aufnehmen. Deshalb lag sie zehn Minuten später immer noch wach an ihrer Schlafstelle, unfähig, ein Auge zu zu tun.

„Willst du?“, fragte Basta aus dem nichts heraus und Agathe sah, dass er seine Jacke ausgezogen hatte und sie ihr mit ausdrucksloser Miene hinhielt.

Sie sah verwirrt zu ihm hoch. „Mir ist nicht mehr kalt.“ Ihr war sogar warm, nach dem Aufenthalt im Gasthaus. Sie schwitzte immer noch vor Angst.

„Aber du kannst es als Kissen benutzen. Ich schätze, es ist immer noch besser, als Baumrinde unterm Kopf.“

Da hatte er gar nicht so unrecht. Zögernd nahm Agathe das Kleidungsstück entgegen, faltete es zusammen und legte es sich unter den Kopf. Es war deutlich angenehmer. „Danke.“ Für einen kurzen Moment war sie überrascht von so viel Freundlichkeit.

„Wie auch immer. Hauptsache, du heulst morgen nicht ganz so viel rum wie heute und bist ausgeschlafen, um schneller zu gehen“, meinte Basta und setzte sich nicht weit von ihr entfernt auf den Boden.

Agathe biss sich auf die Zunge, um nichts Zynisches zu erwidern.

Es war immer noch nicht besonders gemütlich, aber das „Kissen“ und die dunkle Gestalt, die nicht weit von ihr entfernt saß und ihren Blick wachsam durch die Bäume gleiten ließ, gaben ihr irgendwie das Gefühl von Sicherheit, was schon fast witzig war, da Agathe momentan so unsicher wie nie zuvor war.

Mindestens wird mich über Nacht niemand fressen, dachte sie und drehte sich auf die Seite. Mit dem Gedanken schlief sie ein.

- Kapitel 5 -

 

 Agathe war nicht überrascht, als sie sich selbst während ihres Schlafes mal wieder bei Ehtaga vorfand. Es kam öfter vor, dass sie bei ihrem Spiegelbild landete, nachdem sie einen Geist heraufbeschworen hatte oder in Problemen steckte – und momentan traf irgendwie beides zu.

Es war der übliche, seltsame Ort, an dem ihr nächtliches Treffen stattfand. In dem dunklen und fensterlosen Zimmer, in dem Agathe stand, zog sich quer durch den Raum ein überdimensional großer Spiegel von einer Zimmerecke in die andere, sodass es in gewisser Weise in zwei Hälften gespalten wurde. Während Agathe auf der einen Seite stand, war die andere nichts weiter als eine Illusion für sie, denn sie wurde von dem großen Spiegel perfekt ergänzt.

Auch Ehtaga konnte Agathe auf der anderen Seite entdecken. Ihr Spiegelbild stand ihr gegenüber, genau da, wo Agathe auch stand, nur eben gespiegelt. Ehtaga trug auch dieselbe Kleidung wie Agathe, sah identisch aus. Nur der Gesichtsausdruck war anders.

Ehtaga grinste.

„Ich schätze, du willst es mir jetzt richtig reindrücken, stimmt’s?“, fragte Agathe missgelaunt und begann, im Zimmer auf und ab zu gehen. Es gab darin keine Möbel, keine Türen und wenn Agathe nicht aufpasste, wohin sie trat, konnte sie geradewegs in den Spiegel hinein rennen, der sie und Ehtaga von einander trennte – denn es gab nichts, woran sie sich hätte orientieren können, ob ihre Hälfte des Zimmers schon vorbei war, oder nicht. Der Raum wurde vom Spiegel mackenlos ergänzt, eine vollkomme Täuschung.

Ehtaga folgte Agathes Bewegungen nicht, sondern blieb stehen, wo sie war, die Arme vor der Brust verschränkt. „Dieses Mal ist es wohl reichlich schief gelaufen, was?“ Sie lachte.

„Das ist nicht witzig!“, fauchte Agathe.

Ehtagas Grinsen vertiefte sich um einiges. „Finde ich schon.“

„Du bist ja auch nicht diejenige, die es mit Basta aushalten muss“, murmelte Agathe. „Er hat mich einfach entführt.“

„Ich weiß.“

„Er hat mir gedroht.“

„Ich weiß.“

„Weißt du auch, wie ich aus der Sache wieder rauskomme?“, brüllte Agathe. Manchmal machte sie Ehtagas überlegene Art rasend. Die Frau stand oft nur da, lächelte wissend und wirkte so, als hätte sie alles unter Kontrolle.

„Ich bin mir nicht sicher, ob es wirklich so sinnvoll wäre, da wieder rauszukommen“, kicherte Ehtaga und musterte Agathe. Dafür, dass sie identisch aussahen, nahm sie sich dabei immer viel zu viel Zeit.

Agathe blieb stehen und runzelte die Stirn. „Was redest du für einen Unfug? Basta ist gefährlich und ich muss ihn so schnell wie möglich los werden, bevor er mich verletzt.“ Nach kurzem Zögern fragte sie aber: „Warum denkst, es wäre besser, bei ihm zu bleiben?“

„Es hätte seine Vorteile“, meinte Ehtaga optimistisch. „Vergiss nicht, dass er auf Befehl jeden erledigt, der dir im Weg steht. Du müsstest nicht dauernd neue Geister heraufbeschwören.“

„Das ist es nicht wert“, entgegnete Agathe kopfschüttelnd. „Mich von ihm durch die Wälder schleppen zu lassen, nur um nicht immer wieder neue Geister beschwören zu müssen. Ich würde das in Kauf nehmen, um wieder bei Mutter sein zu können.“

„Zurück in unserer kleinen Zelle, die du dein Zimmer nennst“, warf Ehtaga trocken ein.

„Hat dir das von eben etwa gefallen?!“, fragte Agathe aufgebracht. „Der Kerl hat mich berührt, mich an die Wand gedrückt.“ Sie biss die Zähne zusammen, als die Erinnerung in ihr wieder hochkam. Schließlich war sie frisch. „Das ist widerwertig.“

„Und besonders gut sah er auch nicht aus.“ Ehtaga betrachtete ihre Fingernägel, während sie das sagte, als seien diese viel interessanter.

Agathe rollte mit den Augen. „Egal, ob gut aussehend oder nicht – ich will nicht, dass sich mir jemand nährt. Das weißt du ganz genau.“

„Basta sieht aber gut aus.“ Ehtaga hob den Blick, um verschmitzt zu Agathe rüber sehen zu können. „Findest du nicht?“

Agathe nahm einen tiefen Atemzug. „Das spielt keine Rolle.“

„Aber aufgefallen ist es dir, ja?“

„Auf so etwas achte ich nicht.“

„Aber ich. Und da du und ich dieselbe Person sind …“

„Wenn wir dieselbe Person sind“, knurrte Agathe, „warum habe ich dann immer den Eindruck, du würdest dich für was Besseres halten?“

Wieder lächelte Ehtaga nur. „Von mir aus. Sagen wir, ich bin ein Teil von dir, und nicht deine gesamte Existenz.“

Agathe stieß geräuschvoll den Atem aus.

„Schon am Ende deiner Nerven?“, fragte Ehtaga.

„Ich bin heute entführt und belästigt worden!“

„Schon gut, schon gut“, winkte Ehtaga ab, plötzlich sehr gelangweilt von dem Ganzen. „Dann sage ich dir lieber gleich, wie du Basta loswerden kannst.“

Agathe gab sich Mühe, nicht allzu überrascht dreinzuschauen. „Du kennst einen Weg?“

„Alle Geister, die du bisher beschworen hast, sind ohne etwas zu verlangen wieder ins Reich der Toten zurückgekehrt, nachdem sie erfüllt haben, was du ihnen aufträgst“, erklärte Ehtaga gelangweilt. „Basta ist anders. Basta will eine Gegenleistung, aber selbst er ist und bleibt ein Geist. Nur, weil er im Gegensatz zu den anderen seiner Art etwas will, heißt das noch lange nicht, dass er dem Reich des Todes für immer entkommen kann. Gib ihm, was er will und sobald du nicht mehr in seiner Schuld stehst, wird er verschwinden.“

„Aber was, wenn es nicht funktioniert?“, fragte Agathe verzweifelt. Sie wollte Capricorn nicht holen, nicht noch mehr Übel heraufbeschwören.

„An deiner Stelle würde ich es zumindest versuchen“, sagte Ehtaga. „Und da ich der bessere Teil von uns beiden bin, würde ich auf mich hören.“

Agathes Spiegelbild konnte eine richtige Hündin sein. Böse funkelte Agathe sie an. „Ich weiß nicht einmal, ob ich Capricorn zurück holen kann.“

„Gib dein Bestes“, sagte die andere Frau, bevor sie einen prüfenden Blick zur Decke warf. „Ich schätze, hier ist es vorbei. Wir haben keine Zeit mehr zum Plaudern.“

„Was … wie?“ Agathe sah ebenfalls hoch und bemerkte, dass die Decke geräuschlos in sich zusammenbrach. Sie wurde von Lichtstrahlen durchbrochen, bröckelte.

„Du kommst heute spät“, erklärte Ehtaga, die Stimme nun irgendwie verzerrt, irgendwie zu weit weg. Wie immer, wenn Agathes Schlaf endete. „Es ist Morgen. Zeit, aufzuwachen.“

Und dann, als die dunkle Decke endgültig von Licht durchbrochen wurde, spürte Agathe das vertraute Gefühl, aus ihrem Traum gerissen zu werden.

Sie schlug die Augen auf.

- Kapitel 6 -

 

Das erste, was Agathe sah, als sie die Lieder aufschlug, war der wolkenlose Himmel über sich, der vom Blätterdach einiger Bäume in ein hübsches Muster zerstreut wurde. Die Frau blinzelte einige Male gegen das Licht und schirmte die Augen schläfrig mit der Hand ab, bevor sie sich orientierungslos auf die Seite rollte – dabei wanderte ihr Blick nach links und begegnete einem fremden Augenpaar, das sie tot und ausdruckslos anstarrte.

Sofort fuhr Agathe in eine sitzende Position und rückte von Basta ab, der nur wenige Schritte von ihrem Schlafplatz entfernt hockte und sie fixierte.

„Hast du mich beim Schlafen beobachtet?“, fragte sie sofort und guckte beiseite, weil ihr Gesicht heiß wurde. Die einzige, die sie jemals beim Aufwachen beobachtet hatte, war ihre Mutter gewesen.

Das hier fühlte sich nicht richtig an.

„Du redest im Schlaf“, stellte Basta tonlos fest, ehe er sich von ihr abwandt und desinteressiert auf den Boden zwischen seinen Schuhen blickte.

„Ou.“ Das war ihr bewusst. Manchmal schrie Agathe nahezu im Traum, wenn sie und Ehtaga ineinander gerieten – oder besser gesagt, wenn Ehtaga Agathe provozierte und sich über sie lustig machte.

„Was zum Teufel kann man träumen, um so derartig gesprächig zu sein?“

„Ich schlafe nie gut.“ Agathe rieb sich den letzten Schlaf aus dem Gesicht und langsam bemerkte sie, dass ihr Nacken steif war. Sie lockerte die Schultern, bevor sie sich aufrichtete. Wortlos griff sie nach Bastas Jacke, auf der sie geschlafen hatte und reichte sie ihm.

Er nahm sie schweigend entgegen.

„Wir können weiter gehen?“, fragte Basta sie, nachdem er sich das Kleidungstück übergeworfen hatte.

„Ich schätze schon.“ Agathe war nicht glücklich darüber, aber Ehtagas Vorschlag gab ihr etwas Hoffnung. Was, wenn Basta wirklich verschwand, sobald sie Capricorn zurück holte?

Dann würde alles vielleicht wieder zum Alten kommen.

„Und du willst nicht vielleicht noch in dem Gasthaus essen oder trinken?“

„Dort kriegst du mich nicht mehr rein.“

Kurz wirkte Basta beinahe unentschlossen, ob er sie nicht einfach hätte zwingen sollen, aber letztendlich zuckte er nur die Schultern. „Dann gehen wir mal weiter.“ Sie folgte ihm, als er den Weg einschlug, den sie schon gestern gegangen waren.

„Was genau hast du denn jetzt eigentlich geträumt?“, fragte Basta sie über die Schulter.

„Von einem Wesen namens Ehtaga“, gähnte Agathe.

„Muss man das kennen?“ Basta legte die Stirn in Falten.

„Sie ist mein Spiegelbild, in gewisser Weise. Eine Art Teil von mir, der tief in mir vergraben ist und sich ein wenig zu meiner äußeren Erscheinung unterscheidet. Sie ist daher auch nach mir benannt, nur eben rückwerts. Spiegelverkehrt.“

Agathe und Ehtaga. So einfach, so schlicht.

„Wofür ist sie da?“

„Irgendwie hilft sie mir bei inneren Konflikten.“ Obwohl man das, was Ehtaga manchmal von sich gab, nicht wirklich als Hilfe bezeichnen konnte. Oft zählte sie Agathe nur all ihre Fehler auf. „Ich rede dann einfach mit ihr.“

„Hast du sonst keinen dafür?“, fragte Basta, aber ohne Mitleid in der Stimme. Er klang eher verächtlich.

„Doch“, log Agathe verbissen. „Aber von anderen Leuten kommen genau solche Äußerungen, voller Abwertung. Ehtaga spricht nicht so mit mir.“

Und ob Ehtaga so mit ihr sprach, aber das würde Agathe nicht laut zugeben. Jeder, den sie kannte, sprach so mit ihr, denn selbst der ein gewisser Teil von ihr selbst verstand nicht, warum sie sich benahm, wie sie sich eben benahm.

Nur war es eben besser, solche Gedanken für sich zu behalten und sie nur mit seiner anderen Hälfte zu besprechen.

„Ich glaube, da ist jemand einsam“, grinste Basta sie über die Schulter an, während er über eine Wurzel stieg.

Agathe spürte wieder die Zornesröte in ihrem Gesicht. „Ich bin nicht einsam.“

„Natürlich, Kleine, natürlich.“ Sein Grinsen wurde breiter.

„Wirklich nicht.“ Agathe hatte ihre Mutter und Ehtaga. Mehr brauchte sie nicht. Hatte sie nie gebraucht.

„Und wieso hast du es dann nötig, dir jemanden vorstellen zu müssen, um ein Gespräch führen zu können?“

„Ich bilde mir Ehtaga nicht ein, glaube ich. Ich denke, es hat vielmehr damit zu tun, dass ich dunkle Magie betreibe. Sie hat nämlich nur kurz danach angefangen, in meinen Träumen aufzutauchen.“

„Wie lange ist das her?“

Wer sucht hier jetzt bitte ein Gespräch?, dachte Agathe spöttisch, behielt es aber für sich. Nur, weil Basta ihr gestern geholfen hatte, hieß das noch nicht, dass er sich von ihr alles gefallen lassen würde. Er war gefährlich und der Meinung, sie unter Kontrolle zu haben.

„Etwa neun Jahre“, sagte sie. „Damals war ich sechzehn.“

Basta antwortete nicht und wurde ungewöhnlich still.

„Ich bin jetzt fünfundzwanzig“, sagte Agathe, weil es vermutlich das was, worüber er nachdachte. Sie konnte sowohl lesen und schreiben, als auch rechnen. Sie war die einzige in ihrem Dorf mit diesen Fähigkeiten, bis auf ihre Mutter.

„Hmm.“ Mehr kam nicht.

„Und du?“, fragte Agathe, weil es ihr Interesse geweckt hatte. Bei Basta konnte man das Alter nur schwer einschätzen.

„Genau weiß ich das nicht“, gab er zu. „Aber ich schätze mal sechsunddreißig, wenn man bedenkt, dass ich seit meinem Tod nicht gealtert bin.“

Er wusste es nicht genau. Agathe war nicht so dumm, nachzufragen – Basta musste als Waisenkind aufgewachsen sein. Sonst hätte er jemanden um sich herum gehabt, der ihm sein genaues Alter hätte nennen können.

Ein solches Klischee ließ Agathe fast lächeln. Ein Waisenkind, das zum Mörder wurde, weil es niemanden hatte. Wie traurig.

Und mich hat er einsam genannt, dachte Agathe und hoffte, dass Ehtaga ihre jetzigen Gedanken auch schön mitbekam.

„Wie viele Leute hast du schon umgebracht?“, wollte Basta plötzlich wissen und riss Agathe zurück in die Realität.

Sie stutzte. „Einundzwanzig“, sagte sie dann sofort, weil die Zahl nur schwer zu verdrängen war, selbst wenn man mit dem Töten kein Problem hatte. Das war die genaue Anzahl der Morde, für die sie verantwortlich war – Bastas Übergriffe an Frank und Angelina mitgezählt.

Zu ihrer Überraschung, pfiff Basta beeindruckt durch die Zähne. „Nicht schlecht.“

„Ist das viel?“

„Für so ein kleines Mädchen wie dich, schon.“

„Ich bin nicht klein“, sagte sie mit in Falten gelegter Stirn. „Ich bin fünfundzwanzig Jahre alt und somit erwachsen.“

„Aber trotzdem nicht verheiratet und unfähig, alleine zu überleben“, warf Basta ein.

„Ich bin sehr wohl fähig, auf eigenen Füßen zu stehen.“ In all den Jahren, in denen Agathe dunkle Magie praktiziert hatte, war nie etwas schief gelaufen und das Missgeschick mit Basta war durch bloßen Zufall geschehen. Sie hätte genauso gut die Knochen von jedem anderen Toten erwischen können.

„Das sehe ich“, meinte er trocken.

Agathe hätte in für seinen Sarkasmus gerne gefragt, was er in seinem Leben den schon alles Großartiges erreicht hatte, aber die Befürchtung, er hätte ihr bloß die Zahl der seiner Morde nennen können, hatte sie aufgehalten – denn Agathe war sich nicht so sicher, ob sie sie wirklich wissen wollte.

Also sagte sie nichts mehr, für die nächsten Stunden, in denen sie liefen. Irgendwann bekam Agathe aber Durst und als sie das zwar nicht vertraute, aber trotzdem bekannte Rauschen eines Baches hörte, konnte sie sich doch noch dazu durchkämpfen, ihn anzusprechen.

„Basta?“, fragte sie kleinlaut, aus Angst, ihn wieder reizen zu können.

Er lief vor ihr her. „Hmm?“

„Ich glaube hier ist irgendwo ein Bach. Können wir … Können wir anhalten?“

Agathe sah, wie Basta sich die Hände in die Jackentaschen schob und sich nachdenklich zu ihr umdrehte. Er musterte sie abschätzend, als würde er versuchen, herauszufinden, ob wie lange sie noch durchhalten würde, wenn er ablehnte. „Nicht lange“, sagte er dann nur. „Das sollte eine möglichst kleine Pause werden.“

Viel zu müde zum Argumentieren, begann Agathe dem Geräusch zu folgen und gelang irgendwann an den Bach, den sie gehört hatte. Er war größer, als sie erwartet hatte – und sauberer. Als Agathe an das einen Hügel hinunter fließende Wasser trat und hinein sah, konnte sie den Grund des Baches erblicken.

Basta war irgendwo weiter hinten geblieben, vermutlich, um allein zu sein und nachzudenken oder dergleichen.

Schnell ging Agathe neben dem Bach in die Hocke und tauchte ihre Finger in das frische, kalte Wasser. Es tat gut auf der Haut und als Agathe es in ihren Händen sammelte, um es zu ihrem Gesicht führen und trinken zu können, schmeckte es auch wundervoll.

Der Bach lief zwar ununterbrochen den Hügel hinunter, auf dem sie sich befanden, sammelte sich in mancher seiner vielen Kurven so stark, dass er Agathe ziemlich tief erschien.

Ob er wohl tief genug für mich wäre?, fragte sie sich, als sie sich mit dem Handrücken über den feuchten Mund wischte. Nach einer Nacht im Wald und – vor allem – den vielen Berührungen anderer Menschen, denen sie in so kurzer Zeit ausgesetzt gewesen war, hätte sie ein kurzes Bad nur zu gerne gehabt.

Kurz war Agathe hin- und hergerissen – dann aber gab sie sich einen Ruck und bewegte sich, nach einem prüfenden Blick über die Schulter, der ihr verraten sollte, ob Basta immer noch nicht in der Nähe war, zu einer der tieferen Stellen des Baches.

Geschickt tastete Agathe nach dem Knopf am Rücken ihres Kleides, der den Kragen verengte und als dieser gelöst war, streifte sie schnell sowohl ihr Kleid, als auch ihre Schuhe ab. Beides legte sie zusammen mit ihrer Tasche auf der Erde ab, bevor sie vorsichtig in das Wasser stieg.

Sie schauderte, als ihr Körper von Kälte gepackt wurde, konnte aber nicht anders, als bis zum Hals in das Wasser zu tauchen. Das Ganze war erfrischend, sogar sehr, und obwohl es viel kühler war, als sie es gewohnt war, genoss sie diesen Augenblick. Agathe strich sich mit den feuchten Händen über die Haare und tauchte ein paar Mal, um wirklich sauber werden zu können.

Irgendwann begannen ihre Muskeln, sich trotz der Kälte zu entspannen und sie konnte ausatmen. Agathe lehnte sich zurück und schloss die Augen, das Gesicht halb unter Wasser vergraben.

„Was verstehst du eigentlich unter einer kurzen Pause?“

Kaum hatte sie die Augen geschlossen, hörte sie Bastas Stimme nicht weit von sich entfernt. Agathe schlug sie wieder auf und blicke zu ihm hoch, er stand mit verschränkten Händen neben ihren Kleidern.

„Ich dachte, ich könnte die Gelegenheit nutzen, wenn sie schon da ist“, meinte sie nur und zuckte die Schultern. „Es wird auch nicht lange dauern, versprochen. Dafür ist es ohnehin viel zu kalt.“

„Beeil dich einfach“, sagte Basta genervt.

Agathe erinnerte sich, wie klar das Wasser im Bach gewesen war und befürchtete für einen Moment, Basta hätte genauso leicht hindurch blicken können, aber die laufende Wasseroberfläche verzerrte den Blick auf ihren Körper. „Mach ich, mach ich.“

„Ich hätte nicht gedacht, dass du dich da rein traust“, meinte Basta und betrachtete den Bach skeptisch, als wäre er nicht mit Wasser, sondern mit Dreck gefüllt.

Agathe legte den Kopf schief, das Wasser machte ihre dunklen Haare schwerer. „Wieso denn das?“

„Du scheinst nicht gerade eine Person zu sein, die viel von sowas hält“, sagte er und richtete seine Augen wieder spöttisch auf sie. „Von Nächten und Bädern im Wald, meine ich.“

„Solange hier keiner ist, der mich wirklich stören kann“, entgegnete Agathe. Der Wald an sich war nicht ihr Problem, sondern die Geschöpfe und Leute, die ihr hier hätten begegnen können. „Außerdem habe ich mich dreckig gefühlt.“

„Das verstehe ich“, sagte Basta und seine Gesichtszüge wurden daraufhin tatsächlich etwas weniger genervt, als könne er Agathes Problem nachvollziehen. „Zu meinen Lebzeiten habe ich Dreck und Staub gehasst wie sonst was. Jetzt kann er mir glücklicherweise aber nichts mehr anhaben.“ Zufrieden lächelte er.

Agathe beschloss, dass es an der Zeit war, rauszukommen – ihre Zähne begannen bereits zu klappern und der erfrischende Effekt verlor an Wirkung. Sie drehte sich um und fischte mit einer Hand nach ihrem Kleid, dabei bedeckte sie ihre Brust mit ihrer anderen Hand. Dass Basta sie währenddessen beobachtete, machte ihr erstaunlich wenig aus.

Blicke interessierten Agathe im Allgemeinen nicht halb so viel wie Berührungen. Blicke konnte man ignorieren, wenn einem egal war, was andere dachten – Berührungen nicht so.

Als sie aus dem Wasser stieg, ging Basta weder weg, noch drehte er sich um, aber er hatte zumindest den Anstand, desinteressiert bei Seite zu blicken, als verstehe er nicht, was gerade geschah. Agathe streifte sich ihr Kleid über und schlüpfte in ihre Schuhe, die feuchten Haare band sie sich mit einer Schnurr aus ihrer Tasche zusammen.

„Wir können weiter?“, fragte Basta dann, während er sie wieder anguckte.

Der Stoff klebte nun eng an Agathes Körper, aber es war immer noch ein besseres Gefühl, ein raues Kleid auf der Haut kleben zu haben, als eine dicke Schicht Staub, weshalb sie sich nicht beschweren wollte. „Ich denke schon“, meinte sie, fast enttäuscht, dass es nun weiter ging.

Sie hatte noch Hunger, weil das Einzige, was sie in den letzten beiden Tagen gegessen hatte, das Frühstück gewesen war, das ihre Mutter für sie gemacht hatte – aber Basta war heute vergleichsweise weniger aggressiv, als am Tag zuvor, und das obwohl sie ihn erneut aufgehalten hatte. Sie wollte ihn nicht weiter provozieren.

Ihn nicht provozieren – Agathe hätte über ihre Gedanken lachen können und sie war sich sicher, dass Ehtaga im Moment genau das tat. Wie, wie zum Teufel hatte es dazu kommen können, dass sie so derartig die Kontrolle verloren hatte? Früher waren Geister und Dämonen das einzige gewesen, das Agathe fest in ihrer Hand gehabt hatte.

Jetzt war Basta aufgetaucht und hatte alles kaputt gemacht, mit seinen Machtspielchen.

Obwohl – völlig ausgeliefert war Agathe ihm nicht, jedenfalls nicht für immer. Ehtagas Plan ergab Sinn: Sobald Capricorn zurück wäre, stände Agathe nicht mehr in Bastas Schuld und er würde verschwinden. Eine andere Wahl blieb ihm gar nicht, denn so funktionierte es nun einmal bei der Beschwörung von Geistern.

Agathe fixierte Basta, als er die Richtung einschlug, in der die Burg lag und folgte ihm. Sie dachte daran, was dort passieren würde und fühlte sich trotz der Tatsache, dass er sie einfach so entführt und bedroht hatte, erstaunlich mächtig.

Er hatte zwar die Kraft, aber sie den Überblick – und Agathe war sich ziemlich sicher, es irgendwie besser getroffen zu haben.

- Kapitel 7 -

 

„Deine Erinnerung an den Weg zu Capricorns Festung scheint doch etwas verblasst zu sein, was?“, fragte Agathe spöttisch, nachdem sie schon zum dritten Mal in die falsche Richtung gelaufen waren.

„Halt die Klappe“, knurrte Basta gereizt. Er hatte die Hände zu Fäusten geballt und tigerte in kleinen Kreisen um Agathe herum, bei dem Versuch, sich an den Bäumen zu orientieren, aber es half nichts.

„Wonach suchst du eigentlich, wenn ich fragen darf? Hier draußen gibt es nichts, das ist der weglose Wald.“ Agathe wies in einer weitreichenden Geste um sich. „Wie willst du dich hier zurecht finden?“

„Ich bin diesen Weg so oft gegangen, früher, als …“ Er brach ab und griff sich mit einer Hand an den Kopf, dabei massierte er sich die Schläfen, als hätte er Kopfschmerzen. „Ach, verdammt. Das ist so lange her.“

Agathe betrachtete ihn mit verschränkten Händen. Sie waren seit ihrer letzten Pause am Bach einige Stunden gelaufen und mittlerweile war sie wieder trocken, dafür aber auch schlecht gelaunt. Sie hatte es langsam satt, dass Basta sie durch die Gegend zerrte, ohne zu wissen, wohin er eigentlich musste.

„Dort hinten war ein Weg“, meinte sie und wies mit dem Daumen hinter sich. „Wenn wir ihn entlang laufen, werden wir sicher irgendwann irgendwo ankommen, wo wir nach Hilfe fragen können.“

„Das wird aber viel zu lange dauern!“, erwiderte Basta.

„Nicht so lange als wenn wir jetzt weiter orientierungslos durch die Wälder wandern!“, fuhr Agathe ihn an und zu ihrer Überraschung ärgerte er sich nicht einmal über den Ton, in dem sie mit ihm sprach.

Er kniff nur die Augen zusammen und knurrte. „Fein“, spuckte er und lief zurück zu dem Pfad, den sie eben hinter sich gebracht hatten. Als sie ihn erreichten, spürte Agathe eine Welle der Freude durch ihren Körper schießen – nicht, weil sie nun über einen Weg kaufen konnten, statt über die unebene Erde des Waldes, sondern weil ihnen gerade jetzt ein junges Mädchen aus der Ferne entgegen kam.

Aber es war nicht irgendein Mädchen – es war eine Gauklerin, das sah Agathe von hier aus. Genau bei solchen Leuten erkundigte sie sich nämlich immer nach menschlichen Knochen.

„Die da“, sagte sie schnell, als sie den Pfad erreichten und blickte Basta mit strahlenden Augen an. „Die können wir nach dem Weg fragen.“

„Die Kleine?“ Er verzog unüberzeugt den Mund. „Woher soll sie das denn wissen?“

„Sie scheint zu den Spielleuten zu gehören – wieso also nicht?“, meinte Agathe.

Basta murmelte etwas Unverständliches. „In Ordnung“, knurrte er dann etwas deutlicher und sah zurück zu dem Mädchen, das immer näher kam. „Ich frage sie dann mal, ein Versuch kann nicht schaden.“

„Ich denke, ich frage sie lieber“, warf Agathe schnell ein.

Basta gab ihr einen scharfen Blick und hob eine Augenbraue. „Wieso du?“

„Weil du zur Zeit nicht bester Laune bist“, meinte Agathe ruhig und gab sich Mühe, seinem Blick nicht auszuweichen. „Und wenn du in dieser Stimmung bist, neigst du dazu, einem ein wenig Angst einzujagen.“

Basta schnaubte, machte ihr aber Platz. „Dann nur zu“, sagte und nickte mit dem Kopf zu dem Kind. „Geh und versuch dein Glück bei dem Gör.“

„Es könnte aber sein, dass ihr der Name Capricorn nicht besonders viel sagen könnte.“ Agathe sah, wie Basta bei ihren Worten kurz, aber trotzdem sichtbar zusammen zuckte. Wer auch immer dieser Capricorn gewesen war – Basta hatte an ihm gehangen und schien es immer noch zu tun, sogar sehr. „Gibt es sonst noch einen Ort, von dem aus du den Weg zu der Festung finden könntest?“

„Mäusemühle“, sagte Basta nur trocken. „Sie liegt in der Nähe von Capricorns Festung. Von da aus würde ich den Weg auch finden.“

„Sicher?“, fragte Agathe provokant, weil er sich und seinen Orientierungssinn schon einmal überschätzt hatte.

Zur Antwort funkelte Basta sie nur böse an. Von seiner Ruhe, die er bei ihrer Pause am Bach noch an den Tag gelegt hatte, war nichts mehr übrig.

„Ich verstehe“, sagte Agathe, bevor sie den Pfad betrat und eilig dem Mädchen entgegen lief, das die ältere Frau nun bemerkt hatte und den Kopf hob. Agathe wusste nicht, wie alt die Kleine war – elf, vielleicht zwölf. Höchstens dreizehn.

Sie hatte braune Haare, die selbst in Form eines unordentlich geflochtenen Zopfes fast an ihre Hüften reichten und sonnengebräunte Haut, mit beinahe schwarzen Augen und ebenso dunklen Augenbrauen. In ihre Haare waren Blumen eingeflochten und um ihren Hals und ihre Gelenke trug sie mehr Schmuck, als Kleidung am ganzen Körper. Ein schlichtes, braunes Kleid und ausgetragene Schuhe, die aussahen, als hätten sie sie auf eine weite Reise begleitet. Wenn Agathe genauer hinsah, bemerkte sie, dass auch der Schmuck nichts Besonderes war – überwiegend Steine, durch die man Schnüre gezogen hatte.

„Entschuldige?“, sagte Agathe, als sie nur noch zehn Schritte von dem Mädchen entfernt war. Dieser verlangsamte misstrauisch ihren Schritt, als Agathe näher kam und kniff die Augen zusammen – dabei sah sie aber nicht Agathe an, sondern starrte an ihr vorbei.

„Ja?“, fragte die Kleine, ohne die Frau vor ihr anzusehen. Sie hatte eine sehr reife Stimme, fast wie die einer erwachsenen Frau.

Agathe stutzte ein wenig, wollte sich aber nicht aufhalten lassen. „Hast du schon einmal etwas von Capricorns Festung gehört?“

„Der Name ist mir bekannt.“ Das Mädchen klang angespannt, aber Agathe war zu erfreut, um das wirklich zu bemerken.

„Wirklich?“, fragte sie überrascht. „Kannst mir sagen, wo ich sie finden kann?“

„Dort entlang“, sagte das Mädchen ohne nachzudenken und wies in eine Richtung. Agathe biss sich auf die Zunge, als sie bemerkte, dass Basta recht gehabt hatte. Genau dorthin hatte er gehen wollen, bevor sie ihn aufgehalten hatte.

Das würde sie sich noch anhören dürfen, ganz sicher.

„Danke“, seufzte Agathe. Zum ersten Mal fragte sie sich, was die Kleine eigentlich so konzentriert anstarrte und sah über die Schulter, um festzustellen, dass es Basta war. Der Mann lehnte mit vor der Brust verschränkten Händen an einem Baum und starrte leise vor sich hin murmelnd zum Himmel hinauf, er schien zu fluchen. Verwirrt und fast erschrocken wandt Agathe sich wieder der Kleinen zu. „Sag mal … Kannst du ihn etwa sehen?“

Hatte Basta sich sichtbar gemacht? Wieso?

„Er ist ein Geist, nicht wahr?“, fragte das Mädchen und sah jetzt Agathe an. Ihre Augen waren so dunkel … wie der Nachthimmel. Kurz verlor Agathe sich darin, aber der Schreck über die Worte des Mädchens holten sie wieder zurück.

Sie wich einen Schritt nach hinten. „Woher weißt du das?“ Ihre Augenbrauen hoben sich.

Das Mädchen lächelte sie wissend an, sagte aber dazu nichts und kurz erinnerte sie Agathe so unglaublich stark an Ehtaga. „Das sieht man.“ Ihr Gesicht wurde dunkler. „Was macht er hier? Hast du ihn etwa geholt?“

„Kennst du dich mit Geistern aus?“, fragte Agathe mit klopfendem Herzen. Sie hatte noch nie zuvor jemanden wie sich selbst getroffen, jedenfalls nicht außerhalb eines Jahrmarktes, auf dem mit magischen Gegenständen gehandelt wurde.

„Kann man so sagen“, erklärte das Mädchen und ließ Basta nicht aus den Augen, während sie sich gemächlich um den Hals fasste. Sie griff nach einer der Ketten, die sie trug und zog sie aus, ehe sie sie Agathe unauffällig in die Hand drückte.

Diese wäre bei der Berührung fast zurückgezuckt, aber etwas sagte ihr, dass es ein Fehler gewesen wäre, jetzt Bastas Misstrauen zu wecken, weswegen sie still stehen blieb und tat, als sei nichts.

„Was … Was ist das?“, fragte sie und schloss ihre Hand um das Stück Metall, das das Mädchen ihr gereicht hatte. Die Gauklerin war derweil wieder zurückgewichen, wofür Agathe ihr sehr dankbar war.

„Er sieht gefährlich aus“, sagte die Kleine ernst und legte ihren geflochtenen Zopf über ihre Schulter. Er sah aus, als würde sie schon seit Tagen mit ihm herumrennen, ohne ihn mal zu erneuern. „Und von ihm gehen negative Schwingungen aus.“ Sie nickte zu dem Gegenstand in Agathes Hand. „An deiner Stelle würde ich das hier umlegen. Es wird dich im Notfall vor ihm schützen.“

„Bist du sicher?“, fragte Agathe. Sie hatte zwar immer noch Ehtagas Plan, aber was, wenn es nicht funktionierte? Konnte sie mit der Kette wirklich Basta die Stirn bieten?

Sie wollte es nicht probieren, wenn es nicht nötig sein würde. Sie wollte kein Risiko eingehen.

„Ich bin mir sicher“, sagte die Kleine bestimmt.

„Und du willst nichts dafür?“

Das Mädchen stieß ein Schnauben aus. „Du wirst es wohl nötig haben“, murmelte sie mit einem letzten Blick in Bastas Richtung, bevor sie an Agathe vorbei ging und ihren Weg fortsetzte – dabei starrte sie gelassen gerade aus, als würde sie den Geist nicht sehen. Auch, als sie direkt an Basta vorbeilief und dieser sie skeptisch von der Seite musterte, reagierte das Mädchen nicht.

Agathe hatte derweil ihre Hand geöffnet, um die Kette betrachten zu können. Sie klappte leicht den Mund auf, als sie sah, dass es kein Stein, sondern ein Kreuz war – so ziemlich das einzige Wertvolle, was das Mädchen bei sich gehabt haben musste. Das Kreuz bestand ganz aus Metall, mit eingeritzten Mustern und Verzierungen darauf. Es fühlte sich schwer an, in Agathes Hand und sie wusste nicht, warum, aber sie beeilte sich damit, es um ihren Hals zu legen, bevor sie zu Basta zurückkehren müsste.

Sie versteckte die Schnurr der Kette unter ihrem engen Kragen und steckte das Kreuz selbst unter den Stoff ihres Kleides. Es blitze ein wenig durch den Stoff, aber wenn man nicht wusste, dass es da war, bemerkte man es auch nicht.

Hoffentlich.

Agathe hatte sich nur wenige Stunden zuvor überlegen gefühlt, weil sie sich einredete, Basta austricksen zu können – wie sehr sie sich über diesen kleinen Schutz aber freute, führte ihr noch einmal vor Augen, dass sie selbst immer noch daran glaubte, etwas hätte schief gehen können. Sie hatte nach wie vor Angst und sie konnte es nicht länger verdrängen. Nicht, nach der Erleichterung, die sie über das Kreuz an ihrem Hals verspürte.

Ich werde vorsichtig sein müssen, dachte Agathe, als sie zu Basta zurück schlenderte. So, als sei nichts gewesen.

- Kapitel 8 -

 

 Agathe wusste nichts über den Mann namens Capricorn – nur, dass Basta sehr an ihm hing und sie ihn deswegen für ihn zurückholen sollte. Trotzdem hatte sie ihn sich als einen mächtigen Mann vorgestellt, wenn er fähig war, jemanden wie Basta unter Kontrolle zu halten.

Vielleicht war auch das der Grund dafür, dass der Anblick, den seine Festung bot, große Überraschung, statt Ehrfurcht auslöste. Die Burg war eine Ruine. Die Mauern waren eingestürzt und völlig schwarz, als hätten hier unendliche Feuer gewütet. Über den Stein zogen sich verschiedene Pflanzen wie Moos und Efeu, die ersten Bäume hatten sich ins Innere gekämpft und ragten mit ihren Zweigen und Ästen aus allen zersprungenen Fenstern.

Alles in Allem war dieser Ort ein einziges Drecksloch.

„Das …“ Agathe wusste nicht, was sie hätte sagen sollen, um Basta nicht zu verärgern, als sie die Festung erreicht hatten. Er stand neben ihr, mit zusammengepressten Lippen und ausdruckslosem Gesicht. Sie konnte nicht sagen, was er dachte, oder was er von ihr hören wollte, weswegen sie sich einfach räusperte.

„Schon gut“, sagte Basta dann, überraschend ruhig. „Ich war genauso erstaunt, als ich das letzte Mal hier war. Damals war es noch nicht ganz so schlimm, aber auch nicht wirklich schön.“

„Wie lange ist das her?“

„Zehn Jahre. Ich war damals von einer etwas längeren … Reise zurückgekommen und habe den Ort so vorgefunden.“ Er trat einen im Gras liegenden Stein beiseite. „Als Capricorn nicht mehr da war, haben alle die Festung verlassen und sie in sich zusammen fallen lassen.“ Er spuckte wütend auf den Boden. „Solche Hunde.“

Agathe verstand kaum etwas. „War Capricorn auch fort?“

„Wir waren zusammen auf dieser sogenannten Reise.“

„Und wie lange hat sie gedauert?“

„Elf Jahre.“

„Also …“, Agathe dachte kurz nach, „ist es einundzwanzig Jahre her, dass diese Festung halbwegs brauchbar gewesen ist.“

Basta funkelte sie an und sie bereute ihre Ausdrucksweise kurz, doch dann seufzte er zustimmend. „In gewisser Weise.“

„Sag mal, diese Reise … hatte sie etwas mit den Welten zu tun, von denen du früher gesprochen hast? Von den anderen Welten?“

Er winkte ab. „Das erkläre ich dir ein anderes Mal.“ Dann ging er auf die Festung zu.

Agathe folgte ihm mit angesäuertem Gesicht. Ein anderes Mal. Was dachte er, wie lange sie noch an einander gekettet bleiben würden?

„Sicher ist der Ort während dieser langen Zeit, in der die Festung nicht benutzt worden ist, von Räubern ausgeraubt worden“, bemerkte Agathe, als sie den Eingang erreicht hatten. „Glaubst du, es gibt hier immer noch etwas von Capricorn?“

„Die meisten Leute meiden diesen Ort, wenn sie etwas im Kopf haben“, antwortete Basta nur gefasst.

Von drinnen sah es zumindest etwas besser aus. Hier konnte man noch die Räume sehen, die halbwegs heil geblieben waren, die große Eingangshalle, deren Decke eingebrochen war und die eingetretenen Treppen, die zu Schlafräumen zu führen schienen. Alles war mit Gras, Moos und Efeu bedeckt, der Boden war überdeckt mit Geröll. Wenn man nicht aufpasste, konnte man bei jedem Schritt stolpern.

„Unglaublich“, murmelte Agathe abwesend und spürte ein Kribbeln in den Fingern, das sie noch nie zuvor gefühlt hatte. Ihr kam der Gedanke, dass es hier viele Geister oder zumindest dunkle Schwingungen geben musste. Man hätte diesen Ort gut zur Praktizierung dunkler Magie nutzen können.

„Ich werde dann mal sehen, was sich hier auftreiben lässt“, sagte Basta zu ihr und schlenderte mit gesenktem Kopf durch die Ruinen. Er schien es verstecken zu wollen, aber Agathe bildete sich ein, etwas wie Traurigkeit in seiner Haltung finden zu können.

Das brachte sie durcheinander. Erstens, weil sie nicht gewusst hatte, dass Geister so etwas überhaupt empfinden konnten und zweitens, weil sie sich überhaupt nicht darauf verstand, mit Traurigkeit anderer umzugehen. Was kümmerte es sie überhaupt? Agathe wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Sie wusste aber, dass ihr die Situation unangenehm war.

„Kann ich mich umsehen?“, fragte sie, um dieser Stille entwischen zu können und Basta alleine zu lassen.

„Von mir aus“, meinte er nur. „Aber wenn du versuchst, abzuhauen, finde ich dich.“ Da war er wieder, der bissige Ton.

Agathe presste die Lippen zusammen und eilte zu den eingetretenen Treppen, die in die höheren Stockwerke führten. Vielleicht war es etwas töricht, in einer solch demolierten Festung nach oben zu gehen, da hier jeden Augenblick alles zusammenbrechen konnte, aber sie wollte nicht bei Basta bleiben, nicht jetzt.

Oben gab es viele Zimmer, in die meisten von ihnen konnte man problemlos hinein sehen, da die Türen alle aus ihren Angeln gerissen worden waren. Agathe nahm sich die Zeit, einige von ihnen zu durchsuchen, aber bis auf kaputte Betten und leere Schränke fand sie nie etwas vor. Nur in einem einzigen der Zimmer, die sie besuchte, fand sie etwas Brauchbares im Schrank.

Es gab zwei weiße Hemden, ein paar schwarzer Hosen und Stiefel, die zwar schon etwas abgenutzt wirkten, trotzdem aber noch zu gebrauchen waren. Die Kleidung war verstaubt, sichtlich alt, aber in Ordnung und nach kurzem Zögern beschloss Agathe, sie gegen ihr Kleid zu wechseln.

Als sie fertig war, legte sie ihr Kleid zusammen mit ihrer Tasche in den Schrank und schloss ihn wieder ab. Sie würde es später holen, wenn sie ging.

Inzwischen war genug Zeit vergangen und sie hoffte, dass Basta wieder bei sich war, als sie zu ihm hinunter ging. Als sie wieder im Eingangsbereich ankam, sah sie, dass Basta einige Gegenstände in der Mitte des Raumes zusammengelegt hatte, darunter Seidenhandschuhe, einen Ring, etwas wie einen Becher, einen Dolch und ein Fläschchen mit einer Flüssigkeit, die Agathe nicht erraten konnte.

Nur wenige Sekunden später tauchte Basta wieder auf. Als er sie sah, blieb er verwirrt stehen und musterte sie von oben bis unten. „Wo hast du das her?“, fragte er.

„Aus einem der Zimmer“, erklärte Agathe verlegen und strich sich eine Haarsträhne hinter das Ohr. „Ich wollte meine Sachen wechseln, weil … wieso fragst du?“

„Das ist meine Kleidung.“ Seine Mundwinkel zuckten kurz. „Du warst dann wohl in meinem Zimmer, denke ich.“

„Ou.“ Agathe fühlte sich plötzlich irgendwie … unangenehm. „Willst du, dass ich mich wieder umziehe?“

Er schüttelte den Kopf. „Nein, das ist nicht wichtig. Ich war nur überrascht.“

„Sind das Capricorns Besitztümer?“, wollte Agathe wissen, fragte das aber vor allem, weil sie das Thema wechseln wollte.

Basta ging darauf ein und nickte. „Alles, was ich finden konnte.“

„Ich schätze, das wird reichen“, sagte Agathe. „Das ist wirklich mehr als genug.“

„Gut“, seufzte Basta erleichtert. Agathe konnte sich nur allzu gut vorstellen, dass er bis eben noch panisch durch die Festung gelaufen und nach etwas Brauchbarem gesucht hatte.

Agathe atmete einmal durch. Ihr Buch für dunkle Mächte lag noch oben in ihrer Tasche, im Schrank, aber sie brauchte es nicht. Die Zauberformel für diese Art von Beschwörung kannte sie auswendig, obwohl sie in einer anderen Sprache geschrieben war, die Agathe nicht verstand.

Es ging eher um das Gefühl, als um den Inhalt.

Konzentriert richtete Agathe ihre Aufmerksamkeit auf die Gegenstände zu ihren Füßen, ehe sie ihre beiden Hände ausstreckte. Basta trat ein paar Schritte zur Seite, als würde er vor ihr zurückweichen müssen. Agathe schloss die Augen und begann, die Worte aufzusagen, die in ihrem Kopf auftauchten. Jedes einzelne ging geübt über ihre Zunge, weil sie sie so oft wiederholt hatte und ihre Stimme hallte laut von den Wänden der Festung wieder. Nett, dachte sie. So etwas gab es im Wald nämlich nicht.

Das letzte Wort sprach sie mit so viel Nachdruck, wie sie nur konnte, weil es wie ein gesprochener Punkt wirkte. Hier war der Abschluss, das Ende und Agathe spürte die übliche Benommenheit, wie nach jeder Beschwörung.

Sie lächelte zufrieden, weil sie wusste, dass es jetzt vorbei sein musste. Sie hatte ihren Teil erfüllt und würde gleich sehen, wie Basta sich vor ihren Augen in Luft auflöste, weil er zurück ins Todesreich gezogen wurde – aber als sie ihre Augenlider wieder öffnete, war Basta noch da, Capricorn aber nicht.

Sie waren nach wie vor allein.

- Kapitel 9 -

 

 Völlig benommen taumelte Agathe einen Schritt zurück, ihre Knie waren weich geworden, nachdem sie die leere Stelle gesehen hatte, an der jetzt eigentlich ein Mensch hätte stehen müssen. Sie hatte alles gesagt, was sie hätte sagen sollen und Basta hatte alle Gegenstände gesammelt, die ihnen irgendwie hätten helfen können, aber sie waren nach wie nur zu zweit hier und von Capricorn war nichts zu sehen.

Er war nicht aufgetaucht und während diese Tatsache in Agathe nichts weiter als ein wenig Enttäuschung auslöste, schien es in Basta etwas zu zerbrechen.

„Verdammt!“, rief er wutentbrannt, nachdem auch er begriffen hatte, dass Agathe gescheitert war und vergrub den Kopf in den Händen. „So ein verdammter Mist!“

„Basta …“, versuchte Agathe ihn zu beruhigen, besann sich dann aber eines Besseren. Basta würde sich nicht beruhigen, nicht, wenn es um Capricorn ging.

„Warum hat es nicht funktioniert?“, fragte er mit schriller Stimme und fuhr zu ihr herum. Seine Augen schienen vor Zorn zu glühen, aber trotz dieses einschüchternden Anblickes hörte Agathe noch etwas anderes in seiner Stimme heraus: Verzweiflung.

Sie zuckte verunsichert die Schultern und senkte den Blick. „Ich weiß es nicht …“

„Dann versuch es nochmal.“ Basta ballte eine Hand zur Faust und biss die Zähne zusammen, während er einen Blick zu dem Haufen aus Gegenständen warf, die mal Capricorn gehört hatten. Sein Gesichtsausdruck erinnerte Agathe an einen wildgewordenen Hund.

„Es wird nichts bringen.“ Sie musste sich beherrschen um nicht zu schluchzen, denn sie wusste nicht, wie sie es Basta beibringen sollte. Offenbar konnte sie Capricorn nicht zurückholen, weil seine Seele einfach nicht mehr in dieser Welt vorhanden war.

Wo sie sonst stecken konnte, wusste Agathe nicht.

„Ich habe gesagt, dass du es noch einmal versuchen sollst!“, fuhr Basta sie lautstark an, seine kräftige Stimme hallte an den Wänden der Burg wieder.

Agathe zuckte bei seinem Ton zusammen, rührte sich aber nicht von der Stelle und machte auch sonst keine Anstalten, irgendetwas zu unternehmen – Sie stand nur hilflos da.

„Du unnützes Ding!“, fauchte Basta, als er erkannt hatte, dass Agathe ihm nicht helfen konnte.

„Es tut mir Leid“, konnte Agathe nur sagen.

Damit schien Basta aber nicht zufrieden zu sein und um seinem Ärger Platz zu machen, ging er plötzlich mit energischen Schritten auf sie zu.

Agathe zog scharf die Luft ein, als er sie plötzlich vor lauter Wut und Verzweiflung an den Oberarmen packte, um sie zu schütteln. Der Druck seiner Hände an ihrem Körper brannte wie Feuer auf der Haut, aber sie kam nicht dazu, ihn darum zu bitten, sie loszulassen, denn genauso schnell, wie er zu ihr vorgesprungen war, ließ er auch von ihr ab.

Als Basta mit einem leisen Zischen zurücktaumelte, war sein Gesicht schmerzverzerrt – denn während Agathes Brennen nur eine Einbildung in ihrem Kopf war, schienen seine Hände wortwörtlich in Flammen zu stehen, nachdem sie er sie berührt hatte. Sie glühten in einem schmerzlich wirkenden Rot und dampften fast ein wenig, als hätte sie ihm Brandwunden verpasst.

In einer Mischung aus Schock und Faszination starrte Basta seine verbrannten Hände an, ehe er sie ineinander verdrehte und wütend zu ihr blickte.

„Was zur Hölle war das?“, fragte er, seine Stimme nicht länger wütend, sondern bedrohlich ruhig. Sie klang eine Stufe tiefer, als sonst und er blinzelte nicht, während er sie völlig ausdruckslos anstarrte. Der Zorn über ihr Versagen bei Capricorns Wiederbelebung schien vergessen zu sein, dafür hatte er etwas anderes ihn ihm hinterlassen.

Etwas, das mit den Schmerzen zu tun hatte, die er gerade empfand. Etwas, das Agathe fast noch weniger gefiel, als wenn er zornig war.

Agathe konnte nichts sagen. Nie zuvor hatte sie solche Angst vor ihm gehabt. „Was?“, fragte sie unschlüssig. „Ich verstehe nicht …“

Basta schien diese Antwort nicht zufrieden zu stellen. Wieder ging er an sie heran, dieses Mal ruhiger, und blieb kaum eine Handbreit von ihr entfernt stehen. Dann streckte er wieder die Hände nach ihr aus und berührte ihre Schultern – oder wohl eher den Stoff, der diese bedeckte, um sich nicht wieder an ihr zu verbrennen.

„Basta“, murmelte Agathe überfordert, weil ihr so viel Nähe mal wieder einfach zu viel war.

Er hörte nicht. Zu ihrem Entsetzen fasste Basta mit den Fingerspitzen vorsichtig an den Stoff ihres Kleides und schob ihn auf beiden Seiten weg, sodass sie plötzlich mit nackten Schultern vor ihm stand.

Jetzt war auch die Schnurr der Kette zu sehen, die das Mädchen ihm Wald Agathe geschenkt hatte: Danach hatte er gesucht. Agathes Atem stockte, als sie befürchtete, Basta hätte ihr in den Ausschnitt greifen können, um das Kreuz hervorzuholen, aber er tat es nicht. Er nahm die Schnurr an ihrem Hals zwischen die Finger und hob sie an, sodass das Kreuz ganz von allein herausgezogen wurde und er es nicht berühren musste.

Kurz ließ Basta es zwischen ihrer beider Gesichter hin und her pendeln, als würde er Agathe Zeit geben wollen, zu überlegen, was sie dazu hätte sagen können. Diese starrte das Kreuz nur wortlos an. Die Stelle auf ihrer Brust, an der es die ganze Zeit über gehangen hatte, fühlte sich mit einem Mal irgendwie leer an.

„Woher hast du das?“, wollte Basta erstaunlich gefasst wissen. Agathe erhaschte einen kurzen Blick auf seine Hände und erkannte, dass diese überhaupt nicht gut aussahen. Als hätte er sie minutenlang ins offene Feuer gehalten.

Etwas in Bastas Ton verriet ihr, dass eine Lüge sie vielleicht nicht das Leben, aber die Gesundheit hätte kosten können. Agathe schluckte. „Von dem Mädchen aus dem Wald“, sagte sie trocken und ohne ihn anzublicken. „Die Kleine Gauklerin.“

„Wieso hat sie dir das gegeben?“ Er stand immer noch dicht vor ihr.

„Sie – sie hat dich gesehen“, stotterte Agathe leise.

„Ach.“ Er klang, als würde er wollen, dass sie fortfuhr.

„Und sie wollte mir helfen“, fügte Agathe daher noch hinzu. „Sie wollte mich schützen. Vor dir.“

„Wie nett von ihr.“ Jetzt hörte Agathe den beißenden Sarkasmus in seiner Stimme. Und sie hörte noch etwas – das Schnappen eines Messers, das ausgeklappt wurde. Sekunden später trennte Basta plötzlich die Schnurr durch und das Kreuz fiel scheppernd zu Boden.

Agathe nutzte diese Gelegenheit, um zurückzuweichen und ihr Kleid wieder zurechtzurücken. Basta hatte sie eben nicht berührt, aber dass er die Schnurr um ihren Hals umklammert hatte, hatte sie sich wie ein angebundenes Tier fühlen lassen.

Unsicher guckte sie zu ihm: Basta stand noch an derselben Stelle und blickte fast verachtend zu dem Kreuz vor seinen Füßen, dabei rieb er sich die verbrannten Hände. Er schien zu überlegen.

„Basta?“, fragte Agathe, ihr Herz raste wie verrückt. Sie begriff, dass es ein Fehler gewesen war, das Kreuz zu behalten. Hätte sie es einfach weggeworfen, hätte sie ihn nicht so verärgert und jetzt war er wütend auf sie.

Wer wusste schon, wo das enden konnte?

Aber Basta schien sie nicht bestraffen zu wollen. Er drehte sich einfach um und schritt durch die Halle, direkt auf den Ausgang zu.

Perplex starrte Agathe ihm hinterher. „Wohin willst du?“, fragte sie ihn kleinlaut.

„Ich hole das Mädchen“, warf er über die Schulter. Seine Stimme war düster.

„Wieso?“, traute Agathe sich zu fragen.

Basta fuhr kurz vor dem Ausgang herum. „Dieses Ding“, sagte er und wies zu der am Boden liegenden Kette, „ist tatsächlich in der Lage, mich halbwegs gut abzuwehren.“ Er knurrte. „Das ist kein einfaches Spielzeug. Wer auch immer es dir gegen hat, weiß, was er da tut, wenn er Amulette zur Abwehr von Geistern anfertigt.“ Er leckte sich über die Lippen. „So ein Wissen könnte nützlich sein.“

„Aber es war nur ein kleines Mädchen“, sagte Agathe. „Sie muss es ja nicht hergestellt haben. Vielleicht wollte sie es nur weiter verkaufen.“

„Das werden wir noch erfahren.“ Er war entschlossen, zu gehen.

„Wie willst du sie finden?“

„Ich werde ihre Spur schon aufnehmen. Glaub mir, das kriege ich schon hin.“ Er schenkte ihr ein selbstgefälliges Grinsen, das aber eher nach einem Zähnefletschen aussah.

Agathe schauderte. „Du lässt mich hier allein?“, fragte sie.

„Du bleibst hier, während ich weg bin“, stellte er klar. „Du wirst die Burg nicht verlassen.“ Dann drehte er sich wieder um.

Aber wie lange wirst du weg sein?, hätte sie am liebsten gefragt, biss sich dann aber auf die Zunge, denn diese Frage verriet viel zu sehr, was ihr gerade durch den Kopf schoss – Flucht. Nie im Leben würde Agathe weiterhin hier bleiben, bei ihm, auf dieser Burg. Sie wollte zurück zu ihrer Mutter, in ihr eigenes Haus und Basta würde sie nicht daran hindern können, wenn er auf der Jagd nach dem Gauklermädchen war.

„Agathe.“ Sie zuckte zusammen, weil er sie zum ersten Mal bei ihrem Namen nannte. Agathe guckte wieder zu ihm, aber er hatte ihr nach wie vor den Rücken zugewandt. „Bau keinen Unfug, während ich weg bin. Hast du mich verstanden?“, fragte er nachdrücklich, als hätte er ihre Gedanken gelesen. Basta hatte einen drohenden Tonfall eingeschlagen.

Bleib hier, oder sonst …

Agathe schwieg.

„Hast du mich verstanden?“, fragte er noch einmal, im Ausgang stehend. Immer noch drehte er sich nicht um.

„Verstanden“, hauchte Agathe leise, aber laut genug für sein gespenstisches Gehör, um vernommen zu werden.

„Gut“, sagte Basta zufrieden und ging dann einfach hinaus. „Und räum das Kreuz weg“, warf er noch über die Schulter, als er sie verließ. „Ich will es nicht mehr sehen, weder in der Burg, noch an dir. Und ich werde es merken, falls es doch noch da sein sollte.“

- Kapitel 10 -

 

 Im ersten Moment wusste Agathe nicht, wo sie eigentlich war, als sie in Ehtagas Raum landete. In der einen Sekunde war sie noch in Capricorns Festung gewesen, in einem der verlassenen Zimmer sitzend und darauf wartend, dass Basta zurückkam und in der anderen war sie plötzlich wieder bei ihrem Spiegelbild. Die nächstliegende Erklärung war, dass sie eigeschlafen war, während sie auf Basta gewartet hatte. Kein Wunder – sie hatte ja auch bis zur Nacht nur da gesessen und er war immer noch nicht zurückgekommen.  

„Schlafen“, meinte Ehtaga langsam und sah Agathe mit gespieltem Respekt an. „Wundervolle Leistung, wirklich. Zu schlafen, während der Feind weg ist, statt zu entkommen.“

„Hör auf“, sagte Agathe. „Du weißt, dass ich Angst vor ihm habe. Außerdem dachte ich, er würde gleich wieder zurückkommen.“

„Wie hätte er die Kleine denn so schnell finden sollen?“, fragte Ehtaga spöttisch und wies mit dem Finger auf sie, bevor sie den Kopf schüttelte. „Nein. Du hattest einfach Angst. Du hast dich von ihm einschüchtern lassen.“

„Wenn ich dich daran erinner darf, hätte er laut deinem Plan eigentlich längst verschwunden sein müssen!“, zischte Agathe, die viel zu stark unter Druck stand. Es wurde ihr zu viel, viel zu viel.

Ehtaga winkte ab. „Dann ist er es eben nicht. Na und? Wenn du schon nicht abhaust, dann nutz das aus.“

„Aber wie?“

„Treib dieses Spielchen weiter. Vergiss nicht, er wird weiterhin jeden töten, dessen Namen du ihm nennest, solange er nichts findet, was er im Gegenzug von dir will“, warf Ehtaga ein.

„Er droht mir“, sagte Agathe und war selbst überrascht, wie kindlich ihre Stimme klang. So verheult. „Er ist gefährlich und ich habe Angst vor ihm. Selbst wenn er nützlich sein könnte, in seiner Nähe bin ich in Gefahr …“

„Nicht, wenn er dich mögen würde.“ Ehtaga wackelte mit ihrem Zeigefinger, als würde sie mit einem Kind sprechen.

„Er mag mich nicht“, entgegnete Agathe.

„Keiner mag dich“, sagte Ehtaga.

Agathe zuckte zusammen, wusste aber, dass es wahr war. Dennoch. „Das hier ist anders. Er findet mich nicht seltsam, wie der Rest – vielmehr nervt ihn alles, was ich tue oder sage.“

„Aber er ist immer noch ein Mann.“ Ehtaga warf demonstrativ ihre Haare zurück, ehe sie Agathe angrinste. „Und wir haben gegenüber Männern doch unsere Vorteile, oder nicht?“

Manchmal machte es Agathe Angst, dass in ihr ein Teil zu existieren schien, der sich kein Stück gegen körperlichen Kontakt sträubte. Das war doch so … widerwertig.

„Vergiss es.“ Sie schüttelte den Kopf. „Das wird nicht funktionieren, nicht bei ihm.“ Sie kannte Basta nicht gut, aber ausreichend, um zu bemerken, dass er nicht an ihr interessiert war.

„Das weißt du nicht.“ Ehtaga stöhnte. „Jetzt komm schon! Lass es uns einmal versuchen, nur ein einziges Mal!“

Aber allein der Gedanke trieb Agathe eine Gänsehaut über den Körper. Eine der schlechten Art. „Nein“, sagte sie bestimmt.

Sichtlich unzufrieden stemmte Ehtaga die Hände in die Hüften. „Von mir aus“, sagte sie. „Aber dann haust du ab. Jetzt sofort, wo er noch nicht zurück ist.“

„Er wird mich finden“, flüsterte Agathe. „Er weiß doch, wo ich wohne. Er wird mich holen.“

„Nicht, wenn du rechtzeitig dort bist und das Dorf mit Mutter verlässt“, erklärte Ehtaga. „Er wird uns nicht finden können, wenn er nicht weiß, wo er suchen soll.“

Agathe versuchte, normal zu atmen – es gelang ihr nicht.

„Na los“, zischte Ehtaga dann und winkte sie plötzlich näher an den Spiegel heran, der sie trennte.

Mir gerunzelter Stirn kam Agathe auf sie zu, so lange, bis sie direkt vor dem Spiegel stand. Sie hätte sich nur leicht vor lehnen müssen, um mit der Nasenspitze dagegen zu stoßen. „Was hast du vor ..?“

„Wir dürfen keine Zeit verlieren“, sagte Ehtaga mit erstem Gesichtsausdruck und hob eine Hand. Nur einige Zoll war sie nun von dem Spiegel und Agathes Gesicht entfernt. „Es ist Zeit, aufzuwachen.“

Und dann schnipste sie.

Agathe hatte das Gefühl zu stürzen, ehe sie sich abrupt wieder in der Realität vorfand, auf dem kaputten Bett in Bastas Zimmer liegend, mit einer kratzigen Decke über dem Körper. Nachdem Basta so überstürzt gegangen war, hatte Agathe sich hierher verkrochen, um gehorsam auf ihn zu warten. Sie hatte bis zur Nacht gewartet und war dann irgendwann in ihrer Angst eingeschlafen, ehe Ehtaga sie geweckt hatte.

So hatte Ehtaga sie noch nie aus einem Traum geworfen. Eigentlich hatte sie bisher überhaupt noch nie etwas anderes getan, als mit Agathe zu sprechen. Dass sie nun begann, sich wirklich in Agathes Angelegenheiten einzumischen, ließ die junge Frau sich unwohl fühlen – trotzdem hatte Ehtaga aber irgendwo recht. Wieso war Agathe hier geblieben?

Sie hätte sofort verschwinden sollen, nachdem Basta gegangen war, um das Mädchen zu suchen. Sie hätte sich nicht von ihm einschüchtern lassen sollen.

Abrupt setzte Agathe sich auf, die zitternden Finger vergrub sie in dem Stoff ihrer Hose. Wieso fürchtete sie sich überhaupt? Er würde sie nicht töten, nicht, wenn er diesen Capricorn wirklich zurück haben wollte.

Wie lange er wohl noch wegbleiben würde? Agathe hatte praktisch einen halben Tag damit verschwendet, hier auf ihn zu warten und somit ganz schön viel ihrer Zeit verloren. Sicher würde er aber, genau wie Ehtaga gesagt hatte, tatsächlich länger brauchen, um das Mädchen zu finden – schließlich hätte diese schon längst über alle Berge sein können. Und es würde ihn nicht weniger Zeit kosten, sie dann auch noch hierher zu bringen.

Kurz rang Agathe noch mit sich, ehe sie die Decke wegschlug und auf die Beine sprang. Sie rannte wie vom Blitz gerührt zu dem Schrank, in den sie ihre Sachen gelegt hatte, aber zum Umziehen war keine Zeit mehr. Sie schnappte sich nur ihre Tasche und ließ ihr Kleid achtlos liegen, als sie auf den Gang hinausstürmte. Sie rannte die eingetretene Treppe hinunter, durch den verwüsteten Eingangsraum, in dessen Mitte noch Capricorns Sachen lagen und direkt auf den Ausgang zu.

Draußen schlug ihr die kalte Nachtluft entgegen und Agathe stand dem Wald gegenüber, zwischen dessen Bäumen sich nichts anderes als Schatten finden ließen. Sie hatte kaum eine richtige Ahnung, wohin sie gehen musste und besaß nicht die Zeit, sich zu verlaufen oder zu rasten. Wenn sie es nicht rechtzeitig schaffte, würde Basta sie kriegen und dann Gott wusste was mit ihr machen.

Sie hatte einen Wettlauf gegen die Zeit zu gewinnen.

„In Ordnung“, murmelte Agathe düster und packte ihre Tasche etwas fester, bevor sie mit zitternden Schritten losging – direkt auf den Wald zu.

- Kapitel 11 -

 

 Es war erstaunlich leicht für Kiriaki gewesen, sich an diesem Morgen Frühstück aufzutreiben.

Während sie normalerweise auf Bäume klettern musste, um Eier aus Vogelnestern zu klauen oder zwischen dem Unterholz des Waldes nach Pilzen suchte, war sie heute ohne jede Absicht direkt in einen Busch voller Beeren hineingelaufen, die zwar etwas hinter Blättern versteckt lagen, dafür aber auch umso besser schmeckten.

Das Mädchen schob sich eine der Beeren genüsslich in den Mund und ließ sie sich auf der Zunge zergehen, während der süße Geschmack wohlige Schauer in ihr auslöste. Sie hatte sich neben dem Busch auf das weiche Gras hingehockt, ihre nackten Füße in der lockeren Erde vergraben und wühlte nun in dem Blätterwerk herum, damit sie sich satt essen konnte.

Das hatte sie auch dringend nötig, denn Kiriaki war sich sicher, dass das hier ihre letzte Mahlzeit für längere Zeit sein würde, wenn sie mal wieder ohne Geld zu Athina nach Hause kam – oder besser gesagt, sobald sie ohne Geld nach Hause kam.

Athina hatte sie losgeschickt, um Amulette und Talismane zu verkaufen, an Leute, die sich mit Magie beschäftigten, aber Kiriaki hatte es nicht zu Stande gebracht, auch nur etwas von ihrer Ware zu verkaufen, ganz egal, durch wie viele Dörfer und Jahrmärkte sie auf ihrer einsamen Reise gestampft war.

„Es ist hoffnungslos“, murmelte sie betrübt und rieb sich den letzten Schlaf aus dem Gesicht, bevor sie eine weitere Beere in ihren Mund warf. Sie war gerade eben erst aufgewacht, geschlafen hatte sie wie sonst auch auf dem Waldboden. Wenn Kiriaki alleine unterwegs war, gab sie sich nie sonderlich viel Mühe dabei, es sich bequem zu machen. Deshalb steckten immer noch ein paar Blätter und Zweige in ihrem unordentlich geflochtenen Zopf und ihre Haut war von einer dünnen Schicht Dreck überseht.

Irgendwie passte ihr derzeitiges Aussehen perfekt zu ihrer Stimmung. Sie hatte versagt und würde mit leeren Händen zu Athina zurückkehren müssen, nur um sich dann deren Gemecker anhören zu können.

Dabei war es doch nicht einmal Kiriakis Schuld. Es gab einfach viel zu wenige Menschen, die sich noch mit Magie befassten, weil sie zu viel Angst hatten, auf dem Scheiterhaufen zu laden. Es war zu einer ausgesprochenen Seltenheit geworden, solchen Leuten über den Weg zu laufen.

Umso überraschter war Kiriaki gewesen, gestern diese Frau im Wald getroffen zu haben, zusammen mit diesem Geist, der … Kiriaki konnte es nicht beschreiben. Sie hatte im Laufe ihres noch kurzen Lebens viel mit dunkler Magie zu tun gehabt, mit bösen Dämonen und rachsüchtigen Geistern, aber dieser eine Mann war irgendwie anders gewesen. Kiriaki hörte auf zu essen, als ihr plötzlich der Appetit verging und starrte betrübt auf ihre nackten, schmutzigen Zehen, während sie an die gestrige Begegnung mit diesen beiden Gestalten zurück dachte.

Sie hatte der Frau das Kreuz geschenkt – das wertvollste Amulett, das sie bei sich gehabt hatte. Kiriaki wusste, dass Athina ihr dafür vermutlich den Kopf abschlagen würde, aber dieser Geist hatte in ihr ein so schlechtes Gefühl ausgelöst, dass sie gar keine andere Wahl gehabt hatte, als der Frau das Kreuz einfach zu schenken.

Hoffentlich hatte es etwas gegen dieses Ding bewirken können.

Kiriaki wollte sich gerade aufrichten, als sich plötzlich ein unsichtbares Gewicht über ihre schmalen Schultern zu legen schien. Sie keuchte erschrocken auf, weil sie dieses Gefühl, diese Vorahnung, nur allzu gut kannte und wusste, was es war – dunkle Präsenz.

Sie musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, wer hinter ihr stand. Der Schweiß, mit dem ihr an dunkle Magie gewöhnter Körper auf die Anwesenheit der anderen Person reagierte, war Antwort genug.

„Na?“, fragte eine Stimme, rau wie die einer Katze – und nicht besonders freundlich.

Kiriaki schoss hoch und fuhr herum, damit sie zumindest sehen konnte, wer es war, auch wenn sie es in ihrem Unterbewusstsein bereits wusste. Und noch etwas wusste sie – eine Flucht wäre nicht mehr möglich.

Vor ihr stand der Geist, den sie zusammen mit der Frau gesehen hatte. Allein sein Anblick und die Art und Weise, wie hämisch er sie angrinste, ließen Kiriakis Magen einen Satz machen. Er sah noch genauso aus, wie gestern, schwarze Haare, dunkle Kleidung. Er war nicht besonders groß oder breit, hatte dafür aber eine Ausstrahlung wie sonst was.

Kiriaki knurrte ihn an. „Verschwinde!“, zischte sie und machte eine abwehrende Handbewegung. Sie kannte Geister wie ihn, solche, die nur auf Ärger aus waren. Von ihnen sollte man sich fern halten, wenn man nicht mächtig genug war, sie unter Kontrolle zu halten.

Und etwas sagte Kiriaki, dass die Frau von gestern es nicht war.

Er legte spielerisch den Kopf schief und machte einen bedrohlichen Schritt auf sie zu. „Du weißt also, was ich bin, ja?“

„Ja“, knurrte sie. „Und ich will, dass du mich in Ruhe lässt.“

„Gestern hast du meiner Freundin etwas mitgegeben“, begann er, als hätte er sie nicht gehört.

Das Kreuz. Kiriakis Herz setzte kurz aus und sie ließ ihren Blick ganz von allein über seinen Körper wandern, um mögliche Verletzungen festzustellen, bis er an seinen Händen hängen blieb. Ihre Lippen kräuselten sich zu einem zufriedenen Lächeln, als sie die Verbrennungen darauf erkannte.

Er bemerkte ihren Blick und kniff gereizt die Augen zusammen. Von seinem Lächeln war nichts mehr übrig. „So wie es aussieht, scheinst du zu wissen, was ich meine. Dieses Kreuz. Woher hast du es?“

Trotzig schob Kiriaki das Kinn vor und verschränkte die Hände vor der Brust, die Armbänder an ihren Handgelenken klimperten grell. „Wieso sollte ich es dir verraten?“

„Weil dir das eine Menge Ärger ersparen könnte“, meinte er mit drohendem Unterton in der Stimme. Wieder kam er ein Stück näher.

Kiriaki rührte sich nicht von der Stelle. „Dann anders – wieso willst du das wissen?“

„Ich muss erfahren, ob du noch mehr von solchem Kram finden kannst“, erklärte er.

Kiriaki biss sich unschlüssig auf die Lippe, während sie missmutig mit einem Fuß über die Erde vor sich fuhr. „Was … brauchst du?“, fragte sie nach viel zu langem Zögern. „Wer bist du?“

Sein Grinsen kehrte zurück, als wäre es nie fort gewesen. „Ich nehme das als ein Ja“, meinte er, ehe er plötzlich vor Kiriaki auftauchte.

Das Mädchen schrie auf und wollte ausweichen, aber da hatte er sie auch schon bei den Hüften gepackt und sich über die Schulter geworfen. Kiriaki wurde förmlich die Luft aus den Lungen gepresst, als sie mit dem Magen hart auf seiner Schulter aufschlug und sie war nicht in der Lage, zu schreien oder ihn wenigstens zu treten.

Sie hing einfach da, wie ein wertloser, lebloser … Sack.

„Wir machen jetzt einen kleinen Ausflug“, flüsterte er ihr schnurrend ins Ohr, bevor er sich in Bewegung setzte und Kiriaki einfach mit sich nahm. Diese sah hilflos dabei zu und versuchte nicht einmal, ihm zu entkommen, denn sie wusste, dass es ohne das Kreuz nichts bringen würde. Das Kreuz, das sie so unüberlegt verschenkt hatte.

Kiriaki fluchte innerlich.

Da tat man einmal in seinem ganzen Leben etwas Selbstloses …

- Kapitel 12 -

 

Agathe konnte nicht bestreiten, dass sie sich mehrmals verlaufen hatte, während sie die letzten zwei Tage über alleine nach Hause unterwegs gewesen war. Sie konnte auch nicht leugnen, dass sie wiederholt kurz davor gewesen war, unter Tränen umzukehren oder bei jedem noch so leisen Geräusch im Wald zusammen gezuckt war – aber nichtsdestotrotz überkam sie eine Welle von Stolz, als sie am Ende des Waldes ankam und die ersten, schäbigen Häuser ihres Dorfes in Sicht kamen.

Sie hatte es tatsächlich geschafft.

Seufzend packte Agathe ihre Tasche etwas fester und begann, weiter auf ihr Dorf zuzugehen. Zwei Tage und eine Nacht hatte sie allein in der Wildnis verbracht, dieses Mal nicht einmal mit Basta an ihrer Seite und es war wirklich schrecklich gewesen. Vor allem nachts hatte sie kaum ein Auge zu tun können, was sie irgendwann dazu veranlasst hatte, einfach durchzulaufen und obwohl sie mehrmals den falschen Weg eingeschlagen hatte, war es ihr komischerweise gelungen, relativ schnell hier anzukommen.

Dennoch beeilte sie sich weiterhin, zu sich nach Hause zu kommen, statt auszuatmen.

Ein paar der Menschen ihres Dorfes starrten sie mit überraschten Gesichtern an, als sie über die Straßen lief. Agathe konnte es ihnen in diesem Fall nicht übel nehmen, denn sie sah grauenvoll aus. Egal, wie hübsch man auch war – nach zwei Tagen und einer Nacht im Wald konnte man nur völlig erledigt aussehen. Insbesondere, wenn man als Frau Männerkleider trug. Agathe wurde etwas rot, während sie zu ihrem Haus lief und ignorierte die Blicke der Menschen geschickt, während sie den vertrauten Weg ging.

Kurz vor ihrem Haus, wurde sie aber angesprochen. „Agathe“, sagte eine der Frauen, mit denen ihre Mutter befreundet gewesen war erstaunt und kam zögernd auf sie zu. „Wo warst du denn so lange? Vier Tage hast du gefehlt.“

„Ich weiß“, seufzte Agathe und senkte den Blick, während sie stehen blieb. Nicht, weil sie sich für ihre Erscheinung schämte, sondern weil sie schlichtweg keinen Augenkontakt mochte. „Es gab ein paar Angelegenheiten, die ich klären musste, dafür war es nötig, das Dorf zu verlassen.“ Sie erinnerte sich nicht an den Namen der Frau, weswegen sie sie einfach ohne ihn ansprach. „Wissen Sie, ob meine Mutter Zuhause ist?“ Agathe hob den Kopf. „Es ist unglaublich wichtig, dass ich sie schnell finde.“

Die Augen der Frau weiteten sich ein wenig über die Frage, was Agathe in keinster Weise verstehen konnte. Zumindest, bis die Freundin ihrer Mutter fortfuhr. „Du meinst … du warst während dieser ganzen Zeit kein einziges Mal Zuhause?“

„Nein“, meinte Agathe ungeduldig. „Ich war fort, aber das ist nicht mehr wichtig, da ich ja wieder da bin. Also, was ist denn jetzt? Wissen Sie, ob ich meine Mutter Zuhause finde oder nicht?“

„Es tut mir Leid, dir das so sagen zu müssen …“, meinte die Frau kleinlaut, räusperte sich und wollte offenbar fortfahren, fand aber nicht die richtigen Worte.

Irritiert kniff Agathe die Augen zusammen. „Was denn?“

Die Frau leckte sich kurz über die Lippen, bevor sie bedauernd den Blick von ihr abwandt. „Deine Mutter ist nicht mehr da.“

„Was soll das heißen, nicht mehr da?“ Agathe knurrte wie ein Hund.

Die Freundin ihrer Mutter sah wieder auf und guckte sie mit so viel Bedauern an, dass Agathe am liebsten wieder weggesehen hätte. „Sie ist tot.“

 

Sie ist tot. Diese drei kleinen, harmlosen Worte trafen Agathe mit einer solcher Intensität, die sie nie zuvor gespürt hatte, weswegen sie auch kurz verharrte und die Frau vor sich nur mit offenem Mund anstarrte – viel zu benommen, um etwas anderes zu tun. Dann kehrte sie aber zu sich zurück und schüttelte bestimmt den Kopf. „Das kann nicht sein.“

„Tut mir leid, aber so ist es leider“, sagte die Frau mitfühlend.

„Unsinn“, fauchte Agathe, die langsam wütend wurde und wies mit dem ausgestreckten Zeigefinger anklagend auf die Frau. „Woran sollte sie denn gestorben sein? Ihr ging es prächtig. Uns ging es beiden prächtig.“

„Es war ganz plötzlich.“ Die Frau schluckte. „Ihr Herz hat einfach aufgehört zu schlagen. Wir haben sie bereits beerdigt, aber …“

„Gehen Sie weg“, zischte Agathe und stieß die Frau aus dem Weg, nachdem sie sie unterbrochen hatte – das erste Mal, dass sie jemand anderes aus eigenem Willen berührte. Sie achtete nicht darauf, als die Frau auf dem Boden landete und stürmte einfach voran, vorbei an den restlichen Leuten, die ihr hinterher starrten.

Vielleicht gab es ja einen anderen Grund dafür, dass sie dich so angestarrt haben, flüsterte etwas in ihr, aber Agathe ließ die Stimme verstummen. Sie war jetzt gar nicht in der Stimmung für sowas.

Schweratmend stürzte sie ins Haus hinein und sah sich als aller erstes in allen Zimmern um, blickte hinter Türen und in alle Ecken, aber das Haus war leer. Weder ihre Mutter, noch irgendwelche Spuren von Kämpfen oder einem Verbrechen waren da. Nur Stille.

In der Küche warf Agathe wütend ihre Tasche auf den Boden und taumelte gegen die Wand, wo sie sich langsam auf den Boden sinken ließ. Sie umklammerte verzweifelt ihre Knie und drückte sie fest an ihre Brust, vergrub ihr Gesicht darin. Sie konnte es nicht glauben.

Ihre Mutter sollte tot sein? Ihre Mutter? Von diesem ganzen Dreck an Menschen, der nicht nur in diesem Dorf, sondern auf der ganzen Welt lebte, war angeblich ausgerechnet ihre Mutter gestorben? Von allen, die es hätten sein können?

Nein.

Oh, nein, ganz sicher nicht.

„Und wenn schon“, murmelte sie gegen ihre Knie. Sie befasste sich nicht umsonst mit Magie. Agathe würde einen Weg finden, ihre Mutter zurückzuholen, das stand für sie fest. Die meisten Geister waren zwar mehr tot als lebendig, wenn Agathe sie in ihre Welt beschwörte, aber bei Basta hatte es doch auch irgendwie funktioniert, ihn beinahe vollständig wieder herzustellen. Er war fast wie ein richtiger Mensch, und wenn es bei ihm geklappt hatte, konnte man es sicher auch auf ihre Mutter übertragen.

Sobald Agathe herausfand, was das Geheimnis hinter Bastas besonderer Beschwörung war, würde sie auch ihre Mutter nach demselben Prinzip zurück holen und glücklich mit ihr weiter leben. So simpel war die Lösung des Problems.

Nur reichte das Agathe noch nicht ganz. Anders als der Rest dieser Idioten, glaubte sie nicht daran, dass ihre Mutter von alleine gestorben war. Oh nein, da hatte es andere Hintergründe gegeben – und die würde Agathe noch in Erfahrung bringen.

Völlig außer sich, sprang Agathe auf die Beine und schnappte sich wieder ihre Tasche, ehe sie nach oben in ihr Zimmer ging und alles einsammelte, was halbwegs wertvoll war. Als das erledigt war, verließ sie ihr Haus, ohne abzuschließen oder sonst etwas zu unternehmen – denn jetzt war es auch egal.

Draußen auf der Straße blickte sie sich raubtierhaft um, bevor sie auf die nächstbeste Person zugeschritten kam. Zwei Männer, die sich bis eben noch unterhalten hatten, bei ihrem Ankommen aber plötzlich verstummten. Agathe hatte sie in früheren Tagen öfter mal aus dem Fenster beobachtet. Das schien alles schon so lange her zu sein …

„Woran ist die Frau aus diesem Haus gestorben?“, wollte Agathe ohne jede Begrüßung wissen und wies mit dem Daumen hinter sich, zu dem Haus. Zu ihrer kleinen Zelle, ihrer kleinen Welt, in der sie so lange gelebt hatte. Wie eine Prinzessin inmitten eines einzigen Haufens Dreck.

„Herzstillstand, sobald ich weiß“, meinte einer der Männer und kratzte sich unbehaglich am Kopf. Agathes wilde Erscheinung und ihr aggressiver Tonfall schienen ihm Angst zu machen.

„Ganz plötzlich?“

„Ganz plötzlich. War mitten auf der Straße, sobald ich weiß.“

„Wer war bei ihr?“ Agathe wandt sich an den Zweiten von ihnen.

„Dein Verlobter“, sagte dieser, genauso missmutig wie der andere.

Agathes Miene verzog sich nicht. „Ich habe momentan keinen Verlobten mehr. Der ist vor vier Tagen im Schlaf erstickt.“

Keiner von ihnen wirkte überrascht. „Nun, den Mann, mit dem sie gesprochen hat, haben wir bisher noch nie hier gesehen, weswegen wir angenommen haben, dass er …“

„Mein nächster Ehemann sei“, beendete Agathe ungeduldig seinen Satz, als er leiser wurde. „Und dieser fremde Mann war bei ihr, bevor sie gestorben ist?“

„Sie haben miteinander gestritten“, sagte der Erste und sah zum Himmel hinauf, als müsste er sich die Szene noch einmal in Erinnerung rufen. „Nur wenige Minuten später ist sie mitten auf der Straße zusammen gebrochen – hat sie wohl zu sehr belastet, was auch immer sie miteinander zu reden hatten.“

Wer es glaubt, dachte Agathe und ballte die Hände zu Fäusten. Da habe ich meinen Übeltäter. „Wann?“, wollte sie mit zitternder Stimme wissen. Ob sie sich vor Schock oder vor Wut so anhörte, wusste sie selbst nicht. „Wann ist das passiert?“

„Gestern.“

„Dieser Mann, wo ist er jetzt?“

„Nicht da.“

„Was soll das heißen?!“ Sie sah die Männer bei ihrem scharfen Ton zusammenzucken.

„Er ist gestern wieder abgereist“, erklärte einer von ihnen und wich etwas vor ihr zurück. „Wie gesagt, er war ein Fremder, wollte nicht lange bleiben. Obwohl ich das Gefühl habe, ihn irgendwo hier schon einmal gesehen zu haben …“

„Wohin ist er gegangen?“, drängte Agathe und unterbrach den Mann, obwohl das, was er hatte sagen wollen, für sie wichtig gewesen wäre. Sie war bloß viel zu gehetzt, um darauf zu achten.

Einer der Männer zuckte die Schultern. „Nach Ombra, glaube ich“, murmelte er. „Hatte dort angeblich noch etwas zu erledigen. Auf seinem Weg wollte er auch mal in dem Gasthaus an der Grenge Halt machen, falls ich mich richtig erinnere. Du …“

Weiter kam er nicht, denn Agathe fuhr herum und stürmte ohne ein Wort der Erklärung davon, sie ließ die beiden Dorfbewohner einfach stehen. Heiße Tränen des Zornes sammelten sich in ihren Augenwinkeln, als sie um eine Ecke rannte und die Straße entlang lief, die aus dem Dorf hinausführte. Eine wirkliche Ahnung, wohin sie eigentlich lief, hatte sie nicht, aber durch ihren Körper schoss zu viel Adrenalin, als dass sie sich hätte aufhalten können. Sie kam an der Stelle vorbei, an der Basta vor wenigen Tagen erst Angelina für sie umgebracht hatte – an der Stelle, an der dieses ganze Chaos erst seinen Lauf genommen hatte.

Nein, halt.

Augenblicklich kam Agathe zum Stillstand und nahm sich die Zeit, tief durchzuatmen, während sie den Riemen ihrer Tasche umklammert hielt. Sie starrte zu der Stelle, an der Angelina gelegen hatte und dachte zurück. Das hier war nicht die Stelle, an der alles begonnen hatte. Alles hatte im Wald begonnen, in der Nacht, in der Agathe Basta zurückgeholt hatte.

Unter einem Baum, versteckt zwischen den Ästen und Schatten. Dort hatte sie seine Knochen vergraben, mit denen man noch so viel mehr anstellen könnte. So viel mehr …

Agathe fuhr sich mit einer Hand durch das verfilzte Haar, während ihre Wut allmählich abzukühlen begann und sie wieder halbwegs klar denken konnte. Ein paar Menschen auf den Gassen sahen fragend zu ihr herüber, während sie in ihrem eingeschnappten Zustand so konzentriert vor sich hin starrte, aber Agathe war zu sehr in Gedanken versunken, um darauf zu achten.

Ihr ursprünglicher Plan war es gewesen, ihre Mutter zu holen und zusammen zu fliehen, aber jetzt konnte sie das vergessen. Jetzt schwebte ihr etwas ganz anderes vor.

- Kapitel 13 -

 

Es war bereits dunkel geworden, als Agathe endlich die Stelle gefunden hatte, an der Bastas Knochen vergraben waren. Eine Ewigkeit hatte sie gebraucht, um alles umzugraben und wieder zuzuschaufeln, aber jetzt hielt sie sie endlich in der Hand, seine Überreste. Sie waren dreckig und so derartig beschädigt, dass Agathe schon befürchtete, man hätte sie nicht mehr gebrauchen können, aber sie wusste es besser. Solange sie nicht zu feinem Pulver zerfallen waren, würden sie ihr in ihrem Vorhaben helfen können.

Agathe hatte nicht länger vor, zu ihrem ursprünglichen Leben zurückzukehren – jedenfalls nicht sofort. Zuerst würde sie alle Bücher über Magie durchwälzen, die es auf dieser Welt nur gab und schließlich irgendwo einen Zauber finden, der mächtig genug wäre, um Bastas Knochen mit einem Fluch zu belegen, der seinen Willen brechen könnte. Irgendwo musste es einen Zauber geben, der das zu Stande bringen konnte und sobald Agathe Basta in ihrer Hand hatte, würde es ihr möglicherweise gelingen, ihm zu entlocken, was genau so besonders an ihm war. Wieso er so menschlich war und ob es möglich wäre, ihre Mutter genauso wiederherzustellen.

Das war aber nicht das Einzige, was Agathe für Basta geplant hatte, denn da blieb ja auch noch dieser Kerl – Dieser Kerl, der einfach so in Agathes Leben spaziert war und meinte, es so drastisch verändern zu können. Der meinte, es sich erlauben zu können, ihre Mutter umzubringen und dann einfach so zu verschwinden, ohne von Agathe bestraft worden zu sein.

Sie war sich sicher, dass es dieser Mann gewesen war. Sie hatte da dieses Gefühl. Und Agathe war sich auch sicher, ihn finden zu können, um ihn dann von Basta töten zu lassen. Danach würde Agathe dafür sorgen, dass Basta verschwand und schließlich ihre Mutter zurück holen.

Alles würde wieder beim Alten werden, und wenn es eben etwas länger dauerte. Davon war Agathe überzeugt, obwohl ihre Aufregung in den letzten Stunden verdampft und nichts als eisige Wut in ihrem Inneren hinterlassen hatte, bei der sie jedoch zumindest Ruhe bewahren konnte.

Agathe richtete sich wieder auf, als sie fertig war und legte die Knochen in ihrer Tasche ab – genau rechtzeitig, wie sie feststellte, denn nur Sekunden später nahm sie etwas wahr. Die Anwesenheit einer anderen Person hinter sich.

„Jetzt sieh sich das doch mal einer an“, hörte sie plötzlich eine vertraute Stimme, die ihr das Blut in den Adern zu Eis gefrieren ließ. Agathe konnte nicht anders, als an Ort und Stelle mit pochendem Herzen zu erstarren, weil sie wusste, dass es zwecklos gewesen wäre, zu rennen oder zu laufen. Am Ende hätte er sie nämlich sowieso gekriegt.

Langsam, ganz langsam – fast taumelnd – drehte sie sich um, um in Bastas Gesicht zu blicken, das nur wenige Schritte von ihr entfernt war. Obwohl es so dunkel war und seine Gesichtszüge fast entspannt wirkten, konnte das Agathe nicht täuschen. Sie sah das Funkeln in seinen Augen, das von nichts anderem als Wut und Zorn hätte ausgelöst werden können.

Sie wusste es, schließlich hatte sie diesen Blick nur Stunden zuvor selbst auf dem Gesicht getragen. Agathe schluckte, nicht mehr rachsüchtig, sondern nur noch eingeschüchtert. Wenn es einen Augenblick gab, in dem sie sich vor Basta hätte richtig fürchten müssen, dann war er jetzt gekommen.

„Ist das zu fassen?“, fragte er sie beinahe locker, die Hände lässig in die Seiten gedrückt. Er kam einen Schritt auf sie zu. „Da sage ich ihr, dass sie sich benehmen soll und finde eine leere Festung vor, als ich zurückkehre.“ Er beugte sich so schnell zu ihr vor, dass Agathe erschrocken zurück zuckte, davor schnappte sie aber den Geruch nach Pfefferminz auf. „Ich glaube, du hast ein wenig Mist gebaut“, zischte Basta leise, seine perlenweißen Zähne schienen im Mondlicht zu leuchten.

„Basta …“, flehte Agathe, der plötzlich Tränen in die Augen stiegen vor lauter Angst. Ihre Entschlossenheit, ihn für ihre eigenen Pläne zu nutzen, war mit einem Mal wie fortgewischt und Agathe hasste sich dafür, dass er sie mit ein paar drohenden Worten zurück in diesen Zustand versetzen konnte, in diesen Zustand der Hilflosigkeit und Schwäche. „Ich kann das erklären.“ Wieso wurde sie immer zur Maus, sobald es darauf ankam? Agathe konnte Ehtaga förmlich lachen hören.

„Nur zu.“ Er stellte sich wieder zu seiner vollen Größe auf und obwohl er Agathe nur um Fingerbreite überragte, erschien er ihr sehr viel größer, als sie selbst. „Was kann erklären, dass du dich meinen Anweisungen widersetzt und einfach abhaust, wenn es dir passt?“

Etwas in seiner Stimme sagte ihr, dass sie bei ihrer Antwort ganz vorsichtig vorgehen musste. Agathe machte den Mund auf, um etwas zu sagen, aber aus ihrer Kehle kam kein Laut. Sie klappte ihren Mund wieder zu.

Basta hob eine Augenbraue. „Nun?“ Seine Augen funkelten immer noch gefährlich.

„Es tut mir leid“, war alles, was sie herausbringen konnte.

„Nein, Kleine“, sagte er und packte ihr Kinn grob mit einer Hand, die andere legte er auf ihre Taille. Sie war somit gezwungen, stehen zu bleiben und ihm ins Gesicht zu blicken, aber dabei blieb es nicht lange, denn Basta beugte sich zu ihr vor, um seine Lippen an ihr Ohr bringen zu können, dabei streifte seine unrasierte Wange ihre. Ein Schauer lief über Agathes Körper. „Dafür, dass es dir leid tut, werde ich erst noch sorgen“, flüsterte er ihr kaum hörbar ins Ohr, aber Agathe konnte in ihrer Furcht jedes einzelne Wort glockenhell verstehen.

Sie schluckte und wollte sich aus seinem Griff befreien, aber Basta wusste ja inzwischen ganz genau, was sie von menschlicher Nähe hielt und zwang sie, in dieser Position zu bleiben. Er wusste ganz genau, wie er sie quälen konnte.

Agathe war sich nicht sicher, ob sie erschrocken oder erleichtert sein sollte, als er sich wegen einem Geräusch in der Nähe von ihr löste – sie hatte es auch gehört, das Knacken eines Astes, aber im Gegensatz zu ihm erkannte sie viel zu spät, was es gewesen war.

„Wölfe“, stellte Basta tonlos fest, während er sich umblickte und Agathe losließ.

Es fühlte sich befreiend an, nicht länger von ihm berührt zu werden und Agathe fand es schade, diese Erleichterung nicht länger genießen zu können, weil sich plötzlich dunkle Gestalten aus der Dunkelheit der Nacht schälten. Es waren etwa sieben Tiere, die knurrend und fauchend auf sie zugeschlichen kamen – hungrige Wölfe, wie Agathe endlich mit einem Aufkeuchen realisierte.

„Nein“, hauchte sie und stolperte ein paar Schritte zurück.

Basta hatte die Hände in die Taschen seiner Jacke geschoben und musterte die Tiere desinteressiert. Natürlich. Ihm konnten sie ja nichts anhaben. Er konnte sich einfach unsichtbar für sie machen, wenn er wollte.

„Hier gibt es keine Wölfe!“ Agathe schüttelte den Kopf, als würde es etwas bringen. „Wir sind ganz in der Nähe des Dorfes, so nah wagen sie sich gar nicht da dran!“

„Anscheinend schon“, sagte Basta nur.

Die Tiere hatten sie umzingelt und kamen nun von allen Seiten gleichzeitig auf sie zugeschlichen. Agathe versteifte in ihrer Position und verlor alle Farbe im Gesicht, sie hatte unglaubliche Angst.

„Sieht nicht gut für dich aus“, bemerkte Basta und sah sie mit höhnisch hochgezogener Augenbraue an. „Hast du einen Plan?“

„Kannst du nichts unternehmen?“, fuhr sie ihn mit erstickter Stimme an.

„Ich könnte“, entgegnete Basta. „Nur weiß ich nicht, ob ich das auch wirklich will.“

„Was soll das denn jetzt heißen?!“ Agathes Stimme überschlug sich kurz.

Basta verschränkte die Hände vor der Brust. „Es heißt, dass ich unzufrieden mit deinem Verhalten bin“, knurrte er. „Dass du einfach abgehauen bist, obwohl ich dir befohlen habe, zu bleiben, das … gefällt mir überhaupt nicht.“

„Aber du willst doch, dass ich Capricorn für dich zurückhole, oder nicht?!“ Wenn Agathe jetzt starb, konnte sie alles, was sie sich vor Kurzem noch eingeredet hatte, getrost vergessen. Dann konnte sie alles vergessen.

„Wölfe“, grinste Basta „schlucken ihre Beute nie als Ganzes.“ Er lachte dunkel auf. „Ich glaube, ich könnte ihnen etwas Zeit zum Spielen geben, bevor ich eingreife.“

Was für ein Hund.

Ohne weiter darüber nachzudenken, fiel Agathe auf die Knie und vergrub ihre Hände im Gras, während die Biester bereits so weit an sie herangepirscht waren, dass sie ihr wütendes Knurren und die Hektik ihrer Atmung deutlich hören konnte. Agathe kauerte sich zusammen, als plötzlich Worte in Form von leisem Gewisper durch ihren Kopf schossen, Worte, die in einer anderen Sprache und ihr völlig unbekannt waren, aber trotzdem so leicht über die Lippen gingen, als hätte sie sie schon hundert Mal und öfter aufgesagt.

„Was murmelst du da?“, fragte Basta und Agathe hörte in ihrer Hysterie, wie er an sie heran trat. Seine schmale Gestalt warf in der ohnehin dunklen Nacht einen Schatten über sie und sie schloss die Augen, dabei flüsterte sie die Worte in ihrem Kopf unaufhörlich weiter.

Sie konnte sich nicht erinnern, die Worte schon einmal irgendwo gehört oder gelesen zu haben, aber sie waren da, als würde sie ihr jemand zuflüstern und Agathe sprach sie nach, ohne zu überlegen, was sie eigentlich bedeuteten.

„He, hörst du mich überhaupt?“, fragte Basta über ihr. „Was zur Hölle wird das hier?“

Zum ersten Mal realisierte Agathe wirklich, was hier geschah – dass da mehr zu hören war, als nur Basta und die Wölfe um sie herum. Da war eine Stimme in ihrem Unterbewusstsein, verzerrt und undeutlich, aber dennoch zu vertraut, um sie mit jemand anderes zu verwechseln. Es war Ehtaga.

Ehtaga flüsterte ihr die Worte zu und Agathe sprach sie ihr nach. Jetzt begriff sie endlich, wie der Fluch, den sie gerade aussprach, überhaupt auf ihre Zunge gelangen konnte – aber woher kannte Ehtaga ihn?

Als Ehtagas Stimme verstummte und Agathe das letzte Wort gesagt hatte, wagte sie es wieder, die Augen zu öffnen. Sie blinzelte in die Dunkelheit und hob ängstlich den Kopf, nur um in das Antlitz des Rudelführers blicken zu können, der gerade mal zwei Schritte von ihr entfernt stand. Es war ein großer Wolf, kräftig und mit einer sichtbaren Narbe über dem Auge. Zu Agathes Überraschung stand er völlig entspannt war, die Ohren nicht gespitzt, die Haltung nicht geduckt und der Schwanz nicht hin und her wedelnd. Er stand nur da und blickte sie an, genau wie der Rest seines Rudels.

Als er dann auch noch gemächlich auf sie zukam und ihr fast freundschaftlich die feuchte Schnauze gegen die Wange stupste, konnte sie nicht anders, als mitgenommen aufzukeuchen.

Hatte sie … hatte sie die Wölfe gezähmt?

Keines der restlichen Tiere schien noch in Kampfposition zu sein, sie hatten ihre Jagd aufgegeben und wirkten nun eher zahm, wie sie sich alle auf den Boden legten.

„Das glaube ich jetzt nicht“, hörte Agathe Basta leise flüstern, seine Stimme voller Verwunderung. Und Schock.

„Ich auch nicht“, meinte Agathe, eher verwirrt und überfordert, während sie den Kopf des großen Tieres vor sich sacht mit den Händen wegdrückte. Der Wolf schien innerhalb von wenigen Sekunden eine Art Liebe zu ihr aufgebaut zu haben, die sie fast verlegen machte.

„Du hast sie gezähmt.“ Basta ging neben ihr in die Hocke, dabei ließ er seinen Blick beeindruckt über jedes einzelne Tier des Rudels schweifen. „Du kannst wirklich Wölfe unter Kontrolle bringen.“

„Sieht so aus“, murmelte Agathe und war froh, als sich das große Tier endlich von ihr abwandt und zurück zu seinen Freunden trappelte.

Basta sah sie an, die Augenbrauen gehoben. „Wie hast du das gemacht?“

„Ich habe keine Ahnung.“

„Jetzt sag es doch!“

„Da waren Worte“, flüsterte Agathe und vergrub das Gesicht in den Händen. Es fühlte sich heiß an. „Es war, als würde sie mir jemand zuflüstern. Es war Ehtaga, die das gemacht hat.“

„Dein sogenanntes Spiegelbild?“

„Genau.“

„Das ist großartig.“ Basta lachte auf. „Wer hätte gedacht, dass dieses Ding in dir tatsächlich zu etwas gut sein könnte.“

„Aber das ergibt keinen Sinn!“, entgegnete Agathe hefig und sah ihn an. „Ehtaga ist bloß mein Spiegelbild, keine eigene Person. Sie ist ein Teil von mir und die Worte, die sie mir zugeflüstert hat, habe ich noch nie zuvor gehört oder gelesen. Woher … woher soll sie sie denn bitte gekannt haben, wenn sie und ich doch dieselbe Person sind?“

Das machte Agathe gerade unbeschreibliche Angst und zum ersten Mal fragte sie sich ernsthaft, ob Ehtaga – dieses Ding in ihr, das sie nun schon so lange in ihrem Leben begleitete – tatsächlich das war, wofür Agathe sie hielt. War sie wirklich nur eine Einbildung in Agathes Unterbewusstsein? Oder steckte mehr hinter dem Wesen, das Agathe bisher als ihr Spiegelbild betrachtet hatte?

Sie hatte keine Ahnung.

„Das spielt keine Rolle“, grinste Basta und legte ihr plötzlich, zu ihrem Entsetzen, einen Arm um die Schulter, damit er sie enger an sich drücken konnte – wissend, dass ihr das nicht gefiel. Agathe wollte vor Unbehagen wimmern, als ihre beiden Körper zusammengedrückt wurden, aber Basta hinderte sie an einer Flucht, indem er auf seinen zweiten Arm um sie schlang. „Schließlich ist das Wichtigste nur, dass wir jetzt wissen, wie nützlich du sein kannst, wenn du es wirklich willst“, meinte er mit gehobenen Mundwinkeln, dabei sah er aber nicht sie, sondern die Wölfe an, die Agathe soeben zu etwas wie ihren Haustieren gemacht hatte.

Agathe schluckte und gab ihm im stillen Recht. Es schien tatsächlich mehr in ihr zu stecken, als sie zunächst angenommen hatte – sie hätte nur gerne gewusst, woher es eigentlich kam.

- Kapitel 14 -

 

Der Rückweg zu Capricorns Festung verlief sehr schweigsam.

Basta sagte kein Wort, während er zusammen mit den Wölfen vor Agathe herlief und auch sie musste sich die Zeit nehmen, ihren eigenen Gedanken nachzuhängen. Sie verstand die Welt nicht mehr. Wieso passierte das alles? Dieses ganzen, seltsamen Dinge, die sie sich nicht erklären konnte.

Zuerst, dass sie einen Geist beschwor, der sich nicht kontrollieren ließ. Dann, dass ein fremder Mann aus dem Nichts auftauchte und ihre Mutter tötete. Und nicht zu vergessen, dass Ehtaga – ihr Spiegelbild – plötzlich begann, ihr Wissen zu schenken, das Agathe sich nie angeeignet hatte.

Hing das alles irgendwie zusammen?

Agathe hörte auf, den Waldboden anzustarren und hob stattdessen den Kopf, um Basta anzublicken. Er hatte eben noch relativ froh ausgesehen, nachdem er erfahren hatte, was eigentlich für verborgene Talente in Agathe schlummerten, aber jetzt war er wieder zu seinem üblichen, schlechtgelaunten Zustand zurückgekehrt.

Agathe riskierte es dennoch. „Hast du das Mädchen gefunden?“

Keine Antwort. Basta zeigte auf ihre Frage so wenig Reaktion, dass Agathe fast glaubte, er hätte sie einfach nicht gehört.

„Hast du das Mädchen gefunden?“, wiederholte sie, etwas lauter.

Er sagte immer noch nichts, ging nur schweigsam über die Schneise, die sie gefunden hatten. In Ordnung – er war eindeutig wütend und ignorierte sie.

Agathe seufzte und zog die Unterlippe zwischen die Zähne. Normalerweise war es ihr egal, wenn Leute wütend auf sie waren – es war ja nicht so, als ob sie ihnen oft begegnet wäre, so eingeschlossen, wie sie gelebt hatte. Daher war es bisher auch noch nie nötig gewesen, sich zu entschuldigen.

Aber hier konnte es um ihr Leben gehen. Und um das ihrer Mutter.

„Basta?“, fragte sie irgendwann, ihre Stimme klang in der Stille der Nacht ungewöhnlich laut.

Sie erhielt wieder keine Antwort. Basta bewegte sich so gekonnte zwischen den Bäumen hindurch, dass Agathe ihn unwillkürlich mit den Wölfen neben ihm verglich. Immerhin war er nicht weniger raubtierhaft, als sie.

„Basta, es tut mir leid …“, murmelte Agathe. Sie wollte sich nicht entschuldigen und sich erst recht nicht mit ihm verstehen, da sie ihn irgendwann ohnehin an den Ort zurückschicken würde, aus dem er gekrochen war, aber bis dahin … bis dahin musste sie nett bleiben. Sie musste dafür sorgen, dass er ihr nichts Böses wollte.

Leider hörte sie ihn auf ihre schwache Entschuldigung hin bloß verächtlich schnauben.

„Basta, wirklich …“

„Glaub ja nicht, dass du dich da jetzt rausreden kannst.“

„Ich will mich nicht rausreden, sondern bitte dich um Entschuldigung.“

„Das wird dir jetzt auch nicht helfen. Denk nicht, dass ich dich damit einfach so entkommen lasse.“ Er klang sehr verstimmt.

Agathe war froh, dass er sich nach wie vor nicht die Mühe machte, sich zu ihr umzudrehen, während er mit ihr sprach – einerseits, weil sie keinen Augenkontakt mochte, andererseits, weil sie seine Wut nicht noch deutlicher zu spüren bekommen wollte. Sie war sich sicher, dass sein Blick momentan mehr als giftig sein musste.

„Natürlich nicht“, murmelte sie und streckte müde die Fingerspitzen. Sie war unglaublich entkräftet und erschöpft, aber jetzt würde sie es nicht wagen, Basta nach einer Pause zu fragen. Sie würde durchlaufen müssen, bis zur Festung. „Aber ich wollte dir trotzdem versichern, dass das nicht wieder passieren wird …“

Das entlockte ihm ein kurzes, dunkles Lachen. Es klang eher spöttisch, als fröhlich. „Sicher nicht.“

„Nein, ich meine damit nicht, dass ich es nicht mehr versuchen werde, sondern …“ Sie schluckte. „Ich habe keinen Grund mehr, es zu versuchen.“ Sie hatte nur wegen ihrer Mutter zurückkehren wollen, aber jetzt war es egal.

Zum ersten Mal, seit Agathe von dem Tod ihrer Mutter erfahren hatte, reagierte sie nicht mit sturem Trotz und Zorn, sondern mit etwas wie … Trauer. Sie konnte eigentlich gar nicht verhindern, dass ihre Sicht für eine Sekunde hinter einem undeutlichen Tränenschleier verschwamm.

„Hmm?“, machte Basta.

„Ich kann … und will … nicht mehr nach Hause.“ Nicht ohne Mutter, fügte sie im Kopf hinzu. Der Gedanke brachte das Fass zum Überlaufen und Agathe spürte die ersten, heißen Tränen, die über ihre Wangen liefen. Sie hatte schon so lange nicht mehr geweint. Agathe bekam oft glasige Augen, wenn etwas nicht stimmte, aber dass die Tränen dann auch wirklich ihren Körper verließen … das war seltener.

„Und das soll ich dir glauben?“

„Du musst nicht, aber … es ist die Wahrheit.“ Ihre Stimme klang verheult. So ein verdammter Mist. Agathe blieb stehen, um ihre Augen mit der Hand zu bedecken, dabei entkam ihrer Kehle ein knappes Schluchzen. Sie konnte es nicht unterdrücken. Auch die Tränen, die nachkamen, nachdem sie die vorherigen weggewischt hatte, konnte Agathe nicht aufhalten und irgendwann sah sie auf, weil sie schon viel zu lange so da stand.

Basta war ebenfalls stehen geblieben und hatte sich zu allem Überfluss auch noch zu ihr umgedreht. Sein Gesichtsausdruck war starr und ausdruckslos. „Wieso heulst du jetzt?“

Agathe hätte gerne geantwortet, aber ihre Lippen bebten zu sehr und ließen keine Worte mit sich formen. Beschämt schlug sie den Blick nieder und presste sich eine Hand gegen den Mund, um keine weiteren Schluchzer hören zu lassen und sie in ihrer Handfläche zu ersticken.

Nur für den Augenblick, redete sie sich im Stillen zu. Nur jetzt war ihre Mutter tot, nicht für immer, nicht auf Ewigkeit. Bald würde sie wieder zurück sein. Irgendwann.

Spätestens jetzt hatte Basta wohl bemerkt, dass irgendwas vorgefallen sein musste, während die beiden getrennt gewesen waren. In seiner Miene regte sich nach wie vor nichts, aber Agathe sah, dass sich seine Haltung etwas lockerte, auch wenn er gewiss kein Mitleid zu verspüren schien. „Du willst mir also erzählen, dass du ab jetzt artig bist?“

Agathe nahm die Hand von ihrem Mund, immer noch am gesamten Körper zitternd. „Ja.“

„Du rennst nicht mehr weg, bis wir die Sache mit Capricorn erledigt haben?“ Er schob seine Hände in die Jackentaschen.

„Nein.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich werde nichts versuchen, ich verspreche es.“

Kurz wirkte er tatsächlich unsicher. Für Agathe war es wichtig, sich mit ihm zu versöhnen – aber, mal wieder nicht, weil ihr etwas an ihm lag, sondern weil sie von ihm erfahren musste, was ihn so besonders machte.

Was, um Himmels Willen, unterschied ihn von allen anderen Geistern?

„Ich verspreche, ich werde ab jetzt keinen Unfug mehr machen, Basta“, flüsterte sie. „Wirklich nicht.“

Als ihre Gedanken unwillkürlich zurück zu ihrer Mutter wanderten, schossen wieder Tränen in ihre Augen. Die Tränen, die Agathe so lange in sich gesammelt hatte und die nun nicht mehr zu fließen aufhörten.

„Jetzt hör auf zu flennen, ich glaube dir ja“, schnaubte Basta und verdrehte spöttisch die Augen. Er klang irgendwie gereizt, als würde ihn ihr Weinen aufregen. „Ich werde dich auch nicht zur Strafe anfassen, wenn es das ist, worüber du dir Sorgen machst – aber natürlich nur, wenn du es wirklich sein lässt.“ Er hatte die Hände vor der Brust verschränkt.

Agathe riss sich so weit zusammen, dass sie ihm wieder in die Augen sehen konnte. In diese stechenden, brennenden Augen. „Das … war eigentlich nicht das … woran ich jetzt gedacht habe“, murmelte sie und stelle mit Erstaunen fest, dass das sogar die Wahrheit war. Die Überraschung war groß genug, um den Fluss ihrer Tränen auszutrocknen.

„Wie auch immer.“ Basta seufzte ermüdet, als sei er es leid, sich mit menschlichen Wesen und ihren Problemen zu befassen. Dann musterte er Agathe aufs Neue, dieses Mal mit etwas wie Abscheu im Blick. „Du bist unglaublich. Dass jemand, der Menschen so leicht tötet, selbst ein so schwaches Rückgrat besitzt und bei jeder Kleinigkeit gleich einknickt … Du bist erbärmlich.“

„Ich weiß.“ Agathe leugnete es nicht. Sie hatte ein großes Selbstwertgefühl und war oft bereit, jeden umzulegen, der sich ihr in die Quere stellte – zumindest, bis sie der Gefahr dann tatsächlich gegenüber stand und ihre Berührungsängste sie wieder in die Rolle des Unschuldslamms verfallen ließen.

Sie war wirklich ein trauriger, kleiner Haufen.

Zu ihrer letzten Bemerkung sagte Basta nichts. Agathe war sich nicht sicher, ob er noch wütend war, aber zumindest würde er sie nicht bestrafen – nicht auf die für sie schlimmste Weise.

Und das war das schon mal ein Anfang, oder nicht?

„Übrigens lautet die Antwort ja“, sagte er plötzlich und ging auf einmal wieder weiter, die Wölfe setzten sich mit ihm in Bewegung. Sie waren stehen geblieben, um auf die beiden zu warten.

„Wie?“, fragte Agathe und beeilte sich, hinterher zu kommen. „Ich verstehe nicht.“

„Deine Frage, ob ich die Kleine gefunden hätte“, erklärte er gelassen, Hände immer noch in den Jackentaschen. „Die Antwort lautet ja.“ Er dehnte zufrieden seinen Hals, beugte den Kopf nach links und nach rechts. „Ich hab sie aufgespürt. Sie ist jetzt in Capricorns Festung.“

- Kapitel 15 -

 

Als sie die Festung am nächsten Morgen endlich erreicht hatten, wäre Agathe am liebsten sofort ins Bett gegangen – aber da ja immer noch die Sache mit der Kleinen geklärt werden musste, hatte sie gar keine andere Wahl gehabt, als Basta direkt nach ihrem Ankommen hinunter in die Zellen zu folgen.

„Wohin gehen wir?“, hatte sie gefragt, als er sie die kaputte Treppe hinunter geführt hatte. Ein Teil von Capricorns schäbiger Festung, den Agathe eigentlich nicht hätte näher kennenlernen wollen.

„In den Kerker“, hatte Basta bloß erwidert.

„Kerker? Capricorn hatte einen eigenen Kerker?“ Agathe hatte die Arme um sich geschlungen, während sie Basta die Treppe hinunter gefolgt war. „Und wenn soll er da bitte festgehalten haben?“

„Das“, hatte Basta desinteressiert erwidert, „kann ich dir nicht genau verraten.“

„Hmm?“

„Es wären zu viele Menschen, um sie alle aufzuzählen.“

Agathe hatte nicht weiter nachgefragt, sondern sich auf die modrigen Stufen konzentriert. Desto tiefer sie gekommen waren, desto mehr hatte es ihnen an Licht gemangelt und Agathe hatte es nur ihren an die Dunkelheit gewöhnten Augen zu verdanken, dass sie nicht gestolpert und kopfüber in die Tiefe gestürzt war.

Später erst, als sie die Zellen erreicht und in einen langen Gang voller Finsternis gekommen waren, hatte es wirklich Probleme gegeben, weil Agathe ständig in Basta reingelaufen und dann bei den Berührungen erschrocken zurück gezuckt war.

„Hör auf, mich zu rammen!“, hatte er sie leise angeknurrt.

„Mir ist das ja wohl unangenehmer als dir! Außerdem bin ich nicht diejenige, die im Dunkeln sehen kann.“

„Aber ich habe keine Augen im Hinterkopf.“ Er hatte sie grob am Arm gepackt und bis zu der richtigen Zelle gezerrt. „Wir machen das jetzt ausnahmsweise einmal so.“

Agathe hatte sich widerstrebend von ihm mitziehen lassen, bis sie an einer Zelle angekommen waren, neben der es eine Fackel in der Halterung gegeben hatte. Hier hatte Basta sie endlich wieder losgelassen und Agathe hatte seine scharfen Konturen im Schein der schwachen Flammen erkennen können, zusammen mit der Tür, vor der sie jetzt standen.

„Sie ist dort drinnen?“, fragte Agathe mit missmutigem Blick auf die Tür, nachdem sie die Geschehnisse der letzten Minuten im Kopf noch einmal durchgegangen war – zeitgleich rieb sie sich die Stelle ihres Armes, die Basta eben noch gepackt gehalten hatte.

Er nickte. „Ich habe sie eingesperrt, bevor ich dich suchen gegangen bin.“

„Was genau willst du nun eigentlich von ihr?“, wollte Agathe wissen.

„Finde raus, ob sie uns helfen kann“, sagte Basta. „Du scheinst aus irgendeinem Grund unfähig zu sein, Capricorn alleine zurückzuholen. Sie hat aber auch mit Magie zu tun und könnte dir vielleicht helfen … wenn wir sie überzeugen.“ Die Art, wie er das sagte, gefiel Agathe nicht. Sie jagte ihr einen Schauer über den Rücken.

„Ich soll also mit ihr reden?“

„Ja.“

Agathe sah zerknirscht zu der gefährlich wirkenden Tür, ehe sie ergeben seufzte. Als sie nach der Türklinke griff, um die Zelle zu betreten, sah sie, dass Basta ihr dabei seltsam nah war. Irritiert fixierte sie ihn über die Schulter. „Willst du etwa mit rein?“

„Ich werde dich nicht noch einmal mit ihr alleine lassen“, knurrte er. „Es soll dieses Mal keine dummen Tricks geben. Und wo wir gerade dabei sind … wo hast du das Kreuz gelassen?“

„Aus dem Fenster geworfen“, antwortete Agathe ehrlich. „Ich habe es auf diese Weise entsorgt, während ich auf dich in meinem Zimmer gewartet habe.“ Seltsam, dass sie es als ihr Zimmer bezeichnete. Sie hatte bisher nur wenige Stunden darin verbracht, was für ihre Verhältnisse aber relativ viel war. Agathe war bisher noch nie so lange an einem anderen Ort als ihrer kleinen Welt geblieben. „Es könnte sein, dass die Wölfe es finden.“

Das Rudel war außerhalb der Festung geblieben und hatte sich irgendwo in der Nähe niedergelassen, um zu schlafen. Agathe fragte sich, wie lange der Zauber, den sie auf die Tiere gelegt hatte, überhaupt halten konnte.

Und ob sie ihn im Notfall noch einmal hätte einsetzen können.

„Geh jetzt rein“, befahl Basta.

Agathe gehorchte und stieß langsam die Tür auf. Drinnen wurden sie von derselben Dunkelheit begrüßt, die auch im restlichen Kerker herrschte und es sickerte gerade genug Licht durch die Tür, um die unscharfen Umrisse des Mädchens zu erkennen, das ihnen gegenüber auf dem Boden saß und sich zusammengekauert hatte. Sie lag in Ketten, wie Agathe kurze Zeit später erkannte.

„Bist du wach?“, fragte Agathe und machte einige Schritte in die Zelle.

Keine Antwort, keine Reaktion.

„Wir wollen dir nicht wehtun“, sagte Agathe dann augenblicklich, die das Spiel des Ignorierens bereits von Basta kannte und war froh, dass dieser keine Bemerkung zu ihren Worten abgab.

Dafür sprach jetzt aber das Mädchen. Sie sah Agathe direkt an, ihre Augen fingen ein wenig von dem schwachen Licht ein und glänzten durch die Dunkelheit. „Ach, was.“ Erstaunlich spöttisch, dafür, dass sie sich momentan vermutlich zu Tode ängstigen musste.

Seufzend strich Agathe ihre Haare zurück. „Ich weiß, dass das sicher nicht so auf dich wirkt, nachdem Basta dich gewissermaßen … hier her verschleppt und eingesperrt hat, aber es ist die Wahrheit. Das Ganze hatte nicht den Zweck, dir zu schaden.“

„Basta …“, murmelte das Mädchen und ließ ihren Blick aufmerksam zu dem Geist hinter Agathe wandern. „So heißt du also.“

„Mein Name ist Agathe“, sagte die Frau, froh, dass das Mädchen zumindest freiwillig mit ihnen sprach. Basta hätte sie am Ende ohnehin irgendwie dazu gebracht und es war besser, das alles ohne Gewalt klären zu können. „Dürfte ich auch deinen Namen erfahren?“

„Kiriaki“, sagte das Mädchen nach kurzem Zögern.

„Kiriaki“, wiederholte Agathe den Namen, so, wie sie es auch bei den Geistern tat, die sie rief. Es war eine alte Gewohnheit. „Darf ich fragen, woher du kommst?“

„Ich gehöre zu den Spielleuten.“

„Zu der Truppe des schwarzen Prinzen?“, fragte Basta.

Agathe sah ihn fragend an. Sie wusste nicht, von wem er sprach, Kiriaki hingegen aber schon. „Nein“, sagte sie widerwillig und drehte sich etwas von ihnen weg. Sie redete zwar mit ihnen, aber es war klar zu erkennen, dass sie es nur ungern tat. „Ich gehöre nicht zu seiner Truppe.“

„Zu wem sonst?“

„Die Anführerin meiner Gruppe heißt Athina. Wir sind gewissermaßen … Mädchen mit hellseherischen Talenten.“

„Wie viele seid ihr?“, fragte Agathe. Eine Gruppe Mädchen, die sich mit Magie auseinander setzten – das klang gut. Selbst wenn Kiriaki ihnen nicht helfen konnte, würde es jemand anderes aus ihrer Truppe bestimmt können. Das traf sich gut, denn Agathe hatte nicht vor, nur Basta seinen Nutzen aus der Gauklerin ziehen zu lassen.

Agathe fragte sich, ob Kiriaki ihr bei irgendeiner ihrer derzeitigen Fragen hätte helfen können – zumindest bei denen, die Bastas Beschwörung oder Ehtagas seltsames Verhalten betrafen. Sie hätte das Mädchen gerne gefragt und unter vier Augen mit ihr gesprochen, aber das würde Basta nicht mehr zulassen, nach der Geschichte mit dem Kreuz. Ganz sicher nicht.

Kiriaki schien im Kopf kurz zu zählen. „Mit mir sind es sieben“, murmelte sie, ehe sie eine Augenbraue hob. „Wieso … wieso wollt ihr das alles wissen?“

„Weil wir dir, wie gesagt, nichts Böses wollen“, erklärte Agathe. „Wir wollen lediglich eine Art Handel mit dir schließen.“

Kiriakis Ohren wurden spitz. „Einen Handel?“ Ihre Haltung wurde augenblicklich etwas gerader und Agathe konnte nicht sagen, ob es daran lag, dass sie interessiert oder erschrocken war.

„Ja.“

„Und worum soll es da bitte gehen?“

„Wir wollen jemanden aus dem Reich der Toten zurück holen“, sagte Basta.

Kiriaki starrte fragend zwischen den beiden hin und her. „Dass scheint Agathe aber auch ganz gut ohne mich hin bekommen zu können“, meinte sie dann langsam, bevor sie Basta ansah. „Du siehst für mich sehr lebendig aus.“

Bildete Agathe sich das nur ein, oder hatte Kiriaki diese Worte mit … Nachdruck gesprochen? Wusste sie etwas? Agathe starrte das in Ketten gelegte Mädchen vor sich an, aber Kiriaki merkte davon scheinbar nichts. Momentan gehörte das meiste ihrer Aufmerksamkeit Basta.

„Das Problem ist nur, dass es bei der Person, die wir zurückholen wollen, aus irgendeinem Grund nicht so funktioniert, wie bei allen anderen“, erklärte Agathe, aber nur, weil sie hoffte, den Blick des Mädchens durchs Sprechen wieder auf sich lenken zu können. Als Kiriaki dann tatsächlich zu ihr guckte, versuchte Agathe ihr mit den Augen mitzuteilen, dass sie mit ihr sprechen musste, aber bei dieser Dunkelheit hätte das Mädchen es von vorne rein nicht sehen können. „Wir müssen wissen, ob du vielleicht einen Weg … einen anderen Weg kennst, mit dem wir es versuchen könnten.“

„Hmm.“ Kiriaki ließ sich wieder gegen die Wand fallen, die rostigen Ketten an ihren Hand- und Fußgelenken klirrten nervend. Sie wirkten so alt, dass Agathe sich bereits fragte, wieso sie nicht einfach zerbröselten. „Wie stellt ihr euch das vor?“, fragte Kiriaki schließlich.

Agathe räusperte sich. „Ich weiß auch nicht. Gibt es vielleicht einen Fluch, der wirksamer wäre?“

„Flüche funktionieren bei der Beschwörung von Geistern alle gleich“, entgegnete Kiriaki sicher. „Wenn einer nicht funktioniert, wirkt auch kein anderer.“

„Hast du einen anderen Vorschlag?“, fragte Agathe und legte eine Hand in die Hüfte.

„Nein“, antwortete Kiriaki etwas zu schnell, ehe sie ihren Kopf zur Seite drehte, um die beiden nicht weiter ansehen zu müssen. „Und selbst wenn ich welche hätte, würde ich sie keinem von euch verraten. Ich habe nichts davon.“

„So würde ich das nicht ausdrücken“, meinte Basta lässig. Agathe befürchtete kurz, er hätte zu Kiriaki gehen können, um sie zu schlagen, aber er griff sich nur in die Hosentasche. Agathe hörte etwas wie Klimpern, ehe er plötzlich einige Goldmünzen herausholte. Es waren nicht viele, aber genug, um eine Zeit lang davon leben zu können.

Sowohl Agathe, als auch Kiriaki starrten das Geld an.

„Wo hast du das her?“, fragte Agathe erstaunt. Sie selbst trug ebenfalls einige Reichtümer mit sich, die sie von Zuhause mitgenommen hatte, als sie vor dem Verlassen ihres Hauses alles Wertvolle eingesammelt hatte, aber wie kam ein Geist an so etwas? Geister interessierten sich nicht für materiellen Besitz, niemals.

„Capricorn hatte noch einige versteckte Geldkammern, die man zu meinem Glück selbst über die vielen Jahre nie gefunden hat“, lachte Basta und hielt seine Hand so, dass Kiriaki sie gut sehen konnte. „Und dort, wo die hier herkommen, gibt es noch viel mehr.“ Basta setzte ein hinterhältiges Grinsen auf, während er seinen Blick abwertend über Kiriaki schweifen ließ. „Jetzt einmal ganz ehrlich – du bist doch ein Waisenkind, habe ich recht?“

Darauf antwortete Kiriaki nur mit verdutztem Schweigen.

„Diese Athina, oder wie auch immer deine Anführerin hieß“, fuhr Basta fort, „schert sich mit großer Wahrscheinlichkeit nicht im Geringsten um dich. Du bist ihr nur so viel wert, wie du ihr einbringst.“ Er schloss seine Finger und versteckte die Hand wieder in seiner Hosentasche, um Kiriakis Aufmerksamkeit auf sich selbst zu lenken, als er hämisch lächelte. „Und jetzt stelle ich mir die Frage, ob du es dir ohne diese Münzen in meiner Hand leisten könntest, bei ihr aufzutauchen.“

„Du wertloses Stück Dreck!“, zischte Kiriaki plötzlich und funkelte ihn so böse an, wie Agathe es noch nie bei einem Kind gesehen hatte – geschweige denn für möglich gehalten hätte. „Was weißt du denn schon, du Abschaum?“

Basta gingen ihre Beleidigungen nicht besonders nahe, nicht im Geringsten. Er verschränkte die Hände vor der Brust und zog eine Augenbraue in die Höhe. „Du willst mich also vom Gegenteil überzeugen?“

Daraufhin presste Kiriaki wütend die Lippen zusammen.

„Anscheinend nicht“, bemerkte Basta trocken. „Also. Da du jetzt weißt, was du bekommen könntest, wenn du uns hilfst – wärst du bereit, noch einmal darüber nachzudenken, ob es andere Wege gibt?“

Kiriaki nahm sich recht viel Zeit, um zu überlegen. Mit abwesendem Gesichtsausdruck fuhr sie sich durch das wirre Haar, ihr Zopf hatte sich gelöst, aber die Blumen waren immer noch darin eingeflochten. Sie wirkte sehr dreckig, wie Agathe jetzt auffiel – die Frau wusste aber nicht, ob es auch schon so gewesen war, bevor das Mädchen hier unten einige Zeit verbracht hatte. Sie erinnerte sich nicht. „Es gibt einen Weg“, sagte Kiriaki nach einer Zeit kleinlaut und fasste mit einem Finger sacht an ihre Unterlippe, während sie nachdachte.

„Tatsächlich?“, schnurrte Basta amüsiert – kein Stück überrascht darüber, dass Kiriaki ihnen bei der Erwähnung von Geld endlich sagte, was sie wissen wollten.

Kiriaki hörte die Belustigung in seinem Ton und schenkte ihm einen hasserfüllten Blick. „Es gibt, sobald ich weiß, ein Amulett, das euch helfen könnte.“

„Ich hoffe du sprichst nicht von einem der Steine, die du um deinen Hals trägst“, meinte Basta abfällig.

Kiriakis Blick wurde – falls das überhaupt möglich war – noch etwas dunkler. „Nein“, brach sie zwischen zusammengepressten Zähnen hervor, sichtlich um Selbstbeherrschung ringend. „Aber ich wüsste, wo man es auftreiben kann.“

„Was ist das für ein Amulett?“, fragte Agathe, die eine Weile nichts gesagt hatte.

Kiriaki begann, ihre Finger zu verknoten. „Mit seiner Hilfe kannst du mit deinem Geist an die Grenze des Todesreiches wandern. Wenn du Glück hast, triffst du dort die weißen Frauen und kannst mit ihrer Hilfe die Grenze überschreiten und nach der Person suchen, die du gerne zurückholen würdest.“

Agathe hatte aus dem Augenwinkel mitbekommen, wie Basta bei Erwähnung der weißen Frauen leicht zusammengezuckt war und fragte sich, was er mit ihnen zu tun hatte. Sie selbst hatte zwar schon viel von ihnen gehört, war ihnen aber bei keinem ihrer Spielchen mit Magie jemals begegnet.

„Und das funktioniert?“, fragte sie.

„Es gibt keine Garantie, dass du die weißen Frauen auch triffst, wenn du deinen Geist an die Grenze schickst“, sagte Kiriaki. „Sie müssen dich auch nicht unbedingt hinüberführen, aber einen Versuch ist es wert.“

„Wir werden ja sehen, ob das wirklich etwas bringt“, schnaubte Basta. „Wie lange wird es dich denn kosten, dieses Amulett aufzutreiben?“

Wieder vergingen ein paar stille Sekunden, in denen Kiriaki über ihre Antwort nachdenken musste, dabei spielte sie selbstvergessen mit einer ihrer Haarsträhnen. Hin und wieder erwischte Agathe sie auch dabei, wie sie ihre Augen zu Bastas Hosentasche wandern ließ, dorthin, wo die Münzen lagen. „Ich bin mir nicht sicher. Ein paar Tage auf jeden Fall.“

„Mehr sollte es nicht sein“, stellte Basta klar und fuhr sich durch das dunkle Haar. „Ich habe nicht vor, ewig zu warten.“

Ich auch nicht, fügte Agathe im Stillen hinzu, der plötzlich ein Gedanke gekommen war. Vielleicht musste sie ja gar nicht herausfinden, was das Geheimnis hinter Bastas Beschwörung war. Vielleicht wäre es ja sogar irgendwie möglich, den Geist ihrer Mutter einfach an der Hand zu nehmen und sie gemütlich aus dem Todesreich zu führen, wenn das Amulett, von dem Kiriaki redete, auch tatsächlich hielt, was es versprach.

„Du wärst also bereit, uns zu helfen?“, fragte sie noch einmal zur Sicherheit.

Das Mädchen zuckte die Schultern. „Gegen Bezahlung? Natürlich.“

„Ich hoffe aber, du nimmst es mir nicht übel, wenn ich dir das Geld erst gebe, sobald du deine Aufgabe erfüllt hast“, sagte Basta und zwinkerte Kiriaki zu, als sie ihn wütend anfunkelte. „Nur, um sicher zu gehen.“

„Das … wird kein Problem sein“, murmelte Kiriaki kleinlaut, nachdem sie ihren Ärger geschluckt hatte und ließ die Schultern etwas hängen. „Ich werde sehen, was sich bei der Suche nach dem Amulett machen lässt und kehre zurück, sobald ich es habe – aber danach …“ Sie hob den Kopf und sah zwischen den beiden hin und her. „Nachdem ich es euch gegeben und ihr mich bezahlt habt, müsst ihr versprechen, mich in Ruhe zu lassen. Keiner von euch wird mir folgen oder sonst etwas Ähnliches unternehmen.“

„Klingt gut für mich“, hörte Agathe Basta sagen und als sie ihn ansah, bemerkte sie neben dem zufriedenen Lächeln das dunkle Flackern in seinen Augen, die Freude, die er bei der Aussicht auf Capricorns Rückkehr verspürte. „Dann sind wir im Geschäft.“

- Kapitel 16 -

 

Erst, nachdem Kiriaki von den Ketten befreit worden und gegangen war, war es Agathe endlich möglich gewesen, nach oben in ihr Zimmer zu gehen und zu schlafen. Sie war so erschöpft gewesen, dass sie nur wenige Sekunden, nachdem sie sich mit all ihren dreckigen Kleidern auf das Bett gelegt hatte, in den Schlaf gedriftet war. Nicht einmal die Schuhe hatte Agathe sich ausgezogen, hatte sich nicht zugedeckt, aber sie war zu müde gewesen, um das wirklich wahrzunehmen.

In ihrer Verfassung hätten ihr ein paar Stunden Ruhe gut getan – und während ihr Körper genau das bekam, musste ihr Geist bloß weiteren Stress über sich ergehen lassen, als sie sich plötzlich wieder in Ehtagas Raum vorfand.

Kaum hatten Agathes Füße den Boden des dunklen Zimmers erreicht, legte sie den Kopf in den Nacken und stöhnte gequält auf. „Nein“, jammerte sie. „Wieso bin ich schon wieder hier?“

„Für mich ist es auch immer wieder ein Vergnügen, dich hier zu haben“, bemerkte Ehtaga mit einem liebenswerten Lächeln und sarkastischem Unterton.

„Jedes Mal, wenn ich etwas Entspannung will, lande ich bei dir, aber während ich alleine im Wald war und Ablenkung gebraucht hätte, hast du mich ohne deine Anwesenheit schlafen lassen“, beklagte Agathe sich.

Ehtaga hob abwehrend die Hände. „Beschwer dich jetzt bitte nicht bei mir, dass du mal wieder hier gelandet bist. Dich hat keiner gezwungen, mitten am Tag zu schlafen.“

„Aber auch nur, weil Basta und ich die letzte Nacht über durchgelaufen sind – das weißt du ganz genau!“, murrte Agathe schlechtgelaunt und hätte nichts liebe getan, als sich von diesem Traum zu lösen.

Sie war sich sicher, so schrecklich wie noch nie auszusehen, aber als sie Ehtaga musterte, stellte sie fest, dass ihr Spiegelbild sich ihr nicht angepasst hatte. Ehtaga sah immer noch schön aus, mit gepflegten und gekämmten Haaren, ordentlichem Kleid und gewaschener Haut: Genau so, wie Agathe ausgesehen hatte, bevor Basta sie verschleppt hatte.

Als würde sich ihr Spiegelbild weigern, genauso hässlich wie sein Besitzer auszusehen.

Ehtaga zuckte grinsend die Schultern. „Tja.“ Und mehr kam nicht – was keine Überraschung darstellte, da Agathe inzwischen wusste, was für ein gehässiges Ding ihr Ebenbild sein konnte.

Dieser Teil von ihr, der tief in ihrem Inneren versteckt war.

Das erinnerte sie an etwas …

„Na ja, aber da ich ohnehin hier bin, kann ich auch direkt mit dir reden“, gähnte Agathe und rieb sich den Schlaf aus den Augen. „Das hatte ich sowieso in der nächsten Zeit vor.“

Ehtaga legte den Kopf schief. „Hmm?“

„Du weißt, was ich meine.“

„Nicht wirklich.“ Ehtaga stand mit verschränkten Händen da und wartete mit neugierigem Gesichtsausdruck darauf, dass Agathe fortfuhr.

„Ich meine die Sache mit den Wölfen“, zischte Agathe. „Ich habe deine Stimme gehört. Du hast mir einen Fluch zugesprochen, den ich noch nie zuvor gehört habe.“

„Ou“, machte Ehtaga und ließ ihre Hände langsam sinken, ehe sie den Mund verzog. „Das.“

„Ja“, sagte Agathe. „Erklär es mir. Bitte.“ Sie schluckte. „Und bleib ernst, denn … das Ganze macht mir Angst und ich wäre dir dankbar, wenn du ausnahmsweise mal nicht vollkommen gegen mich wärst.“

„Ich bin nicht gegen dich.“ Ehtaga strich sich durch das schwarze Haar. „Es macht nur überraschend viel Spaß, dich zu ärgern.“

„Heute aber nicht. Lass es sein.“ Agathe hörte selbst, wie müde sie klang. „Also, jetzt zur Sache – was hat es sich mit diesem Fluch auf sich?“

Ehtaga seufzte. „Wie soll ich es dir erklären …“

„Fang irgendwie an. Ich hör schon zu.“

Ehtaga spielte mit einer ihrer Haarsträhnen herum, dabei war ihr Blick stur an den Boden geheftet. „Du hast mich nie gefragt, was ich eigentlich bin“, sagte sie dann plötzlich.

Agathe verstand, was sie meinte. „Als ich die ersten paar Male bei dir gelandet bin, dachte ich, du wärst bloß ein Traum. Später habe ich mich an dich gewöhnt und in gewisser Weise vergessen, mich wirklich zu erkundigen. Ich habe mich lediglich darauf verlassen, dass du mein Spiegelbild bist und aus dem Grund existierst, weil ich begonnen hatte, Magie zu praktizieren.“

„So leicht ist es nicht.“ Ehtaga wirkte plötzlich ganz schön ernst. „Ich bin etwas wie dein wahres Ich. Das Ich, dass in deinem Inneren gefangen gehalten wird und nicht nach draußen gelangen darf, um vor der Außenwelt geschützt zu sein.“

„Wie soll ich das verstehen?“, fragte Agathe mit gerunzelter Stirn.

„Du hast dich selbst auch nie gefragt, woher dein Interesse für Magie eigentlich kommt“, flüsterte Ehtaga, ohne auf Agathes Frage zu antworten. Dann lachte sie leise. Es war ein spöttisches Lachen. „Denkst du, es war purer Zufall, dass ausgerechnet du, mit all deinen Eigenarten, eine Leidenschaft für die dunklen Mächte entwickelt hast?“

Als Agathe nichts sagte, nahm Ehtaga das als Aufforderung, fortzufahren.

„Man hat uns Erinnerungen geschenkt, Agathe“, sagte Ehtaga sachlich. „Irgendwer – eine Hexe oder Hexer – hatte Wissen über Magie, das er aus irgendeinem Grund weder behalten konnte, noch ganz verlieren durfte. Jemand hat sich lange mit Magie befasst und musste sein Wissen auf eine andere Person übertragen – Jemand hat seine Erinnerungen auf uns übertragen, als wir geboren wurden und seitdem muss ich mit ihnen hier leben.“ Sie wies um sich. „Eingesperrt in diesem Raum.“

„Wieso bist du eigesperrt?“

„Dieser Spiegel“, sagte Agathe und trat an die reflektierende Wand, die sie voneinander trennte, „ist eine Art Siegel. Er sperrt die Erinnerungen, die man uns geschenkt hat, hier ein, damit sie nicht an die Außenwelt gelangen. Genauso wichtig ist es aber, nicht nur die Erinnerungen, sondern auch den Körper, der sie aufbewahrt, zu schützen, weswegen auch alle menschlichen Empfindungen wie Kontaktfreudigkeit oder Zuneigung zusammen mit dem auf uns übertragenen Wissen hier eingesperrt wurden. Man wollte dich von anderen Menschen fernhalten und isolieren, damit dir nichts passieren kann … was ja auch geklappt hat.“ Hörbar stieß Ehtaga die Luft aus.

Agathe trat zögernd an den Spiegel. „Und du bist also … die Person, die ich geworden wäre, wenn dieser Spiegel nicht da wäre?“, fragte sie trockener Kehle. Ein Knoten schien sich in ihrer Brust zu bilden. „Du bist meine wahre Persönlichkeit?“

Plötzlich ergab alles so viel Sinn … Ehtaga war schon immer völlig anders gewesen, als Agathe. Sie hatte immer das Zimmer in ihrem Elternhaus gehasst, in dem Agathe so viel Zeit verbracht hatte. Sie hatte es immer genossen, anderen Menschen zu begegnen und wünschte sich sogar einen Mann für Agathe, während diese vor lauter Berührungsängsten kaum Anwesenheit anderer ertragen konnte.

Das war einfach unglaublich. Es machte Agathe fast wütend, dass Ehtaga erst jetzt mit der Sprache rausrückte. Wäre sie in diesem Moment nicht so schläfrig gewesen, hätte sie sie mit Sicherheit sogar angeschrien.

„Ich bin nicht deine ganze Persönlichkeit“, erklärte Ehtaga und schenkte ihr, zum ersten Mal seit sie sich kannten, ein freundliches Lächeln, das aber fast ein wenig traurig wirkte. „Jeder Mensch hat mehrere Seiten und ich bin bloß eine davon. Ein Teil von dir, der von diesem Ding gefangen gehalten wird.“ Wütend trat Ehtaga gegen den Spiegel, aber das bewirkte gar nichts.

„Ich fasse es nicht.“ Agathe legte ihre Hand an die glatte Oberfläche des Spiegels. „Du willst mir also wirklich erzählen, dieses Ding ist für meine Berührungsängste verantwortlich?“

„Es hält dein Verlangen nach Gesellschaft hier gefangen, damit du nie den Wunsch verspürt hättest, unter Leute zu gehen“, sagte Ehtaga. „Zusammen mit den Erinnerungen.“

„Was für Erinnerungen sind das?“, wollte Agathe wissen, deren Kopf zu pochen begann. Langsam aber deutlich kündigten sich Kopfschmerzen an. „Wem gehören sie?“

Ehtaga schüttelte den Kopf. „Das weiß ich nicht“, gestand sie, die Stirn in Falten gelegt. „Ich kann mich nicht erinnern.“

Agathe kam ein Gedanke, der sie zittern ließ. „Hatte es etwas mit dem Mann zu tun, der Mutter ermordet hat?“, fragte sie mit zitternder Stimme. „Ist das der Grund für ihren Tod? Wollte er sich die Erinnerungen zurück holen und hat sie dann umgebracht, weil wir nicht da waren?“ Der Gedanke tat irgendwie weh und Agathe hätte sich die Haare ausreisen können, als Ehtaga die Schultern zuckte.

„Ich weiß es wirklich nicht.“

„Verdammt, Ehtaga! Warum hast du mir das alles nicht schon viel früher erzählt?!“

„Was hätte es denn gebracht?“, fragte Ehtaga bockig und stemmte eine Hand in die Hüfte, mit der anderen wies sie auf den Spiegel vor sich. „Dieses Ding wäre immer noch hier und ich dahinter gefangen, ganz egal, was du weißt.“

„Vielleicht können wir ihn irgendwie brechen“, sagte Agathe und betrachtete die hauchdünne Wand. Sie wirkte so zerbrechlich, hatte aber über Jahre gehalten. Agathe durfte sich nicht täuschen lassen. Der Zauber vor ihr war mächtiger, als es vielleicht zuerst schien.

„Und wie?“

„Ich weiß es nicht. Möglicherweise weiß Kiriaki ja etwas darüber …“, dachte Agathe laut nach.

„Die Kleine?“ Ehtaga hob eine Augenbraue. „Ich weiß ja nicht.“

„Sie kennt sich besser aus, als man zu Beginn denkt. Nicht nur, dass sie dieses Kreuz bei sich hatte – sie hat Basta gesehen, obwohl er für sie hätte unsichtbar sein müssen“, warf Agathe ein. „Ich sehe ihn, weil ich ihn gerufen habe. Sie hätte ihn nicht gesehen, wenn sie keine besonderen Fähigkeiten besitzen würde.“

„Wenn du meinst …“, murmelte Ehtaga unentschlossen.

„Wenn du zusammen mit den Erinnerungen hier eingesperrt bist“, sagte Agathe, „kannst du mir nicht einfach einen Fluch verraten, mit dem man diese Barriere hier brächen könnte?“, fragte Agathe. „Der Zauberer, der sie auf uns übertragen hat, wird sicher einen gewusst haben.“

Ehtaga schüttelte erneut bedauernd den Kopf. „Das geht nicht. Ich kann auf die ganzen Flüche und Zauber, die in den Erinnerungen stecken, nicht zugreifen. Es ist, als … als würde mein Kopf sofort leer gefegt werden, sobald ich versuche, daran zu denken.“

Agathe kaute nachdenklich auf ihrer Lippe herum. „Aber du hast mir doch den Fluch für die Wölfe verraten“, sagte sie.

„Es war eine Panikreaktion“, gestand Ehtaga. „Diese Tiere hätten uns umbringen können und in meiner Angst sind die Wörter plötzlich nur so aus mir raus gekommen. Ich hätte nicht einmal gedacht, dass du mich außerhalb dieses Raumes hören könntest.“

„Also gibt es Wege, diese Barriere zu überwinden“, dachte Agathe wieder laut und musterte den Spiegel, der bis zur Decke reichte. „Zum Beispiel mit starken Gefühlen wie Angst.“

„Hilft dir das irgendwie weiter?“

„Ich frage mich gerade, ob es mit Wut oder Glück funktionieren könnte. Immerhin sind das auch ganz schön starke Gefühle … Die man relativ leicht wecken kann.“

Ehtaga sagte dazu nichts.

„Denkst du, es würde etwas bringen, wenn ich meine Berührungsängste selbstständig überwinde?“, fragte Agathe aus dem Nichts heraus, nachdem ihre Gedanken in diese Richtung geflogen waren. Jetzt, wo sie wusste, woher ihre seltsame Art kam und wieso sie eigentlich so war, wie sie war, betrachtete sie ihr Leben rückblickend aus ganz anderen Augen.

Agathe hatte selbst nie so recht verstanden, was mit ihr los war. Wieso sie sich so merkwürdig verhalten hatte, so anders, als alle anderen – sie hatte nur gewusst, dass diese Ängste vor der Welt außerhalb ihres Zimmers real und sehr heftig gewesen waren.

Sie fragte sich zum ersten Mal, wie ihr Leben ohne sie hätte aussehen können.

Ehtaga legte den Kopf schief und blinzelte mit den grünen Augen. „Selbstständig deine Berührungsängste überwinden?“

„Du bist der Teil von mir, der die Gesellschaft anderer genießt – aber du bist eingesperrt. Wenn es mir gelingt, über meinen Schatten zu springen und … mich irgendwie an die Berührungen von anderen zu gewöhnen“, brach Agathe Wort für Wort heraus, die allein bei dem Gedanken Brechreiz gepackt wurde, „wäre es doch möglich, dich hier raus zu schaffen. Dieser Spiegel könnte dich nicht mehr halten, wenn es mir erst einmal gelingt, mein Verlangen nach anderen ohne Magie an die Oberfläche zu bringen.“

„Dass die in mir versigelten Erinnerungen diesen Ort dann aber auch mit mir verlassen können, kann uns keiner versichern …“, murmelte Ehtaga. Und dann, nach einem Moment der Stille, fragte sie kleinlaut: „Du denkst, es wäre möglich für mich, endlich hinauszukönnen?“

Agathe wäre bei dem flehentlichen Tonfall in Ehtagas Stimme fast zurückgeschreckt, so hatte sie ihr selbstbewusstes Spiegelbild noch nie erlebt. „Nun … ich weiß nicht“, gestand sie, etwas verwirrt über Ehtagas Verhalten. „Du weißt selbst, wie stark meine Probleme sind. Ich bin mir nicht sicher, ob ich sie ohne weiteres überwinden kann.“ Sie leckte sich über die trockenen Lippen. „Aber ich werde es versuchen“, fügte sie hinzu, nachdem sie Ehtagas selbstvergessenen Blick bemerkt hatte.

Ehtaga nickte, in Überlegungen versunken. „M-hm.“

Agathe musterte ihr Spiegelbild und die Art, wie verloren sie in diesem Augenblick da stand, ehe sie sich ernsthaft fragte, ob Ehtaga etwas wie Einsamkeit empfinden konnte, ganz allein in diesem Raum … Agathe versuchte, den Gedanken bei Seite zu schieben und rieb sich die Augen.

Sie war immer noch müde und schläfrig.

„Wie gesagt, ich werde mein Bestes geben“, gähnte sie. „Aber jetzt will ich schlafen. In Ruhe, allein. Ich habe gerade viel erfahren und brauche etwas Zeit, um es zu verarbeiten. Kannst du mich … ohne deine Anwesenheit weiter schlafen lassen?“

„Natürlich“, flüsterte Ehtaga ohne weitere Worte. Sie entfernte sich wieder ein paar Schritte vom Spiegel und mit einem Mal glaubte Agathe, etwas wie Mitleid für ihr Gegenüber zu empfinden, bis sie begriff, dass das, was sie da fühlte, nichts weiter als Selbstmitleid sein konnte.

Sie schluckte das Gefühl hinunter. „Danke.“

Wieder begann sie Decke über ihnen, geräuschlos in sich zusammen zu brechen, als Ehtagas Raum sich auflöste. Agathe würde ihn verlassen, sobald er endgültig verschwunden war und sich wieder einem traumlosen Schlaf widmen können, aber zuerst …

„Ehtaga?“, sagte sie, als sie Decke schon zur Hälfte verschwunden war. Dahinter entdeckte Agathe keinen Himmel, sondern ein schwarzes, leeres Nichts.

„Ja?“

„Dafür, dass du all die Jahre lang gewusst hast, dass ich nichts für meine Berührungsängste kann“, sagte Agathe langsam und mit einem Schatten auf dem Gesicht, „hast du mich ganz schön oft dafür verurteilt.“

„Ja“, gab Ehtaga zu und starrte quer durch den Raum zu ihr herüber. Ihre Gestalt begann bereits, sich zusammen mit dem Zimmer vor Agathes Augen aufzulösen. „Und?“

„Nichts“, winkte Agathe träge ab, bevor der Boden begann, unter ihren Füßen nachzugeben. „Ich wollte es nur mal gesagt haben.“

- Kapitel 17 -

Als Agathe Stunden später aufwachte, war es draußen immer noch hell und die Sonne sickerte durch das Fenster, das eigentlich nur noch ein unförmiges Loch in der Wand war. Agathe blinzelte ins Licht und streckte sich genüsslich auf dem Bett, bis sie bemerkte, dass es nicht ihres war. Erst, als sie sich verdutzt umblickte, erkannte sie, dass sie in Capricorns Burg war und erinnerte sich wieder an alles.

An ihren Handel mit Kiriaki, den sie erst heute Morgen geschlossen hatten – vor allem aber an ihren Besuch bei Ehtaga, während sie geschlafen hatte.

„Was für ein Mist“, fluchte Agathe leise und setzte sich auf. Sie trug noch an ihre Kleidung und lag nicht unter, sondern auf ihrer Decke, wie sie feststellte. Das war aber nicht die einzige Erkenntnis, die in ihren Kopf kam, nachdem nach und nach die Erinnerung an ihr Gespräch mit Ehtaga zurückkehrte.

Jemand, der sich lange mit Magie befasst hatte, hatte seine Erinnerungen in Agathe eingeschlossen, um sie nicht bei sich zu haben, aber auch nicht zu verlieren. Damit Agathe, die so einen Schatz in ihrem Unterbewusstsein mit sich herumschleppte, nichts widerfuhr und sie sich aus allen Gefahren raushielt, hatte man auch noch einen Fluch über sie gelegt, der sie ängstlich und scheu hatte werden lassen: Ehtaga, der Teil ihrer Persönlichkeit, der diesen Eigenschaften nicht entsprach, war in ihrem Inneren weggesperrt worden, zusammen mit den Erinnerungen, die sie bewahren musste.

Recht schwerer Stoff für eine Person, die gerade erst aufgewacht war.

Agathe schwang ihre Beine über die Bettkante und setzte sich hin, das Gesicht vergrub sie in den Händen. Sie fühlte sich, als hätte man sie mehrmals in den Magen geschlagen – sie konnte immer noch nicht recht glauben, dass das alles wirklich stimmen sollte, aber es ergab einfach zu viel Sinn, um es als Unsinn abzustempeln. Es erklärte einfach zu viel: Ehtaga und den Raum, in dem sie lebte … Agathes Interesse für Magie, das sie in einem Alter von sechzehn entwickelt hatte … Selbst ihre Berührungsängste.

Es war zu viel.

Überfordert seufzte Agathe und erhob sich schwerfällig von dem alten Bett, das unter ihrem Gewicht quietschte. Es war in einem so schlechten Zustand, dass Agathe sich wunderte, wie es nicht hatte zusammen brechen können, als sie sich vorhin müde darauf geworfen hatte.

Neben dem Quietschen des Bettes gab es da noch ein anderes Geräusch – das Knurren von Agathes Magen. Peinlich berührt fasste Agathe an ihren Bauch und überlegte, wie lange es nun her war, dass sie nichts gegessen hatte.

Sie brauchte Nahrung, wenn sie nicht wollte, dass sie jeden Moment einfach zusammenbrach. Nach kurzem Zögern entschied Agathe sich, das Zimmer zu verlassen und nach unten zu gehen. Kaum hatte sie die Treppe hinter sich gelassen und war im Eingangsbereich der Festung angekommen, sah sie nicht weit von Ausgang entfernt Basta auf dem Boden sitzen, in der Hand hielt er einen der Gegenstände, die er für Capricorns Beschwörung gesammelt hatte. Neben ihm lag der Rest, während er den Dolch zwischen seinen Fingern hin und her gleiten ließ, der Blick trübe.

Ein trauriger Anblick.

„Weißt du, wo das Rudel ist?“, fragte Agathe ihn.

Er schien sie bisher nicht bemerkt zu haben, denn als sie sprach, sah er überrascht auf. „Ich dachte, du schläfst“, meinte er.

„Habe ich bis eben auch getan“, murmelte sie. „Also, das Rudel.“

Er nickte mit dem Kopf zum Ausgang. „Ist immer noch draußen vor der Tür.“ Als Agathe sich aber auf den Ausgang zubewegte, spannte Basta sich sichtlich an. „Wo willst du denn hin?“

„Ich will sehen, wie weit der Zauber, den ich über die Wölfe gelegt habe, noch wirkt“, sagte Agathe. „Und ob man sie durch ihn kontrollieren kann. Sie müssen für mich jagen.“

„Wieso?“

„Weil es Tage her ist, seit ich etwas zu mir genommen habe“, sagte Agathe und hoffte, nicht allzu weinerlich zu klingen. Mit Hunger konnte sie leben, das war kein Problem für sie. Dreck auch, genauso wie Kälte. Nur musste sie eben aufpassen, dass sie sich nicht umbrachte. „Ich bin am Verhungern.“

Basta erhob sich leise vor sich hin fluchend vom Boden, dabei steckte er den Dolch ein. Agathe beobachtete ihn dabei mit eingeschüchterten Augen. Wenn er jetzt noch begann, eine Waffe bei sich zu tragen …

„Na gut, dann lass uns gehen und sehen, was sich da machen lässt“, knurrte er, ehe er die Festung verließ. Agathe folgte ihm eilig. Hatte sie sich verhört oder klang er verstimmt?

Erst jetzt kam ihr wieder in den Sinn, dass er zornig auf sie war. Er hatte zwar versprochen, sie nicht zu bestraffen, was aber noch lange nicht hieß, dass seine ganze Wut auf sie verraucht war. Agathe würde das bei Gelegenheit wieder hinbiegen müssen, wenn sie sich eine schlimme Zeit mit ihm ersparen wollte, während sie auf Kiriakis Rückkehr warteten.

„Sie sind wirklich noch hier“, stellte Agathe fest, als sie Basta nach draußen gefolgt war und das Rudel erblickte, das nicht weit entfernt im Gras lag und sich im Licht sonnte. Die Tiere schienen entspannt zu sein und wirkten gelassen – ganz anders als gestern bei ihrem Vorhaben, Agathe zu zerfleischen.

Die Frau schluckte.

„Und was hast du jetzt vor?“, wollte Basta von ihr wissen. Er stand neben Agathe und betrachtete die Wölfe so, als sei er sich unsicher, was er von ihnen halten sollte, so harmlos, wie sie jetzt wirkten.

Agathe ließ ihre Augen über das Rudel wandern, bis sie den Führer erblickte. Es dauerte nur Sekunden, bis er den Kopf ebenfalls in ihre Richtung schwang und sich ihre Blicke trafen. In diesem Moment gab Agathe sich größte Mühe, alle ihre Gedanken auf die Jagd zu richten. Sie dachte an wilde Tiere im Wald, an Fleisch und an Hunger, der sich durch ihren Magen fraß.

Sofort rappelte sich der Rudelführer auf und brach den Augenkontakt ab, ehe er davon schlenderte. Die restlichen Tiere bemerkten, dass er gehen wollte und standen ebenfalls auf, um ihm zu folgen. Agathe sah ihnen nach, als sie sich in Richtung Wald bewegten und musste sich ein Lächeln verkneifen, nachdem die Tiere zwischen den Bäumen verschwunden waren.

Ob ihr Plan aufgehen würde, würde sich erst später zeigen, aber für den Moment durchfloss sie eine kleine Welle von Hoffnung.

„Was hast du gemacht?“, fragte Basta, der den Jägern ebenfalls mit den Augen gefolgt war.

„Ich habe ihnen in gewisser Weise befohlen, zu jagen.“

„Ohne ein Wort?“

„Ich habe daran gedacht. An die Jagd, an Tiere. Und an Hunger.“ Sie fasste sich wieder an ihren Magen.    

„Und du glaubst, sie werden dir tatsächlich helfen?“

Agathe zuckte die Schultern.

Basta stieß etwas wie ein Schnauben aus und drehte sich um, eine Hand lässig in seine Seite gestützt. „Bis sie wieder da sind, will ich trotzdem, dass du dich in der Festung aufhältst“, sagte er zu ihr und Agathe erwiderte nichts, als sie zurück zur Burg schlenderten.

Agathe tat, was er ihr sagte und blieb drinnen, hatte aber entschieden, ihre Zeit nicht mehr zu verschwenden. Nachdem sie nicht nur die Zimmer von Capricorns Leuten, sondern auch die Küche und ein paar andere Räume durchsucht hatte, war es ihr gelungen, einige nützliche Dinge zusammenzutreiben, die sofort in ihre Tasche wanderten – dazu gehörten eine Nadel und Faden, ein zwar abgestumpftes, aber trotzdem brauchbares Messer, ein Küchentuch, ein Seil und ein Kamm.

Über das Letztere war Agathe erstaunlich froh gewesen, denn nach ein paar Tagen im Wald hatten ihre Haare dicken Knoten bekommen. Es hatte ein wenig gedauert, sie zu lösen, aber als Agathes Haare glatt und gepflegt über ihre Schultern fielen, wusste sie, dass es das wert gewesen war. Sie band sie nicht mehr zusammen, sondern ließ sie offen, schnitt sie mit dem Messer aber ein wenig kürzer, damit es in Zukunft nicht weiter zu solchen Unannehmlichkeiten kommen würde.

Als nächstes bearbeitete sie mit der Nadel die Hose und das Hemd, das sie am Körper trug, damit sie ihr nicht länger zu groß waren. Da außer Basta sie ohnehin niemand hier sehen würde, entschied Agathe sich, weiterhin die Männerkleidung anzubehalten, statt in ihr Kleid zu wechseln.

Am Ende ihrer Arbeit betrachtete Agathe sich in einem zerbrochenen Spiegel in einem der verlassenen Räume, die sie heute durchsucht hatte. Sie sah zwar nicht mehr so aus, wie zu den Zeiten, in denen sie noch bei sich Zuhause gelebt hatte, aber dennoch besser, als nur Stunden zuvor. Die schwarzen Haare waren nun gemacht und wirkten sauber, den Dreck hatte sie sich mit dem Küchentuch von der Haut gerieben und die Kleidung passte ihr endlich, nachdem sie sie sich zurecht genäht hatte.

Agathe, der von ihrer Mutter beigebracht worden war, sich stets nur von ihrer besten Seite zu zeigen, fühlte sich gleich viel wohler. Es war eine Weile vergangen, während sie sich zurecht gemacht hatte und sie entschied irgendwann, wieder nach unten zu gehen, um nach dem Rudel sehen zu können.

„Sind die Wölfe schon zurück?“, fragte sie Basta, der wieder in der Nähe des Ausganges saß und mit dem Dolch spielte, den er hier gefunden hatte.

Dieses Mal sah er nicht einmal auf, als sie an der Treppe auftauchte. „Nein.“

„Ich hoffe, dass es funktioniert hat und sie mir tatsächlich helfen können“, sagte Agathe nervös, die Bastas Wut ihr gegenüber nur allzu deutlich spüren konnte, weswegen sie auch versuchte, etwas mehr zu reden. Basta sagte zwar nichts Aggressives und guckte sie auch nicht düster an, aber die Stimmung in der Luft schien zwischen ihnen förmlich zu knistern. „Es ist ewig her, seit ich etwas gegessen habe.“

Jetzt sah er endlich auf, aber nur, um gleich darauf die Stirn in Falten zu legen. „Was ist mit deinen Haaren passiert?“, fragte er fast irritiert.

„Ich habe sie mir geschnitten“, sagte Agathe etwas verlegen. Ihr Haar hatte vorher fast bis zu ihrer Hüfte gereicht, jetzt erreichte es gerade mal ihre Brust. „Damit es nicht mehr ganz so schwer ist, es zu pflegen.“

„Und die Kleider?“ Basta hatte zwar gesagt, es würde ihm nichts ausmachen, wenn Agathe seine alten Sachen trug, aber ob es ihn auch nicht störte, dass sie sich so daran zu schaffen machte?

„Auf meine Größe zurecht genäht“, erklärte sie kurzerhand.

Das Stirnrunzeln verschwand nicht von Bastas Gesicht, aber er hörte auf, sie zu mustern.

Agathe erkannte, dass ein Gespräch hier nicht entstehen würde – dafür war er scheinbar viel zu nachtragend, also überwand sie mit einigen Schritten den Eingangsbereich und trat an den offenstehenden Eingang der Festung. Es war ein großes Tor, das aber schon recht verfallen wirkte und sicher keine Angreifer mehr zurückhalten könnte. Agathe lehnte sich in den demolierten Rahmen aus Metall und sah in die Richtung, in der die Wölfe vorhin verschwunden waren.

Heute war ein sonniger Tag, wärmer, als die zuvor. Die Sonne erfasste Agathe mit ihren wärmenden Strahlen, zusammen mit dem sachten Wind und die Frau erlaubte es sich für einen flüchtigen Moment, sich vollständig zu entspannen.

„Weil unsere Sonne dem Leben selbst gleich ist“, begann sie leise vor sich hin zu summen, ein Lied, das sie noch aus ihrer Kindheit kannte. Agathe hatte im Laufe ihres Lebens viele Lieder gelernt, weil es hin und wieder auch Tage gegeben hatte, an denen ihr Stille im Haus auf die Nerven gegangen war.

Agathe ließ sich in ihrem Zustand des Friedens etwas gehen und hob unbewusst die Stimme an, bis das Gesumme zu leisem Gesang wurde. Sie sang das Lied bis zum Schluss und als die letzte Strophe ihre Lippen verlassen hatte, fühlte sie ein angenehmes Kribbeln in ihrer Brust.

Sie glaubte, Bastas Gesicht aus dem Augenwinkel zu sehen und sie sie zur Seite blickte, entdeckte sie, dass er sie beobachtete.

Sofort räusperte Agathe sich. „Hmm?“

„Deine Stimme“, sagte Basta langsam, „erinnert mich an jemanden.“

Agathe blinzelte ihn an. „An wen?“

„An eine Frau namens Roxane.“ Er widmete seine Aufmerksamkeit wieder dem Dolch in seiner Hand, aber Agathe sah das als viel zu gute Gelegenheit, sich mit ihm zu unterhalten.

„Wer war sie?“, wollte sie wissen.

„Sie hat auf einem Hoff in Ombra gelebt und Kräutern gezüchtet.“ Er fuhr mit dem Daumen über die blanke Klinge, die Augen zusammengekniffen.

Agathe versuchte, sich von dieser Geste keine Angst einjagen zu lassen. „Und was genau erinnert dich an sie?“

„Ihr singt beide sehr … schön.“ Das Wort klang trocken in seinem Mund. Basta wandt den Kopf wieder in ihre Richtung, um einen flüchtigen Blick auf sie zu werfen. „Außerdem ähnelt ihr euch etwas.“

„Inwiefern?“

„Sie hatte auch schwarze Haare, mit dunklen Augen. Eine dunkle Schönheit.“ Agathe wusste den Ton in seiner Stimme nicht zu definieren, aber sie glaubte, einen winzigen Teil Sehnsucht herauszuhören.

Sie senkte den Blick zu den Spitzen ihrer Stiefel. „Und sonst? Charakterlich, meine ich. Wie war sie?“

„Eine Spielfrau, die sehr gefährlich werden konnte.“ Er hob einen Mundwinkel. „Hatte trotzdem ein verdammt großes Herz. Kümmerte sich immer um andere, liebte die Natur. Konnte gut singen und auch tanzen. War ein guter Mensch.“ Daran, dass er nur in knappen Sätzen sprach, erkannte Agathe, dass ihm das Thema unangenehm war.

Sie fragte sich, was zwischen ihnen passiert sein mochte.

Bei seinen Worten verzog sie ihren Mund zu einer gequälten Grimasse. „Hört sich nicht gerade danach an, als würden wir in unserer Persönlichkeit viel gemeinsam haben.“

Er schüttelte kaum merklich den Kopf. „Nein.“

„Magst du es, wenn ich singe?“, traute Agathe sich zu fragen.

Das schien Basta kurz aus der Fassung zu bringen, aber er fing sich schnell wieder. „Ich hab nichts dagegen“, meinte er unbeteiligt.

Agathe biss sich auf die Innenseite ihrer Lippe, um nicht zu lächeln und sah wieder zurück zu den Bäumen. Sie begann erneut, vor sich hin zu summen und wusste nicht genau, wie lange das so weiter ging. Sie wusste nur, dass die Zeit, in der sie so im Eingang gestanden und gewartet hatte, für acht Lieder und die Rückkehr der Wölfe gereicht hatte.

Zu ihrem Glück hatte sie schon vom Weiten sehen können, dass der Rudelführer mit den Zähnen etwas hinter sich hergezogen hatte. Es war ein Reh, wie Agathe feststellte, als sie den Wölfen entgegen lief. Die Tiere besprangen sie sofort, als sie bei ihnen ankam und zwangen sie auf den Grund, als wäre sie eine alte Freundin und jeder von ihnen schien sich Streicheleinheiten von ihr zu wünschen, was Agathe ihnen auch nach der erfüllten Aufgabe gab – zu ihrer eigenen Überraschung.

Mit Tieren schien sie viel weniger Probleme zu haben, als mit Menschen.

„Es hat also funktioniert“, hörte sie Basta hinter sich sagen, der ihr nach draußen gefolgt war. Er stand etwas abseits und betrachtete ihre Spielchen mit den Tieren aus zusammengekniffenen Augen.

„Ja“, murmelte Agathe, während sie die Schnauze eines Tieres sanft von sich wegschob. Es beunruhigte sie ein wenig, so scharfe Zähne in der Nähe ihres Gesichtes zu haben und sie war ein wenig erleichtert, als die Tiere endlich genug mit ihr geschmust hatten und sich langsam zurückzogen. Agathe sah das tote Reh, das leblos auf dem Boden lag und musste kurz den Atem einziehen. „Kannst du es für mich tragen?“, fragte sie Basta über die Schulter, während sie sich wieder aufrappelte und den Dreck von ihrer Hose klopfte.

Eins der Tiere hatte sie so plötzlich angesprungen, dass Agathe glatt von den Beinen geflogen war.

„Zu viel Angst vor etwas Blut, oder was?“, neckte Basta sie.

„Das Tier ist bestimmt schwer“, entgegnete Agathe, was keine Lüge war. Sie konnte sehr wohl mit Blut umgehen – was sie unwillkürlich an Bastas Knochen erinnerte, die in ihrer Tasche lagen. „Ich kann es nicht bis in die Küche tragen.“ Die Knochen, sie müsste sie besser verstecken. Wenn Basta sie finden sollte, würde es nicht witzig für Agathe ausgehen.

Basta breitete die Arme aus. „Nicht mein Problem.“

„Jetzt sei nicht so! Ich habe für dich gesungen“, sagte Agathe und machte eine anklagende Handbewegung in seine Richtung.

Aber Basta rührte sich nicht von der Stelle.

Agathe murrte leise vor sich hin, während sie an das tote Tier trat und es an einem seiner Beine packte. Es war schwer und sie konnte es nur über den Boden schleifen, statt es zu tragen, aber irgendwie gelang es der Frau, das Reh in die Festung zu bringen. Basta beobachtete sie während des gesamten Vorganges mit einer Mischung aus Amüsanz und Skepsis, bis Agathe in der Burg aus seiner Sicht verschwand.

Was für ein Hund, dachte Agathe, während sie das Reh in die Küche brachte, die zu ihrem Glück nicht oben, sondern in dieser Etage lag. Dort gelang es ihr irgendwie, das Reh auf einen der Tische zu legen, bevor Basta hereinkam. „Was denkst du, für wie lange das reicht?“, fragte er sie, während er das Reh betrachtete. Der Anblick eines toten Tieres schien ihn genauso wenig zu erschrecken, wie Agathe, die sowas zwar noch nie zuvor zu Gesicht bekommen hatte, sich aber Schlimmeres vorstellen konnte.

„Für was soll es reichen?“

„Wie lange du dich von diesem Tier ernähren kannst, meine ich.“

„Ich weiß nicht. Drei, vier Tage?“ Das Tier war jedenfalls groß genug – und schwer. „Und selbst wenn nicht, dann kann ich die Wölfe wieder zur Jagd schicken.“

„Für die nächste Zeit bist du dann aber versorgt“, sagte Basta.

Agathe verlangsamte ihre Bewegungen, nachdem sie sich daran gemacht hatte, alles zu holen, was sie zur Verarbeitung des Tieres gebraucht hätte. „Ja“, sagte sie wachsam und etwas alarmiert, weil sie nicht wusste, worauf er hinaus wollte. „Wieso?“

„Wenn das so ist, wirst du nach dem Essen keinen weiteren Grund haben, hier runter zu kommen“, sagte er und lehnte sich mit der Hüfte gegen den Tisch. Er blickte Agathe darüber hinweg an. „Ich will, dass du bis Morgen oben bleibst, nachdem du gegessen hast.“

Agathe klappte der Mund auf, als sie begriff, dass zwischen ihr und Basta nichts wieder gut war, so wie sie geglaubt hatte. Er war immer noch wütend und hatte sie nur unten bleiben lassen, solange sie auf die Wölfe gewartet hatte.

„Aber …“, wollt sie widersprechen, aber er schnitt ihr das Wort ab.

„Kein Aber“, knurrte er. „Ich meine es ernst. Ich will nicht, dass du schon wieder abhaust und bis morgen, wenn du wieder essen willst, bleibst du oben.“

„Ich habe dir doch gesagt, dass ich nicht mehr versuchen werde, zu flüchten!“, fuhr Agathe ihn an.

„Das interessiert mich nicht“, sagte Basta kühl.

Entnervt warf Agathe die Hände in die Luft, gab sich schließlich aber geschlagen. „Von mir aus“, zischte sie und machte sich wieder daran, das tote Tier auf dem Tisch zu bearbeiten. „Das hier könnte aber noch ein oder zwei Stunden dauern.“

Basta antwortete ihr, indem er sie noch ein letztes Mal ansah und dann schweigend die Küche verließ. Etwas zu sagen hatte er ihr nicht.

- Kapitel 18 -

 

Agathe stieß langsam die Luft aus, während sie sich tiefer in ihr Kissen sinken ließ. Sie hatte ihr Bett für den Rest des Tages nicht verlassen, war aber trotz ihrer Müdigkeit nicht im Stande gewesen, einzuschlafen. Dafür hatten sich viel zu viele Gedanken in ihrem Kopf gedreht, denn nachdem sie ihren Hunger mit dem Reh gestillt hatte, war sie nicht länger davon abgelenkt worden und hatte sich wieder dem Denken widmen können.

Sie hatte in den letzten Stunden viel nachgedacht, über all die Sachen, die Ehtaga ihr offenbart hatte. Dass Agathes Berührungsängste von einem Fluch rührten, der auf ihr lag und Ehtaga der Teil von ihr war, der sich nicht vor anderen Menschen scheute. Dass irgendwer Erinnerungen in ihrem Unterbewusstsein eingesperrt hatte, sodass Agathe selbst irgendwann die Liebe zur Magie entwickelt hatte …

„Was für ein Chaos“, seufzte Agathe und fasste sich mit der Hand an die kochendheiße Stirn. Etwas wie ein Stechen hatte sich in ihrem Kopf ausgebreitet, diese Welle an neuen Erkenntnissen bereitete ihr Schmerzen.

Basta hatte sie wie ein ungezogenes Kind auf ihr Zimmer geschickt, damit sie nicht wieder weglief und seitdem war Agathe auch gehorsam hier geblieben. Es machte ihr nicht viel aus, eingesperrt zu werden, da sie auch Zuhause ihr Zimmer so gut wie nie verlassen hatte – nur das Fenster fehlte ihr. Das Fenster, aus dem Agathe jeden Tag geschaut und die Leute auf der Straße beobachtet hatte, wenn ihr langweilig gewesen war. Wenn man aus diesem Zimmer hier hinausblickte, sah man nichts anderes als unangerührte Natur, was zwar ein schöner Anblick war, auf Dauer aber ziemlich öde werden konnte.

Agathe fehlten die Bewegung und der Aufruhr auf den Straßen. Sie hatte nie ein Teil davon werden wollen, aber es war eigentlich fast angenehm gewesen, von oben darauf herab gucken zu können …

Sie stieß ein weiteres Seufzen aus und fragte sich, wie alles so hatte kommen können – und wie es gekommen wäre, wenn sie Basta nie geholt und er sie nicht verschleppt hätte. Immerhin wusste sie nicht, warum dieser fremde Mann bei ihrer Mutter gewesen war. Vielleicht hätte er sich einfach seine Erinnerungen zurückgeholt, wenn Agathe vor einigen Tagen im Haus, und nicht mit Basta unterwegs gewesen wäre. Vielleicht hätte er sie danach aber auch zusammen mit ihrer Mutter einfach umgebracht, weil sie keinen Nutzen mehr für ihn gehabt hätten.

Agathe gähnte, während sie diesem Gedanken hinterher hing, so wie sie es die letzten Stunden über getan hatte und versuchte das Pochen in ihrem Kopf zu ignorieren. Sie hatte keine Ahnung, wie es nun mit ihr hätte weitergehen können, konnte aber auch nicht damit fortfahren, darüber nachzudenken, da ihre Augenlieder plötzlich schwer wurden und sie ohne es zu merken in den Schlaf verfiel.

 

Es war ein seltsamer Traum. Nicht einmal ein wirkliches Bild, sondern eher nur eine verschwommene Ansammlung von Farben und Figuren – als würde man die Welt durch einen Tränenschleier sehen. Agathe versuchte, sich zurechtzufinden, konnte sich aber nicht rühren, weil um ihren Körper etwas wie Ketten gelegt waren. Der Druck des Metalls verstärkte sich mit Agathes Gegenwehr, und als sie bereits aufgeben wollte, zu versuchen, sich zu befreien, spürte sie plötzlich einen eisernen Griff in ihrem Nacken …

 

Agathe schrak hoch und war genauso schnell wieder wach, wie sie eingeschlafen war – dachte sie zumindest. Denn als ihr Blick zur Seite wanderte, merkte sie, dass es draußen längst dunkel geworden war und nur noch das Mondlicht zu ihr ins Zimmer sickerte.

Sie runzelte die Stirn und setzte sich auf, als ihr wirklich bewusst wurde, dass sie eben nur geträumt hatte. Das war ein merkwürdiger Traum gewesen, wirklich. So einen hatte Agathe schon lange nicht mehr erlebt, denn für gewöhnlich träumte sie entweder gar nicht, oder sie wurde zu Ehtaga verfrachtet. Normal hatte sie schon lange nicht mehr geträumt.

Aber ein völlig normaler Traum war das auch nicht gewesen – Falls sie sich richtig erinnerte, nannte man es Alptraum, wenn darin etwas Schlechtes vorkam. Ja genau, das war die richtige Bezeichnung für den Schlaf gewesen, nach dem manche Leute schreiend und um sich schlagend aufwachten.

Agathe kam das, was sie eben gesehen und gespürt hatte, gar nicht so schlimm vor, aber scheinbar war ihr Körper da anderer Meinung: Sie schwitzte am ganzen Leib und ihr Herz schlug etwas schneller als sonst, ihre Knie fühlten sich weich an, obwohl sie sich innerlich längst beruhigt hatte. Agathe fragte sich, ob sie etwas gegen diesen Zustand unternehmen konnte und rutschte vom Bett, um sich aufrichten zu können.

Als sie die Tür ihres Zimmers leise öffnete und auf den Gang hinaus lugte, war dort keiner. Fast hätte sie befürchtet, Basta würde an ihrer Tür Wache schieben, aber scheinbar hatte er sich doch wo anders über die Nacht niedergelassen. Er brauchte immerhin nicht zu schlafen und bräuchte nur einen Platz, an dem er ungestört wäre.

Agathe öffnete die Tür ganz und schob sich geräuschlos hindurch, dabei versuchte sie, so leise wie möglich zu sein. Sie war nicht vertraut damit, ihren Körper nach einem Alptraum zu beruhigen, aber sie war sich sicher, dass ein kurzer Spaziergang durch die obere Etage der Burg und wieder zurück reichen würde, um ihre angespannten Muskeln zu lockern.

Auf halbem Wege hatte sich ihr Herz bereits wieder beruhigt und den Schweiß hatte sie mit einer einzigen Handbewegung von ihrer Stirn gewischt, nur ihre Knie fühlten sich immer noch schwach und unstabil an. Agathe strich sich das Haar aus dem Gesicht und wollte um eine Ecke biegen, als sie plötzlich an den Oberarmen gepackt und an einen fremden Körper gedrückt wurde.

Scharf zog sie die Luft ein. Das Herzrasen kehrte zurück.

„Ich habe dir doch gesagt, dass ich dich nur nicht bestraffen werde, wenn du artig bleibst“, zischte Basta ihr ins Ohr und verstärkte den Griff an ihren Oberarmen wie zu einer stummen Warnung.

Agathe wand sich in seinen Armen, konnte aber nichts tun – er war um einiges stärker, als sie. „I-ich wollte nicht abhauen“, stotterte sie atemlos und hoffte, dass er zumindest aufhören würde, sie gegen seine Brust zu pressen. In dieser Dunkelheit war es noch unangenehmer.

Sie hatte Ehtaga zwar versprochen, sich zu bemühen, ihre Berührungsängste hinter sich zu lassen, aber das hier kam viel zu plötzlich.

„Was du nicht sagst“, meinte Basta spöttisch. Agathe spürte seinen – für einen Geist – erstaunlich heißen Atem im Nacken und schnappte mal wieder den Geruch nach Minze auf.

„Wirklich nicht“, flüsterte sie und versuchte, sich zu beruhigen, während er sie festhielt. Basta war zwar kein richtiger Mensch, aber dennoch ungewöhnlich warm und Agathe hätte bei der Hitze, die von ihm auskam und auf ihren Rücken übergriff, kotzen können. „Ich wollte wirklich nicht einfach verschwinden.“

Agathe hatte aufgehört, sich zu wehren und nahm es still leidend hin, dass Basta sie berührte, aber lange dauerte das zu ihrem Glück nicht. Basta ließ sie nur Augenblicke später los und bewegte sich einige Schritte von ihr weg, um ihr Platz zu geben.

„Du zitterst ja“, stellte er zwar etwas überrascht, aber kein Stück mitleidig fest. Sie konnte seine Stimme nicht deuten und auch als sie sich zu ihm umdrehte und sein Gesicht sah, konnte sie nicht erklären, was ihm gerade durch den Kopf ging.

Etwas überfordert strich Agathe eine ihrer, nun nicht mehr ganz so langen Haarsträhnen zurecht. „Ja, aber … das lag jetzt nicht ganz an dir“, sagte sie dann schnell.

Er antwortete nicht, hob nur eine Augenbraue.

„Ich hatte etwas wie einen Alptraum“, gestand Agathe ganz offen und sah zur Seite, weil sie ihn nicht direkt anblicken wollte. „Ich wollte mir kurz die Beine vertreten, um … na ja.“ Sie zuckte die Schultern. „Ich habe gehofft, es würde helfen.“

„Alpträume?“, fragte Basta unüberzeugt.

„Ja.“

„Du wolltest nicht fliehen?“

„Ich habe dir bereits gesagt, dass du nicht befürchten musst, dass ich verschwinde“, versicherte sie ihm. „Außerdem liegt die Treppe nach unten in der anderen Richtung.“

Das entlockte ihm ein Geräusch, das Agathe als eine Art lautloses Lachen einstuffen konnte. Sie wusste es nicht genau. Er hatte bisher nur hämisch gelacht. Oder schadenfroh.

„Du solltest jetzt trotzdem wieder auf dein Zimmer“, sagte er mit plötzlicher Gelassenheit und drehte sich um. An seiner Hüfte entdeckte Agathe den Dolch, mit dem er zuvor gespielt hatte.

Als Basta gemächlich in die Richtung ihres Zimmers ging, folgte Agathe ihm und blieb mit dem Blick unwillkürlich an seinem Arm hängen. Sie dachte wieder an ihr Versprächen gegenüber Ehtaga und spielte kurz mit dem Gedanken, sich bei ihm einzuhaken. Immerhin trugen sie beide lange Ärmel, weswegen ganze zwei Stoffschichten zwischen ihnen wären, was eigentlich recht gut für den Anfang gewesen wäre.

Agathe nährte sich ihm so sehr, dass sie direkt hinter ihm laufen konnte. Dann streckte sie ihre Hand nach seinem Arm aus, der sich beim Gehen sacht vor und zurück bewegte. Agathe war fest entschlossen, ihn zu berühren, hielt sich selbst im letzten Moment aber zurück, als der wohlbekannte Ekel wie ein Blitz durch ihren Körper schoss. Wie von allein sank ihre Hand wieder an ihre Seite und sie seufzte, weil sie immer mehr begriff, wie schwach sie war.

Ob es überhaupt möglich wäre, den Fluch durch eigenen Willen zu brächen?

„Ich will nicht mehr schlafen“, murmelte Agathe, als sie vor ihrem Zimmer ankamen. Die Tür stand immer noch offen.

„Das würde dir aber sicher gut tun. Du siehst aus, als hättest du etwas mehr Schlaf nötig“, sagte Basta und musterte ihr Gesicht, das zur Zeit sicher den Ausdruck eines gehetzten Tieres tragen musste.

Agathe verdrehte die Augen. „Vielen Dank.“

„Gerne doch.“ Basta lehnte sich in den Türrahmen, während Agathe sich an ihm vorbei in das Zimmer schob. Erst, als sie sich auf ihr ungemachtes Bett gesetzt hatte, sprach er wieder. „Ich lasse das hier einmal durchgehen“, sagte er, nicht länger sarkastisch, sondern nur noch streng und ernst. „Sollte ich dich noch einmal heute Nacht – oder irgendwann sonst – bei so einem nächtlichen Spaziergang erwischen, bleibe ich nicht so entspannt. Vergiss nicht, dass ich keinen Schlaf brauche“, fügte er hinzu.

Agathe biss sich auf die Lippe. „Du musst dir keine Sorgen machen …“, murmelte sie.

„Was?“, fragte Basta, da sie zu leise gesprochen hatte.

Aber Agathe wollte es nicht wiederholen.

Basta winkte auf ihr Schweigen hin bloß ab. „Ist ja auch egal. Versuch gefälligst, zu schlafen“, meinte er und wollte gerade verschwinden, als Agathe endlich genug Mut fand, ihren Mund aufzumachen.

„Basta, warte!“, sagte sie schnell.

Er blieb im Türrahmen stehen und runzelte die Stirn. „Was ist denn?“, wollte er genervt wissen.

„Kannst du hier bleiben?“, hörte Agathe sich selbst fragen und beobachtete gespannt seine Reaktion, als er verdutzt die Augenbrauen hob.

„Ich soll … wieso?“

„Weil ich mit dir noch reden wollte“, erklärte Agathe nervös und rieb sich vor Aufregung die schwitzenden Hände. „Außerdem will ich nach dem Alptraum nicht alleine schlafen.“ Das stimmte nur teilweise. Der Alptraum an sich war Agathe völlig egal, für sie gab es deutlich Schlimmeres – aber sie war nun einmal ein Gewohnheitstier und bisher hatte sie im Leben nie alleine schlafen müssen. Es hatte immer etwas Beruhigendes gehabt, den friedlichen Atem ihrer Mutter neben sich zu hören, wenn sie nicht hatte schlafen können.

Die letzten Nächte waren die ersten gewesen, die Agathe beim Schlafen alleine verbracht hatte.

Basta schien unentschlossen zu sein. Er fuhr damit fort, sie mit in Falten gelegter Stirn zu mustern und Agathe befürchtete fast, er würde ablehnen, aber dann trat er ganz ins Zimmer. Mit einem Tritt, der nur mit halber Kraft ausgeführt wurde, schloss er die Tür hinter sich und schlenderte mit in die Taschen gesteckten Händen bis zu ihrem Bett. An einer der Ecken setzte er sich hin, dabei war sein Blick die ganze Zeit über auf sie gerichtet.

Agathe schluckte. „Danke.“

„Du siehst nicht so aus, als würdest du das hier wirklich wollen.“

„Doch, doch, so bin ich es gewöhnt“, sagte sie schnell und schlüpfte aus ihren Stiefeln. Vorhin war sie glatt mit ihnen eingeschlafen, jetzt wollte sie sie ablegen.

„Ich dachte, du wärst am liebsten allein“, sagte er.

„Du sagst das, als wäre es etwas Schlechtes“, murmelte Agathe.

Er zuckte die Schultern. „Nein, das bin ich eigentlich auch.“

Agathe schlüpfte mit den Beinen unter ihre noch körperwarme Decke. Sie versuchte, es sich irgendwie bequem zu machen und hätte eigentlich gerne in etwas anderem als einer Hose geschlafen, aber … nein, halt. Warum aber? Mit einem kurzen Blick auf Basta ließ Agathe sich das noch einmal durch den Kopf gehen. Er war, wie schon gesagt, nur ein Geist und auch beim Bach hatte seine Anwesenheit sie nicht besonders gestört.

„Du wolltest reden?“, fragte Basta argwöhnisch, nachdem sie länger nichts gesagt hatte.

Agathe versuchte etwas wie ein scheues Lächeln. „Ja, aber ich hätte ehrlich gesagt nicht gedacht, dass du einem Gespräch zustimmen würdest“, gestand sie, während sie unter der Decke aus der Hose schlüpfte. Das war etwas schwieriger, als gedacht, aber schließlich schaffte sie es.

„Nicht, dass ich zur Zeit etwas Besseres zu tun hätte“, meinte Basta schulterzuckend. Er klang gleichgültig. „Also, worum geht es?“

Agathe knirschte etwas mit den Zähnen, ehe sie antwortete. „Es ging um die kleine Auseinandersetzung, die wir zur Zeit führen“, sagte sie leise, während sie die Hose unauffällig unter der Decke entfernte und sie auf den Boden neben dem Bett ablegte. „Darüber, dass ich einfach so gegen unseren Handel abgehauen bin.“

„Ach“, machte Basta mit zusammengekniffenen Augen und einem Ton, den Agathe nicht bestimmen konnte. Es war manchmal wirklich schwer, sich aus ihm schlau zu machen, aber jetzt klang er gereizt. „Das.“

„Ja“, murmelte Agathe. „Vielleicht sollte ich dir nämlich einfach erzählen, was eigentlich passiert ist, während du Kiriaki gejagt hast.“

„Na, dann leg mal los“, sagte Basta und legte die Beine übereinander, mit einem Mal wieder sehr aggressiv. „Ich bin wirklich gespannt.“ Dadurch, dass sie ihn daran erinnert hatte, schien er wieder wütend geworden zu sein. Vielleicht hätte sie es lassen sollen. Vielleicht hätte er seinen Zorn auf sie mit der Zeit einfach vergessen.

Aber für einen Rückzieher war es jetzt zu spät.

„Ich war in meinem Dorf und wollte meine Mutter sehen“, sagte Agathe und nahm sich vor, nicht lange darum herum zu reden, weswegen sie die folgenden Worte mit einer Kühnheit aussprach, die sie sich selbst nicht zugetraut hätte: „Aber meine Mutter war nicht mehr da. Sie ist jetzt tot.“

Die Wut wich von Bastas Gesicht und machte Überraschung Platz. „Tot?“, fragte er.

Agathe nickte, bemüht, ihre frühere Traurigkeit darüber zu vergessen. „Aber das ist kein Problem für mich“, versicherte sie – nicht nur ihm, sondern auch sich selbst – während sie sich mit grimmigem Gesicht in ihr Kissen fallen ließ. „Ich werde sie zurück holen, irgendwann, irgendwie. Das wird schon funktionieren, eines Tages.“

Basta schwieg. Ob aus Anstand oder Ratlosigkeit, wusste sie nicht.

„Der Punkt ist der“, fuhr Agathe mit Blick an die Decke fort, „dass meine Mutter, abgesehen von der Magie vielleicht, mein Ein und Alles war. Mein Glück im Leben und mein einziger Freund. Jetzt ist sie weg und ich bin ganz allein, ich …“ Sie schnappte nach Luft. Das hier war doch schwerer, als sie erwartet hätte. „Jedenfalls bin ich momentan wirklich verloren. Und dass ich einfach verschwinde, musst du nicht mehr befürchten, weil … wir beide zwar nur durch einen Handel an einander gebunden sind, du aber trotzdem so ziemlich das einzige in meinem Leben bist, das mir momentan Sicherheit geben kann.“ Sie hätte sich die Zunge abbeißen können, weil sie genau wusste, dass das sogar stimmte.

Er sperrte sie zwar hier ein, sie konnte ihm aber immer noch befehlen, jeden zu töten, der sie störte – und das war so ziemlich das Einzige, was noch ihrer Kontrolle unterlag.

Erstaunt hob Basta die Augenbrauen. Er wirkte ehrlich entrüstet.

„Jetzt sag doch was“, murmelte Agathe, der die Situation unangenehm war.

„Was genau willst du mir mit dem Ganzen sagen?“, fragte Basta und Agathe glaubte, Unsicherheit aus seiner Stimme herauszuhören.

„Dass ich gerne vergessen würde, was bisher passiert ist“, sagte sie. „Ich würde gerne ab jetzt mit dir zusammenarbeiten – ehrlich. Ohne, dass wir beide uns gegenseitig so derartig misstrauen.“ Sie umklammerte mit ihren Fingern die Decke. „Bitte.“

Sie erhielt nach wie vor keine Antwort, aber zumindest schien er darüber nachzudenken. Basta ließ seinen Blick abwesend durch die Ecken des Zimmers wandern. „Ich weiß nicht …“, murmelte er nach einer Zeit unsicher.

„Ich bitte dich“, sagte Agathe. Sie musste sein Vertrauen gewinnen – im Hinterkopf behielt sie aber die Knochen, die von seinem alten, menschlichen Körper noch übrig geblieben waren und die sich in ihrer Tasche befanden. Sie hätte ihn jeder Zeit manipulieren können, wie sie wollte, sobald sie den nötigen Zauber gefunden hätte.

Aber das schien für die nächste Zeit nicht von Nöten zu sein, denn plötzlich stieß Basta die Luft aus. „Ich glaube nicht, dass ich das mache“, murmelt er mehr zu sich selbst. „Nach dem, was du gemacht hast, aber …“, er warf ihr einen missmutigen Blick zu, „wenn ich wirklich ohnehin der einzige bin, auf den du dich im Moment noch verlassen kannst, dann …“

Agathe brachte ein Schmunzeln zu Stande. „Ist das ein Ja?“

„Ich denke schon“, gab er sich geschlagen, ehe er seine Augen scharf auf sie richtete. „Ich höre auf, dich ständig zu beschatten, wenn du dich benimmst.“

„Versprochen“, sagte Agathe. Ihr Lächeln nahm eine normale Größe an. „Also sind wir ab jetzt Partner?“

Basta lächelte auch. Es erreichte seine Augen nicht, war aber besser als nichts. „Das nehme ich mal an.“

Agathe dachte wieder an ihr Versprächen und überwand sich dazu, ihm zitternd die Hand entgegen zu strecken. Sie bebte, aber Agathe zog sie nicht zurück, nicht dieses Mal.

Basta, der ihren inneren Konflikt auf ihrem Gesicht gesehen zu haben schien, ging zwar darauf ein, berührte aber gerade mal Agathes Fingerspitzen. Nachdem er sie kurz geschüttelt hatte, als wäre das ein richtiger Händedruck, ließ er sie sofort wieder los.

„Danke“, presste Agathe heraus und versuchte das Jucken ihrer Finger aus ihrem Kopf zu verbannen. Es gibt schlimmere Stellen, an denen man berührt werden kann, sprach sie auf sich ein und versteckte ihre Hände unter der Decke.

„Kein Problem“, meinte Basta und zum ersten Mal glaubte Agathe, dass er wirklich mit ihr sprach, ohne etwas gegen sie zu haben.

Vielleicht war das ja die Gelegenheit.

„Hör zu“, sagte sie langsam. „Ich weiß, dass es möglicherweise ein wenig taktlos ist, dich gerade jetzt danach zu fragen – so kurz, nachdem du mir verziehen hast – aber ich brauche deine Hilfe.“

„Worum geht es?“

„Ich werde meine Mutter zurückholen“, sagte Agathe bestimmt. „Ich werde sie zurück holen, darauf kannst du dich verlassen. Aber bevor ich das tue, will ich dafür sorgen, dass so etwas nicht noch einmal passiert. Ich will sie in eine sichere Welt zurückholen und damit das möglich ist, muss ich selbst erst einmal dafür sorgen, dass die Bedingungen dafür stimmen.“

Basta runzelte die Stirn. „Was …“

„Kennst du das Gasthaus an der Grenge?“

„Ist nicht weit von hier. Worauf willst du hinaus?“

Agathe sah ihm tief in die Augen, weil sie wollte, dass er das Feuer in ihren eigenen sah. Er musste es sehen, um überzeugt werden zu können. „Der Mann, den ich suche, soll angeblich dort sein. Ich will ihn finden und meine Mutter erst zurückholen, sobald er ihr keinen weiteren Schaden zufügen kann. Er muss sterben. Er muss. Und darauf werde ich nicht einfach warten, sondern selbst dafür sorgen – allerdings brauche ich deine Hilfe.“  

- Kapitel 19 -

 

„Ist es das?“

„Ja.“

„Sieht ziemlich gewöhnlich aus“, stellte Agathe fest, während sie sich geduckt hinter mehreren Büschen des Waldes versteckt hielt. Von hier aus konnte sie das Gasthaus perfekt sehen, ohne selbst von jemandem entdeckt zu werden, der sich in dessen Nähe befand.

„Das ist es auch, sobald ich weiß“, sagte Basta, der in seiner ganzen Größe neben ihr stand. Schließlich brauchte er sich nicht zu verstecken.

„Glaubst du, ich kann gefahrlos reingehen?“, fragte Agathe.

Basta nickte. „Sicher. Die einzige Gefahr wäre, dass dieser Kerl dich erkennen könnte.“

„Keine Ahnung“, murmelte Agathe. „Aber eigentlich spielt das auch keine Rolle mehr. Denn er wird tot sein, ehe er überhaupt die Zeit hat, mich genauer zu mustern.“ Sie sah aus dem Augenwinkel, dass Basta über diese Bemerkung schmunzelte.

Sie waren gleich am nächsten Morgen aufgebrochen und hatten das Gasthaus gegen Mittag erreicht. Momentan schien nicht viel los zu sein, aber zumindest ein paar Menschen hätten sich in dem Gasthaus befinden müssen.

„Was ist, wenn du ihn dort nicht findest?“, fragte Basta. „Wenn er schon weiter gezogen ist?“

„Dann kann ich zumindest mal nachfragen“, sagte Agathe. „Dieser Mistkerl wird mir jedenfalls nicht entwischen.“

„So viel Mordlust in einer so schüchternen Persönlichkeit“, spottete Basta.

„Ich bin eben kein kleines, unschuldiges Mädchen“, entgegnete Agathe, bevor sie zu ihm hochsah. „Das hast du selbst mal gesagt. Wolltest du nicht, dass ich aufhöre, dir etwas vorzuspielen?“

Er lachte leise, dann löste er sich aus den Büschen und ging auf das Gasthaus zu. Agathe folgte ihm in sicherer Distanz. Falls es einen Notfall gäbe, würde Basta sie aus der Weite warnen können.

Sie verharrte auf halbem Wege, gerade, als Basta das Gasthaus erreicht hatte und durch eins der Fenster blicken konnte. Er blieb erstaunlich lange dort stehen. So lange, dass es Agathe irgendwann reichte und sie zu ihm geschlichen kann.

„Was ist denn?“, fragte sie sie ihn zischend, als sie ihn erreicht hatte. „Wieso sagst du nichts? Was siehst du?“

Aber Basta achtete nicht auf sie. Sein Blick war stur auf das Fenster gerichtet und Agathe war sich sicher, etwas Dunkles in seinen Augen aufzuschnappen. Es war ein gefährlicher Glanz, den sie bisher nur selten bei ihm gesehen hatte. Damals, als er das Kreuz bei ihr entdeckt hatte.

Er war an diesem Tag wirklich wütend gewesen.

„Agathe …“, sagte er bedrohlich ruhig.

Sie zuckte zusammen, weil sie es nicht gewohnt war, von ihm mit ihrem Namen angesprochen zu werden. „Ja ..?“

„Wie genau ist deine Mutter denn gestorben?“, wollt er plötzlich wissen. „War sie alt?“

„Ja, schon … Aber nicht so sehr, dass sie dadurch hätte sterben können“, murmelte Agathe. „Es war kein natürlicher Tod, auch wenn es danach ausgesehen hat. Sie ist auf der Straße zusammengebrochen.“

„Einfach so?“

„Ja.“

„Hmm.“ Basta leckte sich über die Lippen während er hinein starrte. „Ich bin mir fast sicher, den Schuldigen gefunden zu haben.“

Agathe klappte der Mund auf. „Was?! Aber … wie? Wovon sprichst du?“ Sie versuchte, durch das Fenster zu sehen, erlangte aber nur einen kurzen Blick auf einen runden Tisch, hinter dem ein paar Männer Karten spielten. Sie schienen um Geld zu spielen. „Woher weißt du das?“

„Ich habe gerade einen alten Bekannten entdeckt, dem ich solche Spielchen zutrauen würde.“ Bastas Gesicht war immer noch dunkel, als er sich vom Fenster weg bewegte, direkt zum Eingang.

„Warte!“, zischte Agathe panisch. „Was soll das werden, wenn es fertig ist?“

„Wir gehen jetzt rein.“

„Ich auch?“

„Was hast du an dem Wort wir nicht verstanden?“

„Aber …“

„Na los.“ Ungeduldig wartete Basta an der Tür auf sie. „Mach, dass du reinkommst und hör einfach auf das, was ich dir sage. Außer dir sieht mich keiner.“

Agathe gehorchte nicht gerne, hatte aber eigentlich keine andere Wahl. Sie öffnete die Tür und betrat das ältere Haus, sah sich sofort um. Es war relativ spärlich eingerichtet und wirkte etwas ärmer, als das Gasthaus in der Nähe von Agathes Dorf. Es war hier auch deutlich ruhiger.

„Soll ich den Wirt suchen?“, fragte Agathe, aber Basta schnitt ihr das Wort ab.

„Nein. Geh zum Tisch.“

„Was soll ich dort?“

„Frag, ob du mitspielen kannst.“

„Was?“ Mit geweiteten Augen sah sie ihn an, obwohl sie das eigentlich nicht tun durfte. Die Leute würden denken, dass sie Selbstgespräche führte, falls jemand von ihnen zu ihr rüber sah. Bisher hatte man Agathe nämlich wenig Beachtung geschenkt.

„Jetzt mach schon.“

„Ich habe noch nie in meinem ganzen Leben …“

„Aber ich“, entgegnete Basta. „Ich werde dir schon sagen, was du zu tun hast.“

Widerwillig schlenderte Agathe auf den Tisch zu. Als sie ihn erreichte, sahen die fünf Männer alle gleichzeitig zu ihr auf – nichts, was sie nicht gewohnt wäre.

„Können wir dir helfen?“, fragte einer von ihnen, mit einem Lächeln, das zeigte, dass seine Freundlichkeit nicht ohne Hintergedanken war.

Agathe schluckte. Sie musste so lässig wie möglich wirken und lehnte sich daher mit der Hüfte gegen den Tisch, so wie sie es bei Basta in der Küche von Capricorns Festung gesehen hatte. „Bräuchtet ihr vielleicht noch jemanden für die nächste Runde?“, fragte sie und musterte den von ihnen einzeln, bei dem Versuch, herauszufinden, wer von ihnen wohl mit Basta bekannt hätte sein können, aber sie hatte keine Ahnung.

Agathe war kein Menschenkenner.

„Was denn? Meinst du dich?“, fragte ein anderer Mann.

Agathe schenkte ihm ein Lächeln, während Basta neben sie trat. Er wurde von keinem gesehen. „Na, wer denn sonst?“

Die Männer wechselten einen unsicheren Blick, dann zuckte einer die Achseln. „Warum nicht“, murmelte er, eher er einen Stuhl für sie holte und Agathe sich dazu setzen konnte. Die Karten wurden neu gemischt und Agathe bekam dieses Mal auch welche ausgeteilt. Dass sie keine Ahnung hatte, was sie mit ihnen anstellen sollte, versuchte sie sich nicht anmerken zu lassen.

„Du kannst anfangen, Schönheit“, sagte einer der Männer zu ihr und grinste.

„Leg die ganz rechts“, befahl Basta, der schnell ihre Karten überflogen hatte und sich nun daran machte, um den Tisch herum zu gehen. Er sah sich die Karten aller Spieler an, prägte sie sich ein. Agathe fragte sich, was er damit erreichen wollte. „Setz eine Runde aus“, sagte er zu ihr, als sie wieder an der Reihe war und so ging es dann lange weiter.

Irgendwann kam es dazu, dass zwei der Männer nicht mehr weiter spielen konnten und sich nur noch aufs Zuschauen begrenzen mussten. Weil das auf Dauer aber etwas zu langweilig wurde, standen sie nach einer Zeit auf und begaben sich zusammen zu einem anderen Teil des Gasthauses.

Und hier erkannte Agathe eine Logik in Bastas Plan – er wollte so lange Spieler rauswerfen, bis nur noch sie und sein alter Bekannter hier am Tisch sitzen würden. Agathe musterte die verbliebenen Männer, konnte aber trotzdem nicht im Geringsten sagen, wer von ihnen wohl hätte gemeint sein können und Basta konnte sie nicht fragen, da es den Männern aufgefallen wäre, wenn sie sich mit einer unsichtbaren Gestalt unterhalten hätte.

Basta nutzte es aus, dass ihn keiner sah und wies Agathe in jeder Runde an, welche Karte sie legen sollte. Agathe hingegen hatte nach einer halben Stunde immer noch nicht verstanden, was der Sinn des Spieles eigentlich war und tat lediglich, was man ihr sagte.

So lange, bis nur noch sie und ein einziger Mann im Spiel waren.

„Ich glaube es einfach nicht“, meinte der, der eben rausgeflogen war. Sie hatte die letzten zehn Minuten zu dritt gespielt und jetzt bedachte er Agathe mit einem Blick, der eine Mischung aus Respekt und Misstrauen war. „Die Kleine hier scheint wirklich Glück zu haben oder verdammt gut im Schummeln zu sein.“ Er sah zu dem Mann, der als einziger noch im Spiel war. „Versuch mal, noch ein wenig durchzuhalten.“ Und dann stand er auf und begab sich zu dem Rest seiner Freunde, die alle das Weite gesucht hatten, weil es ihnen zu öde geworden war, bloß Zuschauer zu sein.

Sie waren nur noch zu zweit. Agathe und der Mann, der ihr gegenüber saß – ein blasser Kerl, mit ebenso blassem Haar, das einst vielleicht mal blond gewesen war. Er schien nicht besonders groß zu sein, dafür aber etwas füllig. Sein Gesicht war rund, die Augen ein wenig zu groß. Agathe konnte sich nicht vorstellen, was Basta mit so einem Typen zu tun gehabt haben könnte.

„Fang an“, sagte Basta, der sich hinter sie gestellt hatte. „Frag ihn erst einmal aus. Egal, ob er derjenige ist, den du suchst, oder nicht, ich werde ihn umbringen.“

Agathe musste sich zurück halten, um nicht aus einem Reflex heraus zu nicken.

„Ich hätte nicht gedacht, dass Sie es so weit schaffen würden“, sagte der Mann zu ihr, während er seine eigenen Karten musterte, überlegend, wie er weiter vorgehen sollte. „Hier spielen nicht oft Frauen mit und wenn, dann kommt nie eine von ihnen als Siegerin hervor.“

„Ich bin eben etwas spezieller“, sagte Agathe und legte ihre Karten auf den Tisch. Nicht umgedreht, sondern so, dass er sie sehen konnte.

Der Mann hob überrascht die Augenbrauen. Er wirkte so freundlich, dass Agathe sich unwillkürlich fragte, was Basta gegen ihn haben könnte. „Das ist vielleicht nicht so schlau“ sagte er und deutete auf ihre offenen Karten.

Agathe stützte die Ellenbogen auf dem Tisch ab und legte ihren Kopf schief auf ihre Hände. „Das ist schon in Ordnung“, meinte sie emotionslos. „Ich hatte ohnehin nicht vor, weiterzuspielen.“

„Nein?“

„In einem Gespräch wäre ich viel interessierter“, erklärte sie. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass das der Mann sein sollte, der ihre Mutter umgebracht hatte. Er wirkte viel zu harmlos.

„Tatsächlich?“ Jetzt legte auch er die Karten nieder, seine allerdings verdeckt. „Worüber denn, wenn ich fragen darf?“

„Fangen wir doch erst einmal ganz vorne an“, sagte Agathe. „Mein Name ist Agathe. Dürfte ich Ihren erfahren?“

Er zupfte einen seiner Ärmel zurecht. Ein wenig eitel. „Man nennt mich Orpheus“, sagte er dann und lächelte wieder, dieses Mal etwas weniger freundlich, sondern eher ein wenig selbstsicher.

Agathe verzog keine Miene. „Ich habe gehört, dass Sie unterwegs nach Ombra sein sollen?“, wollte sie wissen.

Er hob eine Augenbraue. „Von wem denn?“

„Diese Frage hat Zeit“, sagte Agathe ohne ihr Lächeln zu verlieren. „Also – ja oder nein?“

„Ich bin tatsächlich auf dem Weg dorthin“, sagte er und rutschte in seinem Stuhl etwas zurück, um mehr Beinfreiheit zu haben.

„Und ist es richtig, dass Sie vor einiger Zeit in einem kleinen Dorf hier in der Nähe gehalten haben?“, fragte Agathe weiter, ihre Arme spannten sich etwas an.

Orpheus schien davon nichts mitzubekommen und schmunzelte amüsiert. „Verfolgen Sie mich?“

„Nicht doch“, versicherte Agathe und setzte sich gerade hin. „Ich bin lediglich interessiert darin, anderen Liebhabern der Magie zu begegnen.“

Und mit diesen Worten kippte die gesamte Stimmung am Tisch. Augenblicklich kniff Orpheus die Augen zusammen und musterte sie misstrauisch, sie glaubte Schweißperlen auf seiner Stirn zu entdecken.

„Magie, sagen Sie“, murmelte er. „Wie war noch gleich Ihr Name?“

Basta, der bisher nur schweigend zugesehen hatte, ging einmal um den Tisch und stellte sich hinter Orpheus.

„Agathe“, sagte die Frau.

„Nun, Agathe … Von was für Magie reden wir denn hier?“, wollte er wissen. Er klang mit einem Mal sehr wachsam.

Agathe legte den Kopf schief und hörte mit dem Lächeln auf. „Ich weiß es nicht genau. Man sagte mir nur, Sie wären der richtige Mann für solche Angelegenheiten.“

„Und wer, wenn ich fragen darf, hat Ihnen sowas erzählt?“, wollte er wissen.

„Ein alter Freund von Ihnen“, meinte Agathe leichthin.

„Ein alter Freund?“

„Vielleicht erinnern Sie sich an ihn, auch wenn es schon etwas länger her sein müsste, dass Sie ihm begegnet sind.“ Agathe legte die Beine übereinander. „Sein Name ist Basta.“

Der Ausdruck von Angst huschte über Orpheus‘ Gesicht, ehe er verärgert mit der Faust auf den Tisch schlug. „Basta ist …“ Zu dem Wort „tot“ kam er nicht mehr, denn Basta packte ihn grob im Nacken, sodass dem Mann die Luft abgeschnürt wurde und er nichts weiter tun konnte, als fassungslos nach vorne zu sehen.

„Hier“, beendete Agathe seinen Satz für ihn. „Basta ist hier.“

Mit geweiteten Augen sah Orpheus sie an, während er seine Kehle umklammerte, aber Basta ließ nicht los. „Wie zur Hölle ..?“, röchelte er, aber noch bevor er einen nächsten Atemzug nehmen konnte, schien ihm ein Licht aufzugehen. Er ließ seinen Blick über Agathe schweifen, fixierte sie, bevor er endgültig begriffen zu haben schien, was hier vorging. Immer noch nach Luft ringend versuchte, schwach zu lächeln. „Jetzt verstehe ich“, brach er leise hervor. „Du bist die Tochter.“

Da war es. Das Geständnis.

Sofort lehnte Agathe sich über den Tisch. „Sie geben es also zu, ja?“, zischte sie ihn an. In diesem Moment interessierte es sie nicht einmal, ob die Männer, die vorhin mit ihnen gespielt hatten, sie nach wie vor beobachteten und sich fragten, was hier gerade vor sich ging. „Sie geben zu, meine Mutter umgebracht zu haben?“

„Sie hat sich nicht an die Bedingungen gehalten!“, fauchte Orpheus sie plötzlich an, immer noch Bastas Hände an seiner Kehle. Nicht so fest, dass er erstickte, aber fest genug, um nicht abhauen zu können. „Du hättest da sein müssen. Das war der Handel.“

Agathe ließ sich in ihren Stuhl zurück fallen, ein wenig benommen. Das war er also wirklich. Da saß er, der Mörder, den sie gesucht hatte.

„Wieso haben Sie sie umgebracht?“, fragte Agathe trocken. Ihre Kehle fühlte sich rau an. „War es wirklich nötig?“

„Ich dachte, sie hätte dich mit Absicht weggeschickt, um dich von mir fernzuhalten.“

„Ich war lediglich für ein paar Tage verschwunden!“, fuhr Agathe ihn an.

„Das weiß ich jetzt auch“, röchelte Orpheus. „Aber ich habe ihr nicht geglaubt. Wenn ich gewusst hätte …“

„Seien Sie still“, entgegnete Agathe kühl. Sie musste schnell nachdenken. Orpheus hatte seine Erinnerungen in ihr versiegeln und Agathe dann irgendwann holen dürfen. Aber ... ihre Mutter? „Worum ging es in diesem Handel?“, fragte Agathe. „Was mussten Sie für meine Mutter tun?“

Wieder weiteten sich Orpheus‘ Augen, dieses Mal in Überraschung. „Du weißt es nicht?“

Agathe biss die Zähne zusammen. Dann schüttelte sie den Kopf.

Orpheus schien unsicher zu sein. Basta wirkte, als hätte er ihn nur zu gerne auf der Stelle erwürgt, aber er blieb geduldig und schaute Agathe abwartend an. Er wollte ihre Erlaubnis.

„Sie sollten mir jetzt lieber antworten“, sagte Agathe zu Orpheus.

Er wimmerte, als Basta etwas stärker zudrückte. „Bitte … Nicht“, flüsterte er.

Das ließ Agathe auflachen. „Sie winseln jetzt um Gnade?“, fragte sie spöttisch und verschränkte die Hände. Nach einem weiteren Blick auf ihn verzog sie den Mund. „Sie werden jetzt sterben. Und selbst wenn ich es wollen würde, könnte ich das nicht verhindern, denn Basta scheint so viel gegen sie zu haben, dass ich ihn kaum davon aufhalten können werde, Sie umzubringen.

„Basta, du …“ Weiter kam Orpheus wieder nicht.

Basta lehnte sich zu ihm vor, so nahe, dass er direkt neben dem Ohr des anderen Mannes war. „Na, Milchgesicht?“, fragte er bedrohlich leise. „Lange nicht gesehen.“ Er schien eine feste Gestalt angenommen zu haben, denn Orpheus konnte ihn jetzt hören.

„Das kannst du nicht machen!“, entgegnete Orpheus genauso leise – eher aus Luftmangel, als aus Angst, gehört zu werden. „Ich habe dich zurück geholt. Ich habe dich damals auferstehen lassen!“

„Zu deinem persönlichen Hund hast du mich gemacht“, zischte Basta ihn an. „Und das nicht einmal für lange.“

„Es war nicht meine Schuld, dass Staubfinger dich erkannt hat.“ Orpheus samtweiche Stimme wurde brüchig. „Woher hätte ich wissen sollen, dass er deinen Namen errät?“

Agathe runzelte die Stirn. Wovon sprachen die beiden?

„Ich bringe dich um“, sagte Basta. „Hier und auf der Stelle. Du hast ohnehin ein wenig zu lange gelebt. Lass mich raten – hast dich die letzten Jahre bestimmt mit deiner Zauberzunge durchgeschlagen, stimmt’s? Tja, das hat jetzt ein Ende.“

„Nachdem der Naterkopf tot war, musste ich mich in den Wäldern verstecken“, sagte Orpheus. „Ich war auf mich allein gestellt, weil ihr alle tot wart … Mir konnte keiner helfen ...“ Dass er in dieser Situation tatsächlich auf Mitleid hoffte, war unglaublich. Vor allem bei Basta.

„Und auch hier wird dir keiner helfen“, schnurrte Basta.

Orpheus griff mit einer plötzlichen Bewegung in seinen Ärmel und ehe Agathe sich versah, hatte er plötzlich einen kleinen Stapel an Papier herausgezogen. „Ich kann mittlerweile auf mich selbst aufpassen“, zischte er und warf einen kurzen Blick auf das Papier. Er hauchte ein paar Worte, kaum lauter als ein Flüstern, aber die Wirkung war unbeschreiblich.

Agathe schrie auf, als sich plötzlich in der Mitte des Tisches Flammen in die Höhe hoben und sprang von ihrem Stuhl auf, stolperte einige Schritte zurück. Das Feuer breitete sich rasend schnell aus und sprang sofort auf den Boden über. Basta war, obwohl er ein Geist war, nicht weniger erschrocken als sie und ließ Orpheus in seiner Panik los. Dieser erhob sich und stürmte in eine unbestimmte Richtung.

„Warte!“, schrie Agathe, aber das Feuer verbreitete sich so schnell, wie sie es noch nie gesehen hatte. Es waren aggressive Flammen, die an allem leckten, was ihnen in die Quere kam und bald hörte Agathe auch die restlichen Menschen im Gasthaus schreien. Sie selbst wurde von den Flammen eingekreist und sah hektisch hin und her, in der Hoffnung, einen Ausweg finden zu können – nebenbei hielt sie Ausschau nach Orpheus, aber der war spurlos aus ihrer Sicht verschwunden. Agathe fluchte und sprang durch eine der Flammenwände, der Umhang, unter dem sie ihre Männerkleidung versteckt hatte fing Feuer. Agathe schrie nun wie am Spieß und schlug auf ihre Kleidung ein, aber es brachte wenig. Hinter sich hörte sie den Rest der Menschen schreien, ein paar Türen fielen laut zu. Agathe stolperte zurück, als sich die Flammen langsam zu ihr hoch fraßen und dann stieß ihre Verse gegen etwas Hartes.

Sie fiel rückwärts auf den Boden und stieß sich den Kopf – an was, konnte sie nicht genau sagen. Sie wusste nur, dass die Hitze um ihren Körper intensiver wurde und ihr das Atmen immer schwerer fiel, weil der Raum sich mit dichtem, dunklem Rauch füllte.

Und zusammen mit dem Rauch kam auch Dunkelheit. Dunkelheit, die Agathe bald zur Gänze umhüllt hatte und ihre jede Sicht nahm. Sie wusste, was das hieß. Sie wurde ohnmächtig.

- Kapitel 20 -

 

Als Agathe wieder zu sich kam, sah sie über sich nicht länger die morsche Decke des Gasthauses, sondern den wolkenlosen, weiten Himmel und die Sonnenstrahlen, die auf sie herab schienen. Sie erlaubte es sich für einige Sekunden, diesen Moment zu genießen, ehe eine plötzliche Welle des Schmerzes über sie hinweg fegte. Leise wimmerte sie.

„Wachst du endlich auf?“, fragte eine vertraute Stimme neben ihr. Basta war ganz nahe.

„Wo ist … Orpheus?“, fragte Agathe erstickt. Selbst in diesem Zustand konnte das Verlangen nach Rache in ihr nicht ruhen. Das Feuer brannte dafür viel zu heiß.

Feuer. Wie eine Flut überströmten die Erinnerungen an die Geschehnisse vor ihrer Ohnmacht ihren Kopf und Agathe schloss wieder die Augen, krächzte.

„Verschwunden“, seufzte Basta.

Agathe presste die Lippen zusammen und ballte die Fäuste. Sie merkte erst jetzt, dass sie mit ausgestreckten Armen auf trockenem Gras lag. „Das Gasthaus …“, murmelte sie und versuchte, ihre Arme zu bewegen. Ihre Kraft reichte gerade mal dafür, sie über den Boden zu schleifen, bis sie mit einem von ihnen gegen etwas Festes stieß.

„Niedergebrannt“, antwortete Basta und Agathe erkannte erst jetzt, dass dieses festes Etwas er war. Sie bewegte ihre Hand weg. „Dieser elende Bastard“, hörte sie ihn wütend murmeln. „Ich hätte wissen müssen, dass er mit solchen Tricks um die Ecke kommen würde …“

„Wir müssen … ihn verfolgen“, keuchte sie, die Augen immer noch geschlossen.

Es tat so weh. Mit jeder Sekunde, die sie wach verbrachte, setzten die Schmerzen an ihrem Oberkörper noch mehr ein und irgendwann wich das Ganze ins Unerträgliche. Agathe wünschte, sie hätte wieder ohnmächtig werden können.

„Ausgeschlossen“, meinte Basta. „Er ist weg. Und du bist viel zu stark verletzt.“

„Verle ..?“ Agathe konnte kaum reden, ihre Zunge wog ungewöhnlich schwer.

„Du hast dort drinnen Feuer gefangen“, sagte Basta. „Dein ganzer Rücken ist verbrannt. Ich habe dich noch rechtzeitig dort raus schaffen können, aber das reicht nicht. Wir müssen dich zurück zur Festung bringen und versorgen, sonst werden die Wunden sehr übel ausfallen.“ Er räusperte sich. „Es könnte Narben geben.“

Agathe wollte protestieren. Ihre äußere Erscheinung hatte sie bisher nur gebraucht, um neue Männer anzulocken, die ihr Geschenke zur Verlobung machten, damit sie und ihre Mutter sich über Wasser hatten halten können – jetzt war das nicht länger nötig und somit auch nicht von Bedeutung. Orpheus zu fangen war wichtiger, als Agathes Körper zu erhalten.

Aber als sie den Mund öffnete, kam kein Laut heraus. Sie war viel zu schwach.

„Ich weiß, dass du das hier nicht mögen wirst“, hörte sie Basta plötzlich sagen, ehe er sich erhob. Seine Gestalt warf einen Schatten über Agathe. „Ich habe es vorhin auch nur gewagt, dich aus dem Gasthaus zu tragen, weil du ohnmächtig geworden bist – aber es ist wirklich notwendig, dich hier wegzuschaffen, bevor vielleicht noch einer der Freunde dieses Milchgesichtes hier ankommt und dich hier festhält.“

Agathe hatte nicht die Zeit, über seine Worte nachzudenken, denn plötzlich spürte sie, wie sich zwei Arme unter ihren Leib schoben. Sie keuchte auf – denn während der Schmerz, den sie normalerweise bei Berührungen spürte eher nervend war, war der hier gerade zu stechend. Ihr Rücken erlitt Quallen, als einer von Bastas Armen sich an ihn drückte, während er sie hochhob, der andere lag unter ihren Kniekehlen.

„Ich versuch, schnell zu sein“, hörte sie Basta leise sagen, bevor er sich in Bewegung setzte.

Agathes Hand hing schlaff herab, ihr Kopf hingegen nicht, weil Basta ihn zu stützen schien. Sie spürte die Bewegungen seines Ganges, die Hitze seines Körpers und die Schmerzen ihres Rückens. Zusammen war das zu viel für sie, vor allem in diesem Zustand.

Die Schwärze, die sie vor ihren geschlossenen Augen wahrnahm, vertiefte sich etwas und Agathe wusste, dass sie wieder zurück in die Bewusstlosigkeit driftete, aber dieses Mal war sie trotz der Berührungen weniger panisch. Sie war fast ruhig.

- Kapitel 21 -

 

Kiriaki machte sich auf das Schlimmste gefasst, als sie das Lager der weisen Hexen erreichte und die restlichen Mitglieder der Truppe entdeckte. Sie waren keine wirklichen Hexen, sondern lediglich ein paar Mädchen mit besonderen Fähigkeiten, die sich so nannten – das machte sie jedoch nicht weniger gefährlich, zumindest manche von ihnen.

Athina zum Beispiel. Athina konnte zu einer regelrechten Bestie werden, wenn sie es wirklich wollte. Bei ihrem letzten Wutausbruch gegenüber Kiriaki hatte sie dem Mädchen eine so saftige Ohrfeige verpasst, dass diese Sterne vor ihren Augen gesehen hatte – und damit war Athina noch relativ harmlos mit ihr umgegangen.

Es gab ja immer noch die Giftnadeln, die sie gerne mal für einen Stich benutzte, wenn jemand sich nicht so benahm, wie sie es gerne hätte. Kiriaki hoffte, keine von ihnen heute zu spüren bekommen zu müssen.

Mit gesenktem Kopf ging sie auf das Lager zu, das auf einer verlassenen Lichtung in der Nähe eines Flusses lag. Hier wurden die Mädchen von keinem Außenstehenden gestört und konnten unter sich bleiben, wenn sie mal nicht unterwegs waren, um mit ihren Fähigkeiten Geld zu verdienen.

Es war ein schmächtiges Lager. In der Mitte eine Feuerstelle und um es herum einige Zelte, die die Mädchen aus Decken, Ästen und anderem zusammen gebaut hatten. Jede von ihnen besaß ein eigenes, um darin alle Habseligkeiten aufbewahren zu können. Kiriakis Zelt war während ihrer Abwesenheit mal wieder in die Brüche gegangen, wie sie entdeckte.

„Da kommt sie ja“, sagte Ismene trocken, die an der Feuerstelle saß und Wasser zu kochen schien. Sie hatte Kiriaki als erstes bemerkt. Die anderen hatten nicht einmal den Kopf gehoben, als sie die Lichtung betreten hatte.

„Ich bin zurück“, sagte Kiriaki, als sie die Mitte des Lagers und somit auch Ismene erreicht hatte. Ismene war ein junges Ding – die jüngste unter ihnen. Sie hatte aschblondes Haar, das in wilden Locken um ihre Schultern fiel und an ihrem Leib trug sie ein schwarzes Kleid, das mit verschiedenfarbigen Lumpen zusammengeflickt worden war. Auch sie war barfuß, aber anders als Kiriaki trug sie weder Schmuck noch Blumen am Leib.

„Erzähl das nicht mir, sondern Athina.“ Ismene widmete sich wieder dem Topf voller Wasser. „Sie ist diejenige, die auf dich gewartet hat.“

Kiriaki nickte. „Wo ist sie?“, wollte sie mit zitternder Stimme wissen.

„In ihrem Zelt.“ Ismene warf einen Blick zu ihr hoch. „Hast du Geld?“

Kiriakis Schweigen war Antwort genug.

Ismene grinste. „Da wird jemand aber gleich Ärger bekommen.“

„Ich weiß“, seufzte Kiriaki niedergeschlagen. „Aber ich habe da gerade etwas am Laufen.“

„Sie hat frische Giftnadeln hergestellt!“, rief Ismene ihr leise nach, als Kiriaki mit steifen Schritten zu Athinas Zelt ging, das am anderen Ende des Lagers lag. „Nimm dich also in Acht!“

Als Kiriaki auf ihrem Weg zu Athina an Tamare und Vika vorbeikam, begrüßten sie sich nicht einmal – die beiden waren damit beschäftigt, auf Steinen Kräutern zu Pulver zu zerstampfen. Monika konnte Kiriaki nirgendwo entdecken. Vermutlich war sie ebenfalls noch unterwegs.

„Athina?“, fragte Kiriaki kleinlaut, als sie ihren Kopf in das dunkle Zelt schob, dessen Inneres einen stark ätzenden Geruch hatte. Athina saß im Schneidersitz auf dem Boden und schien gerade tatsächlich bei dieser Dunkelheit Nadeln zu präparieren. Auch sie hob nicht einmal den Kopf, als Kiriaki sie ansprach.

„Du bist also zurück“, meinte sie nur unbeteiligt und betrachtete das spitze Ende der Nadel in dem schwachen Tageslicht, das an Kiriaki vorbei in das Zelt fiel.

„Ja.“ Kiriaki schluckte hart.

Und danach folgte nichts mehr. Athina schien mit ihrer Arbeit fertig zu sein und packte die Nadel in ihrer Hand zu den restlichen von ihnen weg, in ein kleines Kästchen, das sie stets unter ihrer Decke versteckt hielt. Kiriaki konnte sich nicht vorstellen, mit einer Ladung an so tödlichen Waffen neben sich schlafen zu können.

Sie holte tief Luft. „Willst du nicht vielleicht irgendwas sagen?“, fragte sie nervös und spielte aufgeregt mit einer ihrer wirren Haarsträhnen.

Fast von allein wanderte ihr Blick zu dem Amulett, das Athina um den Hals trug – es war ein einziger, schwarzer Stein, der so glatt und makellos war, dass er an einen Kristall erinnerte. Sicher würde Athina ihn Kiriaki nicht einfach so übergeben, aber Basta war bereit, viel dafür zu bezahlen. Vielleicht würde sie sich ja überreden lassen.

„Was soll ich denn sagen?“, fragte Athina desinteressiert und blickte zu ihr hoch. Sie hatte so derartig farblose Augen, dass sie fast milchig erschienen. Genauso blass und trist waren ihre Haut und Haare, die glatt und gepflegt bis zu ihren Schultern reichten. Athina hatte zierliche, volle Lippen, die im Gegensatz zum Rest ihrer Erscheinung voller Fabre waren und sofort ins Auge sprangen. Sie war ein dünnes, aber hochgewachsenes Mädchen, das am liebsten graue Gewänder trug, in deren Falten sich Waffen und Giftpfeile verstecken ließen. Um den Hals und um die Handgelenke trug Athina genau wie der Rest der weisen Hexen Schmuck und Amulette, die man hätte verkaufen können.

Kiriaki wusste nicht, wie sie antworten sollte. Unbehaglich stand sie im Eingang des Zeltes.

„Ich nehme an, dass du kein Geld hast“, sagte Athina irgendwann und richtete sich auf. Achtlos schob sie sich an Kiriaki vorbei und trat ins Freie.

„Noch nicht“, gestand Kiriaki und folgte ihrer Anführerin.

„Was anderes hätte ich auch nicht von dir erwartet“, meinte Athina kühl.

   Es war nicht das erste Mal, dass Kiriaki eine derartige Begrüßung von ihr bekam, nachdem sie von einer Reise zurückgekehrt war, aber sie konnte trotzdem nicht anders, als bei ihren Worten zusammen zu zucken. „Entschuldige.“ Sie machte sich auf Ärger gefasst. Gleich würde es Geschrei geben, ganz viel.

Aber Athina blieb entspannt. Sie blickte rüber zu Ismene, die den Topf inzwischen vom Feuer weggenommen hatte. „Wie geht es mit dem Wasser voran?“, fragte sie.

„Fast fertig!“, rief Ismene.

„Und bei euch?“, fragte Athina Tamare und Vika.

Die beiden nickten stumm, als Zeichen, dass es fast so weit war.

„Was geht hier denn vor?“, wollte Kiriaki wissen. Sie schienen eindeutig an irgendwas zu arbeiten.

„Wir haben einen Auftrag bekommen“, erklärte Ismene ihr vom Weiten, ihr Blick wanderte gespannt zwischen Kiriaki und Athina hin und her. Sicher hatte sie auch eine andere Reaktion von ihrer Anführerin über Kiriakis Versagen erwartet und war jetzt gespannt, wie es weitergehen würde. „Dieses Mal sollen wir als Giftmischer tätig sein.“

„Und es soll auch ganz viel davon hergestellt werden“, ergänzte Tamare mit einem bösen Lächeln.

„Kann ich helfen?“, fragte Kiriaki sofort, begierig, ihren Fehler wieder gut zu machen, aber Athina gab ihr daraufhin einen so eisigen Blick, dass sie ihre Worte gerne zurückgenommen hätte.

„Mir wäre es lieber, wenn du die drei dort arbeiten lässt und mir stattdessen mal erklärst, was in letzter Zeit mit dir los ist.“

Kiriaki senkte wie ein getadeltes Kind den Blick zu ihren Füßen. „Du willst eine Erklärung, warum ich kein Geld mehr einbringen kann?“, fragte sie kaum hörbar.

Athina schnaubte. Sie war mit ihren siebenzehn Jahren einen ganzen Kopf größer, als Kiriaki. „Eine Erklärung brauche ich nicht“, meinte sie abfällig. „Die Erklärung ist, dass du nicht mehr und nicht weniger als eine völlige Versagerin bist. Ich wüsste nur zu gerne deine Seite der Geschichte. Irgendwer muss hier ja für Unterhaltung sorgen.“

Athina sprach nicht einmal leise und obwohl die drei beschäftigt waren, war Kiriaki sich sicher darin, dass Ismene, Tamare und Vika mit gespitzten Ohren lauschten, was hier gerade geschah.

„Es ist nicht so, dass ich dieses Mal überhaupt nichts erreicht hätte …“

„Also hast du etwas verdient?“

Kiriaki biss sich auf die Innenseite ihrer Lippe, die Augen nach wie vor zu Boden gerichtet. „Nein.“

„Und was sollst du erreicht haben?“

„Ich habe einen interessierten Kunden. Der viel zahlen würde …“, sagte Kiriaki mit einem weiteren Blick auf den Stein um Athinas Hals.

Athina reagierte jedoch völlig anders auf diese Neuigkeit, als Kiriaki es erwartet hätte – statt zumindest irgendwie erfreut oder erstaunt zu wirken, verdreht sie die Augen und schlug sich mit der Hand sachte gegen die Stirn. „Kiriaki …“, presste sie genervt zwischen den Zähnen hervor.

Diese stand bloß unbeholfen da. „Was denn?“ Sie wusste nicht, was sie falsch gemacht hatte.

„Mir reichen deine Ausreden langsam.“

„Das ist keine Ausrede!“

„Natürlich“, meine Athina spöttisch und nahm die Hand weg, um Kiriaki von oben bis unten mustern zu können. „Das sagst du auch bestimmt nicht, damit ich dir bloß etwas mehr Zeit gebe, in der du dir einen wirklichen Kunden suchen kannst.“

„Das … ist nicht so!“, widersprach Kiriaki heftig.

Athina hob eine ihrer fast durchsichtigen Augenbrauen. „Und wieso hast du ihm nicht gleich etwas verkauft?“, wollte sie herablassend wissen. „Wenn dieser Kunde, so wie du es sagst, tatsächlich existiert?“

„Er war nicht an meiner Ware interessiert.“

„So? Und was wollte er stattdessen?“

Kiriaki brauchte ein paar Sekunden, in denen sie genug Mut fand, auszusprechen, was ihr durch den Kopf ging. „Deinen Stein“, sagte sie und sah Athina direkt in die milchigen Augen.

Kurz legte sich stille über das Lager.

„Meinen Stein?“, fragte Athina.

„Ich glaube, dass er uns einen Haufen Geld dafür bezahlen könnte …“

„Und wo hast du so einen reichen Menschen gefunden?“

„Im Wald“, antwortete Kiriaki wahrheitsgemäß. Das hier drückte gegen ihre Nerven. Sie war doch immerhin erst eben nach Hause gekommen, und trotzdem konnte Athina nicht anders, als ihr vor versammelter Mannschaft eine Standpauke zu verpassen, ohne Begrüßung, ohne nette Worte … Es ging immer nur um Geld.

Aber Kiriaki konnte inzwischen damit leben, so lange sie einen Platz zum Bleiben hatte. Etwas, das sie Zuhause nennen konnte.

„Im Wald“, lachte Athina spöttisch auf und Kiriaki hörte Vika im Hintergrund kichern. „Du hattest auch schon bessere Lügengeschichten, Kiriaki.“

„Das ist keine Lüge.“ Kiriakis Stimme bebte vor aufkeimendem Zorn. „Er will deinen Stein und wird Geld dafür bezahlen. Ich garantiere das.“

„Auf dein Wort ist kein Verlass“, entgegnete Athina kühl, womit sie Kiriaki härter traf, als ihr vielleicht bewusst war. „Und selbst wenn es das wäre – es würde keine Rolle spielen. Der Stein ist viel zu wertvoll, um ihn zum Verkauf zu stellen.“ Sie nahm den schwarzen Kristall um ihren Hals in die Hand und strich mit dem Daumen über dessen glatte Oberfläche.

Ein Amulett, mit dem man an die Grenze zwischen der Welt der Lebenden und die der Toten treten und die weißen Frauen treffen konnte. So etwas hatte nicht jeder Zweite und auch Athina war nicht kampflos an ihn herangekommen. Für diesen Stein war schon eine Menge Blut vergossen worden.

„Aber …“ Kiriaki suchte verzweifelt nach Worten, fand aber keine. Geknickt ließ sie den Kopf hängen. „Sonst habe ich nichts vorzuweisen.“

„Das merke ich schon selbst“, sagte Athina, immer noch erstaulich ruhig. Für gewöhnlich hätte sie Kiriaki schon längst eine verpasst. Diese eisige Ruhe gefiel dem Mädchen nicht. Es war wie die Ruhe vor dem Sturm und als Athina weiter sprach, erkannte Kiriaki, dass sie mit ihrem schlechten Gefühl richtig gelegen hatte. „Allerdings solltest du nicht denken, dass das so weiter gehen wird. Mir reicht es, Kiriaki.“

Kiriaki sah mit großen Augen zu ihr auf und blinzelte. „Wie … meinst du das?“

„So, wie ich es sage. Mir reicht es“, wiederholte Athina und Kiriaki sah etwas wie einen Blitz durch ihre Augen huschen, als die Wut darin deutlich wurde. „Du kannst jetzt gehen und gefälligst etwas herbringen, was uns irgendwie nützt. Wenn du wieder nichts beschaffen kannst, brauchst du gar nicht erst zurückzukommen.“

Es dauerte ein wenig, bis Kiriaki den Schock verdaut und realisiert hatte, was Athina da sagte. „Du willst mich rausschmeißen?!“, fuhr sie ihre Anführerin mit bröckelnder Stimme an.

„Ganz recht.“ Athina verschränkte die Hände vor der Brust. „Morgen wirst du wieder gehen und wenn du weiterhin so nutzlos bleibst, gehörst du nicht länger zu den weisen Hexen. Ich habe die Nase gestrichen voll.“

„Das kannst du nicht machen!“ Kiriaki hätte von sich selbst Tränen erwartet, bei der Aussicht, ihr Zuhause – ihre Familie – zu verlieren, aber momentan spürte sie nichts anderes als Zorn. Heißer, brennender Zorn in ihrer Brust. „Du kannst mich nicht verbannen, Athina! Ich habe letzten Winter für dich gesorgt, als du die Grippe hattest! Ich habe dir dein Leben gerettet!“ Kiriakis Stimme überschlug sich mittlerweile fast. „Ich habe alles für diese Truppe gegeben, und zwar immer.“

„Das reicht nicht.“ Mehr hatte Athina nicht zu sagen.

Kiriaki schüttelte den Kopf und presste fest die Lippen zusammen. Sie spürte die Anspannung ihrer Muskeln, die Röte in ihrem Gesicht. „Das kannst du nicht!“, fauchte sie leise.

Athina legte den Kopf schief. „Wer soll mich aufhalten?“

Hilfesuchend sah Kiriaki zu Tamare, Vika und Ismene, aber sie alle taten, als würden sie es nicht bemerken und gingen weiter ihrer Arbeit nach. Keine von ihnen sagte irgendwas, denn auch wenn sie als eine Truppe lebten – hier draußen war sich jeder selbst der nächste und wenn sie überleben wollten, durften sie sich nicht mit der Anführerin anlegen.

Nicht mit Athina, diesem Biest.

„Morgen früh bist du verschwunden“, sagte Athina über die Schulter, nachdem sie sich von ihr weggedreht hatte, um zu Ismene und dem Wassertopf zu gehen. „Das ist deine letzte Chance, Kiriaki.“ Und damit ließ sie das Mädchen stehen.

Zu dieser Zeit prasselten so viele Emotionen auf Kiriaki ein, dass sie begann, die Welt um sich herum langsamer wahrzunehmen – mit dumpferen Geräuschen und verzerrten Bewegungen, die kaum an ihr Bewusstsein drangen. Sie spürte nur das Beben ihrer geballten Fäuste und das Zittern ihres schmalen Leibes.

Und die Wut. Die Wut war nur allzu deutlich spürbar für sie.

Eine letzte Chance, dass sie nicht lachte. Kiriaki hätte Athina ins Gesicht spuken können. Sie wollte sie tatsächlich von den weisen Hexen vertreiben? Einfach so? Ein Schauer lief ihren Rücken hinunter, als ihr bewusst wurde, dass ihr Bild von einem Zuhause so eben in tausend kleine Stücke zersprungen war – denn selbst wenn es ihr gelingen sollte, Geld aufzutreiben, war sie sich nicht mehr sicher, ob sie an einen solchen Ort zurückkehren wollte.

An einen Ort, der sie so ohne weiteres hätte wegwerfen können.

Und in diesem Moment fasste Kiriaki einen Entschluss, von dem sie sich nicht wieder abbringen lassen würde. Sie würde gehen, so wie Athina es ihr befohlen hatte, gleich morgen. Nur würde alles anders kommen, als die Anführerin es sich vielleicht gewünscht hätte …

„Du wirst noch sehen, Athina“, murmelte Kiriaki leise vor sich hin, während sie an den anderen vorbei zu ihrem Zelt schlenderte. „Du bist nicht die Einzige, mit der man sich nicht messen sollte.“

- Kapitel 22 -

 

Als Agathe das nächste Mal aufwachte, war der Schmerz zwar wesentlich schwächer, aber noch nicht völlig verschwunden. Er hatte sich lediglich zu einem dumpfen Pochen an ihrem Rücken und ihren Schultern reduziert, das sie langsam aus dem Schlaf zerrte.

„Mmm“, machte sie benommen und versuchte, sich zu rühren, ließ die Augen dabei aber geschlossen. Sie merkte schnell, dass der Grund unter ihr dieses Mal deutlich bequemer war, als das Gras, auf dem sie zuvor wach geworden war. Sie lag in einem Bett.

Unter einer Decke. Es war so schrecklich heiß, so heiß … Agathe öffnete die Augen und fand sich selbst in dem Zimmer wieder, das sie sich in Capricorns Festung ausgesucht hatte. Sie konnte sich nicht aufsetzen, war aber in der Lage, die Decke mit den Beinen von sich runter zu strampeln. Als sie bis zu ihrer Hüfte hinunter geglitten war, riskierte sie einen Blick nach unten und stellte fest, dass das Hemd, das sie trug, aufgeknöpft war. Darunter entdeckte Agathe einen Verband, der sich nicht nur um ihren gesamten Bauch, sondern auch um ihre Brust und eine ihrer Schultern schlang.

Verwirrt runzelte sie die Stirn.

„Aufgewacht?“, fragte plötzlich eine Stimme und Agathe sah zur Tür, um dort Basta stehen zu sehen. Er hatte ein Tablett in der Hand und sah mit wachsamem Blick zu ihr rüber.

„Warst du das?“, fragte Agathe sofort und wies auf den Verband, ehe sie versuchte, sich aufzusetzen. Es erforderte Mühe und schmerzte wie die Hölle, aber es gelang ihr irgendwie.

Basta nickte unsicher. „Ich wollte die Zeit nutzen, in der du bewusstlos warst, damit es dich nicht stört“, erklärte er und betrat das Zimmer, um das Tablett auf der Kommode neben dem Bett abzustellen. Dann sah er sie verunsichert an. „Ich hoffe, das ist in Ordnung.“

„Ja, ja, alles ist gut“, versicherte Agathe ihm schnell, während sie sich die Augen rieb. Eigentlich mochte sie es auch nicht, angefasst zu werden, während sie schlief, aber das war nicht mal ansatzweise so schlimm, wie im Wachzustand. So konnte sie es ertragen, auch wenn der Gedanke nicht angenehm war. „Ich war nur etwas überrascht, weil ich nicht gedacht hätte, dass du … sowas kannst.“

„Hatte auch schon ein paar Verbrennungen“, meinte er, bevor er sich auf eine Ecke des Bettes setzte.

„Jedenfalls, danke“, sagte Agathe und streifte das Hemd ab. Die Verbänder waren so eng und dicht gebunden, dass man ohnehin nichts sehen würde.

„In einigen Stunden müssen die Verbänder aber gewechselt und die Salbe frisch aufgetragen werden“, sagte Basta und wies zu dem Tablett, auf dem alles Nötige lag. Wo er die Salbe aufgetrieben hatte, war Agathe ein Rätsel. Basta räusperte sich. „Ich schätze, ab jetzt solltest du das selbst übernehmen.“

Agathe hatte keine Ahnung, wie sie das hätte anstellen sollen, aber da sie sich nicht vorstellen konnte, bei vollem Bewusstsein berührt zu werden, nickte sie lediglich.

Basta stützte sich mit den Armen hinter sich ab und lehne sich etwas zurück. „Gut.“ Dann breitete sich etwas wie ein zerknirschtes Lächeln auf seinem Gesicht aus. „Kein besonders guter Anfang für unsere Zusammenarbeit, was?“

„Basta … Woher kennst du diesen Orpheus?“, fragte Agathe.

Er seufzte entnervt. „Das ist eine verdammt lange Geschichte.“

„Genauso lang, wie die über diese anderen Welten, die du besucht hast?“

„Nicht ganz so lang“, meinte er zögernd. „Ist aber ziemlich stark mit ihr verknüpft.“

„Er meinte, er hätte dich auferstehen lassen“, hackte Agathe weiter nach. „Was hat er damit gemeint?“  

„Das war eine Lüge“, knurrte Basta. „Er hat mich nicht wirklich auferstehen lassen, sondern mich bloß gezähmt.“

Agathes Stirnrunzeln vertiefte sich. „Ich verstehe nicht …“

Basta stieß angespannt die Luft aus. „Ich war mal ein Nachtmar“, sagte er dann und ignorierte den verwunderten Blick, den Agathe ihm bei diesen Worten schenkte. „Ich bin im Kampf von einem Mann getötet worden, war aber anscheinend … zu böse, um in die Welt des Todes aufgenommen zu werden“, murmelte er mit genervt niedergeschlagenen Augen. „Deshalb haben die weißen Frauen mich zurück geschickt, in der Form einer … Bestie.“

„Und Orpheus ..?“

„Der hat mich zu seinem persönlichen Hund gemacht, nachdem er mitbekam, dass ich nach meinem Tod als Nachtmar weiterlebte“, murmelte Basta düster, die Erinnerung schien ihm nicht zu gefallen. „Das hat aber nicht lange gedauert, weil ein Mann namens Staubfinger mich erkannt und bei meinem Namen gerufen hat.“ Er dehnte seinen Nacken. „Das bringt Nachtmare um.“

„Ich weiß“, gab Agathe trocken zurück. Ihr Magen zog sich zusammen, allerdings nicht vor Hunger. Nachtmare – über diese Wesen hatte sie viel gehört und gelesen. Genug, um sich endlich erklären zu können, was hier eigentlich passierte.

Das war das Geheimnis von Bastas Beschwörung. Der Tod hatte ihn nie in sein Reich aufgenommen, sondern ihn als eine Art Monster in dieser Welt weiterleben lassen. Als Basta bei seinem Namen gerufen worden war, hatte sich zwar sein Körper aufgelöst, seine Seele aber nicht. Sie war in dieser Welt geblieben, viel zu böse, um den ewigen Frieden zu finden, aber eben ohne jede fleischliche Hülle.

Basta war nie richtig tot gewesen und existierte nur deswegen so, wie er es eben tat.

Agathe wurde übel, als sie begriff, dass ihr Plan wegen der Beschwörung ihrer Mutter so nicht klappen würde. Ihre Mutter war kein Nachtmar und sie würde niemals so menschlich wie Basta sein können, wenn Agathe ihren Geist beschwor. Sie würde bloß eine weitere, stumpfe Untote werden, weil ihre Seele bereits ins Jenseits gewechselt war …

Mit aufsteigender Verzweiflung in ihrer Brust vergrub Agathe das Gesicht in den Händen, an ihren Knien. „Scheiße …“, murmelte sie leise und mit zusammen gebissenen Zähnen. „Verdammt …“

„Was ist los?“, fragte Basta sie. Er dachte vermutlich, es lag an den Schmerzen.

„Nichts“, log Agathe halbherzig, ohne aufzusehen. „Absolut nichts.“

„Geht es dir nicht gut?“ Er klang nicht besonders besorgt, aber völlig unbekümmert schien er über ihren plötzlichen Stimmungswechsel auch nicht zu sein.

Agathe sah etwas überrascht auf. „Ja, nur … Vergiss es einfach.“ Sie winkte ab, weil das gerade leichter war, als ihm lang und breit zu erklären, dass sie ihrem Ziel, ihre Mutter zurückzuholen, kein Stück näher gekommen war. Im Gegenteil. Sie war zurückgestolpert. „Es ist nicht so wichtig.“

„Tut mir leid, dass Orpheus entkommen ist.“ Basta seufzte, dann wurde sein Gesicht wieder dunkel. „Ich hätte ihn nur zu gerne in Stücke geschnitten.“

„Ja.“ Agathe konnte nicht anders, als ihm zuzustimmen. Dann runzelte sie die Stirn. „Aber, du, sag mal … wie kam es zu deiner Reaktion auf die Flammen?“    

Überraschung huschte über Bastas Gesicht. „Hmm?“

„Das Feuer. Ich hatte fast den Eindruck, als hättest du …“ – Agathe traut sich kaum, es auszusprechen – „irgendwie Angst gehabt.“

Und damit schien sie ihn ertappt zu haben, denn sie sah Basta hart schlucken. „Das war bloß eine alte Gewohnheit aus meinen Lebzeiten“, sagte er ausweichend. „Feuer kann mir inzwischen nichts anhaben, aber …“ Er versuchte ein Lächeln zu Stande zu bringen, das aber eher ein wenig gequält und gezwungen wirkte. Wie eine Grimasse. „Es ist ziemlich schwer, manche Ängste von früher zu vergessen.“

„Du hattest Angst vor Feuer? Hast du dich mal verbrannt?“, fragte Agathe und er nickte knapp. „Wo denn?“, wollte sie wissen, da sie bei ihm bisher noch nie irgendwelche Brandnarben gesehen hatte.

Basta begann, sich etwas nervös vor und zurück zu wiegen. „An den Armen“, presste er dann hervor.

Agathe konnte nicht anders, als ihren Blick instinktiv dorthin zu führen und verstand. Er trug immer das dunkle Hemd mit seiner Jacke. Sie hätte die Narben gar nicht zu Gesicht bekommen können, falls er sie als Geist denn überhaupt noch besaß.

„Es besteht die Möglichkeit, dass dein Rücken auch …“ Er sprach den Satz nicht zu Ende und Agathe bildete sich fast ein, etwas Mitleid in seiner Stimme entdecken zu können.

Sie erinnerte sich nur an eine einzige Situation, in der er genauso viel Verständnis gezeigt hatte – als sie ihm am Bach erzählt hatte, sie würde es nicht mögen, sich dreckig zu fühlen. „Ich habe Dreck zu meinen Lebzeiten gehasst“, hatte er geantwortet und war sofort nicht mehr ganz so gespannt darauf gewesen, weiterzuziehen, statt ihr Zeit zu geben. Er hatte Verständnis gezeigt, weil er ihre Lage hatte nachvollziehen können.

Mit den Brandnarben schien es nicht anders zu sein.

„Das ist nicht schlimm“, sagte Agathe und betrachtete noch einmal den sorgfältig angelegten Verband. Er hatte dabei saubere Arbeit geleistet. „Es ist ja immerhin nur mein Rücken.“

„Du nimmst das so entspannt hin“, meinte Basta leise.

Agathe versuchte ein Lächeln. „Was sind schon ein paar Narben?“

„Das sagst du so“, meinte er. „Das wird sich ändern, sobald du das Ergebnis erst einmal selbst gesehen hast.“

„So schlimm kann es gar nicht sein.“

„Du hast keine Ahnung“, murmelte er und verschränkte die Hände vor der Brust, als würde er sie vor ihr verstecken wollen – dabei konnte sie gar nicht durch den Stoff sehen. Nach einer kurzen Pause sah Basta zögerlich zu ihr. „Und du hast wirklich keine Schmerzen?“

„Ein wenig … Aber nichts Dramatisches.“ Sie zuckte mit der Schulter. „Es hätte schlimmer kommen können.“

„Hab ich dir weh getan, als ich dich getragen habe?“

„Nein …“, versicherte Agathe ihm und legte sich zurück in das Kissen. Sie wusste nicht genau, wie sie mit seiner plötzlichen Fürsorge eigentlich umgehen sollte. Basta hatte sie schon mal zuvor gerettet, dabei aber immer nur, weil er sie gebraucht hatte.

Jetzt schien er tatsächlich Mitgefühl für sie als Person zu empfinden und das war … seltsam. Befremdlich.

„Na, dann ist es ja gut“, meinte er etwas abwesend. Dann stemmte er die Hände in die Knie und richtete sich kurz darauf auf. Als er stand, blickte er noch einmal zu Agathe hinunter. „Brauchst du vielleicht irgendwas?“

Agathe zog unentschlossen die Decke etwas höher. Die Hitze, die eben noch ihren gesamten Oberkörper umgeben hatte, wanderte nun auch zu ihrem Gesicht. „Hmm … etwas Wasser, vielleicht …“

„Ich bringe es dir gleich“, versprach er und steckte eine Hand in seine Hosentasche. „Außerdem ist immer noch etwas Fleisch von dem Reh übrig. Es würde dir gut tun, etwas zu essen.“

„Ja …“ Agathe nickte etwas unschlüssig. Dass er so nett war, wenn sie sich in einer Lage befand, die er nachvollziehen konnte … Es überraschte sie zutiefst, aber im positiven Sinne.

Sie stellte fest, dass es ihr tatsächlich sogar irgendwie gefiel, wenn er sich Gedanken um sie machte, nachdem er sie gerettet hatte. Sie war ihm dankbar – ein völlig neues Gefühl für sie.

„Vielleicht hörst du das nicht gerne“, begann Basta plötzlich und klang zum ersten Mal, seit sie ihn kannte, etwas müde. „Aber wir sollten die Jagd nach Orpheus für die nächste Zeit lassen. Zumindest, bis es dir wieder besser geht.“

„Wir müssen ihn finden!“

„Das werden wir auch“, versicherte Basta ihr. „Zuerst musst du jedoch wieder auf die Beine kommen. Das ist momentan wichtiger.“

„Basta …“

„Glaub mir, ich würde ihn auch nur zu gerne tot sehen.“ Sie glaubte ihm. Er sah so ernst aus, dass sie ihm in dieser Sekunde alles geglaubt hätte. „Aber es ist sinnlos, deine eigene Gesundheit dafür zu opfern. Erhol dich zuerst. Dann werden wir ihn uns schnappen.“

Agathe hielt überrumpelt inne, als sie begriff, dass sie und Basta vielleicht nicht die besten Partner waren, sie aber etwas Entscheidendes miteinander verband – der Wunsch, eine geliebte Person zurückzuholen und sich an Orpheus zu rächen. Sie verfolgten dasselbe Ziel, was Agathe noch nie zuvor passiert war. Sie hatte noch nie jemanden gekannt, der auch nur halbwegs so gewesen war, wie sie selbst und das machte Basta für sie mit einem Schlag fast sympathisch.

Generell stand er für sie nach diesem Tag in einem völlig anderen Licht da.

„Ich komme dann gleich wieder rauf“, meinte er zu ihr und unterbrach somit ihre Gedanken, bevor er das Zimmer verließ.

Agathe hätte ihm aus Reflex fast etwas hinterher gerufen, konnte sich aber noch rechtzeitig zurückhalten. Als seine Schritte verklangen, wickelte sie die Decke um ihren Oberkörper und vergrub ihr brennendes Gesicht darin, viel zu verwirrt über ihre eigenen Gefühle, um klar denken zu können.

Sie spürte mit einem Mal einen inneren Konflikt – denn wenn sie daran dachte, dass er sie getragen hatte, wurde ihr übel. Ließ sie die Berührungen aber außer Acht und dachte nur an die Tatsache, dass er sie gerettet hatte, schien etwas in ihrer Brust aufzuflammen. Sie dachte mit Unbehagen an seine Entführung an ihr, aber auch an die Ähnlichkeit zwischen den beiden.

Denn böse Menschen waren sie auf jeden Fall beide und vielleicht war es ja auch kein Zufall gewesen, dass Agathe ausgerechnet Basta beschworen hatte … schließlich sagte man ja, dass das, was zusammen gehörte, auch irgendwann zusammen fand …

Begann sie aus Dankbarkeit tatsächlich, ihn zu mögen? Er hatte sie gerettet. Er kümmerte sich um sie – und war ihr vor allem in mancher Hinsicht ähnlicher, als jede Person zuvor, der sie begegnet war.

Wenn nicht er ein Freund für sie werden konnte … wer sonst?

„Ou, Ehtaga“, murmelte Agathe leise in ihre Decke und vergaß mit einem Mal die ganzen Schmerzen ihres Oberkörpers, den er so gut versorgt hatte. „Es scheint tatsächlich, dass du mit der Zeit immer stärker wirst …“

- Kapitel 23 -

 

Agathe krallte sich immer noch in ihre Decke, als Basta endlich wieder hoch kam, mit einem Teller und einem Glas Wasser in den Händen. Verwirrt blieb er im Türrahmen stehen und fixierte sie. „Stimmt etwas nicht?“ fragte er mit schief gelegenem Kopf.

Sofort setzte Agathe sich aufrecht hin und schüttelte den Kopf. „Es ist alles in Ordnung.“

„Wenn du meinst“, sagte er und reichte ihr das Essen mit dem Wasser. In dem Moment, in dem Agathe der angenehme Geruch entgegen schlug, erkannte sie, warum er so lange gebraucht hatte – er hatte es zunächst für sie aufgewärmt. Peinlich berührt legte sie sich eine Hand an ihren Magen, als dieser kaum hörbar knurrte.

„Ich bin echt hungrig“, murmelte sie. „Wie lange war ich eigentlich bewusstlos?“

„Gestern ist das Gasthaus niedergebrannt“, erklärte er und wollte sich wieder auf das Bett setzen, übersah wegen der Decke jedoch Agathes Bein.

Als er sich auf die Spitze ihres Fußes setzte, zuckte sie reflexartig so heftig zurück, dass sie beinahe den Teller in ihren Händen umgeworfen hätte. Das Glas Wasser stand auf der Kommode, neben dem Tablett mit der Salbe.

„Tut mir leid“, hörte sie ihn murmeln, als er sich in eine der weiter entfernteren Ecken des Bettes schob. „Ich habe kurz vergessen, dass man sich lieber von dir fern halten sollte.“

„Es ist nichts, nur … ich mag das nicht und … das kam … etwas überraschend“, nuschelte Agathe als Antwort. Sie hatte ihre Knie eng an sich gezogen, gerade so, dass sie noch den Teller halten konnte. Das Fleisch packte sie einfach mit den Fingern.

„Was genau ist das eigentlich mit deinen Berührungsängsten?“, fragte Basta und schlug die Beine über einander. Er sah zu ihr, als Agathe in das Fleisch biss und es war ihr etwas unangenehm, von ihm beobachtet zu werden, während sie aß.

Sie war Gesellschaft nicht gewöhnt.

„Was meinst du?“, fragte sie unschuldig. Mittlerweile wusste sie ja, was es damit auf sich hatte. Nur würde sie sich davor hüten, es ihm jetzt zu erzählen – dafür war sie noch viel zu müde.

Und wenn er erst mal erfuhr, dass sie mit seiner Hilfe und reinem Willen ihre Berührungsängste hatte überwinden wollen … Agathe wurde etwas rot, überspielte es aber, indem sie weiter von ihrem Fleisch aß.

„Ich meine, ob du eine Idee hast, woher das kommen könnte und wie es sich eigentlich anfühlt.“ Er kniff leicht die Augen zusammen. „Was genau ist daran so schlimm für dich?“

„Es fühlt sich an wie Vergewaltigung“, sagte sie geradeheraus, aber ohne ihn anzusehen. „Manchmal ist es unerträglich. Es juckt und kratzt und ist störend auf der Haut.“ Sie suchte nach einem Vergleich, der es ihm hätte beschreiben können, bis ihr ein Einfall kam. „Als wäre dein Körper mit Dreck bedeckt. Du musst ihn einfach fortwischen, weil er dir zwar nicht weh tut, aber …“ Sie stockte kurz. „Du verstehst schon.“

Er runzelte die Stirn. „Ich schätze, schon.“

Agathe schlang das letzte Stück des Fleisches hinunter. Als sie fertig war, stellte sie den Teller ab und griff stattdessen nach dem Glas, um einen Schluck trinken zu können.

„Wenn du solche Ängste hast“, sagte Basta dann unvermittelt, „hattest du bisher bestimmt noch nie einen Mann, oder?“

Etwas blieb Agathe in der Kehle stecken. Sie bewegte das Glas weg von ihren Lippen und begann fürchterlich zu husten, etwas von der Flüssigkeit lief über ihre Mundwinkel. Sie schlug sich mit der Faust sachte gegen die Brust und stellte das Glas weg. Erst nach einigen Sekunden bekam sie wieder Luft.

„Ich schätze, das heißt nein“, sagte Basta trocken, der nicht ganz so gelassen dreinschaute, wie seine Stimme klang. Seine Augen waren hinsichtlich Agathes Hustenanfalls etwas geweitet.

„Ich hatte noch nie einen Mann“, sagte Agathe, immer noch keuchend. „Wieso fragst du sowas?“

„Hab nur laut nachgedacht“, meinte er und zupfte selbstvergessen seine Ärmel zurecht. „Schließlich werden in dieser Welt Mädchen schon in frühen Jahren zur Ehe abgegeben.“

„In dieser Welt“, spottete Agathe leise. „War es in diesen angeblichen Welten, die du bereist haben sollst denn anders?“

„Vieles war anders“, sagte Basta und legte den Kopf in den Nacken. „Es gab kleine Schachteln mit Feuer darin. Kutschen, die ohne Pferde fuhren. Kästen mit Bildern, die sich bewegt haben. Waffen, deren Stärke du dir nicht einmal erträumen kannst. Und Licht in gläsernen Gefäßen, das kein Feuer war.“ Er lachte leise auf. „Ja, es gab dort praktische Dinge.“

„Willst du mir nicht vielleicht mal mehr davon erzählen?“, fragte Agathe und lehnte sich zurück, im Versuch, nach der Frage über ihre Beziehung zu Männern ein neues Thema anzusprechen. Es war zwar ohnehin ziemlich offensichtlich, aber in gewisser Weise hatte sie gerade offen zugegeben, mit ihren fünfundzwanzig Jahren immer noch Jungfrau zu sein.

Obwohl das bisher kein wirkliches Geheimnis von ihr gewesen war, kam es ihr jetzt plötzlich etwas … beschämend vor. Sie fühlte sich ihm gegenüber wie ein Kind.

„Was willst du hören?“

„Was Orpheus mit der ganzen Sache zum Beispiel zu tun hat.“ Ihr Gesicht wurde grimmig. „Ich will alles erfahren.“

„Aber ich warne dich schon jetzt“, sagte Basta und holte ohne jede Vorwarnung den Dolch heraus, den er mittlerweile bei sich trug – aber nur, um mit ihm zu spielen. „Es ist eine verrückte Geschichte.“

„Und solche sind mir am liebsten“, meinte Agathe, bevor er begann, zu erzählen.

Es war eine lange Erzählung. Basta sagte etwas von Zauberzungen, von Schreibern und Büchern. Er erzählte von zehn langen Jahren, die er mit diesem Capricorn in der anderen Welt verbracht haben soll, von Orpheus, der sie hierher zurückgebracht und sich schließlich selbst in diese Welt gelesen haben soll.

Irgendwann machte Agathe eine abschneidende Bewegung, weil sie nicht mehr hinterher kam. „Du meinst … jemand hat euch in ein Buch gelesen?“, fragte sie.

„Nein, herausgelesen“, erklärte Basta. „Das hier ist das Buch. Wir sind momentan im Buch.“

Agathe war viel zu fasziniert, um weiter über diese Aussage nachzudenken oder zumindest geschockt über sie zu sein. Sie lehnte sich vor. „Aber wenn das, was du da sagst wirklich alles stimmt, dann … dann ist es theoretisch möglich eine ganze Welt mithilfe von nichts als Tinte und Papier zu erschaffen?“, fragte Agathe mit aufsteigender Begeisterung in ihrer Brust.

„Mithilfe einer Zauberzunge“, betonte Basta.

„Und wie viele gibt es von ihnen?“

„Lass mich mal sehen …“ Basta dachte kurz nach. „Da wären dieser Orpheus, der Buchbinder und sein Gör von Tochter. Das sind alle, die sich in unserer Welt aufhalten, sobald ich weiß.“

„Wer sind die anderen beiden?“

„Der Buchbinder war derjenige, der Capricorn und mich damals überhaupt in seine Welt gelesen hat“, erzählte Basta mit trübem Blick. Dann sah Agathe, wie sich seine Schultern straften. „Er war auch derjenige, der Capricorn tötete“, knurrte er leise. Dann schnaubte er verärgert. „Dieser Bastard hat alles kaputt gemacht.“

Agathe hätte Basta gerne weiter über diese Zauberzungen ausgefragt, aber etwas verriet ihr, dass seine Stimmung gerade mächtig gesunken war. Sie konnte nicht gut mit Menschen, war aber schlau genug, um zu erkennen, dass es der richtige Moment gewesen wäre, ihn irgendwie zu trösten.

„Was genau musstest du eigentlich machen, während du für diesen Capricorn gearbeitet hast?“, fragte sie, in der Hoffnung, die Erwähnung seines alten Herren würde ihn etwas besser stimmen – in Gedanken hing sie aber immer noch der Geschichte nach, die er eben erzählt hatte.

Es klang fast zu absurd, um wahr zu sein – aber Agathe hatte schon viele absurde Sachen in den letzten Jahren erlebt, die sich als überraschend echt herausgestellt hatten. Sie sah das hier als eine gute Gelegenheit, auch wenn sie noch keinen genauen Plan hatte, wie sie dieses neu erlangte Wissen über Zauberzungen nutzen konnte.

Sie wusste nur, dass sie es auch versuchen wollte, mit Hilfe von nichts weiter als Stift und Papier neues Leben zu erschaffen, neue Welten. Sie wollte Gott spielen.

Ein Schauer lief ihren Rücken hinunter.

„Was ich machen musste?“, fragte Basta und augenblicklich wurden seine angespannten Gesichtszüge etwas lockerer. Er verschränkte nachdenklich die Arme vor der Brust, während er kurz überlegte, die blauen Augen nach oben gerichtet. „Alles Mögliche, eigentlich. Ich war seine rechte Hand. Vor allem war ich aber als Brandstifter und Messerknecht tätig.“

Agathe hob fast amüsiert eine Augenbraue. „Brandstifter und Messerknecht?“, fragte sie belustigt. „Wieso bin ich nicht überrascht?“

„Brandstifter vielleicht ein bisschen weniger, über die Jahre“, meinte Basta. „Nachdem ich mich verbrannt habe, war es damit erst einmal für eine Weile vorbei.“

„Über die Jahre? Hast du lange für Capricorn gearbeitet?“, fragte sie.

„Mein ganzes Leben, eigentlich.“ Er fuhr sich durch das dunkle Haar.

„Hat er dich gefunden, als du noch klein warst?“, rutschte es Agathe heraus. Sie war ja bereits von selbst drauf gekommen, dass Basta ein Waisenkind gewesen sein musste.

Basta kniff bei ihrer Frage wieder die Augen zusammen. „Ganz schön persönliche Fragen, meinst du nicht auch?“

„Sagt der Richtige“, murmelte Agathe und dachte an seine vorherige Frage.

Basta stieß einen belustigten Laut aus. Offenbar hatte er verstanden, worauf sie anspielte.

„Bist du fertig?“, fragte er mit einem Blick auf das dreckige Geschirr, das auf der Kommode stand.

Agathe wusste zwar nicht, was die Frage sollte, nickte aber. „Ja.“

„Dann bringe ich das eben weg“, meinte er und stand auf, um es zu holen.

Agathe sah ihn schief an. „Wieso?“

„Weil ich es gerne ordentlich mag“, erklärte er etwas gereizt und wollte scheinbar ernsthaft gehen.

„Basta, diese Festung ist eine Bruchbude!“, sagte Agathe und betrachtete den Boden, der von Geröll und Steinbrocken überdeckt war. Von dem eingeschlagenen Dach und dem kaputten Fenster wollte sie gar nicht erst anfangen. „Wieso zur Hölle willst du hier bitte Ordnung halten?“

„Es muss ja nicht immer so bleiben“, sagte er. „Sobald Capricorn zurückkommt, kann man alles wieder aufbauen.“

„Du denkst, dass er das schaffen könnte?“

„Er ist mächtig“, sagte Basta ehrfürchtig und nickte bestimmt. Agathe entging nicht, wie begeistert er stets von seinem alten Herrn sprach. Nach dem, was er ihr eben erzählt hatte, glaubte sie kaum noch, dass er ihn bloß als Meister angesehen hatte. Da hatte mehr dahinter gesteckt. „Er wird das schaffen, ganz bestimmt.“

„Hmm.“ Sie wusste nicht, was sie hätte hinzufügen sollen, aber sie begriff, dass sie sich schnell etwas überlegen musste, als er begann, auf die Tür zuzugehen. Einerseits brauchte sie Zeit, um darüber nachzudenken, was er ihr über die Zauberzungen erzählt hatte, aber gleichzeitig wollte sie auch nicht, dass er ging. Nicht jetzt, nicht, nachdem er sie gerettet hatte und sie seine Aufmerksamkeit wollte.

Aus einem Impuls heraus, den sie selbst nicht erklären konnte, begann sie plötzlich, zu singen. Leise – aber laut genug, um gehört zu werden.

Basta erstarrte an der Tür. Er blieb kurz mit dem Geschirr dort stehen, bevor er sich langsam zu ihr umdrehte und lauschte. Agathe konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen und versuchte, es hinter ihrer Hand zu verbergen. Zum ersten Mal war sie wirklich froh, mit einer solchen Stimme gesegnet worden zu sein.

Sie sah, wie er zur Seite trat und sich an die Wand lehnte, mit dem Gesicht zu ihr. Aus der Ferne wirkten seine Augen sogar ein wenig heller und Agathe versuchte, nicht hinzusehen. Sie sang leise das Lied aus ihren Kindestagen, einen ganz bestimmten Gedanken dabei im Hinterkopf.

Basta hatte gemeint, Agathe würde ihn beim Singen an eine Frau erinnern, für die er mal etwas empfunden hätte. Wenn sie für ihn sang, weckte das vielleicht irgendwelche Gefühle aus seinen Lebzeiten in ihm. Vielleicht würde er ebenfalls beginnen, sie zu mögen und als etwas wie eine Freundin anzusehen.

„Was genau war das jetzt?“, fragte Basta ein wenig amüsiert, als Agathe das Lied zu Ende gesungen hatte. Er hatte sich nicht von der Stelle gerührt.

„Ich weiß nicht genau. Ich hatte gerade eben Lust dazu.“

„Du bist ganz schön munter für jemanden, der bis eben noch wegen schlimmer Verbrennungen bewusstlos gewesen war“, meinte er. Dann hob er eine Augenbraue. „Und gesprächig. Womöglich wäre hin und wieder etwas Gesellschaft für dich doch besser, als du glaubst“, neckte er sie mit einem fiesen Lächeln, aber Agathe war zur Zeit nicht in der Verfassung, es ihm wirklich übel zu nehmen.

Sie war immer noch dankbar und verdrehte lediglich die Augen. „Pff. Erscheint mir nicht gerade so, als ob du wirklich etwas dagegen hättest. Ich meine, dich hat niemand gezwungen, da zu stehen und zuzuhören.“

„Nein“, gab Basta ihr recht.

„Was ist jetzt eigentlich mit den Verbändern?“, fragte Agathe, als der Schmerz in ihrem Oberkörper sich wieder meldete. „Ich habe keine Ahnung, wie man sie wechselt. Du wirst es mir erklären müssen.“

„Vielleicht sollten wir das um ein paar Stunden verschieben.“ Basta hob plötzlich den Kopf und starrte an Agathe vorbei, in eine unbestimmte Richtung. Als könne er durch die Wand hindurch sehen.

„Wieso?“, wollte Agathe wissen.

Basta beachtete sie nicht. Er ging mit dem dreckigen Geschirr an ihr vorbei zu dem Loch, das einst mal ein Fenster gewesen war und lehnte sich hinaus. Ein diabolisches Grinsen erschien auf seinem Gesicht. „Wusste ich es doch.“

„Was ist denn?“, hackte Agathe nach, als er nicht antwortete und erntete einen verschwörerischen Blick in ihre Richtung.

„Die Kleine kommt“, erklärte Basta, die Stimme heiser vor Zufriedenheit.

- Kapitel 24 -

 

Basta hatte sofort ohne Weiteres runter stürmen wollen, um Kiriaki zu empfangen, aber Agathe hatte ihn davon abgehalten.

„Warte!“, hatte sie schnell gesagt. „Ich komme mit.“

„Du kannst jetzt nicht aufstehen“, hatte er sie streng und etwas irritiert zurecht gewiesen, während er mit dem ausgestreckten Finger auf sie gezeigt hatte. „Du brauchst Bettruhe. Ich kriege das schon hin.“

„Ich bleibe hier nicht alleine liegen, während du mit ihr redest“, hatte Agathe stur erwidert. „Ich will hören, was sie zu sagen hat.“

„Dann kommen wir eben gleich zu dir rauf.“

„Bis dahin hat sie dir schon alles erzählt.“

„Jetzt stell dich doch nicht so an“, hatte er entnervt gestöhnt.

Agathe hatte, ohne ihn zu beachten, die Beine über die Bettkante geschwungen – nur das Aufstehen hatte zunächst nicht richtig klappen wollen. Ihre Kräfte waren dafür viel zu beschränkt gewesen.

„Lass es einfach sein“, hatte Basta sie ungeduldig angefahren, das dreckige Geschirr hatte er auf der Kommode abgestellt.

„Nein.“ Agathe hatte sich verbissen gegen die Bettkante gestemmt, war aber nicht hochgekommen. „Du könntest mir ja auch helfen.“

„Wie denn?“, hatte er bissig gefragt. „Ohne dich anzufassen.“

„Hier“, hatte Agathe nur entgegnet und ihm ein Ende des Hemdes hingehalten, das sie vorhin noch getragen hatte. Das andere Ende hatte sie selbst festgehalten. „Zieh.“

„Das ist albern“, hatte Basta gemeint, dabei jedoch gehorsam an das Hemd gegriffen. „Können wir es nicht einfach sein lassen?“

„Wenn du ziehen würdest, statt zu reden, wären wir schon fertig“, hatte Agathe bloß gesäuselt.

Und jetzt, nur wenige Minuten später, waren sie bereits dabei, nebeneinander die kaum noch vorhandene Treppe hinunter zu gehen.

„Siehst du?“, fragte Agathe – darauf bedacht, ihm auf der engen Treppe nicht zu nahe zu kommen –, während sie versuchte, das Gleichgewicht zu bewahren. Das Hemd hatte sie sich wieder übergeworfen, jedoch nicht zugeknöpft. „So lange hat es nicht gedauert.“

„Du kannst einen richtig nerven“, knurrte Basta, der es jetzt sehr eilig hatte, runter zu kommen.

Gerade, als Agathe zu einer hitzigen Antwort ansetzen wollte, hörten sie beide von unten plötzlich eine Stimme.

„He, Basta! Agathe!“ Es erklangen Schritte. „Ist irgendwer da?“

Kiriaki war längst in der Festung, als Basta und Agathe das Ende der Treppe und somit auch den Eingangsbereich erreichten. Heute war das Mädchen aber nicht alleine unterwegs – über ihrer Schulter hing eine recht große Tasche, die prall gefüllt war. Agathe fragte sich unwillkürlich, weshalb das Mädchen so viel mit sich geschleppt hatte.

„Endlich bist du zurück“, grinste Basta, der auf Kiriaki zuging. „Hast du das, worum wir dich gebeten haben, mitgebracht?“

Das Mädchen fixierte ihn mit ausdruckslosen Augen, als er einige Schritte von ihr entfernt stehen blieb. Sie musste zu ihm auf sehen. „Ja“, sagte sie dann tonlos. „Ich habe es mit.“ Sie stand in der Nähe des Einganges und wirkte mit ihrer kleinen Gestalt etwas verloren vor dem riesigen Tor. Agathe wusste nicht, woher dieser Gedanke kam.

„Großartig!“, sagte Basta eher zu sich selbst, als zu ihr, während Agathe zögernd hinter ihn trat. Er lachte einmal auf und vergrub das Gesicht kurz in der Hand. „Perfekt.“

Agathe glaubte insgeheim, dass er sich etwas zu früh freute, aber das behielt sie für sich.

„Hier ist es“, sagte Kiriaki auf dieselbe, monotone Art und holte plötzlich etwas aus ihrer vollen Tasche. In der Hand hielt sie einen schwarzen Stein, den sie ihnen demonstrativ entgegen hielt – kaum größer als eine Eichel und glatt wie Glass.

Agathe hob die Augenbrauen. „Das soll uns helfen können?“ Sie zog das Hemd etwas enger um sich. Ihr Oberkörper brannte, aber das hier war zu wichtig, um es zu verpassen. Sie bereute es nicht, aufgestanden zu sein.

„Das wird es“, versicherte Kiriaki ihr, ihre Stimm etwas müde. Erst jetzt bemerkte Agathe die dunklen Ringe um ihre Augen. Als hätte sie lange nicht geschlafen. „Das garantiere ich.“

„Das hört man gerne“, meinte Basta und wieder blitzte in seinen Augen etwas Gefährliches auf, als er zufrieden zu Kiriaki sah. Agathe fiel auf, dass sein Gesicht immer etwas Raubtierhaftes bekam, wenn es darum ging, sein Ziel zu erreichen und Capricorn zurückzuholen. „Du bekommst dein Geld sofort, nachdem die Sache hier erledigt ist“, sagte er wohlwollend zu dem Mädchen vor ihm.

„Vergiss das Geld“, schnaubte Kiriaki plötzlich verächtlich.

Das nahm sowohl Agathe, als auch Basta kurz die Fassung. Es folgten einige Sekunden Stille.

„Wie?“, fragte Basta überrascht. „Was meinst du damit?“

„Ich brauche kein Geld. Du kannst es behalten“, erklärte Kiriaki und winkte ab.

„Aber das war doch der Handel“, meinte Basta etwas verwirrt und auch Agathe konnte nicht verstehen, worauf das Mädchen hinaus wollte.

„Ich weiß“, seufzte Kiriaki. „Aber ich habe meine Meinung geändert.“

„Geändert?“, fragte Basta misstrauisch. „Willst du den Handel etwa brechen? Das lasse ich nicht zu.“

„Nein, ihr bekommt den Stein auf jeden Fall“, sagte Kiriaki. „Nur will ich dafür auf andere Weise bezahlt werden.“

„Woran hast du da gedacht?“, fragte Basta etwas angespannt.

Agathe beobachtete das Ganze nur schweigend aus dem Hintergrund. Sie hoffte nur, dass Kiriaki verstand, in was für einer Gefahr sie da eigentlich gerade schwebte. Der Stein war hier und Basta hätte sie auch einfach töten können, ohne ihr überhaupt irgendeine Art von Bezahlung zu kommen zu lassen. Das einzige Problem wäre gewesen, dass sie ohne Kiriaki nicht wüssten, wie man den Stein verwendete, aber Agathe bezweifelte irgendwie, dass Basta so weit vorausdenken würde, wenn Kiriaki ihn jetzt wütend machen sollte.

Ich werde im Notfall eingreifen müssen, dachte Agathe.

„Ich will hier bleiben dürfen“, sagte Kiriaki gerade heraus und ließ die Tasche von ihrer Schulter gleiten, sodass sie dumpf zu Boden fiel.

Wieder sagte eine kurze Zeit lang niemand was.

„Hier bleiben?“, fragte Basta entrüstet.

„In der Festung, bei euch beiden“, bestätigte Kiriaki.

„Wieso?“, wollte Basta wissen, seine Stimme unsicher, aber wachsam.

Kiriaki schnaubte wieder. „Weil ich momentan sonst keinen Platz habe, an den ich gehen kann. Ich werde auch nicht für immer bleiben, keine Sorge. Nur, bis ich etwas anderes finde. Und bis dahin kann ich euch etwas unter die Arme greifen.“ Sie sah zu Agathe. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass du interessant finden könntest, was ich dir zeigen kann.“ Sie trat gegen ihre Tasche, in der allem Anschein nach Bücher zu sein schienen. „Ich habe hier etwas mitgebracht.“

„Du willst dich uns also anschließen?“, fragte Basta, während sein Grinsen langsam zurück kehrte. Dieses Mal war es aber eher hämisch, als zufrieden. „Gehörst du nicht zu deiner … wie war der Name noch gleich? Athina?“ Sein Ton hatte etwas Spitzes.

Wütend funkelte Kiriaki zu ihm hoch. „Nicht mehr.“

„Du willst nicht zu ihr zurück?“ Derselbe Ton. Er wollt sie es sagen hören.

„Nie wieder. Ich geh nie wieder zurück“, sagte Kiriaki bestimmt und gab ihm somit, was er wollte. Sie gab ihm die unausgesprochene Bestätigung, dass er mit seiner Vermutung über ihre Beziehung zu dieser Athina recht gehab hatte. „Ich habe diese Schlampen satt.“

Das entlockte Basta wieder ein kurzes, dunkles Lachen. Es halte von den demolierten Wänden der Festung wieder wie ein Echo. „Du kannst bleiben“, sagte er dann und trat einen Schritt zur Seite, als würde er sie durchlassen wollen. „Such dir oben ein Zimmer aus. Fühl dich wie Zuhause.“ Mit dem letzten Satz schien er sie nur verspotten zu wollen, aber Kiriaki reagiert darauf nicht.

Sie hob ihre Tasche und sah zu der Treppe, etwas wie Erleichterung im Blick.

Agathe leckte sich über die Lippen. Ein Zusammenleben mit einer Gauklerin … das hätte interessant werden können.

„Wie lange wird es dauern, bis wir anfangen können?“, fragte Basta sie, als sie sich bereits in Bewegung gesetzt hatte.

„Womit?“, entgegnete Kiriaki.

„Diesen Stein zu benutzen“, meinte Basta.

Kiriaki blieb stehen und überlegte kurz. „Ich muss ein bisschen was dafür vorbereiten“, murmelte sie, dann sah sie zu Agathe. „Und wie wir beide vorgehen werden, würde ich auch noch einmal gerne mit dir besprechen.“

Agathe schluckte und nickte.

„Wie lautet nun die Antwort auf meine Frage?“, wollte Basta etwas irritiert wissen. „Wann genau können wir endlich anfangen?“

Kiriaki fuhr sich seelenruhig durch das Haar, als hätte sie alle Zeit der Welt, darüber nachzudenken. Als würde sie nicht die heftige Energie bemerken, mit der Basta darauf wartete, eine Antwort zu bekommen. „Heute Nacht“, sagte sie dann langsam. „Heute Nacht müssten wir schon so weit sein.“

- Kapitel 25 -

 

„Bist du dir sicher, dass du ausgerechnet dieses Zimmer haben willst?“, fragte Agathe, die Kiriaki die Treppe hochgefolgt war und nun im Türrahmen des Raumes stand, den das Mädchen für sich eingenommen hatte. Es war das Zimmer neben Agathes, sah jedoch viel schlimmer aus. Das Dach war hier kaum noch vorhanden und auch die Wände wirkten stark danach, als hätten sie jeder Zeit einfallen können.

Einer der am meisten zerstörten Teile von Capricorns Festung.

„Ich habe schon an viel schlimmeres Orten geschlafen“, meinte Kiriaki achselzuckend und warf ihre Tasche auf das Bett, das gefährlich ächzte. Agathe war sich fast sicher, dass selbst Basta, der unten geblieben war, das Geräusch hätte hören können – aber andererseits war er wohl viel zu abgelenkt, um auf so etwas zu achten.

Seine Gedanken waren jetzt ganz bei Capricorn und Agathe war das eigentlich auch ganz recht. So hatte sie mal die Gelegenheit, Kiriaki unter vier Augen zu sprechen.

„Trotzdem“, murmelte Agathe, die das eingestürzte Dach mit misstrauischen Blicken bedachte. Selbst wenn es tatsächlich standhalten sollte, würde es bei Regen nichts ausrichten können. „Willst du es dir nicht noch einmal überlegen?“

„Stört es dich, dass ich mir das Zimmer neben deinem ausgesucht habe?“, fragte Kiriaki und drehte sich zu Agathe mit schief gelegenem Kopf um. Ihr Blick war forschend.

„Nein, nein, das ist es nicht“, versicherte Agathe ihr wahrheitsgemäß. Solange Kiriaki nicht in ihrem Zimmer lebte, sondern nur nebenan, war das gar kein Problem.

„Sicher?“

„Ja, wirklich. Wieso sollte das ein Problem sein?“, fragte Agathe.

„Na ja – wegen Basta, zum Beispiel“, sagte Kiriaki und zuckte wieder die Schultern. Sie setzte sich auf das Bett, das erneut ein Ächzen von sich gab und griff nach dem Haarband, das ihre Mähne zusammenhielt. Kiriaki knotete das Band auf und begann, die Blumen, die sie sich eingeflochten hatte aus ihren Strähnen heraus zu pflücken.

Agathe runzelte die Stirn. „Was soll mit Basta sein?“

„Wenn er nachts zu dir kommt, könnte es euch ja möglicherweise stören, wenn ich irgendwo in der Nähe bin“, meinte Kiriaki gelassen. Sie sagte es fast beiläufig.

Agathe brauchte einige Sekunden, um zu begreifen, was das Mädchen gerade mit ihren Worten gemeint hatte. Als es ihr dämmerte, lief ihr Gesicht rot an und sie fuchtelte abwehrend mit den Händen vor sich, als würde sie diese Vermutung wie einen unsichtbaren Feind von sich fernhalten wollen. „Nein! Nein, nein, so ist das nicht, wir …“ Sie schüttelte heftig den Kopf. „Er schläft nicht bei mir.“

„So?“, fragte Kiriaki fast überrascht, bevor sie sich die Haare glatt strich. Dann begann sie, einen neuen Zopf zu flächten – dieses Mal ohne die Blumen. Diese hatte sie achtlos auf den Boden fallen lassen.

„Nein“, murmelte Agathe beschämt und versuchte, die Röte auf ihren Wangen unter Kontrolle zu bekommen. Peinlich berührt sah sie zu Kiriaki. „Wie kommst du auf sowas?“

„Als ich euch das erste Mal begegnet bin, habe ich sofort seine negative Energie gespürt“, erklärte das Mädchen. „Ich dachte, du wärst bloß eine Anfängerin in der Magie und hättest ausversehen einen sehr, sehr bösen Geist geweckt, mit dem du nun selbst deine Schwierigkeiten hast. Als ihr beiden mir aber im Kerker diesen Handel vorgeschlagen habt, sah es nicht wirklich danach aus, als würdet ihr irgendwelche Probleme miteinander haben und …“

„Und was?“, fragte Agathe ungeduldig, als das Mädchen in Gedanken abschweifte.

„Und es kommt nicht gerade selten vor, dass Frauen versuchen, ihre verstorbenen Männer zurückzuholen, indem sie ihre Geister beschwören“, beendete Kiriaki ihren Satz. Auch mit ihrem neuen Zopf war sie fertig, den sie nun zurückstrich. Er war nicht ordentlicher, als der andere. „Da dachte ich, dass das bei euch beiden auch der Fall sein könnte.“

„Das ist es aber nicht“, murmelte Agathe und stellte fest, dass es für Kiriaki sicher anders aussehen musste, so, wie Agathe gerade vor ihr stand – mit Bastas aufgeknöpften Hemd an ihrem Oberkörper und zwar bandagierter Brust, dafür aber freiem Bauch.

Agathe machte sich daran, die Knöpfte zu schließen.

„Ist mir eigentlich auch egal“, sagte Kiriaki und griff nach ihrer Tasche. Sie begann, diese auszupacken und holte einige Bücher heraus, die sie auf dem Tisch stapelte. „Was ist mit deinem Oberkörper passiert?“, fragte sie über die Schulter hinweg, während sie sich hier einrichtete.

„Ach, das“, meinte Agathe und wurde wieder an die Schmerzen erinnert. „Ich war in einen Brand verwickelt.“

„Tatsächlich? Wie kam es dazu?“

„Das … ist eine lange Geschichte.“ Agathe winkte ab. „Wirklich nicht wichtig.“

„Wenn du es sagst.“ Kiriaki kramte weiter in ihrer Tasche. „Kennst du keinen Zauber, mit dem sich die Wunden heilen lassen?“

„Auf … diese Art der Magie habe ich mich nicht spezialisiert“, sagte Agathe dumpf.

Kiriaki sah zu ihr und hob eine Augenbraue. „Auf welche denn?“

„Überwiegend auf schwarze … Mit Geistern und dergleichen.“ Agathe räusperte sich. „Das habe ich mir aber alles selbst beigebracht, weil es niemand sonst tun konnte.“

Dass das meiste von Agathes Wissen aber eigentlich die ganze Zeit über in ihrem Unterbewusstsein gefangen gewesen war, erwähnte sie nicht.

„Dann hast du Glück.“ Kiriaki holte einige Gläschen mit seltsamen Flüssigkeiten heraus und stellte sie nebeneinander aufgereiht auf den Tisch, neben die Bücher. „Ich kann dir nämlich alles beibringen, was du brauchen könntest.“

„Beherrscht du wirklich so viele Arten von Magie?“, fragte Agathe. Dabei war Kiriaki doch so jung.

„Ich weiß einiges über sie, praktiziere sie aber nicht“, meinte Kiriaki. „Teilweise, weil manche von ihnen verboten sind und teilweise, weil man dafür eine Begabung braucht – die ich leider nicht habe.“

„Und hast du schon einmal etwas über Zauberzungen gehört?“, rutschte es Agathe heraus.

Kiriaki hielt inne. „Nein“, sagte sie dann und schüttelte den Kopf. „Tut mir leid.“

„Ou.“ Agathe senkte etwas enttäuscht die Schultern. „Na gut, dann halt nicht.“

„Ich hätte da mal auch eine Frage“, sagte Kiriaki. „Du sagst, du hättest dir auf dem Gebiet deiner Magie alles selbst beigebracht. Basta sieht für mich aber im Vergleich zu anderen Geistern etwas“ – sie suchte nach dem richtigen Wort – „sagen wir lebendiger aus.“ Sie musterte Agathe eindringlich. „Liegt es daran, dass du besonders talentiert bist oder kann es sein, dass er … mal ein Nachtmar war oder so?“

Agathe bekam einen Kloß im Hals und konnte nichts sagen, nickte also stattdessen nur. Sie wusste selbst nicht, warum es sie so überraschte, dass Kiriaki darauf gekommen war – schließlich hatte sie auch die böse Energie gespürt, die ihn umgeben hatte.

„So ist das also“, murmelte Kiriaki. „Ein Nachtmar. Nicht schlecht.“

„Es war ein Versehen“, seufzte Agathe.

„Wie bist du vorgegangen?“

„Ich habe seine Knochen dazu benutzt, für ihn eine menschliche Hülle herzustellen, in die seine Seele fliehen konnte.“ Agathe fuhr sich durch das Haar. „Da seine Seele diese Welt aber nie verlassen hat, weil er … anscheinend zu böse dafür war, ist er wesentlich lebendiger als alle anderen Geister, mit denen ich das bisher getan habe.“

„Man sollte auch keine Knochen von Verbrächern verwenden“, sagte Kiriaki zurechtweisend. „Dass aus ihnen Nachtmare werden, ist wahrscheinlicher, als bei gewöhnlichen Bürgern.“

„Aber eigentlich bin ich ganz froh, dass es passiert ist“, gestand Agathe und erinnerte sich daran zurück, dass Orpheus bei ihr Zuhause gewesen war, nachdem Basta sie verschleppt hatte. „Sonst wäre ich heute vielleicht tot. Frag bitte nicht“, fügte sie hinzu, als sie Kiriakis verwirrten Blick sah. „Es ist sehr, sehr kompliziert. Deshalb war ich teilweise auch relativ froh, als du sagtest, du würdest dich uns gerne anschließen, denn ich glaube, die Sache könnte mit dir etwas klarer werden. Ich habe nämlich sehr viele Fragen, von denen du mir zumindest ein paar beantworten könntest. Denke ich.“

„Nun – dass ich mich euch gerne anschließe, sage ich nicht“, meinte Kiriaki und griff wieder in ihre Tasche. Sie schien darin nach etwas Kleinem zu suchen, denn es dauerte etwas. „Aber sonst nehme ich an, dass du recht hast. Was wäre denn eine Frage, bei der ich dir irgendwie helfen könnte?“

„Wie du zum Beispiel vor hast, den Stein zu benutzen“, sagte Agathe. Das zählte zwar zu keiner ihrer persönlichen Sorgen, stand zur Zeit aber an erster Stelle.

„Mit der hier“, sagte Kiriaki plötzlich und holte ein Stück weißer Kreide aus ihrer Tasche. Diese schien nun endgültig leer zu sein und Kiriaki warf sie wie einen Beutel in eine verstaubte Ecke des Zimmers.

„Kreide?“

„Ich brauche etwas Platz“, sagte Kiriaki und begann, den Boden des Raumes mit den nackten Füßen von dem ganzen Geröll zu befreien, damit er halbwegs eben war. „Es wäre zwar deutlich besser, Farbe zu haben, aber das hier müsste es auch tun.“

„Was hast du vor?“, fragte Agathe, als Kiriaki sich auf den steinernen Grund hinkniete und begann, einen großen Kreis in die Mitte des Raumes zu zeichnen – dabei ging sie erstaunlich ordentlich vor.

„Ich zeichne ein Portal“, erklärte Kiriaki, ohne aufzusehen. Die Kreide zeichnete sich kaum auf dem Boden ab und das Mädchen musste zudrücken, jedoch nicht so stark, dass das Stück in ihrer Hand zerbrach. „Für gewöhnlich ist es so, dass deine Seele deinen Körper ganz von alleine verlässt, wenn sie nicht länger in ihm bleiben kann, weil er beispielsweise stirbt – im Notfall helfen auch die weißen Frauen nach. Aber wenn du versuchst, diesen Vorgang zu erzwingen, brauchst du Hilfe.“

„Der Kreis hilft dabei?“

„In ihm lässt sich Magie leichter sammeln und dadurch wird es einer Seele überhaupt erst ermöglicht, sich von ihrem Leib zu trennen, ohne dass er tot ist.“

„Dass bedeutet, dass unsere Körper hier bleiben, während wir auf die andere Seite wechseln?“, fragte Agathe.

„Deiner“, sagte Kiriaki. „Basta kann den Körper, den du ihm gegeben hast fest werden lassen, wann immer es ihm passt. Es reicht, wenn er sich nur in seiner unsichtbaren Form hier drinnen befindet, um mit auf die andere Seite gezogen zu werden.“

„Könnte das für Basta nicht gefährlich werden?“, fragte Agathe. „Weil er ja nur ein Geist ist. Was ist, wenn er auf der anderen Seite bleibt?“

„Das glaube ich nicht – schließlich gibt es einen Grund dafür, warum er nicht gleich dort bleiben konnte“, murmelte Kiriaki. Sie legte die Kreide kurz weg und klopfte sich die Hände ab, ehe sie zu Agathe sah. „Und selbst wenn – wäre es nicht besser für dich?“

„Nein“, antwortete Agathe sofort. „Das wäre es nicht.“

„Ihr habt also wirklich keine Probleme miteinander?“

„Wir sind jetzt Partner.“ Agathe fand es seltsam, so etwas auszusprechen – und es auch so zu meinen. Sie hatte zwar immer noch ein paar Geheimnisse, aber im Großen und Ganzen mochte sie Basta mittlerweile fast. Wie gesagt – sie war ihm dankbar.

Nur blieb da ja immer noch die Sache mit Capricorn. Falls sie recht hatte, würde Basta, sobald Agathe Capricorn für ihn zurückholte, sofort wieder verschwinden, weil Agathe nicht länger in seiner Schuld stand und er keinen Grund hatte, in dieser Welt zu bleiben.

Kurz dachte sie daran, es Kiriaki anzuvertrauen, als diese damit fortfuhr, den Kreis zu zeichnen. Sie zeichnete seltsame Muster und Formen hinein, die alle irgendwie mit der äußersten Linie in Berührung kamen.

„Ich verstehe“, seufzte Kiriaki dabei, ehe sie Agathe einen kurzen, müden Blick zuwarf. „Ich werde für das hier etwas Zeit brauchen. Und Konzentration. Falls du also noch Fragen hast, merk sie dir für später. Jetzt brauche ich hierfür etwas Ruhe. Ich rufe euch, sobald es vollbracht ist.“

- Kapitel 26 -

 

„Wir haben weder eine Ahnung, wo sie sein könnte, noch, in welche Richtung sie überhaupt gegangen ist“, sagte Tamare noch etwas erschöpft von der Suche, aber auch zur gleichen Zeit verängstigt, da sie wusste, wie schlecht diese Nachricht war. Sie hatte zusammen mit Ismene und Vika den gesamten Waldteil um das Lager der weisen Hexen herum abgesucht, jedoch nichts gefunden und jetzt war es an Tamare gewesen, Athina das zu erzählen.

Athina selbst saß im Schneidersitz in der Mitte des Lagers, nah an der Feuerstelle und starrte in die Flammen. Sie spürte eine gewaltige Hitze, während sie sich selbst mit ihren Armen umschlang – nur war sie sich nicht ganz sicher, ob diese vom Feuer oder ihr selbst ausging.

„Was anderes hätte ich nicht erwartet“, sagte sie viel ruhiger, als sie es von sich selbst gewohnt war. Denn eigentlich wäre sie in der Stimmung gewesen, alles und jeden in ihrer Umgebung in Stücke zu reisen.

„Vika und Ismene suchen immer noch“, stammelte Tamare und knetete nervös ihre Finger ineinander, während sie gar nicht wusste, wohin sie blicken sollte. Sie stand neben Athina und wusste nur zu gut, dass diese es nicht mochte, wenn man auf sie herabsah. „Aber vielleicht haben wir ja Glück. Monika ist immer noch unterwegs und trifft möglicherweise ja auf sie.“

„Und dann?“, fragte Athina, der Blick immer noch auf die Flammen gerichtet. „Sie weiß nichts davon, dass Kiriaki abgehauen ist. Sie wird nichts tun können.“ Athina biss die Zähne zusammen.

„A-aber sie kann uns dann zumindest sagen, wohin sie gegangen ist“, stotterte Tamare, der Athinas Zähnefletschen nicht entgangen zu sein schien – so eingeschüchtert, wie sie klang. „Sonst werden wir sie nie finden. Kiriaki hat sich schon immer darin verstanden, unsichtbar zu sein.“ Tamare fuhr sich durch die braunen Haare. „Ich verstehe nicht, wie man so schnell sein kann, ohne jegliche Spuren zu hinterlassen …“

„Sie hat einfach Angst“, sagte Athina und ließ ihre Hand zu ihrer Brust wandern – zu der leeren Stelle, an der nur wenige Tage zuvor noch ein schwarzer, glatter Stein gehangen hatte. „Schließlich weiß sie, dass sie stirbt, wenn wir sie finden. Da ist man eben vorsichtig.“

Wäre Kiriaki einfach bloß abgehauen, hätte das nur einen schwachen Verlust dargestellt – dieses Ding war ohne jeden Nutzen. Aber dass sie es tatsächlich gewagt hatte, den Stein mitzunehmen … Athina war fassungslos gewesen, als sie am Tag nach ihrer Auseinandersetzung in ihrem Zelt aufgewacht war, um festzustellen, dass ihr jemand im Schlaf die Schnurr um ihren Hals durchgeschnitten hatte, damit man den Stein hätte stehlen können – und nachdem Kiriakis leeres Zelt entdeckt worden war, war es kein Geheimnis für die Mädchen mehr gewesen, wer der Dieb war.

Seitdem ließ Athina den Rest von ihnen nach Kiriaki suchen.

„Wie lange sollen wir sie noch suchen?“, fragte Tamare zögerlich und veranlasste Athina dazu, zu ihr aufzusehen.

Athina stemmte sich am Boden ab und erhob sich langsam, die Hitze war immer noch spürbar. Sie sah, wie Tamare einen Schritt vor ihr zurück wich und streckte die Hand nach ihr aus. Vermutlich dachte das Mädchen, sie hätte sie schlagen wollen und zuckte sichtlich zusammen, aber sie lag falsch – heute lag sie damit falsch. Athina hatte nicht vor, wieder in einem Wutausbruch zu enden. Kiriaki hatte sie schon viel zu oft zur Weißglut getrieben.

Also packte sie Tamare nur am Kragen ihres Kleides und zog sie etwas hoch – so weit, dass das Mädchen nur noch auf ihren Zehenspitzen balancieren konnte. „Dieser Stein“, flüsterte Athina in das erschreckte Gesicht vor ihr, „ist mehr wert, als alle eure Leben zusammen. Du kannst dir nicht einmal erdenken, was ich alles auf mich nehmen musste, um ihn zu bekommen. Ich werde ihn sicher nicht Kiriaki überlassen.“

Tamare nickte nur schweigend – ihr Gesicht war bleich. Athina ließ sie los. „Ich will, dass sie gefunden wird“, sagte sie in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. Ein Ton, der verriet, dass ihnen bei dieser Sache kein Fehler verzogen werden würde.

- Kapitel 27 -

 

„Was genau passiert jetzt?“, fragte Basta, der Kiriakis Portal unter größtem Misstrauen betrachtete.

Es war Abend und sie hatte es mittlerweile fertiggestellt – ein großer Kreis mit kleineren Kreisen darin, die alle von verdrehten Mustern und Linien bedeckt waren. Für Agathe ergab keins der Zeichen einen Sinn und trotzdem wirkte es so, als sei alles am richtigen Platz. Als hätte Kiriaki wirklich eine klare Ahnung davon, was sie da machte.

„Agathe und du werdet euch im Kreis befinden“, erklärte Kiriaki und blätterte in einem ihrer Bücher, bis sie die richtige Seite fand. „Und dann wird sie diesen Zauber hier aussprechen, der dafür sorgt, dass eure Seelen diese Welt verlassen und in die des Todes wandern können.“

„Ich hätte mal eine Frage“, meldete sich Agathe zu Wort, die bisher nachdenklich um den Kreis herum getigert war. „Du hast gesagt, dieser Kreis wäre eine Art Portal, der dabei helfen soll, von einer Welt in die andere zu wechseln. Sehen Portale immer gleich aus, oder müsste man den für eine andere Welt als die des Todes auch anders gestalten?“, wollte Agathe wissen.

Kiriaki reichte ihr mit gerunzelter Stirn das Buch. „Der hier ist speziell für die Todeswelt, sobald ich weiß. Aber was für andere Welten soll es denn sonst noch geben?“

Agathe ließ ihren Blick unauffällig zu Basta wandern, der ihn ungerührt erwiderte. Genau, sie hatte ja ganz vergessen, dass Kiriaki nichts von diesen Zauberzungen gehört hatte. Sie wusste nichts davon, dass man Welten aus nichts weiter als Tinte und Papier erschaffen konnte.

„Vergiss es“, winkte Agathe ab. „War eine dumme Frage.“

„Ließ dir den Spruch erst einmal gut durch“, sagte Kiriaki und, während Agathe das aufgeschlagene Buch, das in einem so kaputten Zustand war, dass die junge Frau fast befürchtete, es hätte in ihren Händen in Stücke zerfallen können, entgegennahm. „Du musst ihn flüssig aufsagen, damit es klappt. Und stell dich am besten schon einmal in den Kreis.“

Agathe tat, was man ihr befahl und begann, die Zeilen zu überfliegen – währenddessen spürte sie, wie Basta ebenfalls das Portal betrat. „Basta?“, fragte sie und hörte kurz auf, zu lesen.

„Hmm?“

„Bist du gerade in deiner festen Form hier drinnen?“ Agathe konnte ihn immer sehen, egal, ob er fest oder unsichtbar war, deshalb musste sie ihn fragen.

„Ja“, antwortete Basta. „Wieso?“

„Nur so. Bleib bitte auch dabei, ja?“

„Macht das einen Unterschied?“, wollte er mit gerunzelter Stirn wissen und sah sie direkt an – manchmal vergaß Agathe, dass er eigentlich kaum größer war, als sie und die junge Frau gerade mal um eine Fingerbreite überragte. Danach fühlte es sich die meiste Zeit über nämlich nicht an.

„Wir glauben, dass es so für dich sicherer sein könnte“, sagte Agathe und ignorierte Kiriakis Blick, als sie das Wort „wir“ benutzte. Dem Mädchen war es möglicherweise egal, was aus Basta wurde, aber der Mann hätte lieber nicht bemerken sollen, dass Agathe sich ihre Gedanken um ihn machte.

Agathe traute ihm zu, so etwas ausnutzen zu wollen.

Glücklicherweise fragte Basta nicht weiter nach und zuckte die Schultern.

„Bist du bereit?“, fragte Kiriaki, als Agathe die letzten Zeilen zum dritten Mal überflogen hatte und die Frau nickte, ehe sie das Buch zuklappte. Kiriaki nahm es ihr aus der Hand und legte es auf den Tisch, bevor sie sich darauf setzte, um von dort alles beobachten zu können. Den Stein hatte Agathe schon in Form einer Kette um ihren Hals gelegt, sie und Basta standen im Kreis – es war alles fertig.

Agathe streckte die Hand aus, wie sie es immer dabei tat, wenn sie Magie praktizierte. Sie schloss die Augen, atmete tief durch und begann, die Worte aufzusagen, die sie eben gelesen hatte.

Kaum hatte das letzte von ihnen ihre Zunge verlassen, fühlte sie sich, als würde sie den Boden unter den Füßen verlieren und Agathe schlug die Augen auf, nur, um sich selbst von einer Gruppe weißer Gestalten eingekreist vorzufinden. Es waren Frauen, wie sie feststellte, bleich und farblos wie Milch. Sie schienen etwas zu flüstern, auch wenn sie nicht verstehen konnte, was, und streckten die Arme nach Agathe aus, um sie irgendwohin zu ziehen.

Agathe erschauerte. Das hier waren keine gewöhnlichen Berührungen, wie die, die ihre Haut normalerweise in Feuer aufgehen ließen. Die hier waren kaum mehr als ein Hauch und obwohl sie alles andere als angenehm waren, verspürte die Frau bloß einen leichten Schauer bei ihnen.

„Basta?“, murmelte sie leise, während sie von den weißen Gestalten irgendwohin gezerrt wurde – sacht, aber dennoch bestimmt. Jeder Schritt war wackelig und unsicher, aber sie bewegte sich, bewegte sich weiter voran. Irgendwann hatte sie dann auch tatsächlich das Gefühl, eine Art neue Dimension zu betreten, bevor die weißen Gestalten abrupt von ihr abließen und sie alleine dastand.

 

Der Rausch, in dem sie sich bis eben befunden hatte, hörte mit der Geschwindigkeit eines Fingerschnipsens auf. Plötzlich war Agathe wieder bei vollem Verstand und konnte sich umsehen.

Was sie sah, verwirrte sie.

Sie stand an einem Ort, der weder Wände noch Boden hatte, obwohl sie einen harten Grund unter ihren Füßen spürte – sie war von völliger Schwärze umgeben. Das war aber nicht das Einzige, was zu sehen war: Um Agathe herum schwebten kleine, blaue Lichtkugeln, die die Finsternis zwar nicht vertreiben konnten, Agathe aber zumindest die Möglichkeit gaben, ihre eigene Hand zu sehen.

„Wir sind also da, ja?“, hörte sie irgendwo neben sich Bastas Stimme und erschrak.

Sie sah zur Seite und erkannte seine Umrisse im schwachen Licht der Leuchtkugeln. „Ich schätze schon“, murmelte sie und warf wieder einen faszinierten Blick um sich. Sie streckte ihre Finger nach einem der Lichter aus und stellte fest, dass sie sich ein wenig warm anfühlten. „Was ist das?“

„Seelen“, antwortete Basta sofort, seine Augen waren ebenfalls aufmerksam auf die Dinger um die beiden herum gerichtet. „Seelen, die gerade erst ins Todesreich wandern, denke ich. Vermutlich erst vor wenigen Minuten gestorben.“ Er sah zu ihr. „Wir befinden uns noch relativ nah am Rand, weißt du.“

„Denkst du, wir müssen tiefer hinein?“, wollte sie wissen und ließ ihre Hand wieder sinken. Die Seele, die sie berührt hatte, schwirrte davon.

Er zuckte die Schultern. „Vermutlich.“

„Aber die weißen Frauen sind verschwunden …“

„Die brauchen wir nicht mehr – jetzt, wo wir schon drüben sind.“ Agathe glaubte, Bastas Augen in der Dunkelheit glänzen zu sehen. Seine Augenfarbe ähnelte dem Blau der Leuchtkugeln um sie herum, was einen bemerkenswerten Anblick bot – Agathe war sich nur nicht ganz sicher, was sie davon halten solle. „Wir müssen nur den Seelen folgen. Sie bewegen sich nämlich alle weiter ins Innere.“

Agathe fixierte die Lichter um sich herum und stellte fest, dass er recht hatte: wenn man nicht weiter darauf achtete, schwebten die Kugeln einfach nur in der Luft herum – aber sah man genauer hin, konnte man beobachten, dass eine Art System hinter den Bewegungen lag. Sie alle wurden in eine Richtung gezogen, gerieten dabei lediglich ein wenig durcheinander.

Unsicher wies Agathe in die Richtung. „Dort entlang?“

„Genau“, sagte Basta und setzte sich in Bewegung. Agathe hörte keine Schritte, als er ging und auch als sie sich selbst voran bewegte, entstand kein Laut. Die Dunkelheit schien jedes Geräusch in sich zu verschlucken.

„Aber wie um alles in der Welt sollen wir unter diesem Gewirr aus Seelen die Richtige finden?“, jammerte Agathe, konnte aber nicht aufhören, sich fasziniert umzusehen, während sie lief und obwohl es hier weder Stein noch Wurzeln gab, brachte sie ihr Geglotze immer wieder ins Stolpern.

„Ich kann sie erkennen“, sagte Basta, ohne zu ihr zurückzublicken. Agathe wäre schon ein paar Mal fast gegen ihn gekracht, aber er schien das nicht einmal zu bemerken.

„Du erkennst, wem diese Seelen gehören?“, fragte Agathe und versuchte, sich zusammenzureißen und normal zu gehen. Sie verstand nicht, wie Basta so geschickt laufen konnte, bei diesem Boden – er schien nicht uneben zu sein und dennoch glaubte sie, ständig aus dem Gleichgewicht zu geraten.

„Ja“, hörte sie Basta flüstern. „Nur bin ich mir nicht sicher, wie uns das helfen wird, sobald wir Capricorns Seele gefunden haben.“

„Wenn es soweit ist, nehmen wir sie einfach mit“, sagte Agathe und beeilte sich, ihm hinterher zu kommen, denn sie merkte, wie sich Bastas Konturen immer weiter in der Finsternis um sie herum entfernten. „Sobald sie erst einmal in unserer Welt ist, sollte es leichter sein, seinen Geist zu beschwören – warum auch immer es vorher nicht geklappt hat.“

Andere Welten … Nicht geklappt …

Wenn Agathe genauer darüber nachdachte, was sie eben gesagt hatte, stockte ihr der Atem, denn zum ersten Mal kam ihr der schockierende Gedanke, dass das, wofür sie hier waren, von vorne rein hätte nicht funktionieren können; Agathe hatte Basta nie gefragt, wie und wo Capricorn gestorben war. Falls sein Tod sich nicht in ihrer eigenen Welt – der Tintenwelt, wie Basta sie genannt hatte – sondern in der der Zauberzungen ereignet hatte, konnte Agathe und Basta ja niemand garantieren, dass Capricorns Seele das Todesreich der Tintenwelt jemals erreicht hatte. Vielleicht war sie ja noch drüben, dort, wo Basta mit ihm mal gewesen war …

Zumindest erklärte es, warum Agathe bei den ersten beiden Malen seiner Beschwörung versagt hatte. Agathe hatte sich Sorgen darum gemacht, dass Basta hätte verschwinden können, nachdem sie Capricorn für ihn zurückgeholt hätte, aber darum musste sie sich keinen Kopf mehr machen. Dazu würde es nicht kommen.

Es blieb nur noch die Frage, wie Basta reagieren würde, sobald er erfuhr, was Agathe gerade herausgefunden hatte …

Vertieft in ihre Gedanken, kam Agathe sich ein weiteres Mal mit ihren eigenen Füßen in die Quere und stolperte so hefig, dass sie fast der Länge nach hingefallen wäre, hätte sie sich nicht im letzten Moment fangen können.

Als sie sich erleichtert seufzend wieder aufrichtete und geradeaus blickte, entdeckte sie vor sich Basta, der nur zwei Schritte entfernt stand und sich mit genervtem Blick und ausgestreckter Hand zu ihr umgedreht hatte. „Ich weiß, dass du das nicht mögen wirst“, sagte er ungeduldig, „aber anders geht es nicht. Du bist unmöglich, was Umgang mit Dunkelheit angeht und wenn wir vorankommen wollen, klappt es nur so.“

„Ich nehme deine Hand nicht.“

„Dein Körper ist immer noch drüben – also berühre ich dich im Grunde genommen nicht einmal. Aber wenn es dir irgendwie hilft …“, sagte Basta und zog einen seiner Ärmel über seine Handfläche, damit er ihn mit den Fingern dort halten konnte.

Agathe betrachtete seine Hand skeptisch. Ob ihr psychischer Körper hier war, oder nicht, spielte keine Rolle, denn der Fluch saß in ihrem Kopf. Konnte eine dünne Schicht Stoff wirklich etwas ausrichten?

Mit einem Seufzen tat Agathe es Basta nach und zog ihren eigenen Ärmel über ihre Finger, um etwas mehr Stoff zwischen ihre Hände zu bringen, als sie nach seiner griff. Es war wirklich, wirklich ungewohnt, aber nicht halb so schlimm wie sonst. Während Agathe für gewöhnlich fast am Erbrächen war, wenn sie mit anderen in Berührung geriet, konnte man das hier als lediglich etwas unangenehm einstuffen.

Basta musterte sie kurz. „Geht es?“

Agathe antwortete nicht. Sie presste die Lippen zusammen und nickte lediglich, um nicht sprechen zu müssen.

„In Ordnung.“ Basta zog sie langsam weiter. Es war immer noch schwer für Agathe, sich durch die Todeswelt zu bewegen, aber sie musste zugeben, dass es mit etwas Halt doch leichter geworden war.

Stoff, sprach sie innerlich auf sich ein, es ist immer noch Stoff zwischen unseren beiden Händen. Sie berühren sich nicht wirklich, ich spüre sie nur durch den Stoff hindurch …

„Basta?“, fragte Agathe nach einer Weile. Sie gingen nun schon recht lange, aber da es nichts außer den Lichtkugeln gab, an dem man sich hätte orientieren können, wusste sie nicht, wie weit sie schon gekommen waren.

„Hmm?“

„Ich glaube, wir sollten es lassen …“, murmelte sie kleinlaut und spürte, wie er auf der Stelle ihre Hand losließ.

Basta drehte sich zu ihr um und steckte seine Hände in die Taschen. „Wenn es dich wirklich so sehr stört, können wir auch normal weiterlaufen.“

„Es geht nicht nur darum“, sagte Agathe, obwohl sie eine Welle der Erleichterung über sich ergehen spürte, nachdem er sie losgelassen hatte. „Ich denke bloß, dass heute nichts mehr daraus wird. Wie es scheint, ist Capricorn schon vor einer ganzen Weile gestorben – er wird viel tiefer in der Todeswelt stecken, als wir heute kommen könnten.“

„Aber wir können doch noch weiter!“, entgegnete Basta energisch und Agathe schnappte die langsam aufsteigende Aggressivität in seiner Stimme auf, als er sie anfunkelte.

Wenn sie ihn jetzt nicht überzeugte, würde er sie zwingen, weiterzugehen. Dann hätte Agathe die ganze Sache über ihre Versöhnung vergessen können – schließlich würde er Capricorn ihr jeder Zeit vorziehen.

„Und was, wenn wir dem Tod begegnen?“, fragte Agathe ihn in ihrer Nervosität. Sie senkte den Blick, damit er sie nicht durschauen konnte, denn sie hatte keine Ahnung, ob das, was sie da sagte, überhaupt stimmte, aber sie wollte hier schnell weg. „Kiriaki meinte, der Tod würde sich überwiegend im Mittelpunkt seines Reiches aufhalten. Wir sind ihm also nur noch nicht begegnet, weil wir selbstständig in diese Welt gekommen sind – also ohne von ihm geholt worden zu sein. Wenn wir zu lange brauchen, um nach Capricorn zu suchen, könnte es jedoch sein, dass er uns findet.“ Jetzt sah Agathe kurz auf, um es ihm glaubhaft zu machen. „Und was sollen wir dann tun?“

Kurz glaubte sie, Unsicherheit in seinen Augen zu entdecken. „Und was schlägst du stattdessen vor?“, zischte er etwas wütend, die Zähne auf einander gedrückt. Er war ungeduldig geworden, das sah man deutlich.

„Wir kommen ein anderes Mal wieder“, sagte Agathe beschwichtigend. „Lass mich bitte noch ein wenig nachdenken. Vielleicht finden Kiriaki und ich eine Methode, mit der sich Capricorns Seele schneller aufspüren lässt.“ Wieder eine Lüge. Agathe wusste schon längst, dass das nicht klappen würde, aber sie wollte Basta nicht wütend machen. Sie musste ihn bei Laune halten – vor allem auch, weil er ihr bei der Suche nach der Seele ihrer Mutter hätte helfen können.

Basta stieß ein Schnauben aus, das sowohl verärgert, als auch frustriert klang. Er hatte geglaubt, seinem Ziel so nahe zu sein und nun machte Agathe ihm alles kaputt. Sie konnte ihm nicht übel nehmen, dass seine Laune verdorben war.

„Tut mir leid“, sagte sie aufrichtig und sah ihn bedauernd an. Aber zumindest wird er nicht verschwinden, dachte sie, bevor ihr ein weiterer Gedanke kam, der alles nur noch schlimmer werden ließ; nur weiß er gar nicht, was für ein Glück er damit hat, dachte Agathe. Er hatte keine Ahnung, wie gut es für ihn doch war, dass Capricorn nicht von Agathe zurückgeholt werden konnte.

Doch plötzlich änderte sich der Ausdruck in Bastas Gesicht. Die Frustration verwandelte sich innerhalb von Sekunden in Überraschung, bevor er an Agathe vorbeischritt, um etwas hinter ihr erreichen zu können. Als Agathe sich nach ihm umdrehte, stellte sie fest, wie Basta mit großen Augen nach einer Seele griff und sie zwischen seinen Fingern festhielt, um sie betrachten zu können. Er schien geschockt zu sein und kurz fürchtete Agathe, er hätte Capricorn gefunden haben können.

Das kann nicht sein, dachte sie mit langsam aufsteigender Panik, doch nicht hier …

„Capricorn?“, fragte sie mit mehr Zittern in der Stimme, als es gut gewesen wäre, aber das bemerkte er gar nicht.

„Nein“, sagte Basta, woraufhin Agathe erleichtert ausatmete. Plötzlich lachte Basta amüsiert. „Jemand anderes.“

„Wer?“

„Nennen wir ihn einfach mal“ – Basta schmunzelte – „einen alten Freund von mir.“ Agathe war überrascht, wie schnell sich seine Stimmung verändert hatte. Wen auch immer er eben gefunden hatte – diese Person hatte Agathe weitergeholfen. Sicher hätte sie Basta alleine nicht halb so schnell beruhigen können.

„Was hast du jetzt mit ihm vor?“

„Das überlege ich mir noch“, sagte Basta belustigt und steckte die fremde Seele gegen alle Erwartungen einfach in seine Jackentasche.

Agathe keuchte auf. „Basta!“

„Ja?“

„Das geht doch nicht. Wir können nicht einfach …“

„Es unterscheidet sich nicht von dem, was du sonst machst, oder? Du beschwörst doch einfach die Geister verstorbener Leute und reist ihre Seelen aus dieser Welt.“ Er zwinkerte ihr zu. „Ich mache also nichts, was du nicht auch schon getan hast. Was ist daran so schlimm?“

Agathe verdrehte die Augen, nicht in der Stimmung für Diskussionen. Sie war froh, davon gekommen zu sein. „Ja, ja, von mir aus, also gut.“ Agathe vergrub das Gesicht in ihrer Hand. Mit dem, was Basta da tat, war sie dennoch nicht ganz einverstanden. „Können wir jetzt bitte einfach gehen? Wir werden schon noch wieder kommen und nach Capricorn suchen, aber … heute geht das wirklich nicht.“

Sie brauchte Zeit, um sich etwas zu überlegen. Vielleicht, um mit Kiriaki zu sprechen.

„Von mir aus.“ Er klang nicht begeistert, aber der Widerwillen in seiner Haltung war deutlich geringer, als eben. Es war erstaunlich, wie leicht Basta sich hatte besänftigen lassen. Agathe fragte sich ernsthaft, wen er da gefunden hatte, als er sich sogar dazu durchdrang, ihr ein gequältes Lächeln zu schenken. „Wenn du denkst, dass wir heute nicht voran kommen, schätze ich, dass es wirklich nichts bringen wird. Lass uns gehen, wenn du willst.“

- Kapitel 28 -

 

Agathe spürte den kalten Stein, der sich in ihre Wange drückte zunächst nicht einmal vor Benommenheit. Erst, als sie ein paar Sekunden in sich verharrte und blinzelte, merkte sie, dass sie auf dem Boden lag, in der Mitte des Portals.

„Au“, murmelte sie und stemmte ihren Oberkörper vorsichtig hoch. Das Hemd, das sie vorhin noch getragen hatte, lag seltsamerweise unter ihr – vermutlich hatte es ihr jemand als Kissen untergelegt, aber Agathe hatte unbewusst ihre Haltung geändert. Um ihren Körper waren immer noch Verbände gewickelt – jetzt jedoch frische, wie sie feststellte.

„Wieder da?“, fragte plötzlich eine Stimme und Agathe brauchte eine kleine Weile, um zu verstehen, dass es Kiriaki war. Das Mädchen saß im Schneidersitz auf ihrem Bett und blätterte gerade in einem Buch, hatte aber kurz aufgesehen, um die am Boden liegende Agathe zu mustern.

„Es fühlt sich an wie Aufwachen“, murmelte Agathe und rieb sich die Augen. Um die Todeswelt zu verlassen, hatte sie nur daran denken müssen, in ihren eigenen Körper zurückzukehren – der Rest hatte sich von selbst geregelt.

„Ja“, bestätigte Kiriaki und klappte das Buch zu. „Das hat Athina auch gesagt, nachdem sie den Stein zum ersten Mal benutzt hat.“

„Wollte sie denn auch jemanden zurückholen?“

„Nein“, antwortete Kiriaki und plötzlich verdunkelte sich alles in dem Gesicht des Mädchens. „Athina ist nicht diese Art von Person. Sie trauert niemandem nach. Eigentlich wollte sie damals nur prüfen, ob der Stein auch funktioniert.“

Agathe sagte nichts dazu. Sie zwang sich in eine sitzende Haltung und streckte ihre Glieder, die von dem harten Grund taub geworden waren. „Man hat meine Verbände gewechselt.“

„Basta war das“, sagte Kiriaki. „Wollte unbedingt damit fertig werden, bevor du aufwachst.“

Agathe sah Kiriaki an und schluckte. „War ich denn wirklich so lange weg?“, fragte sie und versuchte die Tatsache zu überspielen, dass Basta ihr offenbar keine Umstände hatte machen wollen. Das war erstaunlich nett von ihm.

„Ein paar Stunden“, antwortete Kiriaki gelangweilt. „Deine Seele hat sich auf dem Rückweg wahrscheinlich ein wenig verirrt. Das passiert schon mal, ist also ganz normal – nur bei Basta hat es nicht ganz so lange gedauert.“

„Ach so.“ Agathe war noch nicht in der Verfassung, aufzustehen. Sie blieb auf dem kalten Boden sitzen und stellte erst jetzt fest, wie dunkel es eigentlich war. Sie hatten das Portal geöffnet, als es Abend geworden war und jetzt fiel bereits Mondlicht durch Kiriakis Fenster. Sie war wirklich lange weg geblieben.

„Habt ihr beiden gefunden, nach dem ihr gesucht habt?“, fragte das Mädchen.

„Nein“, seufzte Agathe.

Kiriaki hob eine Augenbraue. „Basta hatte aber eine Seele in der Hand, als er aufgewacht ist.“ Sie leckte sich über die Lippen. „Er hat sie die ganze Zeit über angestarrt, völlig fasziniert. Ich habe ihn nicht darauf angesprochen, weil ich angenommen habe, es wäre die Person gewesen, wegen der ihr dort wart.“

„Was das angeht …“ Agathe fragte sich, ob das wirklich der richtige Moment dafür war, sich Kiriaki anzuvertrauen, aber sie musste sich so schnell wie möglich etwas überlegen.

„Ja?“

„Ich muss dich etwas fragen.“ Und dann erzählte Agathe Kiriaki von ihrem Problem – von der Befürchtung, Basta hätte einfach verschwinden können, nachdem sie Capricorn heraufbeschwor, aber auch von der Erkenntnis, dass Capricorn gar nicht zurückgeholt werden konnte.

„Warum glaubst du, dass du ihn nicht zurück holen könntest?“, wollte Kiriaki wissen.

„Das … ist kompliziert. Wirklich, aber … ich weiß einfach, dass es nicht geht. Das ist die einzige Erklärung, warum es nicht schon vorher funktioniert hat. Es ist unmöglich.“

„Wenn Basta wüsste, dass er selbst verschwinden würde, nachdem dieser Capricorn wieder da ist, würde er es vielleicht nicht mehr versuchen wollen“, meinte Kiriaki. „Selbst wenn er nicht verschwinden würde, hätte er nichts davon, seinen alten Meister zurückzuholen. Capricorn wäre nichts weiter als ein lebloser Geist, weil er kein Nachtmar wie Basta ist. Nehme ich mal an“, fügte sie hinzu. „Kannst du ihm das alles nicht einfach sagen?“

„Er ist besessen nach dieser Sache“, flüsterte Agathe, die immer noch auf dem Boden saß. „Er wird sich davon nicht abbringen lassen. Capricorn zurückzuholen ist ihm wichtiger, als alles andere und in gewisser Weise … kann ich ihn sogar verstehen …“, murmelte Agathe und dachte daran, wie sehr sie sich selbst danach sehnte, einen Weg zu finden, ihre Mutter zurückholen zu können.

„Darf ich dich fragen, wie genau du in Bastas Schuld stehst?“, fragte Kiriaki plötzlich und spielte mit einer Haarsträhne. „Was musste er für dich tun?“

Überrascht sah Agathe auf. Das alles schien schon so lange her zu sein. „Er musste für mich … Menschen umbringen“, gestand sie etwas peinlich berührt.

Sie hätte eine geschockte Reaktion erwartet, aber Kiriaki nickte bloß ernst. „Wie viele?“

„Wie viele? Nun … Es hätte nur einer sein sollen, aber Basta hat drei umgebracht.“ Ihr Verlobter, Angelica und Frank. Ja, das waren sie.

„Nicht so viele also. Das ist gut.“

„Wieso das denn?“

„Weißt du …“, sagte Kiriaki nachdenklich und fixierte Agathe. „Dieser Stein … hat noch ein paar andere praktische Fähigkeiten, als Leute nur auf die andere Seite bringen zu können. Wenn man begabt ist, kann man Leuten in gewisser Weise sogar“ – sie machte eine dramatische Pause – „eine Wiedergeburt schenken.“

„Wiedergeburt?“ Damit hatte Agathe sich noch nie richtig befasst, aber bei dem Wort allein wurden ihre Ohren plötzlich spitz.

„Wenn man ein bisschen Talent im Bezug auf Magie hat – und ich bin mir inzwischen relativ sicher, dass du es hast –, kann man mithilfe des Steines eine beliebige Seele im Todesreich berühren und sie wiedergeboren werden lassen.“

„Wie sollte mir das in meiner Lage helfen?“, fragte Agathe verwirrt.

„Es wäre ein Schlupfloch“, meinte Kiriaki. „Wenn du allen, die Basta für dich getötet hat, ein neues Leben schenken würdest, wäre keiner von ihnen länger tot – richtig? Du ständest also nicht länger in Bastas Schuld.“ Kiriaki verschränkte die Hände vor der Brust und seufzte. „Nur weiß ich nicht, wie du die Seelen dieser Leute ausfindig machen könntest.“

„Basta kann das“, schoss es sofort aus Agathe heraus, deren Herz schnell zu pochen begann. „Er kann erkennen, wem welche Seele gehört.“

Etwas wie Hoffnung flackerte in Agathe auf. Ein Licht am Ende des Tunnels.

„Wirklich?“ Kiriaki legte den Kopf schief. „Wer hätte das gedacht.“

„Wie benutze ich den Stein dazu, Seelen wiedergeboren werden zu lassen?“, fragte Agathe sofort und rappelte sich auf. Sie war immer noch ganz benommen, aber das Gespräch hatte ihr neue Kraft verliehen.

Das schien Kiriaki nicht zu entgehen. Mit spöttisch schief gelegtem Kopf sah sie die Frau vor sich an. „Du bist ja mit ganzer Leidenschaft dabei, wenn es darum geht, ihn zu retten.“

„Bitte, sag es mir einfach.“

„Geht leider nicht“, seufzte Kiriaki. „Davon habe ich nämlich keine Ahnung.“ Sie wies wage auf ihre Bücher. „Aber ich kann mir vorstellen, dass du in denen hier etwas dazu finden könntest, wenn du bereit bist, dich die nächsten Tage durch diesen Stapel zu kämpfen. Kannst du lesen?“

„Ja.“ Agathe ging zu dem Tisch und betrachtete die alten Bücher. Es waren sechs, alle dick. Es wäre ein Haufen Arbeit, aber Agathe war bereit dafür.

„Dann ist es ja geklärt.“ Kiriaki sah zu den Büchern. „Bedien dich ruhig. Und viel Glück.“

„Danke. Danke, wirklich“, hauchte Agathe. „Ich würde dich umarmen, wenn ich könnte.“

- Kapitel 29 -

 

Seit Agathes und Bastas Reise in die Todeswelt waren nun genau zwei Tage vergangen, in denen die junge Frau nichts anderes getan hatte, als in ihrem Zimmer zu sitzen und sich durch die Bücher zu kämpfen, die Kiriaki ihr geliehen hatte. Deshalb war Agathe fast froh über das Klopfen an ihrer Tür, das sie an diesem Morgen in ihrer Arbeit unterbrach.

„Dachte ich mir, dass ich dich hier finde“, meinte Basta wenig verblüfft, als er in ihr Zimmer trat. Zu Agathes Überraschung hatte er sich umgezogen. Er trug nun genau wie sie ein weißes Hemd zu seiner schwarzen Hose, seine dunkle Jacke hatte er auch noch. An seiner Brust entdeckte sie eine rote Blume, die wie ein Blutfleck auf dem hellen Hemd hervorstach.

Agathe grinste ihm müde zu. Sie hatte ihn in den letzten zwei Tagen zwar gesehen, aber jedes Mal nur ganz kurz, weshalb ihre Begegnungen sehr oberflächlich ausgefallen waren. Meistens hatten sie sich nur knapp begrüßt, wenn Agathe mal runtergegangen war, um sich Wasser oder Nahrung zu holen. „Fleißig am Arbeiten“, sagte sie und hob das Buch, in dem sie las etwas an. Dann nickte sie in seine Richtung. „Schöne Blume“, meinte sie verschmitzt.

Er rollte mit den Augen.

„Wieso bist du hier?“, fragte Agathe und legte das Buch neben sich auf ihr Bett. Sie fragte nicht, weil er sie störte, sondern weil es nicht oft vorkam, dass er nach ihr sah.

„Zwei Gründe“, meinte er. „Erstens wollte ich Bescheid geben, dass die Wölfe wieder jagen waren und es frisches Fleisch gibt, falls du Hunger kriegst.“

Die Wölfe – Kiriaki war außer sich gewesen, als sie von ihnen erfahren hatte. Sie war so beeindruckt gewesen, dass sie seitdem jedes Mal in ehrfürchtiges Schweigen verfiel, wenn Agathe in ihre Nähe gelangte.

Agathe nickte. „Und der zweite Grund?“

„Ich wollte mal fragen, wie es vorangeht“, meinte Basta und gab sich Mühe, gelangweilt zu wirken, aber Agathe hörte die Ungeduld in seiner Stimme heraus. Die Begierde, wieder ins Todesreich zu reisen.

„Ein bisschen weiter bin ich schon“, erzählte Agathe, was der vollen Wahrheit entsprach. Es war ihr tatsächlich gelungen, ein wenig brauchbares Wissen in Kiriakis Büchern zu finden, auch wenn sie noch nicht völlig am Ziel war. Sie warf Basta einen verschwörerischen Blick zu. „Aber ich bin mir sicher, dass ich sogar ein wenig schneller vorankommen würde, wenn du mir helfen würdest“, säuselte sie in ihrer liebenswertesten Stimme.

Basta schnaubte abfällig, während er in den Raum schlurfte. „Ich würde ja gerne, aber …“

„Aber was?“, fragte Agathe und war gespannt, welche Ausrede er ihr bieten würde.

„Ich kann nicht lesen.“

„Wirklich?“, fragte Agathe und wusste selbst nicht, warum sie so überrascht war. Es war völlig normal, dass nur die wenigsten schreiben und lesen konnten, aber Basta wirkte stets so … überlegen.

Seine Bereitschaft zur rohen Gewalt ließ sie manchmal vergessen, dass sie die klügere von den beiden war.

„Wirklich nicht“, bestätigte er desinteressiert und betrachtete das Buch neben ihr abwertend. „Als Brandstifter brauchte man es auch nicht besonders.“

„Ich könnte es dir beibringen“, schlug Agathe vor, auch wenn das nur zusätzlicher Aufwand gewesen wäre.

Er winkte ab. „Dafür hab ich ja dich, Kleine“, meinte er lässig.

Agathe runzelte die Stirn. „Kleine?“, fragte sie und versuchte sich ins Gedächtnis zu rufen, wann er sie das letzte Mal so genannt hatte – es war schon etwas her.

Basta schien sich ein Schmunzeln zu verkneifen. „Stimmt etwas nicht?“

„Wieso nennst du mich so?“

„Weil es auf dich zutrifft.“

„Kiriaki hast du auch so genannt. Zu ihr passt es sogar besser.“

Basta stieß ein Schnauben aus, das halb belustigt, halb verächtlich klang. „Was erwartest du? Einen ganz eigenen Beinamen?“

Agathe erlaubte es sich, zu lächeln. „Vielleicht.“

„Das einzige, auf was ich bei dir sonst kommen würde, wäre …“, Basta hielt kurz inne und schaute Agathe etwas selbstvergessen an, „ … Teufelsweib.“

„Teufelsweib?“

„Ja.“ Er schenkte ihr spöttisches Lächeln. „Ja, das passt.“

„Na, vielen Dank“, murmelte Agathe mit verzogenem Mund. Und dann, weil sie sich plötzlich daran erinnerte: „wie geht es der Seele?“

„Huh?“ Basta griff in seine Tasche und holte die bläuliche Lichtkugel heraus, die er aus dem Todesreich gestohlen hatte. „Gut, denke ich.“ Er ließ das Licht über seiner offenen Handfläche schweben. „Leuchtet immer noch.“

„Wer ist das denn nun eigentlich?“, fragte Agathe. „Das hast du nicht erzählt.“

Aber Basta winkte nur ab, bevor er die Seele wieder in seiner Tasche verschwinden ließ. „Nicht so wichtig“, meinte er grinsend. „Bloß ein alter Bekannter. Mehr nicht.“ Sein Lächeln wurde etwas schmaler, als sein Blick zu Agathes Körper wanderte. „Wie geht es den Verbrennungen?“

„Es tut gar nicht mehr weh“, gestand Agathe. „Ich fühle gar keinen Schmerz mehr.“

„Tatsächlich?“, fragte Basta eher zerstreut als erstaunt. „Bei mir hat es viel länger gedauert, bis der Schmerz vorbei war.“ Er ließ seinen Blick abwesend zur Seite gleiten. „Die Kleine hat wirklich gute Arbeit geleistet.“

„Hmm?“ Agathe rutschte an den Rand des Bettes. „Ich dachte, du wärst derjenige gewesen, der mich verbunden hat, als ich vor zwei Tagen noch bewusstlos war.“

„Ja, aber die neue Salbe war von dem Mädchen“, erwähnte er. „Sie meinte, das Zeug hätte irgendeine magische Wirkung und wäre besser als meine. Offenbar hat sie Recht behalten.“

„Warte.“ Agathe griff mit ihrer Hand unter den Stoff ihres Hemdes und löste dort den Verband, den Basta ihr vor zwei Tagen umgebunden hatte. Sie zerrte ihn vorsichtig von ihrer Haut und zog ihn dann unter dem Kleidungsstück hervor, ehe sie das Hemd selbst leicht hochzog. Was sie sah, ließ sie nach Luft schnappen.

Ihr Rücken hatte noch dieselbe Farbe wie früher, aber die Haut wirkte irgendwie falsch. Wie zerknittertes Papier, dachte Agathe und strich mit einem Finger achtsam drüber. Es tat gar nicht weh, kribbelte nur etwas. Die Haut fühlte sich rau an, aber Agathe hätte Schlimmeres erwartet.

„Bei mir hat es ein halbes Jahr gedauert, bis es so gut verheilt ist wie bei dir in nur wenigen Tagen“, sagte Basta trocken. „Unglaublich, wie schnell das mit diesem Zeug gehen kann.“

Sie ließ von ihrem Rücke ab und sah ihn an. „Sieht es denn bei dir genauso aus?“

Er zögerte. „Ja.“

„Aber das ist doch …“ Sie schüttelte verständnislos den Kopf. „Als du davon gesprochen hast, habe ich viel Schrecklicheres vor Augen gehabt. Das hier ist kaum der Rede wert, bloß ein wenig verdorbene Haut.“

Sie sah, wie er an einen seiner Arme griff. „Das sagst du so“, knurrte er und sah weg.

„Ich bitte dich.“ Agathe richtete ihr Hemd. „Was soll denn so fürchterlich daran sein?“

„Man kann es nicht heilen“, murmelte Basta, eher zu sich selbst. „Man kann es nur ständig verstecken. Überdecken.“

Agathe dachte über das, was er gesagt hatte nach und aus irgendeinem Grund blieb sie an dem Wort „Überdecken“ hängen. Es war, als würde etwas in ihrem Kopf Alarm schlagen, obwohl sie nicht wusste, was es war, bis sie nur einen Tag zurück dachte.

„Komm mit“, sagte sie und sprang von ihrem Bett auf.

Verdutzt sah Basta sie an. „Wohin? Wofür?“

„Zu Kiriaki“, meinte Agathe, als sie an ihm vorbei ging, um das Zimmer zu verlassen. „Ich habe da was bei ihr gesehen.“

Sie hörte Bastas Schritte hinter sich, als sie den Gang mit den Zimmern durchquerte und vor Kiriakis Raum stehen blieb. „Kiriaki?“, fragte sie und kam herein.

Sie entdeckte das Mädchen an ihrem Tisch sitzen, gerade beim Essen. „Ja?“, fragte sie mit halbvollem Mund und legte das Fleisch, an dem sie eben noch geknabbert hatte auf die Scherbe eines Tellers. Heiles Geschirr gab es in der Festung nicht, also hatten sie sich etwas einfallen lassen müssen.

„Als ich mir gestern ein Buch von dir geholt habe, habe ich auf dem Tisch etwas gesehen … Eine Art Werkzeug, wenn ich mich nicht irre, und …“

„Warte mal“, sagte Kiriaki, die offenbar verstanden hatte, wovon Agathe sprach und öffnete eine Schublade. Nach kurzem Kramen holte sie das Ding heraus, über das Agathe gestern gestolpert war. „Das hier?“

„Ja“, sagte Agathe begeistert.

„Was ist das?“, wollte Basta misstrauisch wissen.

„Tätowierwerkzeug“, antwortete Kiriaki gelassen.

„Das wäre doch eine wundervolle Methode, die Brandnarben zu überdecken“, meinte Agathe eifrig, bevor Basta etwas einwerfen konnte, denn sie hatte bereits bemerkt, mit was für einem entsetzten Blick er den nadelartigen Gegenstand in Kiriakis Hand musterte.

„Gar nichts wäre es!“, zischte er und schüttelte den Kopf. „Nein.“

„Zu feige?“, fragte Kiriaki neckisch und ließ das Werkzeug belustigt sinken.

Basta warf ihr über Agathe hinweg einen giftigen Blick zu. „Halt die Klappe. Du hast hier gefälligst deinen Mund zu halten.“

„Aber warum willst du nicht?“, fragte Agathe Basta.

„Wieso sollte ich das wollen?!“, entrüstete er sich. „Ich müsste mir meine beiden Arme tätowieren lassen.“

„Du versteckst sie doch sowieso.“

„Ja, aber … Trotzdem … Sich so viel stechen lassen?“ Er war wirklich abgeneigt.

„Und wenn ich es auch tue?“, fragte Agathe, ehe sie sich halten konnte. „Wenn ich mir ebenfalls meinen ganzen Rücken tätowieren lasse – würdest du dich trauen?“

Das schien sowohl Basta, als auch Kiriaki aus der Fassung gebracht zu haben, denn kurz sagte keiner etwas.

„Du?“, fragte Basta und kniff argwöhnisch die Augen zusammen. „Wieso willst du dir denn etwas stechen lassen? Es ist nicht gerade so, als würde man deinen Rücken ständig sehen. Du musst ihn nicht verstecken.“

„Das schon, aber …“ Agathe knetete ihre Hände ineinander. „Wenn ich ehrlich sein soll, wollte ich schon immer eine Tätowierung.“

„Und wieso hast du dir noch keine machen lassen, wenn das so ist?“

„Weil ich reichen Männern gefallen musste“, brach Agathe heiser hervor, den Blick eingeschüchtert auf den Boden gerichtet. „Und reiche Männer mögen keine Frauen mit beschmutzten Körpern.“

Wieder folgte Stille.

Vielleicht war das nicht so schlau, es zu gestehen, dachte Agathe im Stillen. Vielleicht war Basta ja auch gegen Tätowierungen und wehrte sich nur deshalb so verbissen. Wenn er selbst keine wollte, würde er sie an Agathe sicher auch nicht schön finden. Agathe biss sich bei diesem Gedanken auf die Lippen und wollte ihre Worte bereits zurücknehmen, um sich kein Tattoo stechen lassen zu müssen, ohne, dass er auch eins bekam und sie sich sicher sein konnte, dass er nichts dagegen hatte, als sie Basta plötzlich tief seufzen hörte.

„Wie ein bettelndes Kind, statt einem Teufelsweib“, hörte sie ihn genervt flüstern.

Sie sah auf. „Ist das ein Ja?“, fragte sie mit unterdrücktem Lächeln.

Er schaute immer noch irritiert drein, als sich ihre Blicke trafen, aber er hatte die Schultern geschlagen sinken lassen. „Ja, ja, schon gut, das ist es“, knurrte er.

„Etwa jetzt sofort?“, fragte Kiriaki.

„Ja“, sagte Agathe augenblicklich.

Basta wand sich sichtlich in dieser Situation, sagte aber nichts mehr.

„Wie? So ohne es sich richtig zu überlegen?“, fragte Kiriaki. „Ihr könntet zumindest über das Bild nachdenken, das ihr haben wollt, während ich hier alles vorbereite.“

„Ich weiß es schon“, flüsterte Agathe gespannt und zog die Lippe zwischen die Zähne. Sie sah zu Basta, der sich immer noch nicht ganz wohl zu fühlen schien. „Und du?“

„Keine Ahnung“, murrte er und zuckte die Achseln. „Such dir was aus.“

„Wa … Ehrlich?“ Agathe war kurz so überrascht, dass sie vergaß zu lächeln.

„Wieso nicht?“, brummte er. „Mir ist es ohnehin egal und eine wirkliche Idee habe ich erst recht nicht.“ Er sah zu ihr, die Augen halb geschlossen. „Tob dich aus.“

„Ich bin gleich fertig“, meine Kiriaki, bevor sie verschwand, um alles zu holen, was benötigt wurde. Während sie eine Schüssel mit Wasser, einige halbwegs saubere Stofffetzen und etwas Alkohol besorgte, hatte Agathe sich bereits alles im Kopf zusammengelegt.

Sie wusste ganz genau, was sie wollte.

„Wer fängt an?“, fragte Kiriaki, als sie ihr Werkzeug vorbereitet hatte. Sie saß auf ihrem Bett, den Tisch hatte sie mit Bastas Hilfe an sich heran geschoben, damit sie alles griffbereit hatte, was sie brauchte.

„Er“, sagte Agathe und bedeutete Basta, sich neben Kiriaki auf das Bett zu setzen. Basta schlenderte betont langsam dort hin – er war sich immer noch unsicher. „Dann kann ich dir an ihm zeigen, was genau ich mir vorstelle. Später kannst du es dann bei mir wiederholen“, erklärte Agathe Kiriaki.

Kiriaki hob eine Augenbraue. „Ihr wollt also dasselbe?“

„Nicht komplett gleich, aber … ähnlich“, sagte Agathe langsam.

„Bist du dir überhaupt sicher, dass du das kannst?“, fragte Basta Kiriaki wachsam. Es überraschte Agathe fast ein wenig, dass er dem Mädchen weniger traute als ihr. Darum, dass sie sich ein schlechtes Motiv aussuchte, schien er sich nämlich überhaupt keine Sorgen zu machen.

„Ich mache das nicht zum ersten Mal“, schnaubte Kiriaki. „Man muss ja irgendwie sein Geld verdienen.“

„Du machst aber ganz schön viel“, bemerkte Basta.

„Man muss alles nutzen, was man kann“, erwiderte sie bloß. Dann rückte sie näher an ihn heran, um gleich beginnen zu können. „Los, zieh dein Hemd aus.“

Agathe sah deutlich, wie sich Bastas Kiffer anspannten. Er sah in ihre Richtung und als sie nickte, schien er sich ein weiteres Mal überreden zu lassen. Er stieß angespannt die Luft aus, griff aber trotzdem nach seinem Hemd, um es sich über den Kopf zu ziehen.

Obwohl sie gewusst hatte, was kommen würde, zog Agathe den Atem ein. Bastas beiden Arme waren wirklich völlig mit Brandnarben überseht, die von seinen Handgelenken bis zu seinen Schultern reichten. Es war ein schockierender Anblick und viele Leute hätten ihn schlimm gefunden, aber Agathe fühlte etwas wie Faszination in sich aufwachen.

Sie hatte ihr ganzes Leben Zuhause verbracht, wo es so gut wie unmöglich war, sich ernsthafte Verletzungen zuzuziehen, wenn man halbwegs auf sich aufpasste. Solche Narben waren Spuren von Erfahrungen, die man nur außerhalb der eigenen vier Wände machen konnte. Solche Spuren waren ein Zeichen dafür, dass man etwas riskiert hatte, unvorsichtig gewesen war … ein freies Leben geführt hatte.

Agathe fand Narben dieser Art – oder zumindest ihre Bedeutung – seltsamerweise anziehend und fragte sich fast, ob es ein Fehler wäre, sie überstechen zu lassen.

In diesem Moment hörte sie Kiriaki beeindruckt durch die Zähne pfeifen. „Nicht schlecht“, meinte sie und betrachtete Bastas Arme. „Muss weh getan haben.“

„Sei einfach leise“, brach Bastas knurrend hervor, aber Agathe entdeckte hinter seiner bissigen Haltung etwas wie Verlegenheit.

„Dann zeig mal, was ich zu tun habe“, sagte Kiriaki zu Agathe und ignorierte Basta.

Zögernd trat Agathe an die beiden heran und erklärte Kiriaki die Tätowierung, ohne Basta zu berühren: dieser saß mit so unbeteiligtem Gesicht da, als ginge ihn das alles nichts an. Als Agathe fertig war, machte Kiriaki sich sofort an die Arbeit – wobei sie dann auch mehrere Stunden brauchte, bis diese erledigt war.

„Ich glaube … ich habe es“, seufzte Kiriaki müde und nahm die Nadel von Bastas Haut.

Agathe hatte sich in einer Ecke des Zimmers niedergelassen, um in Kiriakis Büchern weiterzulesen, während sie wartete. Als sie das Mädchen hörte, packte sie das Buch sofort weg und sprang auf, um sich das Ergebnis anzusehen. „Und?“, fragte sie, während sie heran trat.

Es sah genauso aus, wie Agathe es beschrieben hatte: Über Bastas Arme zogen sich schwarze, etwas dickere Linien, die ineinander liefen wie Blumenranken und auch an solche erinnerten – mit der Ausnahme, dass sie nicht ganz so weich wirkten, sondern an ihren Enden spitz zusammen liefen. Die Linien bedeckten auch seine Schultern und reichten an einer Seite sogar bis zu seinem Hals und seinem Schlüsselbein, auf der anderen Seite reichten ein paar von ihnen zu seinem Rücken.

Aus einem reinen Impuls heraus, den sie selbst nicht erklären konnte, hätte Agathe beinahe den Finger ausgestreckt, um dem Muster nachzufahren, als ihr einfiel, was für eine Wirkung es auf sie hätte, wenn sie Bastas berührte. Sie hielt sich zurück.

„Es ist … wirklich gut geworden“, murmelte sie völlig außer sich.

„Findest du?“, fragte Basta und betrachtete prüfend seine Arme.

Agathe nickte heftig. „Ja, ja, auf jeden Fall.“

Basta schwieg, wirkte nun aber um einiges entspannter. Zu bereuen schien er nichts.

„Dann bist jetzt du dran“, sagte Kiriaki zu Agathe.

Diese runzelte die Stirn. „Willst du nicht vielleicht eine Pause?“

„Ich brauche keine Pausen“, winkte Kiriaki selbstgefällig ab. Dann schmunzelte sie. „Außerdem sieht du nicht so aus, als würdest du länger warten können.“ Und das konnte Agathe auch nicht. Nachdem Basta aufgestanden war, setzte sie sich sofort und zog ihr eigenes Hemd aus, bevor sie gegen ihre Brust drückte. Kiriaki brauchte ja nur ihren Rücken.

„Es soll genauso aussehen“, sagte sie zu Kiriaki über die Schulter hinweg. „Nur mit etwas weicheren Linien, die sich an meinem Rücken befinden. Sie können ruhig bis zu meinem Hals reichen.“

„Alles klar“, murmelte Kiriaki, bevor Agathe den Stich der Nadel fühlte. Es tat weh und Agathe musste in das Hemd beißen, das sie gegen ihre Brust drückte, aber sie durfte nicht zucken. Basta lehnte an dem Tisch und beobachtete das Geschehen – so lange, bis es fast Abend geworden war und Kiriaki ein weiteres Mal die Nadel weglegen konnte.

„War …“ Agathe musste durchatmen. Ihr Körper war ganz heiß. „War es das jetzt?“

„Ja.“ Sie hörte, wie Kiriaki sich hinter ihr streckte. „Du kannst es dir jetzt ansehen.“

Kiriaki hatte eins der Zimmer, die einen zerbrochenen Spiegel in ihren Schränken hatten. Mit wackeligen Schritten stand Agathe auf und taumelte zu dem Schrank, bevor sie sich vor dem Spiegel herumdrehte. Ihr Rücken sah unglaublich aus. Die Linien waren weich, wie sie gebeten hatte, erinnerten aber dennoch an Bastas. Sie wanden sich wie Blumenranken ihre Wirbelsäule entlang nach oben, um sich kurz vorm Ende zu spalten und in verschiedene Richtungen zu bewegen, zu ihren Schultern. Es erinnerte fast ein wenig an Flügel, was in jeder Hinsicht ironisch war.

„Das ist so schön.“ Agathe konnte nur wimmern vor Freude. Sie schlug sich eine Hand vor den Mund, völlig aufgelöst. Sie hätte niemals gedacht, sich diesen Wunsch jemals erfüllen zu können.

Sie sah Basta durch den Spiegel hindurch zustimmend nicken.

„Toll, dass es dir gefällt“, meinte Kiriaki und klang erschöpft. „Nur musst du in den nächsten Tagen aufpassen, nicht ganz so viel in die Sonne zu kommen.“

„Das ist es wert“, flüsterte Agathe überwältigt. „Das ist es wirklich wert.“

- Kapitel 30 -

 

Kiriaki war gleich, nachdem sie mit Agathes Tätowierung fertig geworden war nach draußen gegangen, um sich die Beine zu vertreten – nachdem man fast einen ganzen Tag im Sitzen verbracht hatte, hatte man das dringend nötig, auch wenn sie nach der Arbeit unbeschreiblich müde geworden war.

Das Mädchen zitterte leicht, als sie die Festung durch den riesigen Eingang verließ und ins Freie hinaus trat. Es war schon dunkel geworden, und dabei war Agathe am Morgen zu ihr gekommen, um sie zu bitten, sich und Basta etwas stechen zu lassen.

Kiriaki vergrub ihre nackten Zehen im Gras unter ihren Füßen und drehte ihre Handgelenke, um ihren Körper etwas zu entspannen, dabei wanderte ihr Blick zu dem Rudel Wölfe, das sich etwas weiter weg niedergelassen hatte. Wölfe. Diese Agathe hatte es tatsächlich geschafft, wilde Tiere zu zähmen und sich gehorchen zu lassen – als eine Hexe, die sich alles von Grund auf selbst beigebracht hatte.

Ganz glauben konnte Kiriaki es immer noch nicht. Sie machte einige Schritte in Richtung des Rudels, darauf bedacht, ihnen nicht zu nahe zu kommen, aber dennoch etwas mehr von ihnen sehen zu können.

Vielleicht hatte sie es mit Basta und Agathe gar nicht so schlimm erwischt – obwohl der erstere öfter mal an ihre Nerven stieß. „Aber solche Leute gibt es überall“, sagte sie leise und fuhr sich durch das Haar.

Die frische Abendluft tat gut und sie gönnte es sich einige Sekunden lang, diesen Moment zu genießen. Einige Sekunden zu lange, wie sich herausstellte.

Kiriaki spürte plötzlich, wie jemand von hinten einen Arm um sie schlang, um sie festzuhalten. Der andere drückte ihr genau in dem Moment einen Lappen gegen den Mund, in dem sie hatte schreien wollen und erstickte ihre Stimme somit in dem feuchten Stoff.

„Habe ich dich gefunden!“, hörte sie die vertraute Stimme von Vika in ihrem Ohr, als das Mädchen sie härter gegen sich drückte. „Athina hat nach dir suchen lassen. Jetzt bist du dran, Kiriaki. Jetzt bist du wirklich dran.“

Kiriaki wehrte sich wie wild, ihr Herz begann in ihrer Brust vor Angst zu rasen. Vika war größer als sie, was aber nicht der Grund dafür war, dass Kiriaki sich nicht aus ihrem eisernen Griff befreien konnte. Der Grund dafür das seltsam riechende Zeug, mit dem der Lappen getränkt war – Kiriaki spürte nur kurze Zeit später, wie ihre Knie weich wurden und sie in Vikas Armen zu erschlaffen begann.

„Schöne Träume“, säuselte Vika noch.

Dann wurde Kiriaki schwarz vor Augen.

- Kapitel 31 -

 

Agathe biss herzhaft in das Fleisch, das von den Wölfen bei ihrer letzten Jagd geholt und von Agathe eben in der Küche zubereitet worden war. Sie saß an einem der Tische und stärkte sich mit einem kräftigen Frühstück, bevor sie den heutigen Tag wieder in ihrem Zimmer hinter einem Buch verbringen würde.

In letzter Zeit hatte sie ihren Körper stark vernachlässigt: Agathe fiel erst heute auf, wie wenig sie die vorherigen Tage über gegessen hatte und wie sehr sich ihr Magen über die vernünftige Mahlzeit nun freute.

Dabei hatte sie sich so gut gefühlt, in der letzten Nacht. Es war etwas schwer gewesen, mit der Tätowierung auf dem Rücken zu schlafen, da sie es hatte vermeiden müssen, sich auf sie zu legen, aber Agathe hatte dennoch ein angenehmes Glücksgefühl durch ihren ganzen Körper fließen gespürt.

Vielleicht war das auch die Erklärung für ihre gute Laune, als sie Basta in die Küche kommen sah.

„Guten Morgen“, sagte sie heiter und ließ kurz von ihrer Nahrung ab. Sie hatte ohnehin fast aufgegessen.

„Morgen“, erwiderte Basta nur und sah sich suchend um. Er trug heute keine Jacke und die Ärmel seines Hemdes hatte er leicht hochgekrempelt, sodass Agathe einen Blick auf seine Tätowierungen erhaschen konnte. Auch einen kleinen Teil seines tätowierten Halses konnte sie unter dem Hemdkragen sehen.

„Suchst du was?“, fragte Agathe und stützte ihren Kopf an ihrer Hand ab, als sie ihn anblickte.

Basta räusperte sich. „In gewisser Weise“, meinte er. „Hast du die Kleine gesehen?“

„Kiriaki? Nicht wirklich.“ Agathe schob ihren (zerschlagenen) Teller von sich. „Ist sie nicht in ihrem Zimmer?“

„Nein.“ Basta überquerte die Küche und blieb auf der anderen Seite des Tisches stehen. „Anscheinend ist sie in der letzten Nacht gar nicht wiedergekommen, nachdem sie die Festung für einen Spaziergang verlassen hat.“

„Sie … Tatsächlich?“ Wenn Agathe es sich genau überlegte, hatte sie das Mädchen seitdem wirklich nicht gesehen. „Aber das muss ja noch nichts heißen.“

„Ich weiß nicht“, murmelte Basta düster. „Das gefällt mir nicht.“

Agathe schnurrte amüsiert. „Machst du dir Sorgen oder wie?“

Er schnaubte, was sehr ehrlich klang. Agathe glaubte ihm, dass er das Mädchen nicht ganz leiden konnte. „Mach dich nicht lächerlich.“ Dann fuhr er sich durch das Haar. „Ich habe bloß ein schlechtes Gefühl dabei, wenn ich ehrlich sein soll.“

„Was könnte denn schon groß passiert sein?“, fragte Agathe.

Basta antwortete ihr nicht. Er kniff abrupt die Augen zusammen und starrte angestrengt in eine Richtung, als hätte er durch die Wände sehen können. Er schien auf der Hut zu sein.

„Basta?“, fragte Agathe vorsichtig, deren Appetit augenblicklich vergangen war, so ernst, wie er guckte. Als er immer noch nicht reagierte, winkte sie mit einer Hand vor seinem Gesicht herum. „Hallo?“

„Da kommt wer“, sagte Basta auf einmal, ohne sie zu beachten. „Ich spüre es.“

 

Als die beiden die Festung verließen und hinaus auf die Lichtung traten, auf der sich Capricorns Burg befand, entdeckten sie tatsächlich ein kleines Mädchen – nur nicht das, nach dem sie gesucht hatten, obwohl das Kind vor ihnen eine starke Ähnlichkeit zu Kiriakis Erscheinung hatte. Auch sie war barfuß und mit Blumen in den ungekämmten Haaren, in einem Kleid und Schmuck um ihren Hals.

„Noch so eine“, hörte Agathe Basta leise neben sich seufzen, als hätte er ihre Gedanken gehört.

Das Mädchen stand mit verschränkten Händen am Rande der Lichtung und schien kein Stück überrascht, dass die beiden auf sie zukamen. Es war, als hätte sie nur darauf gewartet.

„Können wir dir irgendwie helfen?“, fragte Agathe vom Weiten und kam weiterhin auf die Kleine zu.

„Bist du diejenige, mit der Kiriaki verhandelt hat?“, wollte das Mädchen ohne Weiteres wissen. Sie sah dabei nur Agathe an, was die Frau annehmen ließ, dass Basta sich wieder unsichtbar gemacht hatte.

Kiriaki hatte ihn bei ihrer aller ersten Begegnung aber dennoch gesehen, was ihre Freundin hier offenbar nicht konnte – es war also wirklich nur eine Begabung des Mädchens.

„Kiriaki?“, fragte Agathe überrascht, als sie bei der Fremden angekommen war. „Nun, sozusagen … wieso fragst du?“

„Sie muss dir einen Stein gegeben haben“, sagte das Mädchen und ließ ihren Blick an Agathes Körper entlang gleiten, als würde sie danach suchen wollen, aber er war nicht zu sehen. Agathe trug ihn zwar an ihrem Hals, aber unter ihrem Hemd.

„Hat sie“, bestätigte Agathe misstrauisch.

Basta ging um sie herum und stellte sich hinter das Mädchen. Er griff nicht ein, noch nicht.

„Dann musst du ihn zurück geben“, sagte die Kleine dreist.

Agathe stieß einen verächtlichen Laut aus und stemmte die Hände lässig in die Seiten. „Auf keinen Fall.“

„Hör zu“, begann das Mädchen vor ihr belehrend, als wäre Agathe hier das Kind. Sie streckte einen Finger aus, während sie sprach und wies damit auf Agathe. „Kiriaki hatte nicht das Recht, diesen Stein zu verkaufen. Und wenn ihr ihn nicht zurückgebt, werden wir uns ihn eben selbst holen.“

„Wer bist du eigentlich?“, fragte Agathe und hörte Basta bei der Warnung des Mädchens leise lachen. Sie gab sich Mühe, nicht zu ihm zu sehen.

„Mein Name ist Monika.“

„Und wo ist Kiriaki? Ich würde sie nämlich liebend gerne fragen, was sie zu der Sache zu sagen hat“, meinte Agathe.

Monika verzog den Mund. „Wir haben sie mitgenommen“, stellte sie klar. „In unser Lager. Es ist nicht weit von hier und liegt in der Nähe eines Flusses. Der Rest meiner Gruppe kann also schnell hier auftauchen, falls es nicht laufen sollte, wie wir es uns wünschen“, erklärte sie eindringlich.

Agathe hob die Augenbrauen. „Soll das eine Drohung sein?“

„Vika ist Bogenschützin“, erklärte Monika. „Ismene versteht sich auf Flüche. Und Athina hat Giftpfeile, die dich in Sekunden töten.“ Das Mädchen lächelte leicht. „Du solltest ihn wirklich lieber einfach hergeben, statt dich mit uns anzulegen. Ist gesünder.“

„Das reicht mir jetzt langsam“, sagte Agathe.

„Interessiert mich nicht“, meinte Monika. Die Arme hatte ja gar nicht verstanden, dass Agathe nicht mit ihr gesprochen hatte.

Basta nickte und griff Monika nur einen Atemzug später in den Nacken – dieses Mal ging er aber anders vor, als bei Orpheus. Er nahm sich nicht die Zeit, das Mädchen ersticken zu lassen. Stattdessen brach er ihr mit einem einzigen, festen Griff das Genick.

Monika war so schnell tot, dass sie nicht einmal die Zeit hatte, einen Laut von sich zu geben. Basta stieß sie von sich und sie fiel mit dem Gesicht voran auf den Boden, wo sie regungslos vor Agathes Füßen liegen blieb.

Diese starrte zu ihr herunter. „Glaubst du, sie haben Kiriaki gewaltsam mitgenommen?“, fragte sie Basta und verschränkte die Arme vor der Brust.

Basta zuckte die Schultern, das tote Mädchen beachtete keiner mehr. „Gut möglich. Die scheinen auch nicht unbedingt zu den Sanften zu gehören, also könnte ich mir das gut vorstellen.“ Er runzelte die Stirn. „Außerdem würde es sogar erklären, warum Kiriaki bei uns bleiben wollte und nicht einmal Geld für den Stein verlangt hat. Vielleicht ist sie weggelaufen und hat ihn nur als eine Art Rache mitgenommen.“ Er lachte auf. „Bestimmt.“

„Möglicherweise war es nicht so schlau, sie zu töten“, überlegte Agathe laut und sah zu Monika hinunter. „Ohne sie könnte es uns schwer fallen, das Lager dieser Mädchen zu finden.“

„Du willst sie doch nicht etwa suchen?“, fragte Basta fassungslos.

„Doch, natürlich.“

„Wieso?“

„Basta, ich kenne mich mit Magie nur halb so gut aus wie Kiriaki. Du kannst von ihr halten, was du willst, aber ohne sie werden wir nicht voran kommen.“

Basta presste die Lippen zusammen. Er wollte es offensichtlich nicht sagen, aber Agathe sah, dass er ihr recht gab.

„Monika meinte, das Lager wäre irgendwo in der Nähe“, sagte Agathe. „Es soll neben einem Fluss liegen. Du hast doch lange hier gelebt, oder nicht? Müsstest du nicht alle von ihnen kennen, die hier im Umkreis sind?“

„Nicht alle“, gestand Basta. „Ich habe während meines Todes schon vieles vergessen. Außerdem lassen sich nicht alle von ihnen so leicht finden – dafür kenne ich mich im Wald zu schlecht aus.“ Aber plötzlich grinste er, und in seine Augen trat ein unheilvorhersagender. „Dafür kenne ich aber jemanden, der besser darin ist.“

Agathe fixierte ihn unsicher. „Wen?“

Wortlos griff Basta in seine Tasche und holte die Seele hervor, die er aus dem Todesreich gestohlen hatte. Die kleine Leuchtkugel schwebte in seiner Hand und zuckte leicht, als wäre sie aufgeregt. Agathe starrte sie verwirrt an. „Das erfährst du nach einer weiteren, kleinen Beschwörung“, verkündete Basta mit zufriedenem Gesichtsausdruck.

- Kapitel 32 -

 

Es war ein seltsames Gefühl, eine Beschwörung bei Tag durchzuführen. Genauso seltsam war es, sich dabei nicht verstecken zu müssen. Zuvor hatte Agathe sich immer nachts in den Wald geschlichen, um sicher vor neugierigen Blicken zu sein und selbst dort hatte sie die dunkelsten Schatten dafür aufsuchen müssen.

Heute war das anders – wie relativ vieles in Agathes jetzigem Leben.

Sie befanden sich in der Eingangshalle von Capricorns Festung und hatten die Seele in der Mitte des Raumes positioniert, wo sie etwa auf Agathes Augenhöhe über dem Boden schwebte. Sie wirkte klein, umgeben von dem ganzen Geröll der verlassenen Burg und erschien bei Tageslicht sehr blass.

„Kannst du es ohne deine Bücher?“, fragte Basta Agathe, die sich innerlich sammelte.

Sie zog einen Mundwinkel hoch. „Das ist nicht meine erste Beschwörung.“

„Du zögerst es aber ziemlich hinaus.“

„Tue ich nicht“, entgegnete Agathe. „Ich muss mich nur kurz orientieren.“

Basta schob die Hände in die Hosentaschen und sagte nichts mehr. Er hatte sich ganz auf die Seele fokussiert.

Agathe rieb nervös ihre Hände, um deren Zittern zu unterdrücken. Wenn sie ganz ehrlich sein sollte, hatte sie ein wenig Angst, da ihre letzten beiden Beschwörungen nicht so gut geklappt hatten, wie sie es sich gewünscht hätte – und obwohl sie die Ursache dafür längst herausgefunden hatte, war ihre Selbstsicherheit nach wie vor ein wenig angeschlagen.

Basta hatte bei ihrem letzten Versagen so wütend gewirkt. Vielleicht hätte er sie sogar geschlagen, wenn er sich die Hände nicht an dem Kreuz verbrannt hätte.

„Was ist jetzt?“, fragte Basta leicht genervt.

„Ich mache es ja schon …“

„Du musst doch bloß ein paar Worte aufsagen. Bist du sicher, dass du nicht noch einmal nachlesen willst?“

„Das ist es wirklich nicht …“

„Was dann?“ Er warf die Hände in die Luft.

Agathe presste die Lippen zusammen. „Nichts, nur … werd bitte nicht wütend, falls ...“

„Falls was?“, fragte er irritiert. Als Agathe bloß die Hände zu Fäusten ballte, seufzte er. „Na los. Soll ich dir jedes Wort aus dem Mund herausziehen?“

„Reagier einfach nicht zu heftig, falls es nicht klappt“, murmelte sie und stellte sich stabil hin.

„Was, davor hast du Angst?“ Er wirkte kurz ehrlich überrascht.

„Nicht Angst, aber … nun, doch. Ein wenig.“

Sie hätte erwartet, ihn allein mit diesen Worten zu verändern, aber Basta schlug sich mit der flachen Hand bloß gegen die Stirn. „Argh“, hörte sie ihn leise machen. „Entspann dich einfach. Darum brauchst du dir wirklich keine Sorgen zu machen.“

„Du hast beim letzten Mal bloß so wütend gewirkt.“

„Ehrlich gesagt habe ich angenommen, dass es pure Absicht von dir gewesen war“, meinte Basta. „Ich dachte, du würdest nicht wirklich mit mir zusammen arbeiten wollen und es gar nicht ernsthaft versuchen.“ Er sah sie zwischen seinen gespreizten Fingern an. „Ich weiß, ich weiß, ich habe nicht das beste Temperament, aber inzwischen bin ich mir im Bezug auf dich sicherer geworden. Etwas.“ Er nahm die Hand weg. „Solange ich weiß, dass du es wirklich versuchst, ist alles in Ordnung.“

Agathe konnte aus irgendeinem Grund nicht anders, als etwas verlegen die Augen abzuwenden. „Na dann“, flüsterte sie, bevor sie sich zusammenriss und ihre Hand ausstreckte.

Es waren dieselben Worte wie immer, aber in einem ganz anderen Vorgang. Wenn Agathe früher Geister heraufbeschworen hatte, hatte sie ihr Auftauchen nie mitbekommen. Meist hatte sie sie nach einer Zeit einfach zwischen den Bäumen entdeckt, so wie Basta.

Hier war es anders. Die Lichtkugel begann, sich auszubreiten, nachdem Agathe die Worte zu Ende gesprochen hatte. Sie wuchs und formte dabei etwas wie einen Leib, bis Agathe Hände und Füße erkennen konnte. Dann formte sich auch ein Kopf aus dem Licht. Nach einer Zeit, in deren Dauer Agathe irgendwann eine wirkliche Gestalt erkennen konnte, hörte das Glühen des Lichtes gemächlich auf und Agathe erkannte den Menschen darunter.

Es war ein erwachsener Mann, groß, schlank und mit rotblondem Haar, das sich in leichten Locken um sein schmales Gesicht legte. Er trug genau wie alle anderen Geister schwarze Kleidung an seinem Körper, doch sein Mantel hatte etwas Eigensinniges, wie Agathe fand. Als wäre er etwas Besonderes.

Der Mann blinzelte etwas verwirrt und ließ seinen Blick dann zu Agathe und Basta schweifen, wo er dann auch hängen blieb. Zu ihrem Erstaunen blickte auch dieser Geist nicht halb so tot und trostlos drein wie die restlichen – sein Blick glich Bastas. Er war lebendig und wachsam, wenn auch ein wenig verwirrt.

„Was zum …“, fragte Basta neben Agathe etwas aus der Fassung und brach somit die Stille, die sich über Capricorns Festung gelegt hatte. „Wo zur Hölle sind deine Narben?“, fragte er den Fremden unzufrieden und legte die Hände in die Seiten.

Der Mann sah Basta an und legte sich seine blassen Finger an das Gesicht, berührte dabei fast eins seiner Augen. „Oh? Die? Die haben die weißen Frauen mit sich genommen, als ich gestorben bin.“ Er war so gelassen, als wäre dies das normalste Gespräch überhaupt.

„Zu schade.“ Basta zog einen Schmollmund, der durch seinen sarkastischen Ton jedoch eher gefährlich, als traurig wirkte. „Das hätten sie nicht tun sollen. So sieht man doch gar nicht mehr, was für gute Freunde wir eigentlich sind.“

Der fremde Mann stieß ein Lachen aus, das keinen Humor enthielt. Auch das Grinsen, das darauf folgte, war weit von Frohsinn entfernt. Es hatte eher etwas Geheimnisvolles, etwas Spottendes.

Agathe war kein Menschenkenner – überhaupt nicht – aber selbst sie war klug genug, um die angespannte Atmosphäre aufzuschnappen, die sich zwischen den beiden Männern innerhalb von ein paar Sekunden entwickelt hatte.

„So wie es aussieht, hast du dir hingegen ein paar Körperverzierungen zugelegt, während ich meine verloren hab“, meinte der Fremde neckend. „Nicht schlecht.“

Sofort zog Basta seine Ärmel runter, damit man die Tätowierungen nicht mehr sehen konnte. Den kleinen Teil davon, der bis an seinen Hals lief, hatte er wohl vergessen.

„Ich bin also zurück“, meinte der Mann und sah sich in der eingefallenen Festung um, während er sich durch das helle Haar fuhr. Agathe bildete sich fast ein, es glänzen zu sehen. „Mal wieder“, fügte er trocken hinzu. Dann wanderte sein Blick abschätzend zu Basta. „So wie du, wie ich sehe. Wem haben wir das denn zu verdanken?“ Agathe zuckte zusammen, als er seine Augen auf sie richtete. Nicht vorwurfsvoll, nur neugierig.

„Ihr Name ist Agathe“, sagte Basta, wofür die Frau ihm sogar dankbar war. Sie selbst fühlte sich nicht in der Lage, zu sprechen. Die Person, die sie herbeigerufen hatte, schüchterte sie etwas ein. „Aber wo wir gerade dabei sind, mein letztes Wiederkommen zu besprechen … Wenn ich mich recht erinnere, gab es da doch eine ganz bestimmte Person, die es beendet hat.“ Bastas Gesicht war ausdruckslos geworden, während der andere Mann lächelte.

Agathe stieß einen leisen, fragenden Laut aus – immer noch unfähig, Worte zu formulieren.

Basta verstand sie trotzdem und sah sie aus dem Augenwinkel an. „Darf ich vorstellen?“, fragte er sarkastisch und – vor allem – laut genug, um von dem Mann gehört zu werden. „Das ist Staubfinger. Derjenige, der mich damals beim Namen gerufen und somit in gewisser Weise umgebracht hat.“

„Tu nicht so, als hätte ich dir keinen Gefallen getan“, sagte Staubfinger. „Orpheus persönlicher Hund zu sein muss sich nicht gut angefühlt haben … Aber du hattest ja noch nie etwas dagegen, dich nach anderen zu richten.“ Bedeutungsvoll hob er eine Augenbraue.

Die beiden sprachen sehr gelassen miteinander, aber da war etwas … ein undefinierbares Prickeln in der Luft, das Agathe eine Gänsehaut über den Rücken jagte.

„Halt bloß den Mund“, fauchte Basta genervt. „Ich bereue es fast, ausgerechnet dich zurückgeholt zu haben.“

„Warum hast du es dann getan?“ Der Mann legte den Kopf schief.

Auf Bastas Gesicht erschien ein Grinsen, das eher einer Grimasse ähnelte. „Weil ich mit dem Ende unserer letzten Begegnung nicht ganz einverstanden war“, meinte er. „Und als ich dich zufällig in der Todeswelt entdeckt habe, konnte ich nicht widerstehen, ein weiteres Treffen geschehen zu lassen, um es dieses Mal … anders enden zu lassen.“ Basta runzelte die Stirn. „Und bevor ich es vergesse … Du bist gestorben. Wie kam es?“

„Du hast davon nichts mitbekommen“, sagte Staubfinger langsam, „aber ich hätte eigentlich schon vor zehn Jahren tot sein müssen. Zauberzunge hat eine Art Vereinbarung mit dem Tod getroffen, die es mir ermöglicht hat, ein bisschen länger auf Erden wandern zu können …“

„Ein wenig?“, fragte Basta. „Zehn Jahre nennst du ein wenig?“

„Wieso nicht?“, fragte Staubfinger. „In gewisser Weise habe ich die Zeit zurückbekommen, die ich in der anderen Welt verloren hab. Ist das nicht nur gerecht?“

Basta schnaubte.

Agathe konnte dem Gespräch nicht folgen. Sie verstand überhaupt nichts, wollte Basta aber auch nicht danach fragen … es erschien ihr als falsch, jetzt in diese Unterhaltung dazwischenzufahren.

„Weißt du, es ist immer wieder schön, sich mit dir zu unterhalten“, sagte Staubfinger, wodurch er Basta einen bösen Blick entlockte, „aber ich würde es bevorzugen, zum Wesentlichen zu kommen.“ Staubfinger sah Basta durchdringlich an. „Gibt es wirklich keinen anderen Grund dafür, dass du mich geholt hast, als dass du mich ein letztes Mal sehen wolltest?“

„Du sollst etwas für uns machen“, sagte Agathe, bevor Basta zu einer zynischen Antwort ansetzen konnte. Sie selbst wunderte sich, wie Staubfinger den anderen Mann so provozieren konnte. Sowas würde sie sich nie trauen. „Wir müssen ein Lager hier in der Nähe finden. Es müsste an einem Fluss liegen“, erklärte sie.

Staubfinger zog spielerisch eine Augenbraue hoch. „Und dafür braucht ihr mich?“

„Tu einfach, was man dir sagt“, knurrte Basta. „Du hast ohnehin keine Wahl.“

Agathe verdrehte die Augen. Gerade er musste einem anderen nicht erklären, wie sich ein Geist gegenüber seinem Beschwörer zu verhalten hatte.

„Ich kenne ein paar Flüsse.“ Staubfinger rieb sich nachdenklich das Kinn.

„Dann bring mich dahin.“ Basta hatte sich halbwegs wieder beruhigt.

Agathe sah ihn an. „Was hast du vor?“

„Na was wohl? Ich hole die Kleine zurück.“ Er bleckte die Zähne. „Sobald ich das Lager dieser Mädchen finde, wird es kein Problem mehr sein, sie davon zu überzeugen, Kiriaki gehen zu lassen.“

Etwas an seinem Ton ließ Agathe stutzig werden. „Was genau hast du vor?“, wiederholte sie und glaubte es bereits zu wissen.

Basta lächelte ihr nur gefährlich zu. Dann sah er zu Staubfinger. „Na los, lass uns keine Zeit mehr verlieren.“

Staubfinger nickte widerwillig und verschränkte mit gelangweiltem Gesicht die Arme vor der Brust, bevor er sich plötzlich auflöste. Basta hatte diesen Trick schon so lange nicht mehr angewandt, dass Agathe fast vergessen hätte, dass Geister an jedem beliebigen Ort auftauchen konnten, an dem sie wollten.

„Warte hier“, sagte Basta noch, bevor er plötzlich ebenfalls verschwand.

Und dann war Agathe wieder alleine.

- Kapitel 33 -

 

Kiriaki hatte nie erwartet, besonders alt werden zu können, da sie genau wusste, wie viele Gefahren die Welt für ein kleines Mädchen ohne Eltern bereithielt – deshalb hatte sie in gefährlichen Situationen noch nie besonders Angst davor gehabt, verletzt oder gar getötet zu werden. Es war ja nicht so, als ob sie das nie hatte kommen sehen.

Aber heute glaubte sie zu wissen, was das Wort Angst eigentlich zu bedeuten hatte, als sie Athinas Silhouette beim Auf- und Abgehen vor dem Feuer beobachten konnte. Bei der Dunkelheit war Athina nichts weiter als ein dunkler Fleck vor den leuchtenden Flammen, was sie aber nur beängstigender machte.

„Wieso braucht Monika so lange?“, murmelte sie immer wieder, bevor sie ihren Blick zum Rand der Lichtung schweifen ließ.

„Sie ist sicher schon unterwegs“, versicherte Ismene ihr, die nah an die Feuerstelle gerückt war, um etwas Wärme abzubekommen. Tamare hatte sich in ihr Zelt zurückgezogen, um zu schlafen und Vika saß neben Kiriaki, um ihr ein Messer in die Kehle zu rammen, sollte diese auch nur den Versuch unternehmen, zu fliehen.

Sie hatten Kiriaki gefesselt und auf die Stelle gesetzt, an der noch vor wenigen Tagen ihr Zelt gestanden hatte, bevor sie sich entschieden hatte, zu gehen und alles von ihr mitgenommen worden war.

„Wenn sie nicht bald hier ist …“ Athinas Stimme war nichts weiter als ein Knurren.

„Beruhig dich.“ Vika spielte unbeteiligt mit der Klinge in ihrer Hand, wobei sie von Kiriaki aufmerksam aus dem Augenwinkel beobachtet wurde. „Die wird schon bald kommen.“

Athina sagte nichts dazu. Sie fuhr herum und Kiriaki erstarrte kurz, als ihr wütender Blick sie traf. Athina stampfte auf sie zu und ging vor ihr in die Hocke, um auf einer Augenhöhe mit ihr zu sein. „Ich warne dich, Kiriaki …“, sagte sie bedrohlich ruhig. Diese Art der Wut hatte Kiriaki bei Athina früher nie gesehen – sonst schrie sie, tobte, aber heute schien sie sich selbst genau wie beim letzten Mal im Zaum zu halten. „Wenn du uns die ganze Zeit nur an der Nase herumgeführt hast und es gar keine Leute gibt, an die du den Stein verkauft hast, werde ich dich …“

„Ich habe nicht gelogen“, sagte Kiriaki leise, die Augen auf den Boden gerichtet, da sie Athinas Blick nicht standhalten konnte. „Ich habe ihn nicht einfach irgendwo versteckt, sondern ihn diesen Leuten überlassen.“

Zuerst war sie sich unsicher darin gewesen, ob sie Athina von Basta und Agathe hätte erzählen sollen – aber da Basta ein Geist war, drohte den beiden ohnehin keine Gefahr. Athina konnte gefährlich sein, aber selbst sie würde nicht gegen einen Geist ankommen, wenn sie nicht zumindest darauf vorbereitet war und nicht wusste, was auf sie zukam.

Athina knurrte leise, wendete ihr Gesicht dem Wald um sie herum zu und blickte dann wieder zurück zu Kiriaki – dieses Mal mit zusammengekniffenen Augen. „Du bist mir wirklich schon so lange auf die Nerven gegangen“, zischte sie.

Kiriaki sagte nichts. Sie saß bereits so tief im Schlamassel, dass keine Worte der Welt sie hätten wieder herausreden können – aber es schlimmer zu machen, das ging immer. Ganz egal, was sie jetzt noch sagen würde, sie hätte ihr eigenes Elend nur unangenehmer gemacht. Deshalb hielt sie es für besser, den Mund zu halten.

Allerdings schien auch das nicht die beste Entscheidung zu sein. „Hast du nichts zu sagen?“, fragte Athina. „Kein Winseln? Kein Flehen? Kein Betteln?“

Kiriaki blieb still.

Und dann passierte es – eine Ohrfeige traf sie so schnell, dass Kiriakis Kopf zur Seite flog und sie dabei fast gegen Vika stieß.

„Du bist tot, sobald wir den Stein haben“, sagte Athina und stand auf. „Ich schwöre es dir. Sobald wir uns sicher sein können, dass wir ihn zurückbekommen und dich nicht mehr brauchen, bist du tot.“

Kiriaki hätte sich gerne die brennende Wange gerieben, aber sie war gefesselt.

„Wohin gehst du?“, fragte Ismene, als Athina zum Rand der Lichtung ging. Jeder ihrer Schritte verriet, wie wütend sie war.

„Ich laufe Monika ein wenig entgegen“, fauchte Athina über die Schulter. „Sonst werde ich hier noch verrückt.“

Lange sagte keiner mehr etwas, als sie fort war.

Vika seufzte neben Kiriaki. „Weißt du“, sagte sie zu Kiriaki, „wärst du bloß selbst einfach abgehauen, hätte sie dich vermutlich sogar noch davonkommen lassen. Mit dieser Aktion hast du dein eigenes Todesurteil gefällt.“

„Das ist mir egal.“ Ein ähnliches Gespräch hatten sie schon gehabt, als Kiriaki neben Vika und Ismene im Lager aufgewacht war. Die beiden hatten sie zusammen hierher getragen, nachdem Vika sie mit dem Schlafmittel außer Gefecht gesetzt hatte. Monika hatte die Hälfte des Weges über mitgeholfen, dann war sie alleine zur Festung zurückgelaufen.

„Sie will dich verbrennen lassen, das ist dir klar, oder?“, fragte Tamare, die gerade mit schläfrigen Augen aus ihrem Zelt gekrochen kam. Ihr Blick wirkte benebelt, aber sie machte einen entspannten Eindruck. Wieso nicht – jetzt, wo sie Kiriaki gefunden hatten und nicht mehr Athinas Wut ausgesetzt waren?

„Ich weiß“, sagte Kiriaki nur.

„Hast du den Stein wirklich verkauft?“, fragte Ismene nun.

„In gewisser Weise.“

„Wenn nicht, solltest du ihr das lieber sagen. Vielleicht wird Athina dich verschonen, wenn du gestehst, dass du ihn bloß irgendwo versteckt hast.“

„Das glaubst du doch selbst nicht.“ Kiriaki sah zu Ismene rüber. „Außerdem habe ich ihn wirklich nicht versteckt. Ich lüge nicht.“

Vika seufzte neben ihr träge. „Zu schade. Das würde das Ganze nämlich um einiges Leichter machen.“

Kiriaki wollte gerade wieder die Augen auf den Boden richten, als sie eine Bewegung zwischen den Bäumen wahrnahm – es war kaum mehr als das Zucken eines Schattens, aber plötzlich schälten sich zwei Gestalten aus der Dunkelheit, viel zu groß für Athina, und Kiriaki realisierte mit etwas wie Schock, dass eine von ihnen Basta war.

Er grinste ihr zu, als er sie erblickte, was aber keiner außer ihr sonst mitbekam, denn die restlichen Mädchen konnten ihn nicht sehen. Alle Mitglieder der weißen Hexen hatten besondere Talente im Umgang mit Geistern, jedoch nicht dieselben.

Es tauchte ein zweiter Mann auf, den Kiriaki nicht kannte. Er hatte rotblondes Haar, war groß und lehnte sich mit verschränkten Armen gegen einen der Bäume, das Gesicht ernst und angespannt. Auch ihn konnten die restlichen Mädchen nicht sehen, was Kiriaki sich nur dadurch erklären konnte, dass er ebenfalls ein Geist war.

Wie viele von ihnen will Agathe denn noch beschwören?, dachte Kiriaki im Stillen.

Und dann geschah es – während der fremde Geist blieb, wo er war, setzte Basta sich in Bewegung und blieb hinter dem ersten Mädchen stehen, das ihm in die Quere kam: Ismene. Kiriaki war natürlich bereits klar, was er vorhatte und sie starrte zu dem jüngeren Mädchen herüber. Ismene war vermutlich die einzige der weißen Hexen, der Kiriaki momentan nicht den Tod wünschte und Bastas Vorhaben eigentlich sogar ganz gerne verhindert hätte – aber Ismene zu warnen bedeutete, sie alle zu warnen und so viel war ihr das Mädchen nun doch wieder nicht wert.

Basta schien nicht mehr die Geduld zu haben, um aufs Erwürgen zurückzugreifen, wie viele andere Geister – stattdessen packte er ohne jede Vorwarnung Ismenes Kopf und …

Kiriaki wandt unwillkürlich das Gesicht ab, nur, um Tamare einige Sekunden später aufkeuchen zu hören.

„Ismene?“, fragte sie und man hörte, wie sie über das trockene Gras zu ihr lief. Vika war seltsam still neben Kiriaki. „Ismene!“, rief Tamare noch einmal. „Ismene, jetzt sag doch was! Stimmt etwas ni …“ Tamares Stimme brach ab. Kurz darauf folgte ein dumpfes Geräusch, das Kiriaki an das Umfallen eines toten Leibes denken ließ.

Vika sprang wie vom Blitz gerührt auf. „Was zur Hölle?!“, rief sie und sah sich hektisch um, während Kiriakis Augen immer noch auf die gefesselten Hände in ihrem Schoß gerichtet waren. Am Rande ihres Unterbewusstseins nahm sie war, wie Vika zu rennen begann, aber Basta brauchte den Geräuschen nach nur wenige Schritte, um zu ihr zu gelangen. Er fing sie noch im Laufen ab und … beendete das Ganze.

Nachdem auch Vika zu Boden gegangen war, legte sich Stille über das Lager und Kiriaki bohrte förmlich ihre Finger ineinander, um deren Beben zu unterdrücken. Wieso zitterte sie? Sie hatte schon mehrmals Menschen beim Sterben zugesehen, in den letzten Jahren und die weißen Hexen waren alles andere als eine Art Familie für sie gewesen …

Sie konnte es nicht erklären.

„He.“ Kiriaki sah immer noch nicht auf, als Basta vor sie trat und seinen Schatten über sie warf. Sie sah nur die Spitzen seiner Stiefel vor sich.

„Was?“, fragte sie heiser.

„Gibt es ein Problem?“

Kiriaki konnte nichts sagen. Gerade war sie so derartig überwältigt von den Geschehnissen der letzten Sekunden, dass ihr ganz übel geworden war. Sie hätte sich am liebsten übergeben.

„Hey.“ Jetzt klang Basta fast genervt, aber als er Kiriakis Kinn grob zwischen seine Finger packte und sie somit dazu zwang, zu ihm hochzusehen, war sein Gesicht gelassen und gefasst. Er starrte mit abschätzig zusammengekniffenen Augen zu ihr herunter. „Ich frage noch einmal. Gibt es ein Problem?“

„Ich bin gefesselt“, sagte Kiriaki, bevor er sie endlich wieder losließ.

Basta zückte den Dolch, den er an seiner Hüfte trug und trennte das Seil gekonnt durch, sodass Kiriaki es achtlos beiseite werfen und aufstehen konnte. „Ihr seid mich holen gekommen?“, fragte sie, während sie sich ihre Handgelenke rieb. Sie mied es, sich umzusehen.

„Auf Agathes Bitte hin“, sagte Basta gelangweilt.

„Wieso?“ Kiriaki sah ihn an. Sie war nicht glücklich oder dankbar, aber auch nicht traurig. Sie fühlte sich bloß schwach und ein anderes Wort hätte es nicht besser beschreiben können. „Was hat sie davon?“ Gott, sie hörte sich auch verdammt danach an.

„Wir sind immer noch ein kleines bisschen auf deine Hilfe angewiesen“, sagte Basta mit verzogenem Mund.

„Aha.“ Am liebsten hätte sie sich hingelegt, um wieder zu sich zu kommen, aber so, wie sie Basta kannte – und sie kannte ihn nicht besonders gut, was jedoch genügte, um das Folgende zu wissen – würde er sie wohl nicht lassen.

„Du klingst ziemlich verstimmt“, bemerkte Basta und musterte sie. „Was ich gar nicht verstehen kann, da ich dir gerade in gewisser Weise dein Leben gerettet habe.“

„Woher wusstet ihr, dass ich Hilfe brauche?“, fragte Kiriaki.

Er grinste schief. „War nicht schwer zu erraten, dass du Ärger am Hals hattest, sonst wärst du vermutlich gar nicht von hier abgehauen, um bei uns zu bleiben. Diese Weiber wollten dich umbringen, habe ich recht?“

„Und wer ist der da?“, fragte Kiriaki und nickte in die Richtung des fremden Mannes, der immer noch unbeteiligt an einem Baum lehnte und seinen Blick über die Bäume schweifen ließ – als wären Basta und Kiriaki gar nicht da. Bastas letzte Frage ignorierte Kiriaki taktvoll.

„Das erfährst du auf dem Weg“, meinte Basta und packte sie am Arm, um sie mit sich zu zerren.

Kiriaki, die sowieso viel zu schwach war, um selbstständig zu laufen, hielt ihn nicht auf und ließ sich von ihm mitziehen. Es kam genau so, wie sie es erwartet hatte – Basta hatte nicht vor, ihr eine Pause zu gönnen sondern wollte gleich aufbrechen. Aber wenn Kiriaki ehrlich sein sollte, dann war ihr das fast recht. Sie wollte nur noch weg.

- Kapitel 34 -

 

So ist das aber nicht geplant gewesen, dachte Athina schweratmend, nachdem sie aus der Finsternis heraus beobachtet hatte, was sich im Lager der weißen Hexen zutat. Innerhalb weniger Atemzüge, die sie in ihrem Versteck zwischen den Büschen gemacht hatte, waren plötzlich sowohl Ismene, als auch Tamare und Vika tot gewesen. Einfach so, aus dem Nichts.

Zumindest hatte es zunächst stark danach gewirkt, als wären sie ohne Grund tot umgefallen – nur kurze Zeit später begann Kiriaki aber, mit jemandem zu reden, den Athina mit den Augen nicht erfassen konnte.

Sie saß immer noch in der Hocke zwischen einer Menge Unterholz, um nicht entdeckt zu werden und sah sich vorsichtig um, aber da war niemand. Sie konnte sich gegen niemanden verteidigen, den sie nicht sehen konnte – dass sich aber keiner sonst zwischen den Bäumen versteckt hielt, begriff sie erst, als Kiriakis Fesseln von einer unsichtbaren Kraft gelöst wurden und sie aufstehen konnte, dabei sprach sie weiter, als wäre sie nicht allein.

Und in dem Moment dämmerte es Athina, dass sie es mit einem Geist zu tun haben musste.

Dieses Miststück, dachte sie und begann, sich rückwerts zurückzuziehen, tiefer und tiefer in die Schatten der Bäume, um auf keinen Fall gesehen zu werden. Gegen einen Geist hätten sie auch ihre vergifteten Pfeile nicht weit bringen können – nur ein Zauber, der Zeit und Kraft kostete.

Athina hatte gerade beides nicht. Ihre Wut war verraucht und hatte Angst Platz gemacht, zusammen mit Panik. Alle ihre Untergebenen schienen nun tot und sie auf sich allein gestellt zu sein, der Laune dieses Mädchens ausgesetzt, das sie bestohlen hatte und davongerannt war.

Eigentlich war Athina nur aus einem einzigen Grund aus dem Lager verschwunden – weil es so abgemacht gewesen war. Sie hatte Ismene, Tamare und Vika aufgetragen, Kiriaki während ihrer Abwesenheit darüber auszufragen, ob sie den Stein nicht doch irgendwo versteckt haben konnte: als Rache, wenn man so wollte.

Jetzt schien es so, als hätte dieser kleine Rüpckzieher Athina das Leben gerettet – vorausgehen, Kiriaki verdaute ihren scheinbaren Schock nicht zu schnell und erinnerte sich nicht an die Anführerin der weißen Hexen, die immer noch im Wald war.

Mittlerweile war Athina so weit vom Lager davongekrochen, dass sie sich erheben und eilig zu Fuß hätte weiterlaufen können, hätte ihr nicht genau in dem Moment, als sie sich zur vollen Größe aufrichtete, jemand eine Hand von hinten um ihren Mund gelegt.

Es brauchte ihre ganze Beherrschung, nicht zu schreien.

„Ruhig“, hörte sie eine Männerstimme hinter sich flüstern. „Sonst hören sie uns.“

Sie nickte eifrig – und nach ein paar Momenten des Zögerns ließ er sie los. Athina fuhr herum, um den Mann zu sehen, der sie nicht nur überrascht, sondern beinahe zu Tode erschreckt hatte. Er war groß, zumindest größer als sie und machte mit seinem Milchgesicht nicht gerade einen gefährlichen Eindruck, aber Athina war auf der Hut.

Bei ihr erkannte man immerhin auch nicht immer sofort, wie sie in Wirklichkeit war.

„Gehörst du zu den weißen Hexen?“, fragte er sie.

„Kommt darauf an“, meinte Athina misstrauisch, unsicher, ob es gerade jetzt klug gewesen wäre, ihre Identität zu verraten – was, wenn er der Geist war, der bloß eine feste Form angenommen hatte? „Was wollen Sie?“

„Ein wenig Hilfe, wenn du so fragst“, meinte er. „Ich war auf der Suche nach eurem Lager, aber als ich hier angekommen bin …“ – er blickte prüfend hinter sie – „schien es ein paar Unannehmlichkeiten gegeben zu haben.“ Er packte sie am Arm und zog sie etwas weiter weg, hinter einen Baum.

„Das können Sie laut sagen“, fauchte Athina leise, immer noch mit rasendem Herzen. Dann sah sie den Mann scharf an. „Hören Sie zu, ich muss hier schnell weg. Sagen Sie, was Sie zu sagen haben und verschwindne Sie, denn das ist wirklich eine schlechte Zeit.“

„Meine Name ist Orpheus“, sagte er gefasst. „Und ich hätte ein Angebot für dich.“

- Kapitel 35 -

 

Es war das erste Mal seit Längerem, dass Agathe sich wieder in Ehtagas Raum vorfand, als sie in dieser Nacht einschlief. Sie hatte den ganzen Tag lang gelesen, nachdem Basta und Staubfinger gegangen waren und war währenddessen wohl einfach weggedämmert – was sie daran feststellte, dass sie das Buch immer noch in der Hand hielt, als sie bei Ehtaga auftauchte.

Agathe runzelte die Stirn, während sie es zuklappte und von allen Seiten betrachtete. Sie hatte bis her noch gar keine Ahnung davon gehabt, dass sie materielle Gegenstände in diesen Raum hatte mitnehmen können – schließlich gab es ihn nur in ihrem Kopf. Er war nicht mehr als ein Traum und trotzdem … es fühlte sich erstaunlich echt in ihren Händen an. Kurz zweifelte Agathe daran, dass das Buch wie alles andere an diesem Ort nur eine Einbildung war, aber sie hatte nicht die Zeit, weiter darüber nachzudenken, weil ihr Blick zufällig etwas höher wanderte und sie ihr eigenes Spiegelbild erblickte.

Ehtaga sah nicht gut aus. Sie trug zwar im Gegensatz zu Agathe immer noch ein Kleid, aber dieses saß nicht richtig und ihre schwarzen Haare waren ganz wirr, der Blick müde, als wäre sie krank. Als sie Agathe sah, formten ihre Lippen ein Lächeln, das eher Feindseligkeit als Freude ausdrückte. „Na sieh mal an, wer mal wieder vorbeischaut“, sagte sie und selbst etwas in ihrer sarkastischen Stimme klang nun rau.

„Du klingst nicht besonders glücklich darüber“, bemerkte Agathe mit skeptisch hochgezogener Augenbraue.

Ehtaga schnaubte. „Ich bin auch nicht glücklich. So selten, wie du in letzter Zeit hier warst, könnte ich vor Einsamkeit sterben“, zischte sie finster. „Hast du vergessen, dass ich der Teil von dir bin, der sich nach Gesellschaft sehnt? Ich glaube einfach nicht, dass du mich so lange für mich allein lassen konntest!“

„Hey, hey“, machte Agathe und winkte abwehrend mit einer Hand vor sich, als würde sie Ehtagas Vorwürfe so von sich schieben wollen. Es war völlig gewöhnlich, dass Ehtaga gleich bei Agathes Erscheinen einen Streit vom Zaun brechen wollte – so schnell wie heute hatte es sich bisher aber noch nicht entwickelt. „Ich weiß, dass ich lange nicht mehr hier gewesen bin, aber das ist doch nicht meine Schuld. Ich konnte noch nie kontrollieren, ob ich hier lande oder nicht.“

„Ob du hier landest oder nicht, hängt davon ab, wie sehr du hier her willst“, fauchte Ehtaga sie an.

Etwas an ihrem Ton ließ Agathe ganz wild werden. Sie schob angriffslustig das Kinn vor und verschränkte ihre Hände zusammen mit dem Buch vor ihrer Brust, als Zeichen, dass sie sich auf diesen Kampf einlassen würde, wenn Ehtaga es unbedingt wollte. „Wenn das so wäre, wäre ich hier vermutlich auch früher nicht gelandet. Du nervst, Ehtaga.“

„Ich war aber deine einzige Freundin“, entgegnete Ehtaga, ohne auch nur im Geringsten verletzt über Agathes Worte zu sein. Sie wirkte nur noch wütender. „Und selbst eine Person wie du braucht hin und wieder Gesellschaft, weswegen du immer und immer wieder hier her gekommen bist. Du musst trotz des Fluches zumindest hin und wieder an andere Leute als dich selbst geraten und ich war deine einzige Wahl, bis du begonnen hast, dich mit Basta und Kiriaki abzugeben.“

„Wieso bist du so wütend?“, fragte Agathe irritiert und rollte mit den Augen, da ihr Ehtagas Verhalten mehr als kindisch erschien. „Wir sind doch dieselbe Person. Wenn ich nun mehr Zeit mit Menschen verbringe, müsste es dich doch auch treffen … oder nicht? Du warst doch diejenige, die wollte, dass ich mehr mit anderen Menschen unternehme. Wieso bist du nicht glücklich?“

„Weil ich nicht so oberflächlich bin!“, schmetterte Ehtaga ihr ins Gesicht. „Ich bin der Teil von dir, der wirklichen menschlichen Kontakt braucht.“ Sie zog das Wort in die Länge. Es regte sich etwas in ihrem Gesicht, sodass sie nahezu verzweifelt wirkte. „Ich will mich auf persönlicher Ebene mit ihnen unterhalten und sie berühren – nicht nur für Schutz und Unterhaltung um mich haben, so wie du!“

„Hör auf, mich anzuschreien“, knurrte Agathe frustriert.

„Bei dir kann man einfach nicht anders, so stur, wie du bist“, fauchte Ehtaga. „Natürlich, Basta beschützt dich und Kiriaki kannst du dich anvertrauen, wenn du Probleme haben solltest. Das reicht dir selbstverständlich, mit deinem egoistischem Charakter und diesem dummen Fluch in deinem Kopf. Mir aber leider überhaupt nicht.“ Es wirkte fast, als würde Ehtaga gleich in Tränen ausbrechen. „Ich brauche mehr! Aber statt es mir zu geben, verweigerst du mir sogar deine Gesellschaft, indem du dich mit dieser oberflächlichen Beziehung zu den beiden zufrieden gibst.“

Und in diesem Moment sah Agathe etwas in Ehtagas Augen aufblitzen, das sie bisher noch nie gesehen hatte – ehrliche Verachtung.

„Wie zur Hölle kannst du mir die Schuld daran geben?“, fragte Agathe mit bebender Stimme zurück. „Es ist doch dieser Fluch, der mich aufhält … Kannst du das nicht verstehen?“

„Du versuchst ja nicht einmal, ihn zu brechen“, jammerte Ehtaga.

Agathe presste die Lippen zusammen. „Das ist nicht wahr.“

„Doch, das ist es.“

„Ich habe es ja mehrmals versucht, aber … aber es ist wirklich schwer.“ Sie verdeckte ihr Gesicht in ihrer Hand.

„Diese Tätowierungen, die du ihm angedreht hast, waren ein Fehler“, sagte Ehtaga und trat näher an den Spiegel, der die beiden trennte.

„Wieso das?“, fragte Agathe und sah verwirrt aus.

„Sie sehen gut aus.“ Jetzt wirkte Ehtaga fast traurig, während sie das sagte und vielleicht hätte sie Agathe sogar ein wenig leid getan, wenn sie nicht so eine Ziege gewesen wäre. „Sie machen es nur noch schwerer für mich. Ich wollte sie berühren … und dieses Mal war der Drang viel stärker, als zuvor. Ich weiß, dass du es auch gespürt hast.“

„Ja.“ Agathe erinnerte sich an den Moment, an dem sie ihre Berührungsängste fast vergessen und die Hand nach Basta ausgestreckt hätte. Hätte sie sich nicht rechtzeitig gefangen – Agathe wurde allein bei dem Gedanken wieder übel.

Und leider war sie nicht besonders gut darin, das zu verbergen, denn gleich darauf sagte Ehtaga: „du willst es nicht einmal, das sieht man. Du hast mir versprochen, zu versuchen, deine Berührungsängste zu überwinden, aber du willst das überhaupt nicht.“

„Es ist einfach unerträglich für mich.“ Agathe sah Ehtaga gerade an.

Diese schien wenig beeindruckt von dieser Aussage. „Aha.“

„Wieso machst du mir eigentlich solche Vorwürfe?“, fragte Agathe.

„Ich bin du. Du machst dir gerade selbst Vorwürfe.“

„Manchmal hasse ich dich.“ Agathes Griff um das Buch verstärkte sich. „Wirklich. Manchmal, da …“

„Mir geht es nicht anders“, gestand Ehtaga. „Nur, dass ich dein wahres Ich bin, während du bloß … eine Persönlichkeit bist, die durch diesen Fluch entstanden und geformt worden ist.“

„Sei still.“ Agathe biss die Zähne zusammen. Ehtaga machte sie wieder sehr wütend.

„Oh?“ Ehtaga blinzelte spielerisch. „Verträgt da jemand nicht die Wahrheit? Das enttäuscht mich jetzt. Von allen deinen wenigen guten Eigenschaften war wohl die am besten, dass du dir nie etwas eingeredet hast. Aber …“

„Halt die Klappe!“, schrie Agathe und war selbst entsetzt von der Heftigkeit, mit der sie auf die Worte ihres Spiegelbildes reagierte – denn bevor sie sich halten konnte, hob sie das Buch in ihren Händen über ihren Kopf und legte mit zwei schnellen Schritten die Distanz zwischen ihr und dem Spiegel zurück. Dann folgte ein ohrenbetäubender Krach, als das Buch mit voller Wucht auf den Spiegel prallte.

Agathe stolperte zurück und hörte, wie das Buch zu Boden fiel, nachdem es gegen den Spiegel gekracht war, aber von der Stelle, die es getroffen hatte, breiteten sich plötzlich über die ganze Fläche Splitter wie Wasserstrahlen aus. Der Spiegel zerbrach nicht gänzlich und hielt Stand, aber sein Bild war nun ganz verzerrt und er teilte sich in tausende von Scherben, die irgendwie falsch wirkten. Nicht so, wie bei normalen Spiegeln.

Und nach kurzem Betrachten erkannte Agathe, was sie daran störte.

„Das sieht ja aus wie ein Portal“, keuchte sie, als sie den Kreis erkannte, den die Scherben bildeten. Man erkannte ihn nicht auf den ersten Blick, aber nach näherem Betrachten, und Agathe war sich sicher, dass er dem von Kiriaki für die Todeswelt zwar ähnelte, aber nicht völlig gleich war. Manche der Linien waren länger und erinnerten an manchen Stellen etwas an … Blumenranken.

Kann es sein, dass ich daher die Idee hatte?, fragte sich Agathe im Stillen. War dieses Bild die ganze Zeit über in ihrem Unterbewusstsein gefangen gewesen?

„Das ist auch ein Portal“, sagte Ehtaga. Agathe sah sie nun nur noch bruchstückweise in dem Spiegel, aber alles, was sie sah, wies darauf hin, dass Ehtaga unzufrieden mit ihrem Werk war – sowohl ihre Haltung, als auch ihr Gesicht.

„Aber … wieso gibt es hier so etwas?“, fragte Agathe. „Wofür ist es da?“

„Na, für diesen Raum natürlich.“

„Warte“, sagte Agathe überfordert und sah sich um, als würde sie Ehtagas Raum zum ersten Mal betreten. „Heißt das, das hier ist nicht bloß ein Platz in meinem Kopf? Es gibt ihn wirklich?“

„Dieses Portal ist ein Zugang in dein Unterbewusstsein“, meinte Ehtaga. „Oder wie, denkst du, sollten später die Erinnerungen geholt werden, die hier mit mir eingesperrt sind? Man muss diesen Ort schließlich betreten können, um sie zu holen.“

„Soll das etwa heißen, dass jeder diesen Ort hier betreten könnte?“, fragte Agathe aufgelöst. „Er ist also wirklich eine eigene Welt?“

„Ja.“

„Aber es ist ein einzelnes Zimmer!“

„Mehr Platz braucht man ja auch nicht, um ein paar Erinnerungen und einen gewissen Teil deiner Persönlichkeit einzusperren“, sagte Ehtaga. „Man hat dieses Portal dafür erschaffen.“

„Wieso erzählst du mir das erst jetzt?“, fragte Agathe aufgebracht. Sie wusste nicht, wie ihr dieses Wissen hätte helfen können, aber es zu haben hätte sicher nicht geschadet.

Ehtaga brummte etwas und zuckte die Schultern.

Sie verhielt sich wieder bockig und plötzlich glaubte Agathe zu wissen, was vor sich ging. „Du willst es nicht“, stellte sie schockiert fest. „Du willst nicht, dass ich vorankomme, weil ich dann Mutter zurückholen könnte.“

„Ich will nicht in unser altes Leben zurück“, knurrte Ehtaga entschlossen. „Das, das wir jetzt führen, ist auch nicht unbedingt perfekt, aber so wie früher soll es auf keinen Fall wieder werden. Denn jetzt besteht zumindest eine kleine Chance, dass …“

„Dass was?“, unterbrach Agathe sie barsch. „Dass ich meine Berührungsängste überwinde und wir beide ein normales Leben führen? Mit Freunden und Männern, so wie alle anderen?“ Sie lachte trocken auf. „Das ist nicht dein Ernst, oder? Du würdest so ein Leben der Liebe unserer Mutter vorziehen?“

Ehtaga sagte nichts und drehte sich so, dass Agathe sie im Spiegel nicht sehen konnte, denn ihre Augen lagen genau auf den kaputtesten Teilen des Spiegels.

Agathe wusste nicht, was sie dazu hätte sagen können. Es existierte tatsächlich ein Teil in ihr, der es scheinbar zu verhindern versuchte, dass sie ihre Mutter zurückholte, nur um … nur um normal zu werden. Um mit ganz gewöhnlichen Menschen zusammenleben zu können.

„Weißt du was?“, fragte Agathe und trat ein paar Schritte zurück. Ihr war ganz schlecht. „Ich bin echt froh, dass du hier eingesperrt bist.“ Sie war auch froh, dass genau in diesem Moment ihr Traum zu enden begann und sich die Decke des Raumes wieder lautlos auflöste. Es geschah jedes Mal sehr schnell, aber ihre Worte wurde Agathe noch los. „Ich werde Mutter um jeden Preis zurückholen. Und du, meine Liebe, kannst meinetwegen hier verrecken.“

- Kapitel 36 -

 

Für gewöhnlich kam es öfter mal vor, dass Agathe erst einmal eine gewisse Zeit nach dem Aufwachen brauchte, bis sie sich wieder an ihre Gespräche mit Ehtaga erinnert konnte – als sie aber an diesem Morgen die Augen aufschlug, schienen die Erinnerungen nur so über sie herzufallen. Sofort spürte sie wieder die Wut in sich hochkochen, die aber durch die Bequemlichkeit ihres Bettes ein wenig gedämpft wurde.

Sie konnte immer noch nicht fassen, was sie eben von Ehtaga erfahren hatte – und damit war nicht die Entdeckung des Portals gemeint. Wie konnte Ehtaga sich nur wünschen, dass ihre Mutter weiterhin verstorben blieb? Agathe konnte es einfach nicht verstehen – vor allem, weil Ehtaga doch ein Teil von ihr war.

Sie rieb sich mit einem Finger die Schläfe, während sie sich tiefer ins Kissen sinken ließ.

Es bereitete ihr nie besonders viel Freude, über ihre Begegnungen mit Ehtaga nachzudenken, aber manchmal ließ sich das nicht vermeiden. Zum Beispiel, wenn sie von ihrem Spiegelbild Sachen wie heute hörte – obwohl etwas Derartiges bisher noch nie vorgekommen war, nicht einmal ansatzweise.

Agathe war so vertieft in ihre Überlegungen, dass sie sogar ein wenig erstaunt war, als sie nach unten ging, um zu frühstücken und niemanden in der Küche vorfand, obwohl Kiriaki sich jeden Morgen bisher hier aufgehalten hatte, zumindest um diese Zeit.

Ach ja, dachte Agathe verdutzt, ich bin ja allein.

Und so blieb es auch für eine ganze Weile. Sie hatte den gesamten Tag über, nachdem sie wegen dem Streit mit Ehtaga aufgewacht war, mit Kiriakis restlichen Büchern verbracht (das eine, mit dem Agathe den Spiegel kaputt geschlagen hatte lag vermutlich immer noch in Ehtagas Raum, weil Agathe beim Aufwachen vergessen hatte, es aufzuheben) und sich zwischendurch etwas von dem Fleisch geholt, das die Wölfe für sie brachten.

Auch die Nacht über blieb Agathe wach, in dem Versuch, einem weiteren Gespräch mit Ehtaga aus dem Weg zu gehen – weswegen sie auch die Stimmen vor ihrem Fenster hörte, als am nächsten Morgen gerade die Sonne aufging und die letzten Reste der Nacht vertrieb.

„In dem Fall musst du zugeben, dass man uns beide entweder mit Leichtigkeit durch eine gewöhnliche Kaninchenpfote aufhalten könnte, oder dass der ganze abergläubische Quatsch, den du zu deinen Lebzeiten erzählt hast am Ende gar nicht stimmt“, hörte sie eine Stimme sagen, die eindeutig Staubfinger gehören musste. Agathe war ihm nur einmal begegnet, aber das reichte. Sie kannte sich mit Stimmen aus – immerhin hatte sie jahrelang den Leuten vor ihrem Fenster zugehört und sie auseinander gehalten, ohne auch nur zu gucken.

„Es muss ja nicht bei jedem Geist gleich gut funktionieren“, hörte sie Basta hartnäckig entgegnen.

„Es funktioniert bei gar keinem“, sagte Staubfinger gerade, als Agathe von ihrem Bett aufstand und dabei ausversehen eins der Bücher runter stieß, ohne es wieder aufzuheben. Die restlichen von ihnen lagen in einem Kreis um die Stelle, an der sie gesessen hatte – Agathe war fleißig gewesen.

Sie trat an das Fenster und guckte hinaus. Sie erblickte wieder die Lichtung, auf der die Festung stand und den Wald dahinter, der Himmel war noch in ein frühes Rot getaucht. Nicht weit von der Burg entfernt entdeckte sie Basta und Staubfinger – Kiriaki auf den Schultern des letzten, schlafend. Staubfinger trug sie Huckepack, sodass das Mädchen sich halbwegs bequem ausruhen konnte.

„Was weißt du schon?“, knurrte Basta.

„Wenn du willst, können wir ja eine Kaninchenpfote besorgen und dann sehen, ob sie was bringt. Wenn ja, dann hattest du eben recht – obwohl es mir die Sache wert wäre, falsch zu liegen, wenn ich sehen könnte wie du von etwas so Albernem in deine Schranken gewiesen wirst, ha ha.“ Staubfinger grinste auf Bastas genervten Gesichtsausdruck hin, bevor er den Blick hob und die am Fenster stehende Agathe entdeckte.

Diese hatte, völlig unbewusst, begonnen zu lächeln.

„Und was denkst du?“, fragte Staubfinger sie aus der Entfernung, wofür er leicht die Stimme hob, was aber eigentlich gar nicht nötig war. Agathe hörte ihn klar und deutlich. „Wer hat hier wohl recht?“

„Wirklich befasst habe ich mich damit nicht“, meinte sie und verkniff sich ein Grinsen, „wenn ich jedoch schätzen müsste, würde ich auch sagen, dass der abgestorbene Körperteil eines Tieres nicht wirklich etwas gegen einen Untoten ausrichten kann.“

Allein spaßeshalber stellte sie sich auf Staubfingers Seite.

„Ich bin mir sicher, dass es in manchen Fällen wirksam ist!“, beharrte Basta weiter und warf ihr einen wütenden Blick zu. Wieso kommst du mir jetzt so?, sollte er bedeuten.

„Solltest du aber doch recht haben, werde ich mir den Trick für die Zukunft merken“, lachte Agathe. „Eine gute Methode, dich von mir fernzuhalten, falls du dich mal doch nicht unter Kontrolle haben könntest.“

Damit spielte sie auf seine Wutausbruche an und Basta rollte mit den Augen, da er es verstanden hatte – im Gegensatz zu Staubfinger.

Agathe war nie viel unter Leuten gewesen und genauso wenig hatte sie jemals etwas wie Humor gehabt, weswegen es ihr vielleicht auch ein wenig an zweideutigem Denken fehlte. Deshalb begriff sie zunächst gar nicht, warum Staubfinger so erstaunt zwischen ihr und Basta hin und her sah.

Etwas beschämt zog Agathe ihre Lippe zwischen die Zähne. Er denkt etwas Falsches, schoss es ihr durch den Kopf und sie wollte ihre Worte gerade näher erläutern, als plötzlich die Kleine ihren Kopf hob.

„Sind wir etwa da?“, fragte Kiriaki schläfrig, bevor sie von Staubfinger auf den Boden gelassen wurde.

„Schon seit einer Weile.“ Basta sah nicht Kiriaki an, während er das sagte, sondern starrte zu Agathe hinauf. Er machte eine heranwinkende Handgeste. „Komm runter, Teufelsweib“, sagte und einer seiner Mundwinkel zuckte. „Du solltest mal die Gelegenheit haben, Gesellschaft zu empfangen, auf die du auch gewartet hast.“

Agathe lachte, während sie sich vom Fenster abwandte und auf den Ausgang ihres Zimmers zusteuerte. Da hat er doch tatsächlich erraten, dass ich bisher noch nie jemanden freiwillig empfangen habe, dachte sie amüsiert und lief die Treppe hinunter, durchquerte die Eingangshalle und trat nach draußen. Während sie gegangen war, hatten die drei Zeit gehabt, zum Eingang zu kommen.

„Alles in Ordnung bei dir?“, fragte Agathe Kiriaki sofort, die etwas taumelnd auf den Eingang zukam.

„Ja, ja“, versicherte diese, immer noch müde und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Dann sah sie Agathe unsicher an. „Und wie ich gehört habe, habe ich das in gewisser Weise dir zu verdanken.“

„Nicht der Rede wert“, winkte Agathe ab und meinte es in dem Moment auch so.

„Du sprichst ja, als ob du diejenige gewesen wärst, die sie geholt hätte“, bemerkte Basta, nicht beleidigt, sondern belustigt.

„Ich habe dich beschworen“, sagte Agathe und sah über Kiriaki hinweg zu Basta. „Ich habe also auch etwas dazu beigetragen. Indirekt.“

„Meine Aufgabe ist es eigentlich, für dich Leute umzubringen, und nicht sie zu retten“, sagte er, nach wie vor mit einem schwachen Lächeln.

„Wo du mich daran erinnerst …“, murmelte Agathe und ließ ihren Blick zu Staubfinger wandern, der sehr still gewesen war. „Das müssten wir ja auch noch klären.“

„Was meinst du?“, fragte Basta.

„Du scheinst genau wie Basta kein gewöhnlicher Geist zu sein, was vermutlich daran liegt, dass wir deine Seele erst aus dem Todesreich geholt haben, bevor ich dir einen Körper gegeben habe“, sagte Agathe zu Staubfinger, bevor sie schief lächelte. „Und dann schätze ich, dass du nicht nur genau wie Basta lebendiger bist, als die restlichen Geister, sondern auch nach dem selben Prinzip arbeitest. Jetzt, wo du Kiriaki für uns gefunden hast, bin ich dir vermutlich etwas schuldig. Oder nicht?“

Agathe wollte nicht in noch jemandes Schuld stehen, denn Basta reichte ihr völlig, auch wenn sie ihn mittlerweile irgendwie mochte. Sie wollte es nur hinter sich bringen, Staubfinger einen Wunsch erfüllen (falls dieser möglich war) und ihn dann los werden. Schließlich würde er, sobald sie ihren Handel abgeschlossen hatten, sofort wieder verschwinden.

Aber Staubfinger winkte ab. „Mir wäre es tatsächlich lieber, noch etwas am Leben zu bleiben … in gewisser Weise. Lass es also erst mal, mit der Rückzahlung. Ich kann warten“, meinte er mit einem Grinsen, das Agathe durchbohrte.

Es schien zu sagen: Ich weiß, was du vorhast.

Agathe erstarrte und blickte den großen Mann vor ihr fassungslos an. Er wusste es? Er wusste, dass er verschwinden würde, falls er sich einen Gefallen von ihr tun lassen würde? Woher?

Ihre Gedanken wurden von Basta unterbrochen, der sich zu Staubfinger umdrehte und die Stirn runzelte. „Wovon sprichst du?“, fragte er. „Was meinst du mit am Leben bleiben?“

Sowohl Agathe, als auch Kiriaki schnappten nach Luft. Agathe nutzte es, dass Basta sich von ihr weggedreht hatte und sah flehentlich zu Staubfinger rüber, einen Finger auf die Lippen gepresst.

Staubfinger durfte Basta nicht verraten, dass man verschwand, wenn der Handel zwischen einem Geist und seinem Beschwörer abgeschlossen war. Agathe hätte es Basta vielleicht irgendwann selbst erzählt, sobald sie gewusst hätte, wie seine Reaktion ausfallen würde, aber wenn Basta es nun von Staubfinger erfuhr, würde er ihr nie wieder trauen.

Staubfinger sah nur für ein paar Sekunden an Basta vorbei, aber er schien zu verstehen.

„Ach, vergiss es einfach“, winkte er ab und lächelte Basta geheimnisvoll zu. „Ich habe bloß Unsinn geredet.“ Basta schien weiter bei dem Thema bleiben zu wollen, doch Staubfinger beachtete ihn nicht länger und wandt sich stattdessen wieder Agathe zu. „Allerdings würde es mir nicht wirklich gefallen, meine Zeit auf Erden einfach so nutzlos zu verschwenden, auch wenn du mir erst mal keinen Gefallen erfüllen sollst. Gibt es vielleicht noch etwas, wo ich behilflich sein kann?“

„Da gibt es tatsächlich noch etwas“, sagte Agathe, „oder besser gesagt, noch jemanden. Es würde uns sehr weiterbringen, wenn du uns helfen würdest, einen Mann zu finden.“

„Einen Mann?“, fragte Staubfinger interessiert.

„Sein Name ist Orpheus“, sagte Agathe und beobachtete, wie sich Staubfingers Augen überrascht weiteten. Dann sah er Basta ungläubig an.

„Was denn? Du suchst tatsächlich nach Orpheus?“

„Nicht nur ich“, knurrte Basta, verstimmt bei der Erwähnung des Mannes. „Agathe hat auch noch eine Rechnung mit ihm offen. Vermutlich sogar eine noch größere, als wir beide.“

„Schwer vorzustellen, wenn man bedenkt, dass er meine Tochter entführt und fast getötet hätte“, meinte Staubfinger genauso düster.

„Ja“, sagte Basta trocken. „Daran erinnere ich mich sogar.“

Agathe sah zwischen den beiden hin und her. Auf den Gesichtern der beiden Männer zeichnete sich so viel Hass und ausnahmsweise schien er nicht gegen den jeweils anderen gerichtet zu sein, sondern auf einen gemeinsamen Feind. Agathe fragte sich, ob das gut war.

„Das heißt, du kennst Orpheus auch?“, wollte Agathe überrascht von Staubfinger wissen.

Dieser zog eine gezwungene Grimasse. „Viel besser, als mir lieb wäre.“

„Also wirst du ihn für uns suchen?“, fragte Basta.

Staubfinger rieb sich nachdenklich das Kinn. „Das wäre sogar eine Aufgabe, die ich gerne erledigen würde. Unglaublich, dass der Kerl noch lebt.“

„Nicht mehr lange“, stellte Basta klar.

Staubfinger sah ihn kurz an, nickte, und war dann plötzlich fort.

„Einfach in Luft aufgelöst“, flüsterte Agathe und starrte ehrfürchtig an die Stelle, an der er eben noch gestanden hatte. „Ich werde mich wohl nie daran gewöhnen.“

„Das tut niemand“, sagte nun Kiriaki, die über die letzten Minuten ganz schön leise geworden war.

Agathe drehte sich zu ihr um. Sie bemerkte, wie müde und zerschlagen die Kleine trotz ihrem Nickerchen wirkte und entschied, es ihr etwas leichter zu machen. „Na los, lasst uns reingehen“, sagte sie zu Kiriaki und Basta. „Es ist noch ganz früh am Morgen. Nicht unbedingt die beste Zeit, um draußen zu spielen.“

- Kapitel 37 -

 

„Bist du wütend?“

„Hmm?“, machte Basta und drehte sich auf der Treppe verwirrt zu Agathe um.

„Ich habe gefragt, ob du wütend bist“, wiederholte diese.

„Äh … Sollte ich?“, fragte er verunsichert und sah sich um. Er war gerade dabei gewesen, zu den Schlafräumen hinaufzugehen, bevor sie ihn mit ihrer Frage von unten aufgehalten hatte.

Es war schon eine Weile her, seit Staubfinger gegangen war und mittlerweile war es dunkel geworden, sodass jeder von ihnen das tat, was er zum Abend hin immer tat – jeder verkroch sich entweder in sein Zimmer um allein zu sein oder, so wie in Bastas Fall, suchte sich irgendeinen Platz, an dem er die Nacht verbringen konnte.

„Weil ich Staubfinger losgeschickt habe, um uns zu helfen, statt ihn wieder verschwinden zu lassen“, sagte Agathe und sprach damit aus, was ihr den ganzen Tag über durch den Kopf gegangen war. Schließlich hatte sie sich mit Basta zuvor nicht abgesprochen, wie sie hätten weiter vorgehen sollen. „Es ist immerhin nicht zu übersehen, dass du ihn nicht besonders magst.“

„Wenn ich ehrlich sein soll, mag ich Orpheus sogar weniger“, gestand Basta und schob die Hände in die Taschen, bevor er mit der Stiefelspitze den Rand der abgetretenen Stufen leicht trat. „Und ich denke, es gibt Schlimmeres, als Staubfinger für sich arbeiten zu lassen. Solange er am Ende doch noch irgendwann wieder verschwindet.“

Agathe verkniff sich ein Grinsen.

„Es geht also weiter, ja?“, fragte Basta unvermittelt und sah auf. „Die Jagd auf Orpheus, meine ich.“

„Selbstverständlich. Ich habe ihn noch nicht vergessen.“ Agathe biss die Zähne zusammen. „Ich habe nur etwas Zeit gebraucht, um viele Dinge zu verdauen und einiges zu verstehen, aber jetzt kann es endlich weiter gehen. Wir werden ihn finden und ihn kriegen.“

„Auch wenn es immer noch recht viel zu klären gibt“, murmelte Basta abwesend.

„Was meinst du?“

„Na ja …“ Er sah über die Schulter, als befürchtete er, belauscht zu werden, aber außer den beiden und Kiriaki war niemand mehr in der Festung. Er blickte zurück zu ihr. „Zum Beispiel weißt du immer noch nicht, worin der Handel zwischen deiner Mutter und Orpheus eigentlich bestand“, sagte Basta. „Immerhin haben wir nicht erfahren, was er Letztendes im Gegenzug für deine Mutter tun musste, dafür, dass er seine Erinnerungen in dir versiegeln konnte.“

Überrascht klappte Agathe den Mund auf. Sie hätte nicht erwartet, dass Basta über so etwas überhaupt nachdachte. Er war bisher mit einem solchen Tunnelblick auf Capricorns Rückkehr fixiert gewesen … doch offenbar hatte sie ihn da etwas falsch eingeschätzt.

„Das stimmt“, nickte sie nachdenklich. „Ich habe ihn zwar gefragt, was er für meine Mutter getan hat, aber zu einer Antwort ist es ja nicht gekommen.“

„Und was ich noch seltsam finde, wären die Blätter mit den Zaubern, die er in seinem Ärmel versteckt gehabt hatte“, murmelte Basta weiter. „Die, mit denen er das Feuer im Gasthaus entfacht hat.“

„Was soll mit denen sein?“

„Ich frage mich nur, woher er sie gehabt hat.“

„Na, das ist doch offensichtlich.“ Agathe legte eine Hand in ihre Hüfte. „Bevor er seine Erinnerungen in mir versiegelt hat, hat er sich einige seiner Zauber aufgeschrieben, für den Fall, er hätte sie über die Jahre brauchen können.“

„Was für einen Grund hätte er dann gehabt, seine Erinnerungen an Magie wegzusperren, wenn er sie ohnehin benötigte?“, fragte Basta.

Agathe zuckte die Schultern. „Vielleicht hatte er ja nur die wichtigsten auf diesen Zetteln stehen.“

„Selbst wenn“, sagte Basta, „dann kann da trotzdem immer noch etwas nicht stimmen. Vergiss nicht, dass er kein Hexer und kein Magier, sondern eine Zauberzunge ist.“

„Na und?“

„Zauberzungen brauchen längere Texte, um etwas bewirken zu können. Manche von ihnen können minutenlang vorlesen und trotzdem nichts erreichen. Orpheus hingegen hat bloß ein paar Worte geflüstert.“ Er runzelte die Stirn. „Ich glaube nicht, dass das bei einem normalen Text funktioniert hätte – egal, wie gut er als Zauberzunge ist.“

„Was willst du damit sagen?“ Agathe konnte ihm nicht ganz folgen.

„Fragst du dich nicht, wo er diese Zauberworte herhaben könnte?“, fragte Basta.

Agathe rieb sich die Stirn. „Nicht wirklich“, seufzte sie. Inzwischen war es ihr auch schon relativ egal – alles, was sie wollte war, dass Orpheus verschwand und ihre Mutter dafür wieder auftauchte. Der Rest interessierte sie nur noch sehr wenig.

„Hab ich dich durcheinander gebracht?“

„Nein, nein, es ist alles in Ordnung.“ Sie winkte ab. „Ich gehe ohnehin gleich ins Bett, da kann ich auch direkt eine Nacht drüber schlafen … und es eigentlich ist echt angenehm zu hören, dass du dir solche Gedanken machst …“

„Wie war eigentlich die Nacht ohne uns?“, fragte Basta und grinste mit einem bösartigen Funkeln in den Augen auf sie herab. Er stand eine Stufe über ihr. „Hattest du Angst, so ohne uns?“

„Ich bitte dich“, meinte sie bloß abwertend und erinnerte sich plötzlich wieder an ihr letztes Gespräch mit Ehtaga. Schnell schüttelte sie die Erinnerung ab.

„Es war also alles in Ordnung?“ Er klang fast provokativ, spöttisch.

„Ja“, versicherte sie entschlossen. Dann hielt sie inne. „Nur hatte ich hin und wieder das Gefühl, etwas vergessen zu haben …“

„Hast du nach den Wölfen gesehen?“, fragte Basta und es dämmerte Agathe endlich, was sie schon lange hatte tun wollen.

„Verdammt!“, rief sie und drehte sich auf dem Absatz um, um dann eilig auf den Ausgang zuzulaufen.

Hinter sich hörte sie Basta lachen. „So dringend ist das nicht.“

„Doch! Wir wissen nie, ob der Bann noch hält und sollten lieber vorsichtig sein!“, rief Agathe über die Schulter und erreichte den Ausgang von Capricorns Festung.

„Sie könnten jagen sein!“

„Ich vergewissere mich trotzdem mal“, rief Agathe nur noch und war da auch schon draußen. Die kalte Nachtluft schlug ihr entgegen und sie schlang die Arme um sich, immer noch in nichts weiter als ein Hemd gekleidet. Hektisch lief sie um die Festung herum, bis sie um die letzte Ecke bog, die sie noch von der anderen Seite trennte.

Und da waren sie. Das Rudel hatte sich in der Nähe der Burg niedergelassen, um zu schlafen und schien auch keine Notiz von ihr zu nehmen. Agathe atmete erleichtert auf – nicht nur, weil die Wölfe praktisch für ihre ganzen Vorräte verantwortlich waren, sondern auch weil es sie mit einem gewissen Stolz erfüllte, zu sehen, dass ihr Zauber nach all der langen Zeit trotzdem noch hielt.

Nach dieser ganzen, langen Zeit …

„Hey.“

Agathe machte fast einen Satz zur Seite, als sie die fremde Stimme hinter sich hörte – stattdessen fuhr sie aber herum und machte instinktiv ein paar Schritte zurück, entdeckte dann aber, dass es bloß Staubfinger war.

Der Geist war geräuschlos hinter ihr aufgetaucht und stand einige Handbreiten von ihr entfernt, lächelnd. Er hatte den Kopf schief gelegt und betrachtete sie mit einem amüsierten Glanz in den Augen, der von dem Mondlicht verstärkt wurde.

„Du bist es nur“, stellte Agathe erleichtert fest, blieb aber wachsam. „Ich dachte, du wärst schon lange weg gewesen.“

„Das habe ich eigentlich vorgehabt … Aber ich wollte mit dir reden.“

„Und das konntest du nicht zuvor tun?“

„Unter vier Augen, meine ich.“

„Ou.“ Agathe schluckte. „Wa … was gibt es denn?“

„Du wirkst nervös“, stellte er fest und Agathe hätte normalerweise versucht, ungeschickt darüber hinweg zulächeln, aber etwas verriet ihr, dass Staubfinger nicht dumm war.

„Ein wenig“, gab sie mit zuckenden Schultern zu, bewusst, dass sie mit einer Lüge nicht weit gekommen wäre.

Er schenkte ihr ein etwas freundlicheres Lächeln, als das, das er zuvor getragen hatte. „Brauchst du nicht. Ich will bloß das Neuste in Erfahrung bringen und da Basta auf dem Weg nicht mit der Sprache rausrücken wollte, wende ich mich eben an dich.“

„Ach ja?“ Sie hob skeptisch eine Augenbraue.

 

„Wärst du möglicherweise so nett, mir zu erklären, was genau momentan eigentlich vorgeht?“, fragte er und sah an der Festung entlang, als würden sie sich gar nicht unterhalten. Als sei der alte Stein viel interessanter als sie. „Wo bin ich hier genau rein geraten?“

„Das ist wirklich schwer zu erklären“, sagte Agathe trocken und dachte an die Unterhaltung mit Basta zurück, die sie erst vor einer Minute geführt hatten. „Zumal ich mir selbst nicht ganz sicher bin, was gerade im Gange es ist. Es ist unglaublich kompliziert.“

„Dann fang doch am besten mit dem an, was du weißt“, sagte Staubfinger freundlich. „Zum Beispiel, wie du eigentlich an Basta geraten bist.“

„Ich habe ihn beschworen“, sagte Agathe.

„Warum?“

„Durch reinen Zufall. Für so etwas braucht man Menschenknochen und wenn man sie auf einem Markt unter dem Tisch erwirbt, um nicht sofort als Hexe dargestellt zu werden, kann man nie wissen, woher sie eigentlich kommen und wem sie mal gehört haben.“

„Verstehe.“ Er zog eine mitfühlende Grimasse. „Du Arme. Und von allen Geistern dieser Welt, erwischt du gerade ihn.“

Darüber konnte Agathe sogar ein wenig lachen. „Aber so schlimm ist es nicht“, versicherte sie dann und begann langsam, sich zu entspannen. „Inzwischen verstehen wir uns – viel besser, als zu Beginn unserer Bekanntschaft zumindest. Es ist wirklich in Ordnung.“

„Und wie gut versteht ihr euch?“, fragte Staubfinger ausweichend und Agathe glaubte, etwas Gedehntes in seiner Stimme heraushören zu können.

„Was meinst du?“

Er lächelte schief. „Es ist fast ein wenig peinlich, so direkt zu fragen, aber ich meine damit, ob ihr zufällig sowas wie … verliebt seid?“

Sie wusste selbst nicht genau warum, aber Agathe blieb kurz die Sprache weg, weswegen für einige Sekunden auch absolute Stille zwischen den beiden herrschte – die jedoch nur Atemzüge später von einem Auflachen auf Agathes Kosten unterbrochen wurde. „Gott, nein“, winkte sie sofort ab und fand die Idee beinahe albern. Sie schüttelte den Kopf, als er sie erstaunt anblickte. „Nein, nein, das verstehst du wirklich falsch. So ist das überhaupt nicht.“

Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Basta irgendwas in dieser Art für sie hätte fühlen können – genauso wenig war sie selbst in der Lage, Gefühle dieser Art aufzubringen. Sie hätte gerne das Gegenteil behauptet, aber Agathe kannte sich gut genug. Und die traurige Wahrheit war nun mal, dass Liebe etwas schönes, jedoch nichts für sie war.

„Wirklich?“

„Wirklich. So etwas findet überhaupt nicht zwischen uns statt.“ Agathe dachte aber an die letzten Tage, die sie auf dieser Festung verbracht hatte und musste feststellen, dass es ihr sogar etwas wie ein Lächeln entlockte. „Aber ich mag ihn. Vielleicht nicht auf diese besondere Weise, aber auf eine gute Weise.“

Staubfinger zögerte. „Als einen Freund?“

„Nun …“ Agathe zog die Lippe zwischen die Zähne. „Freunde kann man uns nicht wirklich nennen, weil … das glaube ich nicht. Aber vielleicht passt ja Komplizen?“

Wenn sie genauer darüber nachdachte, gab es kein besseres Wort für sie.

„Komplizen würde ja bedeuten, dass du mit ihm in irgendwas mit drin hängst“, sagte Staubfinger.

„So ist es in gewisser Weise auch“, warf sie ein. „Wir sind da gerade an etwas dran.“

„Nennt sich dieses gewisse etwas Orpheus?“, fragte Staubfinger mit einem Schmunzeln, das nicht fröhlich wirkte.

Agathe schlang die Hände fester um ihre Arme. Es war immer noch kalt. „Hauptsächlich. Nebenbei verfolgen wir aber auch noch ein anderes Ziel, das ich aber … am liebsten ein wenig aufschieben würde.“

„Du sprichst von dem Gefallen, den du Basta schuldest – habe ich recht?“, fragte Staubfinger sofort.

Agathe sah ihn mit geweiteten Augen an. „Du bist ganz schön schlau. Vielleicht ein wenig zu sehr.“

„Eigentlich nicht wirklich. Basta hat auf dem Rückweg von dem Lager der Mädchen ein paar Andeutungen gemacht.“

„Ach so.“

„Sag schon“, meinte Staubfinger nun und musterte sie eingehend. „Was will er?“

Agathe leckte sich über die trockenen Lippen. „Er will jemanden zurückholen“, sagte sie und sah noch bevor sie den Satz zu Ende gesprochen hatte etwas in Staubfingers Gesicht entgleiten.

„Nein“, sagte dieser langsam und mit so viel Nachdruck, als würde er Basta in diesem Augenblick eine Ohrfeige verpassen wollen. „Das ist nicht sein Ernst, oder? Er will ihn zurückholen?“

„Du weißt, von wem die Rede ist?“ Ihre Überraschung ließ sich nicht verbergen.

„Jeder, der Basta kennt, wüsste es“, schnaubte er. Und wenn Agathe an Bastas Besessenheit von Capricorn dachte, konnte sie Staubfinger nur zustimmen. Staubfinger machte ein paar Schritte auf sie zu und streckte die Hand aus, jedoch nicht um sie zu berühren, sondern um eine warnende Geste zu machen. „Hör zu, das darfst du nicht. Egal, was passiert, Capricorn darf nicht zurückkommen.“

„Keine Sorge“, sagte Agathe und lächelte leicht. „Das wird er nicht. Es ist, selbst wenn ich es weiterhin versuchen würde, einfach unmöglich – aus rein praktischen Dingen, die mit den Unterschieden zwischen unserer und der anderen Welt zusammenhängen.“ Sie schluckte wieder und ging davon aus, dass Staubfinger wusste, von welcher Welt sie sprach. Als er nichts sagte, verstand sie, dass sie mit ihrer Annahme im Recht lag. „Capricorn kann nicht zurückkehren. Das ist unmöglich, sobald ich weiß, und eigentlich trifft es sich gerade zu perfekt für mich. Und Basta auch.“ Weil er so nicht verschwinden wird, fügte sie im Inneren hinzu.

„Aber ich nehme mal an, dass Basta das nicht weiß“, sagte Staubfinger.

Agathe schüttelte den Kopf. „Nein. Er denkt immer noch, ich würde weiter versuchen, Capricorn zurückzuholen und ich kann ihm nicht sagen, dass das nicht klappen kann, damit er …“

„Damit er sich nicht einfach etwas anderes von dir wünscht“, beendete Staubfinger nachdenklich ihren Satz und schwieg dann kurz. Er musterte sie eine Weile. „Basta hat keine Ahnung davon, dass er verschwinden würde, wenn du ihm hilfst – oder?“

„Nein.“ Agathe überkam Panik, als ihr auffiel, dass ihre Zunge eben zu locker gewesen war. Eilig blickte sie ihn an. „Und ich wäre dir sehr verbunden, wenn das auch so bleibt. Bitte, erzähle ihm nichts davon. Ich werde das schon selbst machen, sobald der richtige Moment kommt, aber …“

„Ich sage nichts“, versprach Staubfinger und schnitt ihr das Wort ab. „Es würde mir nichts bringen. Außerdem würde ich dich nur ungern in Schwierigkeiten bringen.“

Agathe betrachtete ihn misstrauisch. Meinte er das ernst?

„Danke“, brach sie schließlich heraus und fand es besser, mitzuspielen. Dennoch wäre es von nun an klug, ihm nicht zu viel zu vertrauen.

„Nichts zu danken.“

„Gibt es sonst noch etwas, was du wissen willst?“, fragte Agathe. „Sonst würde ich nämlich gerne rein. Es ist kalt.“

„Tut mir leid“, sagte Staubfinger, als er ihre bebenden Arme bemerkte. Als Geist spürte er keine Kälte. „Nein, es ist jetzt alles erledigt. Ich weiß alles, was ich wissen wollte.“

„Dann … Bis bald, schätze ich?“, fragte sie unsicher. Abschiede lagen ihr nicht – ihr lag gar nichts, was mit Menschen zu tun hatte.

Staubfinger schmunzelte. „Bis bald.“ Und dann war er auch schon weg.

Agathe starrte verdutzt an die Stelle, an der er eben noch gestanden hatte.

„Vielleicht war es ein Fehler, ihm das zu erzählen“, murmelte Agathe kaum hörbar, erhielt aber trotzdem gegen alle Erwartungen eine Antwort.

„Ja, vielleicht.“

Zum zweiten Mal in dieser Nacht setzte ihr Herz kurz aus und sie musste herum fahren, nur, um Kiriaki hinter dem um die Festung herum liegenden Geröll herauskommen zu sehen. Das Mädchen musterte sie aufmerksam, während sie sich zu ihrer vollen Größe aufrappelte. Sie hatte sich versteckt gehalten.

„Wieso zum Teufel tut ihr das alle?“, zischte Agathe wütend. „Ist es wirklich immer notwendig, sich von hinten anzuschleichen?“

„Das tut man nun einmal, wenn man nicht will, dass jemand einen kommen sieht“, sagte Kiriaki achselzuckend. Sie trug ihre braunen Haare offen und wirkte immer noch ein wenig angeschlagen nach der Entführung – nichtsdestotrotz waren ihre Augen wachsam und lebendig auf Agathe gerichtet.

Diese kniff die Augen zusammen. „Hast du etwa zugehört?“

„Ihr solltet so ernste Themen nicht an Orten besprechen, an denen ihr so leicht belauscht werden könnt“, mahnte Kiriaki Agathe.

„Es warst ja glücklicherweise nur du“, winkte diese ab, auch wenn sie sich etwas ertappt fühlte. „Und ich habe nichts gesagt, was du nicht schon wüsstet. Also ist alles noch einmal gut gegangen.“

Daraufhin schwieg Kiriaki nur.

„Was hast du hier überhaupt getrieben?“, hackte Agathe nun nach.

Kiriaki wandt den Blick ab. „Ich war bei den Wölfen.“

„Du bist ganz schön oft bei ihnen“, bemerkte Agathe skeptisch. „Was hast du an diesen Tieren. Was genau fasziniert dich so sehr an ihnen?“

„Geht dich nicht wirklich etwas an, glaube ich“, entgegnete Kiriaki schroff und Agathe nahm es ihr nicht übel, da sie das Gefühl hatte, auf einen heiklen Punkt gestoßen zu sein.

„Wie auch immer“, seufzte sie. „Ich gehe jetzt rein. Es ist wirklich, wirklich kalt.“

 

Kiriaki musste sich beherrschen, um nicht laut loszulachen, als Agathe sich zum Gehen wandt und in der Festung verschwand, denn sonst hätte sie dadurch bloß eine sehr unangenehme Situation für die junge Frau entstehen lassen. Und da sie ihr immerhin in gewisser Weise das Leben gerettet hatte, wollte Kiriaki das erst mal sein lassen – Basta eins reinzuwürgen konnte sie sich jedoch nicht nehmen lassen.

„Hast du das gehört, du Komplize?“, fragte sie und wandte sich zu dem Fenster, das nur wenige Meter über ihrem Kopf war. Darin konnte man nicht wirklich etwas sehen, da es immer dunkler wurde und das Mondlicht zu schwach war, aber Kiriaki brauchte auch nichts zu sehen. „Das war doch mal eine nette Unterhaltung.“

Nichts folgte, kein Geräusch, keine Lebensanzeichen.

Kiriaki ließ sich nicht beirren. Im Gegensatz zu Agathe wusste sie ja, dass sie nicht sich selbst damit gemeint hatte, als sie gesagt hatte, Agathe hätte belauscht werden können. „Hast du gehört, wie herzhaft ihr Lachen gewesen ist, als er sie danach gefragt hat, ob sie in dich verliebt wäre?“, fragte sie neckisch und kicherte. „Ich weiß ja nicht, für mich klang es wirklich sehr belustigt. Was denkst du darüber?“

Sie hätte erwartet, dass er sich weiter im Schatten verstecken würde, aber mit ihrer Frage schien es Basta endgültig zu reichen. Sie hörte, wie er sich von der Wand abstieß, an der er eben noch gelehnt hatte und erblickte das Zucken eines Schattens am Fenster, als er daran vorbeiging, um mit geräuschlosen Schritten zu verschwinden.

Zurück ließ er nur eine leicht grinsende Kiriaki und den sachten Abendwind, der, wenn man so wie Kiriaki fast sein ganzes Leben damit verbracht hatte, seine Sinne im Wald zu schärfen, seine Spur zu ihr herunter trug. Eine schwache Spur von Pfefferminz.

- Kapitel 38 -

 

Kiriaki hatte eigentlich vorgehabt, den nächsten Tag völlig gewöhnlich zu verbringen – mit ihrem eigenen Zeug beschäftigt, während Agathe lernend in ihrem Zimmer saß und Basta sich sonst wo rumtrieb, um sich die Zeit zu vertreiben.

Aber schon in dem Moment, als Agathe am nächsten Morgen die Küche betrat, wurde Kiriaki bewusst, dass sie eine Gelegenheit wie diese nicht hätte nutzlos vorbeistreifen lassen können – denn sie war geradezu perfekt, um Basta einen weiteren Stoß vor den Kopf zu verpassen.

„Morgen“, murmelte Agathe verschlafen und strich sich das wirre Haar aus dem Gesicht, während sie in den Raum geschlurft kam.

Kiriaki stand immer früh auf – bei so einem Leben wie das, das sie bisher geführt hatte, war Ausschlafen nie eine Option gewesen und mittlerweile hatte sich ihr Körper stark daran gewöhnt. Agathe hingegen wachte stets sehr spät auf. „Morgen“, begrüßte Kiriaki sie zurück. „Du bist heute aber früh wach.“

Agathe lächelte müde, während sie sich Kiriaki gegenüber an den Tisch setzte. Kiriaki schob ihr daraufhin wortlos ihren zerbrochenen Teller zu, auf dem sich noch etwas Fleisch befand. Sie selbst war satt – ein Zustand, in dem sie sich früher eher selten befunden hatte. „Ich habe gewisser Weise zwei Tage am Stück nicht geschlafen“, gestand Agathe müde und nahm das Essen an. „Da war ich gestern wirklich erledigt.“

„Wieso hast du nicht geschlafen?“ Kiriaki sprach sie auf das Gespräch mit Staubfinger nicht an. Auch von Basta erwähnte sie nichts, sondern tat einfach, als sei nichts gewesen.

Agathe grinste schief. „Nichts Wichtiges. Alpträume“, winkte sie ab. Dann murmelte sie: „Fleisch, jeden Tag nur Fleisch.“

„Hier“, sagte Kiriaki und schob ihr auch eine Wurzel hin, von der sie vorhin selbst abgebissen hatte. „Schmeckt scheußlich, ist aber sättigend und gesund.“

Sie hatten nicht die Zeit, weiter darüber zu reden, weil Basta in der Tür auftauchte. Er wirkte recht gelassen, spannte sich aber sichtlich an, als er die beiden erblickte und blieb für einen Moment stehen. Dieser Moment war kurz, aber dennoch lang genug, damit Kiriaki seinen Blick einfangen und ihm ein schmales, kaum sichtbares Grinsen schenken konnte.

Basta funkelte sie an und drehte sich ohne ein Wort wieder um – er wollte tatsächlich einfach wieder gehen und Kiriaki war selbst überrascht davon, dass sie nicht diejenige gewesen war, die ihn daran gehindert hatte.

„Morgen, Basta“, sagte Agathe und veranlasste ihn dazu, mit dem Rücken zu ihnen auf der Stelle zu erstarren.

Kiriaki betrachtete ihn von hinten, wie er dort da stand und mit sich rang. Kurz dachte sie, er würde Agathe ignorieren, aber dann hörte sie seine raue Stimme. „Morgen“, sagte er, ohne sich zu ihnen umzudrehen.

„Suchst du etwas?“, fragte Agathe verwirrt, weil er so schnell hatte verschwinden wollen.

Er zögerte. „Nein.“

„Kommst du dann rein?“

Basta drehte sich um und zu Kiriakis Überraschung war sein Gesicht absolut neutral, als er in die Küche schlenderte – jedoch mied er es, eine von ihnen direkt anzusehen und stellte sich mit unbeteiligtem Gesicht an den Tisch.

Dass Kiriaki ihn breit angrinste, ignorierte er.

„Ich hätte nicht erwartet, euch so früh hier anzutreffen“, murmelte er.

„Verstehe ich“, lachte Agathe leise. „Ich stehe ja sonst nie um diese Zeit auf.“

„Was ich dich noch fragen wollte …“, begann Kiriaki an Agathe gewandt, weil sie einfach nicht den Mund halten konnte. „Wie geht es denn nun eigentlich mit deinen Nachforschungen voran? Weißt du schon, ob ihr bald wieder in die Todeswelt reisen könnt?“

Wenn Blicke hätten töten können, wäre Kiriaki an dem, den Basta ihr gerade gab, bereits qualvoll erstickt.

Agathe schluckte das Fleisch herunter, auf dem sie eben rumgekaut hatte. „Ja“, sagte sie optimistisch. „Während ihr weg wart, habe ich tatsächlich ein wenig in Erfahrung gebracht.“

„Ach ja?“, fragte Kiriaki unschuldig. „Das ist ja interessant. Was denn?“

„Es war etwas über die weißen Frauen“, erklärte Agathe begeistert. „In den Büchern standen viele Dinge über sie – darunter auch, was sie an Menschen mögen“, fuhr sie verschwörerisch fort.

„Das ist wundervoll – nicht wahr, Basta?“, fragte Kiriaki.

Sein Gesicht war nach wie vor ausdruckslos, als er nickte.

„Und hilfreich“, meinte Agathe, die nichts von der angespannten Atmosphäre im Zimmer zu bemerken schien. Kein Menschenkenner. „Ich habe mir nämlich darüber Gedanken gemacht, ob wir sie nicht um Hilfe bitten könnten, wenn sie uns auf die andere Seite bringen. Falls sie uns mögen, würden sie uns möglicherweise zu der Stelle bringen, an der wir Capricorns Seele finden könnten.“

Und in dieser Sekunde konnte Kiriaki nicht anders, als zu lächeln. Sie sah zu Basta, der inzwischen wusste, dass die ganze Sache mit Capricorns Beschwörung von vorne rein eine Lüge gewesen war und wartete gespannt auf seine Reaktion.

Er stützte sich nur an dem Tisch ab. „Und wie bringt man sie dazu, einen zu mögen?“, fragte er, als sei nie etwas gewesen.

Kiriaki senkte enttäuscht die Schultern. Diesen Triumph über einen Wutanfall seinerseits schien er ihr nicht schenken zu wollen.

Aber vielleicht knicken seine Nerven ja ein, wenn sie eine Weile allein sind, dachte sie im Stillen und rutschte abrupt in ihrem Stuhl zurück. „Ich komme gleich zurück“, sagte sie, als die beiden zu ihr aufsahen. „Muss nur kurz etwas erledigen.“

Sie hörte noch, wie Agathe begann, davon zu erzählen, was sie über die weißen Frauen in Erfahrung gebracht hatte, während Basta bloß schweigsam zuhörte. Kiriaki biss auf die Innenseite ihrer Wangen um nicht zu lachen, als sie den Raum verließ und den beiden somit etwas Raum schenkte.

Das Mädchen wollte ihnen genug Zeit geben, um Basta sich schön in seiner unangenehmen Lage winden lassen zu können, weswegen sie auch begann, orientierungslos durch die Festung zu wandern und dabei alle Ecken von ihr zu erkunden, die sie noch nicht gesehen hatte.

Und dabei stieß sie auf etwas, das sie nicht erwartet hätte. Etwas, das ihre Gedanken um Bastas Provokation komplett zu Rauch werden und sie sich auf nur einen einzigen Gedanken fixieren ließ.

 

„Ein Weinkeller“, hörte Agathe Kiriaki sagen, während sie Basta die Flasche vors Gesicht hielt, nachdem das Mädchen völlig außer sich zurück in die Küche gerast war. „Du hast mich vor Kurzem erst in den Kerker gesperrt und völlig vergessen, zu erwähnen, dass Capricorn direkt daneben einen eigenen Weinkeller hatte?“ Sie atmete ganz schwer, so aufgeregt war sie.

„Irgendwie habe ich es wohl verdrängt“, meinte Basta achselzuckend und nahm Kiriaki die volle Flasche aus der Hand, bevor er sie musterte. „Es gab in letzter Zeit wichtigere Dinge für mich. Alkohol stand nicht an erster Stelle.“

„Unglaublich“, schnaubte Kiriaki und nahm die Flasche wieder an sich. „Dort unten ist so viel davon! Ich kann es nicht fassen, dass ich die letzten Tage über diesem Schatz herumgegangen bin und rein gar nichts davon geahnt habe.“

„Magst du denn Alkohol?“, fragte Agathe zögerlich.

„Natürlich“, empörte Kiriaki sich trotz ihres jungen Alters. „Wer denn bitte nicht?“

„Na ja, so genau kann ich das nicht sagen …. Ich hatte nie welchen“, gestand Agathe.

Die kurze Stille, die danach herrschte, traf Agathe unvorbereitet.

Sowohl Kiriaki, als auch Basta sahen sie mit großen Augen an. „Was?!“, rief Kiriaki aus und ließ Agathe durch ihren scharfen Tonfall zusammen zucken. Die Frau fühlte sich mit einem Mal wieder unglaublich unreif und dumm. „Ist das dein Ernst?“

„Ich habe es nie als wirklich nötig empfunden, mich zu betrinken“, murmelte Agathe und bemerkte, wie Basta amüsiert den Kopf darüber schüttelte. „Außerdem mag ich allein den Geruch nicht.“

„Man trinkt auch nicht für den Geruch oder den Geschmack, sondern für die Wirkung“, belehrte Kiriaki sie, immer noch fassungslos.

„Hattest du denn schon viel davon?“, fragte Basta das Mädchen nun verschmitzt. Er hatte Agathe bis vor Kurzem noch bei ihren Erzählungen über die weißen Frauen zugehört, aber dann war Kiriaki mit der Weinflasche in der Hand und einem hysterischen Gesicht zurückgekehrt und hatte die beiden unterbrochen.

„So oft, wie ich nur konnte“, sagte Kiriaki und stellte die Flasche auf den Tisch. „Auch wenn es nicht immer leicht war, an Alkohol zu kommen. Aber ich war für einiges bereit, um einen Schluck zu gewinnen.“

„Klingt fast so, als wäre da jemand ein bisschen abhängig“, sagte Basta neckisch.

Kiriaki verzog nur den Mund über diese Bemerkung. „So könnte man das vielleicht sogar nennen …“, meinte sie nachdenklich. „Ich würde meine Seele und meine Jungfräulichkeit für Alkohol verkaufen, wenn es keinen anderen Weg gäbe.“ Mit einem leisen Auflachen fügte sie hinzu: „Auch wenn eins von beiden schon daran glauben musste.“

Und was davon sie meinte, sagte sie nicht.

„Hast du zumindest mal irgendwas probiert?“, fragte Basta und sah wieder zu Agathe.

Diese schüttelte den Kopf. Alkohol war für sie bisher immer verborgenes Gebiet gewesen. „Noch nie.“

„Dann würde ich mal sagen, dass es an der Zeit dafür ist“, sagte Kiriaki und hastete zu einem der Schränke, in dem sie das halbwegs heile Geschirr gesammelt hatten. Sie holte drei (verschiedene) Becher heraus und stellte sie auf den Tisch. „Basta – glaubst du, du kannst als Geist Alkohol aufnehmen?“, fragte Kiriaki.

Basta betrachtete die Becher skeptisch. „Keine Ahnung.“ Er lächelte. „Aber es würde nicht schaden, es auszuprobieren. Schließlich haben wir nicht gerade wenig davon.“

„Einen ganzen Weinkeller“, murmelte Kiriaki noch einmal ehrfürchtig, als sie die Flasche öffnete und jedem von ihnen ein wenig eingoss.

Agathe beugte sich misstrauisch über das Glas, das Basta ihr zuschob. Die Flüssigkeit darin war dunkel und verströmte einen bitteren, beißenden Geruch.

„Jetzt guck nicht so und probier“, drängte Kiriaki, die selbst schon längst ein paar Schlucke genommen hatte, so selbstverständlich, als wäre das Zeug Wasser. Dann sah sie zu Basta. „Und du auch. Dir würde es immerhin gut tun, dich etwas zu betrinken“, sagte sie mit einem Grinsen. Basta sah sie mit einem unbewegten Gesicht an, doch Agathe glaubte kurz, Wut in seinen Augen aufblitzen zu sehen. Bevor sie fragen konnte, was los war, griff er aber wortlos nach seinem Glas und leerte es in einem Zug.

Wenn die beiden das so leicht hinbekommen, kann es ja nicht so schlimm sein, dachte Agathe und griff nach ihrem Wein. Sie roch ein letztes Mal argwöhnisch daran, bevor sie einen winzigen Schluck nahm – den sie gleich darauf mit angesäuertem Gesichtsausdruck über die Schulter hinweg ausspuckte.

Kiriaki und Basta begannen zu lachen.

„Das ist nicht lustig!“, zischte Agathe mit verzogenen Lippen und leckte sich eilig über die Zähne, aber der Nachgeschmack des Gebräus wollte nicht verschwinden. Ein warmes Prickeln breitete sich in ihrem Mund aus. „Wie zur Hölle kann man so etwas genießen? Das ist ja schrecklich!“

„Es wird von Schluck zu Schluck leichter“, versicherte Kiriaki selbstsicher, als wüsste sie ganz genau, wovon sie sprach.

Agathe zog eine Grimasse. „Ich will nicht.“

„Meine Güte, du bist 25 Jahre alt“, sagte Basta kopfschüttelend. „Jetzt stell dich nicht so an und schluck es runter. Wenn die Kleine es über sich ergehen lassen kann, müsste es dir doch auch gelingen.“

„Es schmeckt eklig.“

„Agathe“, stöhnten Basta und Kiriaki fast gleichzeitig und die Frau führte den Becher wieder an ihren Mund.

„Ist ja schon gut“, zischte sie widerwillig und bereitete sich darauf vor, einen weiteren Schluck zu wagen. „Aber ich werde es langsam angehen.“

Und langsam war gar kein Wort für die Geschwindigkeit, mit der Agathe nach und nach ihr Glas leerte – denn als sie es fast geschafft hatte, hatten Kiriaki und Basta zusammen bereits eine zweite Flasche aufgemacht und zur Hälfte geleert.

Das war dann ungefähr die Zeit, zu der es gemächlich lustig wurde. Kiriaki hatte aufgehört, vernünftig zu sprechen und lallte eigentlich nur noch vor sich hin, wenn sie den anderen etwas mitzuteilen hatte. Sie musste sich an dem Tisch abstützen, um nicht vom Stuhl zu fallen und hatte genau wie Basta einen rötlichen Schimmer auf dem Gesicht, wenn sie mit leeren Augen vor sich hin starrte.

Basta war nicht ganz so betrunken wie sie, da er als Erwachsener wesentlich mehr einstecken konnte, aber selbst als Geist hatte der Alkohol noch eine gewisse Wirkung auf ihn, wenn er ihn in seiner festen Gestalt trank. Basta stützte seinen Kopf auf einer Hand ab und lächelte glückselig, auch sein Gesicht leicht gerötet.

„Ausgetrunken?“, fragte er etwas ungeschickt, als er – nach etwa zwanzig Sekunden – bemerkte, dass Agathe mit ihrem Glas fertig geworden war.

Agathe versuchte, den widerlichen Geschmack aus ihrem Mund zu vertreiben. Kiriaki hatte falsch gelegen, denn es war ihrer Meinung nach überhaupt nicht leichter geworden. Diesen einen Becher zu trinken war eine der schwersten Aufgaben ihres Lebens gewesen. „Ja, endlich.“

„Nachschub?“, fragte Basta und hob mit leicht zitternder Hand die Flasche an.

Agathe schüttelte schnell den Kopf. „Lieber nicht.“

„Jetzt sei nicht so“, murmelte er unbeholfen und versuchte, den Flaschenhals an Agathes Becher zu bringen. „Schließlich haben wir in gewisser Weise nur wegen dir mit dem Trinken angefangen.“

„Meinst du das gerade ernst?“, fragte Agathe grinsend und betrachtete die beiden.

Sie hatte schon zuvor betrunkene Leute gesehen, aus ihrem Fenster. Agathe hatte sie beobachten können, wenn sie völlig breit nach Hause getaumelt waren, von der Kneipe, die sich nur wenige Straßen weiter befunden hatte. Manchmal waren sie auf dem Weg gestürzt, ohne hinterher selbstständig aufstehen zu können oder hatten fremde Leute belästigt. Agathe hatte beim Betrachten dieser Leute nichts als Verachtung empfinden können.

Basta und Kiriaki während eines Rausches zu beobachten, war da um einiges angenehmer. Agathe hätte sogar so weit gehen können, zu sagen, dass es ihr überhaupt nichts ausmachte, in der Gegenwart von Leuten zu sein, die betrunken waren, wenn damit diese beiden gemeint waren.

Verrückt. Sie hätte nicht gedacht, das überhaupt jemals sagen zu können. Zu irgendwem.

„Ou, verdammt“, fluchte Basta und Agathe sah, wie sich eine mehr oder weniger große Pfütze aus Wein auf dem Tisch bildete. Da hatte Basta es tatsächlich nicht geschafft, ihr Glas zu treffen.

„In Ordnung“, seufzte Agathe und nahm ihm die Flasche weg, bevor sie bemerkte, dass auch sein Ärmel mit Wein durchtränkt war, was sich bei einem weißen Hemd nicht unbedingt gut traf. „Ich glaube, jetzt reicht es langsam. Du hattest etwas zu viel.“

„Hatte ich nicht“, widersprach er, starrte dabei aber nicht sie, sondern sein beschmutztes Hemd an. Er wurde sehr leise.

„Ich wasche es für dich, wenn du willst“, sagte Agathe etwas sanfter, in der Hoffnung, ihn so ablenken zu können, während sie die Weinflasche auf dem Boden abstellte.

„Danke“, murmelte er und senkte den Arm – direkt auf die Pfütze.

„Basta!“, sagte Agathe und hätte ihn weggestoßen, wenn der Fluch nicht gewesen wäre. Stattdessen musste sie sich damit zufrieden geben, darauf zu warten, bis sein abgefülltes Gehirn auf ihren Ruf reagieren würde. „Der Wein.“

„Was?“ Er sah mit trüben Augen runter, bevor er seinen Arm nach oben riss – der helle Stoff sog sich immer mehr und mehr mit der dunklen Flüssigkeit voll. „Ach, was für ein Mist.“

„Du hattest eindeutig zu viel“, lachte Agathe und hörte ihm amüsiert dabei zu, wie er entschlossen behauptete, noch vollkommen nüchtern zu sein. Agathe selbst fühlte sich, abgesehen von der Wärme in ihrem Hals, noch sehr frisch. Sie hatte offenbar zu wenig zu sich genommen, um wirklich betrunken zu werden. Was, wenn man bedachte, dass sie hier nur zu dritt und zwei von ihnen längst zugedröhnt waren, eigentlich auch ganz gut war.

„Wenn du wirklich meinst, immer noch völlig nüchtern zu sein, dann kannst du ja die Kleine nach oben in ihr Zimmer tragen“, schlug Agathe vor.

Basta hob eine Augenbraue. Es erstaunte Agathe ein wenig, dass er so rot war, wenn man bedachte, dass er ein Geist war. Der Körper, den sie ihm geschenkt hatte, schien also gut zu funktionieren. „Wieso soll ich das machen?“, fragte er.

Agathe erwischte sich dabei, wie sie ihm etwas zu lange in die Augen starrte. Sie konnte nichts dafür – sie hatten einen außergewöhnlichen Blau Ton, der dem von frühen Nächsten glich und sonst wäre es ihm vielleicht komisch vorgekommen, wenn sie ihn so genau betrachtet hätte, aber heute war er kaum noch in der Lage, ihre Handlungen richtig einzuschätzen. Sie hatte die perfekte Gelegenheit dafür, ihn zu erforschen, auch wenn seine Augen heute etwas trüber als sonst waren.

„Soll sie etwa in der Küche schlafen?“, fragte Agathe und breitete die Arme aus. „Komm, jetz sei nicht so. Du wirst sie doch wohl die Treppe hochtragen können.“

„Ich weiß ja nicht“, meinte er verspielt und legte den Kopf schief. Basta lächelte leicht. „Was hätte ich denn davon?“

„Vielleicht gewähre ich dir dann noch einen letzten Schluck“, schnurrte Agathe belustigt.

Er schnaubte sarkastisch. „Das hast ja wohl nicht du zu bestimmen.“

„Solange du zu betrunken bist, um mir die Flasche wegzunehmen … Doch, schon.“

„Du bist nicht meine Mutter.“

„Aber deine Beschwörerin“, belehrte sie ihn.

Basta lachte. „Na schön, ist ja gut. Ich bringe das Balg nach oben.“

„Wenn nennst du Balg?“, fragte Kiriaki, aber so leise, dass Agathe sie nur mit Mühe verstand. Sie beobachtete mit einem Grinsen Bastas Versuch, das Mädchen hochzuheben. Als er sie sich endlich über die Schulter geworfen hatte, waren fast fünf Minuten vergangen und als er aus der Küche verschwand, traf Kiriakis Kopf fast auf den Türrahmen.

Vielleicht war das keine gute Idee, dachte Agathe, aber was blieb ihr übrig? Sie konnte Kiriaki nicht selbst hochtragen, aber in der Küche wollte sie sie auch nicht lassen.

Statt weiter darüber nachzudenken, machte Agathe sich daran, die Sauerei auf dem Tisch zu beseitigen, indem sie ein halbwegs sauberes Tuch holte und den Wein mit einem feuchten Lappen aufwischte. Nachdem sie fertig war, hing immer noch ein säuerlicher Geruch in der Küche, der sich einfach nicht vertreiben ließ, aber zumindest war der Tisch wieder sauber.

Zum ersten Mal Alkohol getrunken, dachte Agathe, als sie die Putzutensilien wieder an ihre Plätze brachte und konnte nicht anders, als zu lächeln. Irgendwie … hatten solche Abende so ihre Reize, das musste sie gestehen. Vielleicht hätte sie sich sogar öfter zu sowas überreden lassen.

Der Gedanke wurde unterbrochen, als sie plötzlich Lärm aus der Eingangshalle vernahm.

- Kapitel 39 -

 

Agathe hatte alles stehen und liegen lassen, nachdem sie den Krach gehört hatte und war sofort aus der Küche gerannt, um nachzusehen, ob nicht etwas wirklich Schlimmes passiert war, aber als sie die Eingangshalle von Capricorns Festung erreichte, entdeckte sie, dass es nur Basta gewesen war, der auf der Treppe gestolpert zu sein schien. Kiriaki war glücklicherweise nicht da – es hätte nur noch gefehlt, dass Basta sie runterfallen gelassen hätte.

„Au“, hörte Agathe Basta leise murmeln, als er versuchte, sich aufzurichten. Er war auf den untersten Stufen gelandet, scheinbar schmerzvoll. Es wirkte, als wäre er auf dem Weg nach unten gewesen.

„Hast du dir was getan?“, fragte Agathe und eilte zu ihm, bevor sie inne hielt, weil diese Frage nicht oft ihren Mund verließ – schlichtweg mit der Begründung, dass es sie sonst nicht interessierte.

„Es geht“, meinte er und versuchte sich sogar in einem Lächeln. Etwas unbeholfen setzte er sich auf die Stufe, auf der er vorhin erst ausgerutscht war.

„Du hast mich etwas erschrocken“, seufzte Agathe und setzte sich ebenfalls auf die Treppe, da sie nicht das Gefühl hatte, Basta wäre in der Lage gewesen, noch die Küche zu erreichen.

„Tschuldige.“

„Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Schließlich bist du derjenige, der sich weh getan hat – ich würde dir aber wirklich empfehlen, nicht mehr zu trinken“, sagte sie. Sie hatte sich neben ihn gesetzt, sodass nur noch drei Stufen sie vom Boden trennten und sie ihre Beine ausstrecken konnte.

„Du sprichst ja mit mir, als ob ich so ein Neuling wie du wäre“, meinte Basta und verdrehte die trüben Augen. Er lallte immer noch ein wenig. „Denkst du, es ist das erste Mal, dass ich mich in diesem Zustand befinde? Bitte. Ich weiß schon, wie man damit umgeht.“

„Wie du meinst.“ Agathe betrachtete skeptisch sein vom Wein durchnässtes Hemd, entschied sich aber dagegen, das zu erwähnen. Stattdessen lächelte sie ihn von der Seite an. „Hauptsache, du bist nüchtern, wenn Staubfinger zurückkommt. Vergiss nicht, dass es da Sachen gibt, auf die wir uns konzentrieren müssen.“

Daraufhin sagte er seltsamerweise nichts. Und es erschien ihr fast, als wären seine Augen noch ein Stück trüber geworden.

„Ist was?“, fragte Agathe unsicher, nachdem sie sich geräuspert hatte.

„Du glaubst, dass er es schaffen wird?“, fragte Basta und legte den Kopf schief, nachdem er ihr das Gesicht zugewandt hatte. Seine Augen waren halb geschlossen, als würde er sich langweilen, aber Agathe erfasste das unwillkürliche Anspannen seiner Schultern.

Etwas stimmte offenbar nicht.

„Ich bin mir recht sicher, dass er Orpheus finden können wird“, nickte sie. „Ich hatte den Eindruck, dass er ganz schön schlau ist.“

„Ein bisschen zu schlau, hin und wieder“, murmelte Basta.

Agathe spitzte die Ohren. Sie konnte hören, dass mehr hinter diesen Worten steckte, jedoch nicht erkennen, was genau. „Wie meinst du das?“

„Man kann ihm nicht trauen.“ Basta schüttelte den Kopf. „Überhaupt nicht.“

„Na ja, ob ich ihm traue … nicht wirklich, denke ich. Aber ich vertraue seinen Fähigkeiten.“ Agathe legte ihre Hände in ihrem Schoß zusammen.

Basta knurrte etwas vor sich hin und egal, wie viel Mühe Agathe sich auch gab, sie konnte ihn nicht verstehen. Sie wusste nicht einmal, ob das, was er da sagte, überhaupt für ihre Ohren bestimmt war. Vielleicht musste er in seinem Kopf nur Platz machen und dafür ein paar Gedanken aussprechen.

„Was ist das eigentlich zwischen euch?“, fragte sie. „Du scheinst ihn wirklich zu hassen und obwohl er in mir ein … sagen wir mal etwas misstrauisches Gefühl auslöst, kann ich das nicht ganz nachvollziehen. Was ist ganz konkret zwischen euch vorgefallen?“

„Er hat mich getötet, als ich ein Nachtmar war“, sagte Basta nur und drehte den Kopf weg. „Das weißt du.“

„Ist das alles?“, fragte Agathe. „Denn es sah mir nicht danach aus, als würdet ihr einander wirklich fremd sein. Ihr müsst euch doch schon vorher gekannt haben.“

„Da denkst du falsch.“

„Sicher nicht. Ich bin vielleicht schlecht darin, Menschen zu verstehen, aber das erkenne selbst ich – und wag es daher nicht, mich anzulügen.“

Er wurde kurz ruhig. „Ich … würde nicht lügen“, meinte er dann langsam, immer noch in eine andere Richtung sehend.

Agathe rückte etwas näher an ihn heran, behielt dabei aber ihre Mindestdistanz. Dann hob sie eine Augenbraue, auch wenn er es nicht sehen konnte. „Und?“

„Er hat sie mir weggenommen“, sagte Basta gerade heraus, aber so emotionslos, dass Agathe zunächst nicht einmal verstand, dass er von etwas Schlechtem sprach. Von etwas, das ihn verletzt hatte.

„Wen?“, fragte Agathe mit gerunzelter Stirn und rief sich alle Gespräche mit Basta in Erinnerung, die die beiden mit einander geführt hatten, aber nur wenige von ihnen waren wirklich persönlich gewesen. Nur eins – und in dem hatte er von einer Frau gesprochen … Agathe biss sich auf Zunge, als sie realisierte, dass die Frage sich für sie erübrigt hatte. „Ou. Das … tut mir leid.“

Was hätte sie sonst sagen sollen? Was sagte man denn sonst?

Sie hatte nicht die leistete Ahnung.

„Egal“, hörte sie Basta leise flüstern. „Es ist nur etwas schwer, weil er mit seiner Rückkehr irgendwie … die Erinnerung daran mit sich gebracht hat und …“ Er stieß ein Seufzen aus, das eher nach einem Zischen klang.

Erinnerung. Agathe musste unwillkürlich daran denken, was er bei dem damaligen Gespräch zu ihr gesagt hatte. Dass sie der Frau aus seiner Vergangenheit ähnlich sah und ihn ein wenig an sie erinnerte, vor allem wenn sie sang. Und Agathe hatte oft gesungen, in der Zeit, in der sie mit Basta und Kiriaki schon auf der Festung gelebt hatte.

Und diesem Moment fragte sie sich, ob sie ihm nicht vielleicht sogar mehr Magenschmerzen als Staubfinger zugefügt hatte.

„Es tut mir wirklich leid“, wiederholte sie kleinlaut.

„Du hast nicht wirklich was gemacht …“, hörte sie ihn sagen. Er sah sie immer noch nicht an.

„Ich hätte nicht ständig singen sollen“, flüsterte Agathe. Sie hatte gleich bemerkt, dass Basta für die Frau, die in ihrem Gespräch erwähnt worden war, Gefühle gehabt hatte und hatte das für sich ausnutzen wollen. Sie hatte gehofft, ihn durch ihre Singerei an sie erinnern und ihn dazu bringen zu können, sie zu mögen, wenn er sie mit der Frau von damals verglich. Dass er etwas wie schmerzhafte Erinnerungen mit dieser Person hätte verbinden können, war ihr nicht eingefallen.

Außerdem machte ihr Plan sie heute weniger glücklich, als damals. Jetzt erschien ihr der Gedanke, dass er an eine andere dachte, während er ihr zuhörte, als irgendwie … seltsam.

Fast unbehaglich.

„Wieso das nicht?“

„Ich wette, ich habe dich an sie erinnert“, sagte Agathe. „Nicht weniger als Staubfinger. Du hast selbst gesagt, das wir uns ähnlich sind.“

„Man kann euch nicht vergleichen“, sagte Basta und sah sie zum ersten Mal seit einer Weile wieder an. Zu Agathes knappem Erstaunen war sein Gesicht etwas röter geworden, und das ohne einen weiteren Schluck Alkohol. Verschlimmerte es sich mit der Zeit?

„Nicht?“, fragte sie unsicher.

Er schluckte. „Ihr seht euch vielleicht ähnlich, aber eure Wesen sind völlig unterschiedlich. Wie Tag und Nacht, könnte man sagen.“

Agathe konnte sich ein schiefes Lächeln nicht verkneifen. „Ich muss wohl nicht raten, was davon ich bin.“ Nacht. Was sonst hätte sie sein können, als die Nacht?

„Denkst du, du bist schlecht?“, fragte Basta sofort und musterte sie.

Agathe lachte leise auf. „Dieses Gespräch hatten wir schon einmal. Ja, Basta. Du und ich sind beide böse Menschen.“

„Stört dich das?“

„Nein“, sagte Agathe ohne nachzudenken und zuckte die Schultern. „Wenn ich ehrlich sein soll … dann muss ich mir sogar eingestehen, dass ich jetzt vergleichsweise glücklich bin.“ So seltsam, diese Worte auszusprechen, aber jedes von ihnen stimmte. „Ich bin glücklich mit allem, wie es jetzt ist. Viel glücklicher, als ich es mit einem normalen Mann sein könnte, in einer Gesellschaft, in der ich zu allen höflich und nett und hilfsbereit und warmherzig sein muss. Zu Leuten, die es in meinen Augen gar nicht verdient haben. Zu Leuten, die mir nichts bedeuten.“ Sie hielt inne, als sie bemerkte, dass sie abschweifte und lächelte. „Nein. Ich finde es recht gut, so, wie es jetzt ist. Mit dir und Kiriaki. Ich mag euch wirklich sehr.“

Er sah sie für einen Moment an, als würde er versuchen, festzustellen, ob sie log. Ob sie ihm nicht nur alles schön redete. „Und das ist die Wahrheit?“, wollte er wissen.

   Sie nickte. „Ja.“

„Das ist gut“, sagte er und entspannte sich etwas. Er wirkte plötzlich viel gelassener. „Weil ich sowas Ähnliches über dich gedacht habe.“

„Ach ja?“ Agathe schmunzelte.

„Ich fühle mich mit dir um einiges wohler, als … na ja, als mit allen.“ Er räusperte sich. „Und ich finde es eigentlich auch gut, dass du … die Nacht bist.“

Und in diesem Augenblick konnte Agathe zum ersten Mal in ihrem gesamten Leben behaupten, dass das Ding in ihrer Brust, das dafür sorgte, dass sie am Leben blieb und von allen Herz genannt wurde, nicht nur dafür da war, ihren Körper zu erhalten, sondern sich irgendwie regte. Irgendwie gefühlvoll.

Nie – nie hätte sie gedacht, von jemandem gemocht werden zu können, der ihre Persönlichkeit kannte. Ihre durchtriebene, verdorbene Persönlichkeit.

„Die Geburtsstunde zweier Komplizen, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat, was?“, fragte sie spielerisch und lächelte herzlich.

Aber er antwortete nicht darauf, zumindest nicht mit Worten. Stattdessen streckte Basta plötzlich die Hand aus und legte sie ihr auf das Knie. Etwas irritiert starrte Agathe darauf und wäre sie nicht viel zu abgelenkt durch die plötzliche Berührung gewesen, hätte sie vielleicht bemerkt, wie sein Gesicht näher kam.

Der Geschmack von Wein und Pfefferminz traf auf ihre Lippen, als er sie küsste.

Agathe wusste nicht, was es war, aber durch ihren Körper schoss eine Kraft, die sie nie zuvor gespürt hatte, eine Kraft, die sie sich kerzengerade aufsetzen und nach seinen Oberarmen greifen ließ. Innerhalb weniger Sekunden drehte Agathes Kopf völlig durch und alle ihre Sinne schienen in Flammen aufzugehen, bevor sie das Geräusch eines brechenden Spiegels in ihren Ohren hörte, glockenhell, als würde es direkt über ihre passieren.

Dann, als seine Lippen sich von ihren lösten und ihr Oberkörper begann, kraftlos nach hinten zu fallen, hörte sie noch etwas. Eine Stimme, die ihrer eigenen so ähnlich klang, dass Agathe angenommen hätte, es selbst gesagt zu haben, hätte sie nicht von Ehtagas Existenz gewusst.

Na endlich!, seufzte ihr Spiegelbild voller Erleichterung.

Agathes benommene Sinne konnten das noch aufgreifen. Darauf folgte auch der Schmerz, als sie mit ihrem Rücken auf dem Boden aufschlug, nachdem sie von der Treppe gefallen war. Und danach nichts mehr. Danach war sie weg.

- Kapitel 40 -

 

Als Agathe am nächsten Morgen aufwachte, lag sie nicht länger auf dem Boden – der Boden wäre nur halb so bequem gewesen. Sie lag in ihrem Bett, eingehüllt in eine dicke Decke.

Das, was sie gleich nach der Wärme und Bequemlichkeit um ihren Körper herum wahrnahm, waren die elenden Kopfschmerzen, die sofort einsetzen, sobald sie ihren ersten, richtigen Gedanken gefasst hatte.

Agathe stöhnte leise auf und hoffte, dass ihre Schläfen nicht platzen würden, als sie sich langsam aufsetzte und die Decke wegschob. Sie öffnete ihre Augen und blinzelte, um wach zu werden, was aber nicht ganz so verlief, wie gewohnt. Irgendwas war anders.

Sie glaubte, das durch ihr „Fenster“ fallende Licht viel greller vor Augen zu haben. Auch die Farben der Wände und der Möbel um sie herum stachen viel stärker heraus – Agathe glaubte sogar, die einzelnen Steine aus denen das Gebäude gebaut war, viel besser erkennen zu können, jede der Unebenheiten und Kratzer in ihrer Oberfläche …

Plötzlich war es, als hätte sie bisher mit einem trüben Schleier über ihren Augen gelebt.

„Bei einem Kater ist das normalerweise genau andersherum, oder?“, murmelte sie und setzte ihre – nackten – Füße auf den Steinboden. Auch die Kälte erschien ihr heute eindrucksvoller als sonst. Sie kroch Agathes Beine hinauf, bis in ihren Magen und ließ sie schaudern.

Zusammen mit den grellen Farben, der erfrischenden Kälte, den Kopfschmerzen und den ungewohnt starken Lichtverhältnissen prasselten mit einem Mal auch die Erinnerungen von letzter Nacht auf Agathe ein. Sie wusste es nun wieder, jetzt, wo der kalte Stein an ihren Zehen sie endgültig geweckt hatte.

Ehtaga war frei und der Spiegel in ihrem Inneren – die Blockade – war zerbrochen. Sie war nun geheilt. Nicht länger in sich gefangen. Und das durch Basta. Seine Lippen …

Etwas abwesend fasste Agathe mit einem Finger an ihren Mund und fuhr sachte über ihre Unterlippe, so weich, als fühlte sie sie zum ersten Mal. Sie versuchte, sich an das Gefühl von gestern zu erinnern und an das Chaos, das Basta durch seinen Kuss in ihrem Kopf angerichtet hatte.

Vermutlich hatte er sie ins Bett gebracht. Aber wo war er?

Agathe schnappte sich ihre Stiefel und streifte sie über, bevor sie ihr Zimmer verließ. Auch auf dem Weg nach unten schien die Welt mit ihren Farben und ihren Forman auf sie einzustürzen, viel zu stechend und scharf, aber Agathe konnte damit fast umgehen. Sie fragte sich, was genau sich durch den Kuss in der letzten Nacht in ihrem Inneren verändert hatte – war genau bedeutete das Verschwinden des Spiegels für sie?

„Was ist das denn?“, fragte Agathe, nachdem sie unten angekommen und zur Küche gegangen war, nur um bei ihrem Ankommen einen völlig gelassenen Basta vorzufinden, am Tisch sitzend und nichts tuend. Er blickte sie etwas verschlafen an, als sie hereinkam. „Das hätte ich nicht erwartet. Du siehst so … frisch aus. Wo bleibt der Kater?“

„Der kann nur meinem Körper etwas anhaben“, erwiderte Basta und lächelte leicht, während er den Kopf auf seiner Hand stützte. „Ich bin gerade in meiner leiblosen Gestalt.“

„Netter Trick“, sagte Agathe und verschränkte lässig die Hände vor der Brust, während sie sich fragte, ob Basta sich überhaupt an irgendwas erinnern konnte. Wirklich den Eindruck machte er nicht, aber sie wollte nicht direkt fragen. Dass das taktlos gewesen wäre, verstand selbst sie. „Du siehst aber nicht so aus, als hättest du gut geschlafen.“

„War gestern nicht mehr in der Lage, die Gestalt zu wechseln, weil ich dafür … äh … schon etwas zu weggetreten war“, wich er aus. „Deshalb musste ich bis heute morgen mit ein wenig Übelkeit zurechtkommen. Und dabei schläft es sich nicht wirklich gut.“

„Also doch nicht eine allzu schöne Nacht gehabt“, schmunzelte Agathe.

Und plötzlich glaubte sie, einen kurzen – fast flüchtigen – Glanz in Bastas Augen zu erkennen, als er lächelnd den Mund verzog. „Na ja.“

„Was denn?“

„Nichts, nichts.“

„Jetzt sag es doch.“

„Bloß ein dummer Traum“, meinte Basta und rieb sich die Augen.

In dem Moment war Agathe sich fast völlig sicher, dass er sich erinnerte. Er musste sich erinnern, nur hielt er es für einen Traum.

Sie war sich nicht sicher, ob das gut oder schlecht war.

„Und was ist mit dir?“, fragte er plötzlich und sah wieder zu ihr. „Kopfschmerzen?“

Sie zog eine Grimasse. „Ziemlich starke sogar. Dabei habe ich eigentlich gar nicht so viel getrunken …“, murmelte sie und wusste direkt, nachdem sie es ausgesprochen hatte, dass diese Schmerzen mit dem Zerbrechen des Spiegels zu tun haben mussten.

Basta wusste das jedoch nicht und lachte auf.

„Was ist so witzig?“, wollte Agathe wissen.

„Nicht ganz so viel getrunken“, wiederholte er grinsend und musterte sie spöttisch. „Ich habe dich heute morgen bewusstlos auf dem Boden neben der Treppe gefunden – du kannst mir erzählen, was du willst, aber ganz so wenig kannst du doch nicht zu dir genommen haben, dass du es nicht einmal auf dein Zimmer geschafft hast.“

Agathe schwieg und starrte ihn an.

War er eigentlich … ein kompletter Idiot?

„Ich schätze, ich bin einfach nicht ganz so hart im Nehmen wie ihr beiden“, winkte sie bloß ab und hielt kurz inne. Mit einem Mal glaubte sie, undeutliche Worte durch ihren Kopf schießen zu hören.

Erinnerungsfetzen. Sie waren doch zusammen mit Ehtaga hinter dem Spiegel gefangen gewesen … Agathe dachte unwillkürlich an die Tätowierung an ihrem Rücken, die das Portal zu Ehtagas Raum beschrieb und fragte sich, ob man diesen überhaupt noch betreten konnte, jetzt, wo der Spiegel kaputt und Ehtaga frei war.

Das würde sie bei Gelegenheit überprüfen müssen.

Und wie durch einen glücklichen Zufall fragte Basta gerade jetzt seine nächste Frage. „Wie sehen so die Pläne für heute aus?“, fragte er grinsend. „Willst du dich wieder hinter deine Bücher verkriechen oder doch deinen Kater ausschlafen?“

„Eigentlich“, sagte Agathe langsam und sah ihn direkt an, „hatte ich etwas anderes vor. Ich wollte heute mal wieder etwas produktiver werden, als ich es bisher gewesen bin … Im Bezug auf diesen Stein hier“, sagte sie und fasste an die Kette, die sie von Kiriaki bekommen hatte. An den dunklen Stein, der sie auf die andere Seite bringen konnte.

Bastas Augenbrauen wanderten überrascht hoch. „Warte, du … willst wieder in die Todeswelt?“

„Genau so ist es.“

„Aber wieso? Warum jetzt auf einmal? Hast du etwas in Erfahrungen bringen können?“

„So ist es nicht ganz“, sagte Agathe und strich sich das Haar aus dem Gesicht. Dann lächelte sie ihm zu. „Es ist eher so, als hätte ich eine Art Erleuchtung gehabt.“

An seinem verwirrten Blick hatte sie die endgültige Gewissheit, dass er sie nicht verstand. Er erinnerte sich nicht an den Kuss, zumindest nicht so, wie sie es tat. Er hatte auch keine Ahnung davon, dass Agathe nun mehr wusste, als vorher, weil auch die Erinnerungen, die in ihrem Inneren versiegelt gewesen waren nun frei durch ihren Kopf schwirrten. Er hatte keinen Verdacht.

Und obwohl es für Agathe von Vorteil war, dass er von nichts ahnte – weil es nie schadete, seine Geheimnisse und somit auch einen besseren Überblick zu haben, als die Leute um einen herum – machte es sie fast traurig, dass er sich nicht erinnern konnte.

Aber zur Zeit gab es wirklich wichtigere Dinge, um die sie sich einen Kopf machen musste.

- Kapitel 41 -

 

Alles verlief genau wie beim letzten Mal, als Agathe mit Basta in die Todeswelt gereist war – die weißen Frauen fingen die beiden auf, während sie sich in diesem „Rausch“ befanden und brachten sie auf die andere Seite: in diese unendliche Schwärze, die voller blauer Lichter war.

„Ich frage mich, ob dieser Ort ein Ende hat“, fragte Agathe laut, als ihre Füße den Boden – oder besser gesagt den schwarzen Grund – berührten und sah sich um. Als sie sich von dem berauschenden Gefühl des Wechsels erholt hatte, waren die weißen Frauen schon längst fort.

„Ich denke schon“, sagte Basta. „Immerhin hat er auch einen Mittelpunkt.“ Er wandte sich ihr zu und musterte Agathe mit gerunzelter Stirn. „Wieso hast du die weißen Frauen nicht aufgehalten? Ich dachte, dein Plan wäre es ursprünglich gewesen, sie dazu zu bringen, uns zu helfen.“

„Das Wort ursprünglich trifft es gut“, sagte Agathe entschlossen, bevor sie begann, sich in Bewegung zu setzen. „Die Pläne haben sich geändert.“ Sie lief in eine Richtung von der sie einfach wusste, dass diese sie weiter ins Innere des Todesreiches führen würde.

Sie hatte keine Ahnung, woher sie das wusste. Es war ein vages Gefühl in ihrem Magen, das sie dorthin führte und Agathe folgte ihm ohne zu zögern. Von dem einen auf den anderen Moment hatte sie eine so große Menge an Wissen bekommen, dass sie gar nicht so recht wusste, was sie damit überhaupt anstellen konnte, aber das war nicht von Bedeutung – denn es war, als würde das Wissen in ihr hingegen ganz genau wissen, wie es Agathe und ihren Körper verwenden konnte.

Ein leicht beunruhigender Gedanke.

„Was hast du jetzt stattdessen vor?“, fragte Basta, während er ihr hinterher lief.

Ohne diesen lästigen Schleier über ihren Augen war Agathe nun auch endlich in der Lage, alleine durch die Todeswelt zu gehen – ohne ständig zu stolpern und ohne ständig auf Bastas Hand angewiesen zu sein, auch wenn ihr der Gedanken nun weniger abstoßend vorkam, als zuvor.

Hatte sie denn überhaupt noch Berührungsängste? Agathe bezweifelte das – aber mit den ganzen Erinnerungen an Magie, die seit dem Kuss über sie hereingefallen waren hatte sie gar nicht die Zeit gehabt, über etwas anderes nachzudenken.

Ehtaga war nun immerhin befreit. Sicher hätte Agathe nun jeden berühren können, von dem sie es wollte …

„Ich muss drei ganz bestimmte Seelen finden“, sagte sie beiläufig über die Schulter hinweg.

„So?“

„Ja. Und dabei wirst du mir helfen müssen.“

„Was sollen das denn für Seelen sein?“, fragte Basta misstrauisch. „Und wohin laufen wir eigentlich?“

„Tiefer in die Todeswelt hinein, da die Seelen, die ich suche, nicht schon kürzlich verstorben, sondern schon seit einer gewissen Weile tot sind …“ Agathe sah hoch und betrachtete die vielen blauen Lichter, die vor, neben, unter und über ihr schwebten. Es war unglaublich, in was für einem Chaos sie durcheinander flogen, ohne gegeneinander zu stoßen und obwohl alles völlig unorganisiert wirkte, glaubte Agathe, eine Art System zu erkennen …

Trotzdem. Ohne Bastas Fähigkeiten, diese Seelen auseinander zu halten, würde sie hier nicht weit kommen.

„Von welchen Leuten sprichst du? Und wo wir gerade dabei sind, uns ein bisschen was zu erklären … Willst du mir nicht vielleicht etwas mehr von deiner sogenannten Erleuchtung erzählen, von der du vorhin gesprochen hast?“

Agathe hatte Basta gezwungen, gleich nach ihrem Gespräch in der Küche aufzubrechen. Sie waren zusammen nach oben in Kiriakis Zimmer gegangen, um dort das Portal zur Todeswelt zu benutzen – das Mädchen, das immer noch ihren Rausch hatte ausschlafen müssen, hatten sie nicht gestört, denn ganz im Gegensatz zu Agathe und Basta war bei ihr der Kater unglaublich übel ausgefallen. Darauf hatte das ununterbrochene Gestöhne und Seufzen hingewiesen, das sie von sich gegeben hatte, wenn Basta oder Agathe auch nur die kleinsten Geräusche verursacht hatten.

Agathe hatte bloß fassungslos den Kopf geschüttelt über das Mädchen. Basta hatte gegrinst.

„Glaubst du nicht, dass sie sich fragen wird, wo wir sind, wenn sie aufwacht?“, hatte Basta noch gefragt, während Agathe sich den nötigen Spruch durch den Kopf hatte gehen lassen, um in die Todeswelt wechseln zu können.

„So schnell wird sie nicht aufwachen“, hatte Agathe bloß mit dem schwarzen Stein in ihrer Hand entgegnet. Basta hatte dem nichts hinzuzufügen gehabt.

Und jetzt waren sie hier.

„Du willst wissen, nach welchen Seelen ich suche?“, fragte Agathe und ignorierte die Frage zu ihrer sogenannten Erleuchtung. „Das kann ich dir sagen. Ich suche nach meinem letzten Verlobten, Frank und Angelina.“

„Das sind doch … Die habe ich umgebracht, nicht wahr?“, fragte Basta überrascht.

Agathe lief weiter und betrachtete dabei die blauen Lichter. „Ganz genau.“

„Wieso willst du ihre Seelen finden?“

„Weil es wichtig ist.“ Sie sah über die Schulter zu ihm, aber das war gar nicht nötig, denn er hatte sie schon eingeholt.

„Was geht hier vor?“, fragte er und sah sie von der Seite an.

Agathe drehte ihren Kopf zu ihm und lächelte geheimnisvoll. „Das wirst du sehen, wenn wir die drei gefunden haben. Und jetzt such sie. Bitte.“

Sie sah Unsicherheit über sein Gesicht huschen, aber er versuchte, es zu verbergen und tat – zu Agathes eigener Überraschung – das, was sie ihm sagte. Es erstaunte sie auch irgendwie, dass er kein einziges Mal nach Capricorn gefragt hatte, seit sie hierher gekommen waren, aber da es nicht wirklich ein Grund zum Beschweren war, beließ sie es dabei.

Basta sagte nichts mehr, bis er die drei Seelen gefunden hatte – was ihn ungefähr eine halbe Stunde kostete.

„Das hier ist die Seele von der Frau“, meinte er und trat an das Licht, bevor er hinter sich wies. „Die von dem Perversling und deinem Verlobten sind da hinten.“

„Witzig, dass du Frank sofort als Perversling erkannt hast“, meinte Agathe und dachte daran zurück, wie er sie belästigt hatte, bevor sie an Angelinas Seele trat. „Und woher wusstest du eigentlich, dass er mir mal zu nahe gekommen ist? Davon habe ich nie etwas gesagt – vor allem nicht, als ich dich beschworen habe.“

„Ich war in seinem Gasthaus, um deinen Verlobten zu tötet und da hab ich ihn zufällig über dich reden hören“, meinte Basta und trat zurück. „Ende der Geschichte.“

„Verstehe“, murmelte Agathe und schloss ihre Finger vorsichtig um den leuchtenden Ball, der laut Basta Angelina gehören musste. Agathe hielt die Seele sanft fest und begann, leise Worte aufzusagen. Es waren Worte, die lange in ihrem Unterbewusstsein gefangen gewesen waren und jetzt frei kamen.

Erfolgreich, wie sie feststellte.

Die Seele in ihren Händen leuchtete kurz auf und löste sich dann auf, nachdem es wie heißer Dampf zwischen Agathes Fingern hervorgequollen war.

„Was ist denn jetzt passiert?“, fragte Basta und sah mit großen Augen auf Agathes Hände – als hätte er den Verdacht, die Seele hätte gleich wieder auftauchen können.

„Das nennt man Wiedergeburt“, grinste Agathe und war so glücklich, das sie Freudensprünge hätte machen können. Sie hatte sich an das erinnert, was Kiriaki mal zu ihr gesagt hatte – das wenige genug Talent in der Magie besaßen, um dieses Wunder vollbringen zu können.

Agathe war schon immer überzeugt davon gewesen, etwas Besonderes zu sein.

„Das heißt … du hast sie zurück ins Leben geschickt?“

„Sie werden als eine andere Person wiedergeboren“, erklärte Agathe und sah hinter Basta, zu den restlichen blau leuchtenden Kugeln. „Welche davon gehörten noch einmal Frank und meinem Verlobten?“

„Das … waren die hier“, meinte Basta missmutig und zeigte ihr die Seelen.

Nachdem Agathe auch diese beiden zurück ins Leben geschickt hatte, lachte sie einmal auf und klatschte in die Hände. „Fantastisch“, lachte sie und ihr Lachen erschien in der unendlichen Stille des Todesreiches sehr laut. „Ich kann es wirklich! Dieses Wissen, es … ist einfach unfassbar! Ich wusste ja, dass es mir irgendwie nützen würde, aber jetzt ist es, als wüsste ich alles über Magie!“ Sie lachte noch einmal und drehte sich auf dem Absatz ihres Stiefels einmal im Kreis, bevor sie mit dem Gesicht zu Basta anhielt. Sie strahlte ihn an. „Ich fühle mich so mächtig, wie nie zuvor in meinem Leben.“

„Soll das etwa heißen, dass du Orpheus‘ Erinnerungen befreit hast?“

„Ja, Basta“, grinste Agathe. „Genau das heißt das. Ich habe jetzt ein nahezu unbegrenztes Wissen über Magie. Ich weiß Dinge, die ich vorher nicht gewusst habe und das … einfach so. Ohne es gelesen zu haben, ohne es auswendig gelernt zu haben.“

„Aber wie konntest du die Erinnerungen befreien?“, wollte Basta wissen.

„Dabei warst du eine große Hilfe“, sagte Agathe glücklich. Eigentlich hatte sie vorgehabt, das Ganze geheim zu halten – aber mittlerweile war es ihr wieder egal geworden. Sollte Basta doch wissen, was sie jetzt konnte. Sollte es doch jeder wissen.

Nach dem, was sie eben mit den drei Seelen getan hatte, hatte sie nicht einfach nur Lust, jeden wissen zu lassen, was sie konnte, sondern es gerade zu in die Welt hinaus zu schreien.

„Ich?“, fragte Basta mit einem Mal noch verwirrter, als er es nur Sekunden zuvor gewesen war. „Was habe ich denn bitte getan?“

Agathe machte ein paar entschlossene Schritte auf ihn zu und überquerte die Distanz, die sie trennte, bevor sie die Hand ausstreckte und ihn am Kragen packte. Bastas Augenbrauen schossen hoch, als sie ihn etwas grob auf ihre Augenhöhe zog, sodass ihre Gesichter ganz nah waren. „So einiges hast du getan“, sagte sie mit einem Lächeln, das vielleicht mehr als einschüchternd wirkte. Es war zufrieden, aber dunkel.

„Du …“, brach Basta leise heraus und schien viel zu überrascht von der plötzlichen Nähe zu sein, um etwas zu unternehmen.

Lustig war es schon. Agathe erinnerte sich an den Tag, an dem er das Kreuz gefunden und an denen er sie bei ihrem Fluchtversuch aus Capricorns Burg geschnappt hatte. Damals hatte er extra Nähe zu ihr aufgebaut, um sie zu quälen, aber heute schien er dadurch selbst aus der Fassung zu geraten.

Agathe hingegen fühlte sich einfach toll.

„Ich bin jetzt eine ganz andere, Basta“, sagte sie, ohne ihn loszulassen oder von ihm wegzurücken. Während Agathe ihm direkt in die Augen sah, hatte Basta den Blick gesenkt. „Bis jetzt bin ich von so vielen Ängsten aufgehalten worden, aber das ist alles vorbei. Ich kann meine ganze Kraft einsetzen. Mein ganzes Bewusstsein.“

Sie sah, wie er schluckte.

„Und ich werde eine der mächtigsten Hexen unserer Welt werden“, sagte sie und akzeptierte zum ersten Mal das, was sie nun einmal war – eine Hexe. Bisher hatte sie es gern gemieden, diesen Titel zu tragen, aber was nützte es ihr noch, es zu leugnen? Vor allem jetzt, wo sie tatsächlich die Chance hatte, nicht einfach nur eine, sondern die eine Hexe zu werden. „Und du hast das Glück, mir noch eine längere Zeit lang dienen zu können.“

„Wie bitte?“, fragte Basta und kniff etwas irritiert die Augen zusammen, als er wieder zu ihr sah.

„Ich habe die Seelen, die du für mich getötet hast wieder zum Leben erweckt und stehe somit nicht länger in deiner Schuld“, sagte Agathe bestimmt.

„Was du nicht sagst.“ Er richtete sich wieder zur vollen Größe auf, aber Agathe ließ sein Hemd nicht los.

„Das soll aber nicht heißen, dass ich vorhabe, dich im Stich zu lassen“, sagte Agathe und sah zu ihm hoch, damit er es sehen konnte. Damit er sah, dass sie nicht log. „Ich werde weiterhin versuchen, Capricorn zurückzuholen. Allerdings würde ich gerne einen neuen Handel mit dir schließen, damit …“

„Damit ich nicht verschwinde, ja?“, fragte Basta plötzlich und beendete ihren Satz für sie.

Das war wie eine Ohrfeige. Agathe ließ ihn augenblicklich los und stolperte erschrocken zurück. „Du … du weißt davon?!“, fragte sie erstickt und spürte, wie ihr Magen sich kurz zusammen zog.

Wie? Wie hatte er es herausgefunden?

„Ja“, seufzte Basta und strich sein Hemd glatt – dabei klang er aber weit weniger wütend, als sie es gedacht hätte. Eher müde. „Und ich weiß auch, dass es von vorne rein unmöglich war, Capricorn zurückzuholen, weil sein Geist gar nicht in unserer Welt ist.“

„Du hast das alles gewusst? Woher? Wieso hast du nichts gesagt?“ Agathe kamen die Worte so schnell über die Lippen, dass sie fast stotterte.

„Ich habe dich und Staubfinger belauscht, als ihr euch darüber unterhalten habt“, sagte er und legte locker die Hände in die Seiten. Sein Ausdruck hatte etwas Trauriges, aber er hob die Mundwinkel. „Ich habe alles gehört. Auch, dass selbst wenn man ihn hätte zurückholen können, es mir nichts gebracht hätte, weil ich dann wieder verschwinden müsste. Das ist ärgerlich.“

„Ich …“ Agathe schnappte nach Luft. „Das tut mir leid. Ich wollte nicht, dass du …“

„Ist schon in Ordnung“, sagte Basta und jetzt wirkte das halbe Lächeln, das er ihr schenkte sogar fast echt, auch wenn es immer noch viel zu viel Trauer in sich hatte. „Das von eben hat mir gezeigt, dass du dich zumindest irgendwie darum kümmerst, ob ich noch da bin oder nicht.“ Er leckte sich über die Lippen. „Du wolltest einen Handel mit mir abschließen, dessen Bedingungen ich auf keinen Fall erfüllen kann … oder? Damit ich für immer in deiner Schuld stehe und nicht verschwinde.“

„Ich dachte, man könnte Capricorn doch noch irgendwie zurückholen“, sagte Agathe leise. „Aber dann hättest du noch irgendeinen Grund haben müssen, in dieser Welt zu bleiben. Mir zu dienen wäre …“

„Es ist schon gut“, sagte Basta und plötzlich verschwand sowohl die Trauer, als auch das schwache Lächeln. Sein Gesicht wurde ausdruckslos und ernst, als er abwesend nach oben sah. „Ich habe ohnehin schon viel zu lange an dem Gedanken festgehalten, Capricorn zurückzuholen. Die Wahrheit ist, dass es nicht gut zwischen uns stand, als er gestorben ist und ich dachte, er würde so dankbar sein, wenn ich ihn zurückhole, dass …“ Er brach ab und schüttelte den Kopf. „Ich glaube, ich sollte langsam aufwachen. Daraus wird nichts werden.“

„Du willst Capricorn einfach so aufgeben?“, fragte Agathe und musste gestehen, dass sie von Basta alles erwartet hätte – nur das nicht.

Er machte einen Schritt auf sie zu, die Hände nun in den Hosentaschen und sah auf sie herunter, die blauen Augen noch schärfer als sonst. „Vermutlich ist das sowieso lange überfällig.“ Dann lächelte er wieder, wobei sie wie gewöhnlich den Geruch das Pfefferminz aufschnappen konnte. „Außerdem habe ich jetzt in gewisser Weise eine neue Herrin gefunden … nicht wahr?“

Etwas verdutzt starrte Agathe zu ihm hoch. Dann schnaubte sie belustigt. „Komplizin“, sagte sie dann. „Nenn mich einfach Komplizin.“

Es verstrich ein Moment, in dem sie sich einfach nur ansahen und es fühlte sich so an, als würden sie sich zum ersten Mal völlig offen gegenüber stehen – ohne irgendwelche Geheimnisse oder Hintergedanken. Agathe wollte ihm voller Freude auf die Schulter klopfen, als eine fremde Stimme sie unterbrach.

„Wie schön, dass ich euch beide doch noch erwischt habe.“

Agathe fuhr herum und auch Basta sah an ihr vorbei, dorthin, wo sie eigentlich eine Frau erwartet hätten, da die Stimme stark nach einem Mädchen klang, aber wen sie da stehen sahen, war kein Mensch. Es war ein Tier – eine Katze, um genau zu sein, die schwanzwedelnd auf dem Boden saß und mit gespitzten Ohren zu ihnen blickte.

Darauf, wer diese Katze war, wäre Agathe selbst ohne Orpheus‘ Erinnerungen gekommen. „Bist du der Tod?“, fragte sie sofort und wandte sich dem Tier zu.

Basta blieb hinter ihr stehen.

„Gut geraten“, sagte die Katze mit der menschlichen Stimme eines Kindes und legte den Kopf schief. „Und ich nehme an, dass du diejenige bist, die es sich erlaubt hat, einfach so drei meiner Seelen wieder davon zu schicken … ohne meine Erlaubnis.“

Agathe konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. „Ja, genau die bin ich.“

„Ganz schön frech von dir … das ist dir doch bewusst, oder?“

„Ich glaube, ein wenig Dreistigkeit ist gesund.“

„Nicht, wenn du es mit mir zu tun hast.“ Die Katze stand plötzlich auf, schüttelte sich und ehe Agathe begreifen konnte, was da geschah, hatte sich der Tod auch schon zu einem Eichhörnchen verändert. Gestaltwandler. „Und was ich ebenfalls sehr dreist von dir fand, war es, den Stein zu benutzen, um unbemerkt in meine Welt zu wechseln.“ Das Eichhörnchen sah zu den beiden. „Wirklich, sehr dreist.“

„Das war leider nötig“, sagte Agathe und war beinahe stolz darauf, wie ruhig sie ihre Stimme halten konnte, wenn man bedachte, mit wem sie da eigentlich sprach. „Und manchmal lässt es sich nicht vermeiden, zu unangenehmen Mitteln zu greifen, wenn man etwas erreichen will.“

Das Eichhörnchen stieß etwas wie ein spöttisches Lachen aus. „Noch mehr solcher dreisten Worte … Aber von euch beiden konnte ich auch nichts anderes erwarten“, sagte der Tod und sah plötzlich zu Basta. „An dich erinnere ich mich noch … Ich hatte seit Jahrzehnten keine so schwarze Seele wie deine mehr gehabt.“

Agathe spürte Basta hinter sich ein lautloses Lachen ausstoßen. „Dafür bin ich bekannt.“

„Und du“, sagte das Eichhörnchen zu Agathe und wandte sich wieder ihr zu. „Von dir habe ich schon immer gewusst, dass du ein Problem werden würdest, genau wie deine Mutter. Aber auch dich werde ich holen, genauso wie sie, denn …“

„Inwiefern war meine Mutter denn bitte ein Problem?“, hörte Agathe sich selbst plötzlich aufgebracht fauchen und fixierte das Eichhörnchen, das sie soeben unterbrochen hatte.

„Was denn? Du weißt es nicht?“ Das Eichhörnchen schüttelte sich, verlor all sein Fell und wurde plötzlich zu einem Marder.

Basta stieß ein genervtes Geräusch aus.

„Was hast du mit meiner Mutter zu tun gehabt?“, fragte Agathe und verschränkte entschlossen die Hände vor der Brust. Sie war eine Person mit großem Selbstwertgefühl, für gewöhnlich aber nicht für Konfrontationen geeignet – heute war das anders. Jetzt, wo es um ihre Mutter ging, hätte sie sich auch mit dem Tod persönlich angelegt.

„Falls du hoffst, sie jetzt noch zurückholen zu können, irrst du dich gewaltig“, sagte der Tod in seiner neuen Gestalt und mit der Stimme einer Frau. „Ihre Seele existiert nicht mehr. Ich habe sie vernichtet.“

„Vernichtet?“ Agathes Stimme wurde schrill, als sie dem Marder einen mörderischen Blick zuwarf. „Wieso das denn? Soll ich dir das etwa glauben?“

„Das wirst du wohl spätestens dann müssen, wenn du feststellst, dass du sie hier nicht finden kannst“, sagte der Tod gelassen, offenbar zufrieden damit, dass er Agathe hatte aus der Fassung bringen können. „Sie ist für immer verschwunden.“

„Welche Gründe hättest du denn, das mit ihr zu tun?“, fragte Agathe. „Von allen Leuten … wieso sie?“

„Wie gesagt – sie war ein Problem“, sagte der Tod. „Eine Hexe.“

„Blödsinn“, winkte Agathe ab. „Meine Mutter war keine Hexe, sondern eine gewöhnliche Frau. Und selbst wenn, das wäre trotzdem kein Grund. Es gab und gibt so viele Hexen und ich habe nie etwas davon gehört, dass ihre Seelen sich nach dem Tod auflösen. Das ist eine Lüge.“

„Ich vernichte ja auch nicht jede Hexenseele“, sagte der Tod. „Sondern nur bestimmte. Diejenigen, die besonders sind. Diejenigen, die versuchten, sich mir zu widersetzen und verbotene Magie benutzt haben.“

„Meine Mutter war aber keine von diesen Hexen“, zischte Agathe so wütend, dass sie ihr Gesicht rot anlaufen spürte. „Sie war überhaupt keine Hexe. Niemals.“

„Tatsächlich?“ Der Marder wedelte belustigt mit dem Schwanz. „Und wo, denkst du, hast du deine Erinnerungen über Magie her?“

Agathe klappte den Mund auf, um den Namen „Orpheus“ herauszuschreien, schloss ihn dann aber wieder, als ihr einfiel, was Basta mal zu ihr gesagt hatte. Dass Orpheus sich gar nicht mit dieser Art Magie befasste. Er las vor, und mehr auch nicht. Er brauchte richtige Texte, keine Zauberformeln.

Nein, nein, nein, das konnte doch nicht …

Wie aufs Stichwort trat Basta etwas näher an sie heran. „Ich habe dir doch gesagt, dass es nicht seine Erinnerungen gewesen sein konnten …“, flüsterte er kleinlaut.

„Nein!“, rief Agathe und weigerte sich, das alles zu glauben. „Aber was sonst? Was hatte Orpheus sonst mit der ganzen Sache zu tun gehabt, wenn er nicht … Ich glaube das nicht.“ Sie stampfte mit dem Fuß auf dem Boden auf. „Nein. Das akzeptiere ich so nicht.“

„Orpheus und deine Mutter hatten wirklich einen Handel“, sagte der Tod und ignorierte Agathes kindischen Proteste. „Allerdings sah er anders aus, als du es dir vorstellst. In Wirklichkeit war es nämlich folgendermaßen: deine Mutter hat verbotene Magie praktiziert, obwohl sie wusste, was für eine Strafe darauf folgt. Irgendwann hat sie Angst davor bekommen und zeitgleich wurdest du geboren. Sie beschloss, dir einen Fluch aufzuerlegen, der dich menschenscheu machte und dein Unterbewusstsein zu einem Raum werden zu lassen. Dafür reichte ihr Können. Um ihre Erinnerungen auf dich übertragen zu können, brauchte sie aber die Hilfe von irgendwem anders. Und dann traf sie – vor ungefähr zehn Jahren – auf Orpheus.“

„Du meinst, er hat ihr lediglich geholfen, ihre eigenen Erinnerungen wegzusperren?“, fragte Agathe heiser. „Warum?“

„Sie hat ihm vor zehn Jahren versprochen, dich ihm zu übergeben, sobald er die Erinnerungen in deinem Kopf hätte gebrauchen können.“ Der Tod lachte etwas gehässig. „Ganz schön egoistisch, oder? Einfach die ganze Verantwortung für ihr Handel auf dich zu schieben?“

„Vor zehn Jahren …“, murmelte Agathe, die die letzten Worte des Marders völlig überhört hatte. „Das ist doch …“ Genau die Zeit, zu der ich angefangen habe, mich für Magie zu interessieren, dachte sie im Stillen und spürte ihre Schultern sinken.

Konnte das sein? Konnte es sein, dass sie schon von Geburt an mit der Blockade in ihrem Kopf aufgewachsen war, erst mit fünfzehn aber die Erinnerungen ihrer Mutter eingesetzt bekommen hatte?

„Aber ich habe doch fünfzehn Jahre mit ihr gelebt, während sie noch eine Hexe war“, brach Agathe hervor. „Ich hätte doch bemerkt, wenn sie eine Hexe gewesen wäre. Ganz bestimmt.“

„Du konntest es doch bisher auch recht erfolgreich vor der Welt verstecken, oder nicht?“, fragte der Tod gelangweilt. „So ist es nun einmal. Deine Mutter hatte Angst vor den Konsequenzen ihres Handelns und wollte alles vergessen, damit sie in Ruhe sterben konnte. Wie feige.“

„Was hat sie denn so Schlimmes getan?“, fragte Agathe nun viel ruhiger und hörte etwas Gebrochenes aus ihrer Stimme heraus.

„Sie hat sich in meine Angelegenheiten eingemischt“, fauchte der Tod. „Erlernt, wie man Menschen wiederbeleben kann, wie man die weißen Frauen ruft … und das wird von mir nicht geduldet.“

„Du vernichtest die Seelen jener, die dagegen verstoßen?“, fragte Agathe trocken. „Das ist die Strafe. Und meine Mutter hatte Angst davor und wollte es vergessen, um in Ruhe sterben zu können. Unglaublich.“

„Sie wollte alles vergessen, was jemals mit Magie zu tun gehabt hat“, sagte der Tod. „Die letzten zehn Jahre hat sie friedlich verbracht, ohne jede Erinnerung an ihr früheres Dasein als Hexe. Bis Orpheus dann gekommen ist, um dich zu holen.“

Agathe griff an ihren Kopf. So langsam machte er das alles nicht mehr mit.

„Na?“, hörte sie den Marder fragen. „Tut es weh? Ein Werkzeug zu sein?“

„Reicht es nicht langsam?“, fragte Basta knurrend.

Agathe war dankbar für seinen Versuch, zu helfen, aber das hier hätte niemand hinbiegen können. „Und ich nehme an, dass mich diese Strafe nun auch treffen wird, wenn ich sterbe?“, fragte sie leise und sah zu dem Tod. Schließlich hatte sie eben genau dasselbe getan.

In ihrem Magen drehte sich alles – jedoch nicht vor Angst vor der Strafe, die Leute wie sie traf. Sie fürchtete sich nicht davor. Sie war nicht so feige wie ihre Mutter, die alles auf sie geschoben hatte … Sie ihr ganzes Leben lang nur benutzt hatte. Ihre Mutter war bereit gewesen, Agathe einfach so an Orpheus zu übergeben, an diesen elenden Hund. Nur, um nicht mehr mit der Angst vor dem Tod leben zu müssen.

Heiße Tränen füllten Agathes Augen.

„Was für ein schlaues Ding“, schnurrte der Tod in seiner Mardergestalt. „Natürlich wird dich dieselbe Strafe treffen.“

„Das kannst du vergessen.“

„Wie?“ Sowohl Basta, als auch der Tod sahen Agathe an, als hätte sie den Verstand verloren, also sie so heftig antwortete.

„Du wirst mich nicht bekommen“, presste Agathe heraus und wischte sich auf aggressive Weise die Tränen aus dem Gesicht. „Und deine dämliche Strafe kannst du dir sonst wo hin stecken.“

„Kein Grund ausfallend zu werden, nur weil deine Mutter dich benutzt hat“, sagte der Tod. „Das ist nicht meine Schuld. Sie wusste genau, dass …“

„Halt die Klappe.“ Es kamen neue Tränen nach, während Agathe das sagte, aber diese wischte sie nicht mehr weg. Stattdessen konzentrierte sie sich darauf, dem Tod entgegen zu blicken. „Ich habe gesagt, dass du mich nicht bekommen wirst. Diesen Triumph lasse ich dir nicht.“

„Nh?“ Etwas genervt peitschte der Marder durch die Luft. „Und was hast du vor, hmm? Niemand ist unsterblich und irgendwann werden wir beide uns doch über den Weg laufen müssen.“

„Ich werde mir schon etwas einfallen lassen“, zischte Agathe. „Das kannst du mir glauben.“

„Mach, was du willst“, seufzte der Marder. „Ich kann sogar verstehen, dass du dich jetzt irgendwie anders beschäftigen willst, nachdem du erfahren hast, dass du deine Mutter nicht zurückholen kannst. Soll mir recht sein. Damit du aber nicht wieder auf dumme Gedanken kommst …“

Agathe spürte Hitze an ihrer Brust und als sie erschrocken hinunter sah, platze der Stein um ihren Hals einfach. Er zersprang in viele kleine Stücke, die über den Grund des Todesreiches verstreut wurden und mit dem tiefen Schwarz dieser Welt verschmolzen.

„Verdammt“, keuchte sie und wusste, was das bedeutete. Sie würden noch zurück, aber nicht mehr herkommen können – denn selbst mit ihrem neuen Wissen kannte sie keinen anderen Weg dafür, als diesen Stein.

„Ich wünsche euch noch eine angenehme Zeit, bis zu unserer nächsten Begegnung“, schnurrte der Tod, bevor er sich abwandte. „Es wird unsere letzte sein.“

- Kapitel 42 -

 

Nicht nur beim Betreten, sondern auch beim Verlassen des Todesreiches wurde Agathe von diesem Rausch überkommen, der ihr kurz all ihre Sinne raubte, weshalb sie keine Zeit hatte, sich besonders zu sammeln. Das führte dazu, dass sie nicht auf den Beinen, sondern auf den Knien aufschlug, als sie in ihre eigene Welt zurückgestoßen wurde.

Es war ein harter Aufprall.

„Au“, machte Agathe ächzend und ließ sich zur Seite kippen, sobald sie auf dem Boden aufgeschlagen war. Sie lag völlig zitternd da und konnte nicht anders, als die Arme um ihre Knie zu schlingen, um das Beben ihres Körpers zu unterdrücken.

Neben sich hörte sie, wie Basta leise vor sich hin fluchte. Auch er war nicht auf den Beinen gelandet, sondern war hingefallen, was ihm in seiner festen Gestalt genauso viel ausmachte wie ihr.

„Scheiße“, kam es unter der Decke auf Kiriakis Bett hervor. Sie waren immerhin wieder im Zimmer des Mädchens aufgetaucht, dort, wo das Portal war. „Was macht ihr für einen Lärm, verdammt?“ Trotz ihres unzufriedenen Tonfalles kam Kiriaki nicht unter der Decke hervor. Sie wollte kein Licht sehen.

„Wir waren auf einer kleinen Reise“, knurrte Basta. Ein paar Sekunden war alles still. „Hey“, sagte er dann und Agathe wusste, dass es an sie gerichtet war, auch wenn sie ihn nicht anblickte. „Alles in Ordnung?“

„Nein“, antwortete sie wahrheitsgemäß und spürte einen salzigen Geschmack im Mund. Ihre Tränen hörten nicht auf, ganz egal, wie sehr sie versuchte, sie wegzublinzeln und liefen weiter über ihre Wangen.

Agathe fühlte sich, als hätte man sie durchgekaut und wieder ausgespuckt.

„Kannst du aufstehen?“, fragte Basta und sie bemerkte, wie ein Schatten über sie fiel, als er vorsichtig an sie heran trat.

„Ich will nicht.“

„Agathe …“

„Ich will nicht“, wiederholte sie etwas schärfer, konnte ein Aufschluchzen aber nicht verhindern. Agathe vergrub das Gesicht in den Händen und versuchte, ihr Weinen darin zu ersticken.

Basta wurde leise. Kiriaki stieß wieder ein gequältes Seufzen aus.

Agathe kam diese Stille nur gelegen. Am liebsten hätte sie auf der Stelle das Bewusstsein verloren, nur um diesen ganzen Gefühlen für ein paar Stunden entkommen zu können – aber so funktionierte das nun einmal nicht und jetzt musste sie da liegen, verletzt und traurig über die Erkenntnis, dass ihre Mutter sie ihr ganzes Leben lang offenbar nur benutzt hatte.

Nie. Nie hätte Agathe sich das erträumen lassen können und es machte sie so unbeschreiblich wütend und verzweifelt.

Woran konnte sie denn jetzt noch glauben?

„Agathe“, versuchte Basta es nach einer gewissen Zeit erneut und sie hörte, wie er neben ihr in die Hocke ging. „Steh jetzt bitte auf. Der Boden ist kalt.“

Das war er tatsächlich. Agathes Gesicht, das sie an den kühlen Stein presste war bereits etwas taub und sie rang sich dazu durch, die Hände von ihren Augen zu nehmen und sich aufzusetzen. Basta musterte sie besorgt, fasste sie aber nicht an. Er war sich noch unsicher wegen ihren Berührungsängsten.

„Scheiße“, murmelte Agathe und wischte sich über das feuchte Gesicht, ehe sie sich hochrappelte. Das Aufrichten beanspruchte heute mehr Kraft, als sie es jemals für möglich gehalten hätte und als sie stand, fühlten sich ihre Knie so schwach an, dass sie glaubte, gleich wieder umzukippen.

„Tut mir leid“, sagte Basta plötzlich und Agathe sah ihn mit verheulten Augen an.

„Was?“, schluchzte sie.

„Das alles.“ Basta fühlte sich sichtlich unwohl in seiner Lage und Agathe kannte diese Situation nur zu gut. Sie war ja selbst nicht die beste darin, wenn es darum ging, Mitleid zu empfinden. „Und es tut mir auch leid, dass ich nicht mehr dazu zu sagen habe“, seufzte er.

„Sie hat mich benutzt“, zischte Agathe. „Sie war zu feige, die Konsequenzen ihres Handelns zu tragen und hat alles mir zugeschoben.“

„Leute … Bitte“, kam es stöhnend unter der Decke hervor.

„Entschuldige“, sagte Agathe halbherzig und drehte sich um.

„Wohin gehst du?“, fragte Basta sofort.

Agathe antwortete nicht. Ein wenig taumelnd stürmte sie aus dem Raum auf den Gang hinaus und rannte dort geradewegs in die Wand hinein, um nicht zu fallen. Mit den Händen stützte sie sich daran ab und tastete sich dann langsam zur Seite, zu ihrem eigenen Zimmer. Sie hatte die Tür fast erreicht, als sie hörte, wie Basta ihr hinterher kam.

„Was hast du jetzt vor?“, fragte er, als er sie eingeholt hatte.

„Lass mich in Ruhe“, flüsterte Agathe und wollte in ihr eigenes Zimmer, aber Basta kam ihr zuvor. Er stellte sich vor die verschlossene Tür und lehnte sich dagegen. Frustriert funkelte Agathe ihn an. „Geh weg.“

„Nein.“

„Basta, du sollst bei Seite gehen.“

„Der Vorteil davon, eine Komplizin statt einer Herrin zu haben, ist der, dass man keine Befehle mehr befolgen muss“, sagte Basta mit einem schwachen Hauch von Humor in der Stimme.

„Das ist nicht witzig.“ Agathe ballte die Hände zu Fäusten. „Lass mich bitte rein.“

Sie hätte um sich schlagen und laut schreien können – vor allem jetzt, seit sie von diesem Schleier über ihren Sinnen befreit war. Agathe war bisher gar nicht bewusst gewesen, dass sie ihre Gefühle hatte nie richtig ausleben können, weil ihr ganzer Kopf von dieser Blockade beeinflusst worden war.

Jetzt war es so, als würde sie die Welt viel klarer sehen und alle Gefühle, die für sie vorher viel stumpfer empfunden hatte schnitten nun scharf und spitz in ihre Seele: Wut, Trauer, Verzweiflung, Verwirrung und … Lust.

Agathe keuchte auf, als das Gefühl, das bisher wohl am meisten unterdrückt worden war in ihr aufwallte und ihren Körper ganz warm werden ließ.

Das war … in jeder Hinsicht fremd für sie.

„Ich kann verstehen, wenn du allein sein willst“, sagte Basta und riss sie aus ihren Gedanken. „Aber ich glaube, dass du gerade nicht ganz auf der Höhe bist und … ich will nicht, dass du auf dumme Gedanken kommst und deine Magie für sonst was nutzt. Also …“ Er räusperte sich. „Ich würde lieber in der Nähe bleiben.“

Agathe presste die Lippen zusammen und sah ihn nur schweigend an.

Da aber keine Proteste kamen, schien er anzunehmen, dass sie nichts einzuwenden hatte. Mit einem Seufzen drehte Basta sich um und legte eine Hand auf die Türklinke, um diese runter zu drücken, hielt aber mitten in der Bewegung inne, als Agathe ihm plötzlich von hinten beide Hände an die Hüften setzte.

Es war bloß ein Test. Sie hatte endgültig sehen wollen, wie viel ihr Berührungen ausmachten und stellte fest, dass kein Schmerz kam. Kein unangenehmes Jucken, kein brennendes Kribbeln. Nichts – nur die Wärme in ihrem Inneren wurde noch etwas heißer.

Basta war bei der Berührung erstarrt und stand nun stocksteif da. Das hatte er sicher nicht kommen gesehen.

„Überrascht?“, fragte Agathe leise und schlang ihre Arme nun um seinen Oberkörper, sodass sie sich gegen seinen Rücken drücken konnte. Sie legte ihr Kinn auf seiner Schulter ab.

Basta, immer noch unbewegt, begann, seinen Kopf langsam zur Seite zu drehen, sodass er Agathe aus dem Augenwinkel sehen konnte, wobei ihre Wangen gegeneinander strichen. „Ein wenig.“ Er klang mehr als verunsichert. Fast schockiert.

„Kann ich verstehen“, murmelte Agathe und vergrub ihr Gesicht an seinem Hals, während ihre Hände den Stoff seines Hemdes umschlossen. Sie zog seinen Geruch ein und ließ ihren eigenen Atem mit voller Absicht über seine Haut streichen.

„Du hast deine Berührungsängste also überwunden?“, fragte er trocken und versuchte scheinbar krampfhaft, sich zusammenzureißen. „Das habe ich mir fast schon gedacht.“

„Du bist ja auch derjenige, der mir dabei geholfen hat“, sagte Agathe leise und begann, mit dem obersten Knopf seines Hemdes zu spielen. Ihr anderer Arm umschloss immer noch seinen Bauch.

„Hmm?“

„Ich helfe dir auf die Sprünge“, sagte Agathe und löste mit einer geschickten Handbewegung endlich den ersten Knopf, bevor sie ihre Finger zu dem nächsten wandern ließ. „Erinnere dich einfach mal an alle Träume, die du in letzter Zeit so hattest und dann müsste es dir eigentlich klar sein.“

Basta stieß ein nervöses Lachen aus. „Ich wusste es“, murmelte er und drehte sein Gesicht wieder zur Tür, bevor er den Kopf in den Nacken legte. „Ich wusste doch, dass es kein Traum war, aber ich hielt es … für unmöglich.“ Er wusste sofort, wovon sie sprach.

„In Zukunft solltest du vielleicht doch etwas weniger trinken“, sagte Agathe verschmitzt, sobald sie sein Hemd endgültig geöffnet hatte.

„Vielleicht“, murmelte er nur.

Agathe ließ ihre Hände unter sein offenes Hemd gleiten und strich über die warme Haut darunter, bevor sie ihre Lippen sanft an seinen Hals presste. Sie spürte Basta vor Überraschung kurz schaudern und dann, dann begann er langsam sich zu entspannen.

„Was gestern passiert ist“, flüsterte Agathe gegen seinen Hals und spielte damit auf den Kuss an. „Wolltest du das schon länger tun?“

„Ich weiß nicht genau“, gestand er. „Es ist einfach irgendwie so gekommen, nachdem ich dich und Staubfinger belauscht hab.“

Eifersucht hatte Agathe bis her noch nie selbst empfunden, aber sie verstand das Prinzip. Sie drückte ihre Hände weiterhin gegen Bastas Haut, ließ sie nun aber tiefer wandern, sodass sie die Fingerspitzen in seinen Hosenbund schieben konnte.

Jetzt spannte er sich wieder an.

„Hast du eine Schwäche für mich?“, fragte Agathe leise.

Keine Antwort.

„Dreh dich um“, befahl Agathe daraufhin und entfernte ihre Hände.

Basta gehorchte nur zögerlich und als er sich ihr zuwandte, lächelte Agathe ihm mit immer noch verheultem Gesicht zu. Er berührte mit einer Hand ihre Wange und wischte mit dem Daumen etwas von den Tränen weg.

„Das ist so seltsam“, sagte er abwesend.

Agathe verstand nur zu gut, was er meinte – denn sie wäre die letzte gewesen, die sich hätte vorstellen können, dass sie jemals in so eine Situation geraten würde. Dennoch. Sie hatte nun beinahe ihr gesamtes Leben ohne menschlichen Kontakt verbracht und sie war nicht länger bereit, ihrem Körper diese Freude zu verweigern.

Dass Basta sie ohnehin mochte, kam ihr dabei nur gelegen.

Agathe griff hinter ihn und drückte die Türklinke runter, sodass sich die Tür zu ihrem Zimmer nach innen hin öffnete. Etwas grob stieß Agathe Basta nach hinten und er stolperte zurück, bis er sich im Zimmer befand. Agathe folgte ihm schnell und schloss die Tür hinter sich, grinsend.

Basta grinste mittlerweile auch, jedoch nach wie vor etwas unsicher.

„Komm her“, sagte Agathe und war gleich darauf wieder bei ihm. Sie schlang ihm die Arme um den Hals und lehnte sich vor, um ihn zu küssen. Die Hitze in ihrem Bauch vergrößerte sich, als ihre Lippen sich berührten und sie öffnete ihren Mund, um ihm zu zeigen, dass er alles wagen durfte.

Basta packte ihre Taille und erwiderte den Kuss, bevor er seine Hände etwas tiefer wandern ließ. Agathe trug immer noch Hosen und konnte daher eins ihrer Beine um seine Hüfte schlingen – das andere wurde daraufhin von Basta gestützt, sodass er auch ihr zweites Bein um sich wickeln konnte, nur, um Agathe einige Sekunden später auf dem Bett abzusetzen.

„Kiriaki schläft vermutlich wieder“, grinste Agathe ihm zu, nachdem sie den Kuss gelöst hatten. Basta lehnte sich über sie und stemmte sich mit einem Knie an dem Bett ab, dabei schob er es sanft zwischen ihre Beine.

„Gerade zu perfekt“, murmelte er und lehnte sich wieder zu ihr vor. „Wirklich.“  

- Kapitel 43 -

 

„Hättest du dir jemals vorstellen können, wie sich das Ganze eigentlich entwickelt?“, fragte Agathe, das Gesicht halb im Kissen vergraben, die Decke über den nackten Körper gezogen.

Basta saß mit dem Rücken zu ihr auf der Bettkante und dehnte seinen Nacken, die Hose hatte er wieder angezogen, aber das Hemd lag noch auf dem Boden und so hatte Agathe einen perfekten Blick auf die Tätowierungen an seinen Armen.

„Wovon genau sprichst du?“, fragte er. „Von uns? Oder von allem?“

„Von irgendwas“, grinste Agathe. „Hättest du dir früher vorstellen können, dass irgendwas von dem, was heute ist, auch so passieren würde?“

„Nein“, gestand er und sah mit halbgeschlossenen Augen über die Schulter zu ihr. „Eigentlich hätte ich erwartet, dass du mir dabei hilfst, Capricorn zurückzuholen. Dass wir Orpheus töten und dass du es irgendwie schaffst, deine Mutter zurück ins Leben zu rufen. Und dann wären wir beide getrennte Wege gegangen. Aber stattdessen …“

„Stattdessen kriegt keiner von uns beiden, was er anfangs gewollt hat“, beendete Agathe seinen Satz für ihn und drehte sich auf den Rücken. Sie streckte ihre Arme. „Aber Orpheus werden wir töten“, sagte sie entschlossen. „Den Hund lasse ich nicht einfach so davonkommen.“

„Eine Frage wäre bloß, was wir machen, nachdem wir ihn erwischt haben“, murmelte Basta und setzte sich so auf die Bettkante, dass er sie ansehen konnte. Mit der gesteigerten Leistung ihrer Augen konnte Agathe das Blau seines Blickes inzwischen noch besser erfassen und es ließ ihr einen Schauer über den Rücken jagen, wie sehr diese Augen sie manchmal fixieren konnten.

„Worauf hättest du denn Lust?“, fragte sie und legte einen Arm hinter ihren Hals, mit dem anderen hielt sie die Decke über ihrem Oberkörper. „Mit dem Wissen, das ich jetzt von meiner Mutter bekommen habe, könnten wir eigentlich die ganze Welt beherrschen.“

Er stieß ein raues Lachen aus. „Klingt ja wirklich nicht schlecht.“

„Was würdest du eigentlich davon halten, die Kleine weiterhin bei uns zu behalten?“, fragte Agathe, woraufhin Basta aber nur eine Augenbraue hob.

„Du willst sie um dich haben? Wieso das denn?“

„Wieso nicht?“, fragte Agathe und zuckte die Schultern. „Ich finde zur Zeit alles gut, so wie es ist und hätte nichts dagegen, alles auch genau so beizubehalten. Ich mag sie und ich lebe mein jetziges Leben gerne.“ Sie drehte sich auf die Seite und stützte den Kopf auf einem Arm. „Bitte.“

Ihr war bewusst, dass er ihren Worten entnahm, dass sie auch ihn gerne um sich hatte, was ihn auf jeden Fall etwas besänftigte. „Wenn dich das glücklich machen würde“, sagte Basta mit einem warmen Funken in den Augen, bevor er nach ihrer Hand griff und sie zu seinen Lippen führte. Amüsiert beobachtete Agathe, wie er ihren Handrücken küsste. „Auch wenn ich überhaupt nicht verstehen kann, was du an ihr hast.“

„Du wirst dich auch noch an sie gewöhnen“, sagte Agathe und zog ihre Hand zurück, als er sie wieder losließ.

Basta kommentierte das nur mit einem Lächeln.

Dann wurde sein Gesicht jedoch wieder ernst und er räusperte sich. „Hör mal“, meinte er dann. „Das, was mit deiner Mutter passiert ist …“

„Vergiss es einfach“, winkte Agathe ab und musste zugeben, dass die letzten Minuten ihren Zorn hatten verrauchen lassen. Es hatte gut getan, das Ganze irgendwo auszulassen. Oder an irgendwem. „Man kann da nun einmal nichts machen. Und ich werde den Teufel tun und weitere Gedanken an diese Frau verschwenden.“

Er war noch nicht überzeugt. „Und du bist dir sicher, dass du das so leicht vergessen kannst?“

„Schon geschehen“, versicherte Agathe, auch wenn das natürlich gelogen war. Eine kleine, oder vielleicht nicht ganz so kleine Wunde würde bleiben, das stand fest.

Aber sollte sie deswegen ihr ganzes Leben lang unglücklich sein?

Basta sah sie noch ein paar Sekunden lang unsicher an, bevor etwas anderes seine Aufmerksamkeit zu erregen schien und er plötzlich sein Hemd aufhob. Er streifte es sich über und knöpfte es dann hastig zu, dabei einen leicht genervten Ausdruck im Gesicht.

„Hast du es auf einmal irgendwie eilig?“, fragte Agathe und hob eine Augenbraue.

„Wir kriegen Besuch“, knurrte er nur, als er fertig war.

Und nur wenige Sekunden später waren sie nicht mehr alleine – Staubfinger tauchte so plötzlich in der Mitte des Raumes auf, dass Agathe scharf Luft holte.

Sie drehte sich einmal auf dem Bett, um die Decke fester um ihren Körper wickeln zu können und legte sich dann mit dem Gesicht zur Seite, sodass sie die beiden Männer sehen konnte.

„Ich hab ihn“, sagte Staubfinger ohne jedes Wort der Begrüßung, als er die beiden erblickte.

„So schnell?“, fragte Basta skeptisch. „Du warst kaum zwei Tage unterwegs.“

„Es war nicht besonders schwer. Er ist in Ombra.“

„Ach, was.“ Ungläubig verschränkte Basta die Hände vor der Brust. „So leichtsinnig ist er? Ich hätte nicht gedacht, dass er sich dahin traut, nach allem, was in der Vergangenheit passiert ist …“

„Besonders versteckt hat er sich aber auch nicht“, sagte Staubfinger. „Ist einfach über die offene Straße gegangen und ich bin ihm bis nach Hause gefolgt. Ich weiß jetzt, wo er steckt.“

„Und wo?“, wollte Basta wissen.

„Du müsstest die Gegend kennen. Sie wird von den gewöhnlichen Bewohnern gerne gemieden“, sagte Staubfinger mit einem unklaren Unterton in der Stimme. „Liegt eher am Stadtrand. Du weißt schon, dort, wo sich gerne mal üble Gestalten rumtreiben … Und wo Capricorn gerne mal zwei oder drei seiner Leute hat Leben lassen, wenn er öfter Berichte aus Ombra haben wollte …“

„Ich erinnere mich“, sagte Basta, dem ein Licht aufzugehen schien. „Da musste ich auch mal für ein paar Monate verweilen, mit ein paar Vollidioten im Rücken.“ Er lachte auf. „Gerade zu perfekt als ein Versteck.“

„Nicht wahr?“, fragte Staubfinger.

„Heißt das, du kannst ihn noch heute aufsuchen?“, fragte Agathe Basta und lenkte somit die Aufmerksamkeit der beiden Männer auf sich.

„Ich denke schon“, sagte Basta gedankenverloren.

Staubfinger schwieg – sein Blick wich kurz zu Agathes Hemd, das immer noch auf dem Boden lag und wanderte dann zu ihr. Als sie ihn verlegen angrinste, verdrehte er die Augen. Eure Sache, sollte das wohl heißen. Schließlich war es auch nicht besonders schwer zu erraten, was eben geschehen sein musste.

Dass Bastas Haar immer noch völlig durcheinander und sein Hemd falsch geknöpft war, half auch nicht wirklich.

„Willst du jetzt gleich zu ihm?“, fragte Agathe.

„Wäre das nicht besser?“, entgegnete Basta fragend und sah sie an. „Bevor er die Zeit hat, sich wo anders zu verkriechen.“

„Ich schätze, du hast recht“, meinte Agathe und lächelte dann. „Na los. Geh und mach, was wir beide uns so sehr wünschen. Bring dieses Schwein endlich um.“

„Soll ich mitkommen?“, fragte Staubfinger emotionslos. Agathe konnte sich vorstellen, dass er von seinem eigenen Vorschlag nicht begeistert war.

„Zeig mir, in welchem der Häuser er sich befindet“, sagte Basta zu dem Feuerspucker. „Den Rest übernehme ich allein.“

„Wie du willst.“ Mit einem letzten Blick auf Agathe löste Staubfinger sich wieder in Luft auf und ließ die beiden kurz wieder für sich.

„Bis später“, sagte Basta etwas zu sanft an Agathe gewandt und folgte dann Staubfingers Beispiel.

Agathe war mit einem Mal allein.

„Was für ein Tag“, stieß sie langsam die Luft aus und schlüpfte unter der Decke hervor, um sich anzuziehen.

Sie musste gestehen, dass sie nicht genau wusste, was sie hätte denken sollen. Einerseits war sie gekränkt, wegen so ziemlich allem, was sie hatte heute vom Tod erfahren müssen. Wenn sie aber daran zurückdachte, wie sehr ihr die Zeit mit Basta von eben und der Gedanke, Orpheus tot zu sehen gefielen, überkam sie wieder etwas wie Glück.

Es war fast so, als wäre sie hin und her gerissen zwischen Trauer und Freude.

Vielleicht war heute ja ein besserer Tag, um sich im Trinken zu versuchen?

„Kiriaki?“, rief Agathe auf halbem Weg, als sie ihr Zimmer verließ. „Kiriaki, schläfst du noch?“

„Geh weg“, hörte sie eine müde Stimme aus dem Zimmer des Mädchens kommen.

„Es ist langsam an der Zeit, aufzustehen“, sagte Agathe tadelnd, als sie die offene Tür erreicht und den Raum betreten hatte. Kiriaki lag immer noch unter ihrer Decke versteckt und nur einige wirre Haarsträhnen lugten darunter hervor, zusammen mit einer ihrer Hände, die schlaff vom Bettrand hing.

„Agathe. Hau ab.“

„Lass uns nach unten gehen. Wenn du genug isst und viel Wasser trinkst, wird es dir sofort besser gehen“, sagte Agathe, was sie aus einem ihrer Gespräch mit ihrem vorletzten Verlobten wusste, und trat an das Bett heran.

„Kannst du es mir nicht hochbringen?“ Er regte sich etwas unter der Decke, das Mädchen kam aber nicht hervor.

„Wer bin ich? Dein Dienstmädchen?“

„Sag Basta, dass er es tun soll.“

„Basta ist nicht da. Gerade verschwunden.“

„Hmm.“

„Willst du gar nicht wissen, wohin?“

„Nicht so laut“, stöhnte Kiriaki und drehte sich gequält unter der Decke.

Agathe seufzte. Das würde noch schwer werden, mit dem Mädchen. „Na los, Kiriaki“, sagte sie noch einmal und griff nach deren hervor hängenden Hand, bevor ein atemberaubender Ekel sie überkam.

Laut zischend stolperte Agathe zurück und ließ Kiriakis Hand so abrupt los, wie es ihr nur möglich war, denn sie spürte bereits, wie ihr alles hoch kam.

Was zur Hölle … war denn bitte das?!

„Wie ..?“, stotterte Agathe und betrachtete in purem Horror zuerst ihre eigene, und dann Kiriakis Hand. Das, was sie empfand war nicht zu vergleichen mit dem Gefühl von früher, wenn sie jemanden berührt hatte – früher hatte es unerträglich wehgetan und gebrannt gejuckt, gezwickt … Jetzt war da lediglich noch pure Abneigung, aber dennoch.

Sie hatte ihre Berührungsängste doch überwunden.

Sie hatte sogar mit Basta geschlafen.

Wieso geschah das nun wieder mit ihr?

„Kiriaki“, brach sie mit bebender Stimme heraus. „Ist es möglich, sich nach dem Beenden eines Fluches trotzdem genauso zu verhalten, wie man es währenddessen getan hat, weil man … sich daran gewöhnt oder so?“ Anders konnte sie es sich nicht erklären.

Nein, nein, denk an Basta, redete sie im Stillen auf sich ein. Basta konntest du berühren. Das bildest du dir ein.

„Das fragst du mich wirklich jetzt?!“, kam es unter der Decke hervor.

„Kiriaki, bitte!“, flehte Agathe heiser. Ihr war ganz schwindelig vor Entsetzen. Da dachte man, dass man endlich erlöst war und dann sowas … „Es ist wichtig!“

„Schrei nicht so!“, flehte Kiriaki und seufzte dann geschlagen. Sie schob die Decke so weit bei Seite, dass sie mit einem halbgeöffneten Auge zu Agathes fassungslosem Gesicht hochschielen konnte. „Was ist jetzt das Problem?“, knurrte sie.

„Ein Fluch“, sagte Agathe. „Ich stand seit Jahren unter einem Fluch und er ist erst vor wenigen Stunden gebrochen worden, aber es hat sich nichts verändert. Ich benehme mich noch genauso, wie davor.“

„Wie viele Jahre waren es denn, wenn ich fragen darf?“

„Mein ganzes Leben, besser gesagt.“ Agathes Stimme war nur noch ein Flüstern, während ihr der Schweiß ausbrach.

Was bedeutete das nur?

Kiriaki stieß ein Schnauben aus. „Und da wunderst du dich?“

„Wie meinst du das?“

„Wenn Leute zu lange unter einem Fluch stehen, der ihr Verhalten beeinflusst, verinnerlichen sie ihr Handeln irgendwann. Das heißt, dass sie selbst nach Beenden des Fluches nicht aufhören, zu handeln, wie sie es bisher getan hatten, weil … na ja, weil sie es eben nicht anders kennen.“

„Aber Basta …“, murmelte Agathe und umschloss ihr brennendes Gesicht mit den Händen, bevor sie einige Schritte zurücktrat.

„Was ist mit dem? Steht er auch unter einem Fluch, oder wie? Und was war eigentlich dein Problem?“, fragte Kiriaki und klang nun etwas wacher, wenn auch immer noch kränklich. „Du hast nie etwas von einem Fluch erwähnt.“

„Basta …“, murmelte Agathe und ignorierte die Fragen des Mädchens.

Ihr Körper kannte es nicht anders, als mit Ekel auf die Berührung anderer zu reagieren. Sie hätte jetzt, wo der Fluch gebrochen war, ernsthaft anfangen können, zu versuchen, dagegen anzukämpfen, aber es änderte nichts daran, dass ihre Berührungsängste sich nicht einfach aufgelöst hatten.

Dennoch hatte sie Basta berühren können. Sie hatte es nicht nur einfach tun können, sie hatte es mit vollen Zügen genossen, obwohl alles, was Kiriaki ihr eben gesagt hatte, dagegen sprach. Laut dem Mädchen hätte sie weiterhin niemandem zu nahe kommen können.

Und leider wusste Agathe ganz genau, was das bedeutete. In allen Büchern, die sie bisher gelesen hatte, gab es immer einen Weg, so ziemlich jeden Zauber zu überwinden. Egal ob Fluch, Trank oder sonstiges in dieser Richtung – es gab immer ein Mittel, mit dem man sich selbst über die mächtigste Magie hinwegsetzen konnte.

„Liebe“, flüsterte Agathe und vergrub ihr Gesicht vollständig in den Händen. Sie sah noch, dass Kiriaki sie verwirrt musterte, als sie etwas schwach in die Knie sank und sich selbst bewusst machte, wie schwer es sie eigentlich erwischt hatte.

Sie mochte Basta nicht einfach nur. Nicht als Freund, nicht als Komplizen.

„Ich bin in ihn verliebt“, murmelte sie und sprach somit laut aus, was ihr zum ersten Mal durch den Kopf ging. Denn Agathe hätte früher nicht einmal gewagt, diesen Gedanken innerlich zu denken. „Ich hab mich in den Mistkerl tatsächlich verliebt.“

- Kapitel 44 -

 

„Wir machen das jetzt schon seit so vielen Tagen“, jammerte Athina, die sich im Schneidersitz auf Orpheus‘ Tisch hingesetzt hatte und ihn dabei beobachtete, wie er neben ihr voller Konzentration auf ein Blatt Papier irgendwelche Texte warf.

Orpheus, wie immer, reagierte kaum auf ihre Beschwerden. Nicht einmal genervt schien er von ihr zu sein, was Athina nur noch mehr zur Weißglut trieb. Denn sonst hätte sie vielleicht einen Streit vom Zaun brechen können, der ihr geholfen hätte, ihre Spannungen loszuwerden – so musste sie ihre ganze Nervosität aber über sich ergehen lassen.

„Ich weiß“, sagte Orpheus bloß gelassen, der nicht einmal aufsah, als er mit ihr sprach, sondern weiter seinen Stift über das Blatt fliegen ließ.

Athina verdrehte den Kopf und starrte auf das Papier, an dem er schon so lange saß und versuchte, etwas zu entschlüsseln, auch wenn es von vorne rein klar war, dass sie nichts hätte verstehen können. Sie konnte nicht lesen und bei dieser Dunkelheit hier unten wunderte es sie fast, dass Orpheus nicht auch daran versagte.

Sie befanden sich im Keller des Hauses, in das Orpheus sie nach der Auslöschung der weißen Hexen gebracht hatte und lagen auf der Lauer. Sie warteten, bis eine Gelegenheit kommen würde, um ihren gemeinsamen Plan zu verwirklichen – und das schon seit einiger Zeit.

„Bist du dir denn überhaupt sicher, dass er kommen wird?“, fragte sie ihn, weil reden momentan das einzige war, wodurch sie sich ablenken konnte. Während Orpheus rein und raus ging, wie es ihm gefiel, hatte Athina ihre letzten Tage nur im Haus verbracht, weil sie nicht gesehen werden durfte.

Das nervte.

„Bestimmt“, sagte Orpheus und lehnte sich zum ersten Mal zurück. Er arbeitete ständig hart an dem, was er schrieb, auch wenn Athina keine Ahnung hatte, was es ihm brachte. „Sowohl Basta, als auch Agathe haben noch beide eine Rechnung mit mir offen und ich glaube wirklich nicht, dass sie vorhaben, mich entkommen zu lassen. Mit großer Wahrscheinlichkeit lässt Agathe Basta nach mir suchen und ich bin nicht umsonst die letzten Tage die ganze Zeit durch die Stadt gelaufen. Falls er hier auch sucht, müsste er mich bald bemerken und mir dann nach Hause folgen.“ Orpheus sah über die Schulter. „Und wenn er hier ist, können wir ihn kriegen.“

Für den Fall, dass dieser Basta sich entschlossen hätte, Orpheus nicht zu folgen, sondern ihn gleich auf der Straße zu erledigen, obwohl so viele Leute dabei gewesen wären, hatte Athina ihm ein Kreuz mitgegeben, das Geister abwehrte.

„Und du denkst auch wirklich, dass es genau diese beiden waren, die die weißen Hexen ausgelöscht haben?“, fragte Athina grimmig und spielte mit einer verfilzten Haarlocke herum.

„Ich bin davon überzeugt.“

Das war der einzige Grund, weshalb Athina überhaupt hier war. Orpheus hatte ihr versichert, dass sie, wenn sie ihm half, diese beiden Leute namens Agathe und Basta auszuschalten, selbst ebenfalls völlig sicher wäre. Seit der Auslöschung der weißen Hexen hatte Athina nämlich etwas wie Angst um ihr Leben empfunden – vor allem, weil Kiriaki immerhin auch hinter dieser ganzen Sache steckte und sich wahrscheinlich nach wie vor rächen wollte.

„Du …“ Athina stockte, als sie eine Art Schauer über ihren Rücken laufen spürte und sprang augenblicklich auf, sodass sie mit den nackten Füßen auf dem Boden landete.

Etwas irritiert sah Orpheus zu ihr. „Was ist los? Denkst du, er …“

Weiter kam er nicht, denn genau in diesem Moment tauchte mitten im Raum eine Gestalt auf und Athina konnte trotz der leichten Dunkelheit einen Mann mit dunklem Haar und weißem Hemd erkennen. Ihre Blicke trafen sich kurz, aber an Orpheus schien er viel interessierter zu sein, denn er sah direkt danach zu ihm und blieb mit den Augen an ihm hängen.

Dann breitete sich auf seinem Gesicht ein Grinsen aus. „Hab ich dich.“

„Ich würde viel eher sagen, dass ich dich habe“, bemerkte Orpheus entspannt und zur gleichen Zeit ließ Athina sich in die Knie fallen, um ihre Handfläche auf den Boden pressen zu können. Sie drückte ihre Finger dabei genau gegen das netzartige Muster, das sie auf den Boden gepinselt und über den ganzen Raum verteilt hatte – und zu ihrem Glück schien diesem Basta noch nicht aufgefallen zu sein, dass er direkt in der Mitte des Netzes stand.

Athina atmete kurz durch, konzentrierte sich auf ihren Herzschlag und sagte dann ein paar Worte auf, die sie sich mal irgendwo gemerkt hatte.

Als sie aufsah, sah sie Basta kurz schaudern und wusste in dem Moment, dass es geklappt hatte. Wenn er etwas gespürt hatte, musste der Zauber erfolgreich gewesen sein.

„Was?“, fragte Basta leise und Athina sah sofort etwas Trübes in seinen Augen auftauchen. Er versuchte kurz, das Gleichgewicht zu halten, bekam es aber nicht hin und musste mit einem Seufzen genau wie Athina in die Knie gehen. Er wirkte innerhalb eines Wimpernschlages völlig erschöpft. Mit leicht rötlichem Gesicht sah er auf. „Was ist das?“, fragte er etwas träge.

„Du und mein Herz seid jetzt über das Netz hier verbunden“, sagte Athina, richtete sich auf und klopfte sich den Staub von Händen und Knien. „Du wirst das Netz nicht verlassen können, solange mein Herz noch schlägt.“

„Was mit anderen Worten auch heißt, dass du diesen Raum nicht verlassen können wirst, bevor ich es will“, sagte Orpheus und rutschte in seinem Stuhl zurück. Er stand auf und betrachtete den erschöpften Basta abschätzend, der immer noch versuchte, nicht auf der Stelle einzuschlafen.

Das war öfter mal der Fall bei Geistern, wenn sie in eine solche Falle gerieten. Sie schliefen ein, nur um hinterher noch aggressiver wieder aufzuwachen.

„Ich kann endlich gehen“, seufzte Athina und freute sich bereits, wieder ans Tageslicht und an die frische Luft zu kommen – um die Falle wirken zu lassen, musste sie nicht ständig in der Nähe davon bleiben. Sie musste nur leben.

Orpheus lächelte. „Von mir aus.“

„Du weißt aber, dass ich ihn nicht ewig so festhalten können werde, oder?“, fragte Athina Orpheus. „Das wäre eine viel zu große Belastung für mein Herz.“

„Keine Sorge“, sagte Orpheus und ging auf die Treppe zu, die aus dem Keller führte – dabei ging er völlig unvorsichtig an Basta vorbei, der jedoch genug mit sich selbst zu kämpfen hatte, als dass er Orpheus hätte aufhalten können. Der Geist konnte kaum noch wach bleiben. „Sobald seine Herrin Agathe tot ist, wird auch er nicht weit kommen – und das wird sie bald sein.“

„Wohin gehst du?“, fragte Athina, als Orpheus die Treppe hochzugehen begann.

Er drehte sich um und lächelte ihr über Basta hinweg zu. „Ich bin mir sicher, dass sie darauf wartet, dass er zurückkommt und ihr erzählt, wie er mich getötet hat. Wenn er nicht zurückkehrt, wird sie ihn früher oder später suchen gehen und dafür hierher nach Ombra kommen.“ Sein Lächeln wurde etwas dunkler. „Und ich muss die Stadt doch ein wenig auf das Ankommen einer großen Hexe vorbereiten.“

- Kapitel 45 -

 

Nachdem Agathe von der eisernen Erkenntnis umgeworfen worden war, verliebt zu sein, hatte sie sich ununterbrochen den Kopf darüber zerbrochen, was sie hätte tun sollen, sobald Basta zurückkehren würde. Sie hatte voller Panik nachgedacht, und nachgedacht und nur noch mehr nachgedacht, wofür sie auch genug Zeit gehabt hatte.

Denn Basta kam nicht zurück – ganze drei lange Tage nicht.

„Ich mache mir langsam Sorgen“, sagte Agathe, während sie in der Küche auf und ab lief.

Staubfinger und Kiriaki saßen nicht halb so angespannt wie sie an einem der Tische und spielten mit einer Kerze. Staubfinger ließ ihren Funken in verschiedenen Bewegungen größer oder kleiner brennen und spielte damit, als wäre es ein lebendiges Tier. Kiriaki sah ihm lediglich dabei zu, etwas wie Bewunderung in ihren Augen.

„Ich könnte nachsehen“, schlug Staubfinger nicht zum ersten Mal vor. „Es würde mich wenige Minuten kosten, zu dem Haus zu gehen und wieder zurückzukommen.“

„Es hätte Basta eigentlich auch nur einige Minuten kosten sollen, Orpheus zu tötet“, widersprach Agathe. „Du bleibst hier. Ich will nicht, dass du gehst.“

Sie befürchtete, dass etwas passiert sein musste – und wenn Staubfinger nun auch nach Ombra ging und dort, aus welchem Grund auch immer, bleiben müsste, hätte Agathe gar keinen einzigen Anhaltspunkt mehr dafür, wo sie hätte nach Basta suchen können.

Langsam machte es sie verrückt.

„Hör auf, dir solche Sorgen zu machen“, sagte Kiriaki entspannt. „Basta ist erwachsen und ein Geist dazu. Als ob ihm wirklich etwas zugestoßen sein könnte.“

„Wieso braucht er dann so lange?“, fragte Agathe und blieb stehen. Sie kaute auf ihrer Unterlippe herum.

„Was willst du machen?“, fragte Kiriaki desinteressiert. „Nach Ombra gehen und nach sehen?“

„Vielleicht“, murmelte Agathe, der Kiriakis Vorschlag gar nicht so schlecht erschien.

Kiriaki sah mit großen Augen hoch. „Nein“, widersprach sie und klang flehentlich. Wie ein kleines Kind, das von ihrer Mutter zu etwas gezwungen wurde. „Bitte, Agathe, lass das bitte sein. Ich will nicht nach Ombra.“

„Dich sind wir auch holen gegangen, als du einfach so verschwunden bist“, betonte Agathe und wies mit dem ausgestreckten Finger auf sie.

Kiriaki klappte den Mund auf, als würde sie widersprechen wollen, schloss ihn dann aber wieder. Sie konnte nichts anderes, als mit wütendem Gesicht die Lippen auf einander zu pressen.

„Also wollt ihr wirklich gehen?“, fragte Staubfinger und fasste an die Kerze, um die Flamme erlöschen zu lassen.

„Wenn du uns hinbringst“, sagte Agathe.

Staubfinger sah sie an. Er fuhr sich durch das rötliche Haar und zuckte dann die Schultern. „Das kann ich machen, wenn du es dir wünschst.“

Kiriaki sah aus, als würde sie dazu etwas sagen wollen, aber gegen aller Erwartungen schluckte sie ihre Bedenken schließlich einfach runter und blieb ruhig – womit sie Agathe zu verstehen gab, dass klar war, was sie als nächstes tun würden.

Sie würden nach Ombra gehen.

 

Kiriaki hatte erst sicher gehen müssen, dass Agathe schon geschlafen hatte und Staubfinger nicht in der Nähe gewesen war, bevor sie sich in der Nacht nach draußen stahl, um ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen.

Bisher war sie sich viel zu unsicher in ihrer Sache gewesen, um das zu wagen. Sie hatte Magie nie selbst richtig praktiziert, sondern nur darüber gelesen und Wissen gesammelt, weswegen es ihr als riskant erschienen war, es einfach so zu versuchen. Aber Agathe wollte morgen nach Ombra gehen und keiner konnte ihnen sagen, wie lange sie also noch wegbleiben würden.

Es hieß also heute, oder irgendwann in fernerer Zukunft – und Kiriaki wollte nicht mehr warten.

Mit klopfendem Herzen trat sie in die kühle Nachtluft hinaus und lief, ohne irgendwelche Zeit zu verschwenden, los. Sie lief um die Burg herum und spürte trotz der Anspannung ihres gesamten Körpers etwas wie Erleichterung über sich ergehen, als sie das Rudel von Wölfen entdeckte, das sich dort niedergelassen hatte. Nicht alle der Tiere schliefen und einer von ihnen, vermutlich der Anführer, hob den Kopf, als er sie bemerkte.

Was, wenn man bedachte, wie dunkel es war und in welcher Entfernung sich Kiriaki zu ihm noch befand, eine wirklich erstaunliche Leistung war – aber von so ausgewachsenen Wölfen konnte man eigentlich auch nicht anderes erwarten.

Kiriaki drückte die Hände zusammen und begann mit langsamen, vorsichtigen Schritten auf die Tiere zuzugehen. Von ihnen schien sich keiner gestört zu fühlen – es war ja nicht das erste Mal, dass Kiriaki sich ihnen nährte.

„Hallo“, flüsterte sie nervös, als sie nur noch einige Schritte von ihnen entfernt war und ließ ihre Hand zeitgleich in eine der Taschen ihres Kleides gleiten. Dort strich sie mit den Fingern über die Haarlocke, die sie mit einer Schnurr sorgfältig zusammengebunden und versteckt hatte.

Es war gar nicht so leicht gewesen, Athina mit ihrem unruhigen Schlaf etwas von ihrem Haar zu stehlen – aber Kiriaki hatte schon vor Jahren gewusst, dass sie es irgendwann hätte gebrauchen können.

Sie konnte nicht ganz fassen, dass dieser Moment gekommen war.

Der Rudelführer hievte seinen gewaltigen Körper hoch, als sie näher trat und kam zu ihr angetrabt, als Kiriaki die helle Haarsträhne aus ihrer Tasche holte. Diese roch noch ziemlich stark nach dem Gebräu, in dem Kiriaki sie getränkt hatte, aber das war ja auch beabsichtigt.

Sie wollte unbedingt, dass es funktionierte.

Der Trank ließ, in Verbindung mit einem menschlichen Geruch, Tiere einen unbeschreiblichen Blutdurst entwickeln. Sollten sie in den nächsten Jahren jemandem über den Weg laufen, der auch nur im Entferntesten nach dieser Haarlocke roch, würden sie ihn (oder sie, wie in diesem Fall) augenblicklich in Stücke reisen.

Das hatte Kiriaki zumindest gehört.

Der Rudelführer stieß ein Knurren aus, nachdem er an der Haarlocke gerochen hatte und wandte das Gesicht ab, als würde er sich so vor dem Gestank schützen können, aber dafür war seine Nase viel zu gut. Auch, als er sich mit der Pfote drüber schlug, half es nicht.

„Tut mir leid“, sagte Kiriaki aufrichtig und ging einmal rum, damit sie die Haarlocke jedem wachen Tier einmal entgegenstrecken konnte. „Ich weiß, dass es sehr streng riecht, aber dagegen kann man nichts machen.“ Auch der Rest von ihnen reagierte nicht anders und obwohl sich eine aggressive Stimmung entwickelt hatte, ging keiner der Wölfe auf Kiriaki los.

Sie nahm das als ein gutes Zeichen.

„Danke“, seufzte Kiriaki und wusste selbst nicht recht, wofür sie sich – bei diesen Tieren – eigentlich bedankte, aber es erschien ihr als richtig, um das Kribbeln in ihrem Bauch ausdrücken zu können. „Vielen Dank.“

Sie beruhigten sich schnell wieder, aber das war nicht weiter schlimm. Wenn es funktioniert hatte, würde die Wut in ihnen sofort zurückkehren, sobald sie sich Athina auch nur nährten.

Kiriaki hatte sich, bevor sie hierzu gekommen war, mehrmals gefragt, ob es nicht einfach klüger gewesen wäre, Agathe darum zu bitten, das hier für sie zu erledigen. Agathe war mächtig genug gewesen, um die Wölfe für sie arbeiten zu lassen – da hätte sie ihnen doch schließlich auch einen kleinen Mordbefehl erteilen können, oder nicht? Aber Kiriaki hatte das hier selbst tun wollen.

Nicht wirklich aus Rache – an Athina hatte sie sich vermutlich schon genug gerächt. Nein, Kiriaki ging es hier um mehr. Athina war für sie zu einem Symbol ihres alten Lebens geworden: Allein ihr Name erinnerte Kiriaki wieder an das Stehlen, das Lügen und die weißen Hexen, die im Grunde genommen nie mehr als eine ausgedachte Familie gewesen waren.

Kiriaki wollte das alles hinter sich lassen. Vielleicht würde sie nie ein wirklich guter Mensch werden können – aber sie wollte es zumindest versuchen und sich irgendwo ein halbwegs gutes Leben aufbauen. Eins, das sie später nicht ständig bereuen würde, doch dafür musste sie zunächst Athina loswerden, die sie ständig an das Leben von früher erinnern würde.

Dass Athina hierbei durch Kiriakis Hand starb, erschien dem Mädchen nur gerecht.

Und es würde ja auch ihr letzter Mord sein … zumindest für eine sehr lange Zeit. Das versprach sie sich.

Kiriaki bedankte sich noch einmal, strich dem Rudelführer zum Abschied vorsichtig über die feuchte Schnauze und eilte dann mit nach wie vor rasendem Herzen und die Haarlocke ihrer Feindin umklammernd zurück zur Burg, um sich wieder ins Bett zu legen.

Und obwohl sie genau das tat, fand sie in dieser Nacht einfach keinen Schlaf.

Dafür war sie viel zu aufgewühlt.

- Kapitel 46 -

 

„Blödsinn ist das“, knurrte Kiriaki vor sich hin, während sie alle zusammen den Waldweg entlang liefen, über den Staubfinger sie führte. „Ich wette, Basta wird noch heute, spätestens morgen wieder in Capricorns Festung auftauchen und wir werden den ganzen Weg umsonst gegangen sein.“

„Jetzt stell dich nicht so an“, sagte Agathe streng. Sie selbst lief neben Staubfinger her, während Kiriaki wegen ihrer Müdigkeit (oder Faulheit) immer weiter zurückfiel. „Das würde nur halb so schlimm für dich sein, wenn du es dir nicht schlecht reden würdest.“

Agathe sah Staubfinger still lächeln.

„Ich habe keine Lust“, seufzte Kiriaki. Sie erschien Agathe an diesem Morgen besonders müde – dabei waren sie noch gar nicht so lange gelaufen. Und besonders früh aufgebrochen waren sie erst recht nicht.

„Ich will dich aber auch nicht alleine in der Festung lassen“, widersprach Agathe. „Und jetzt beweg dich.“

„Das ist alles so lästig …“

„Kiriaki, ich weiß ja, dass du Langschläferin bist, aber ich bitte dich. Kannst du dich nicht zumindest ein wenig zusammenreißen?“ Agathe sah über die Schulter zu dem Mädchen, das dunkle Ringe unter den Augen hatte.

„Staubfinger könnte mich ja wieder tragen“, schlug Kiriaki mit säuselnder Stimme vor.

Der Feuerschlucker drehte sich nicht einmal um, als er auflachte. „Das hättest du wohl gerne.“ Er grinste das Mädchen über die Schulter an.

„Das hast du beim letzten Mal auch gemacht.“

„Weil du kaum noch stehen konntest, als wir dich aus dem Lager der weißen Hexen geholt haben und ich genau wusste, dass Basta das ums Verrecken nicht getan hätte“, meinte Staubfinger mit einem Schmunzeln und sah dann zu Agathe. Das Lächeln wurde etwas schmaler. „Was ich aber tun könnte, wäre es, deine Tasche zu nehmen.“

Offenbar war ihm nicht entgangen, wie sehr Agathe sich mit ihrer Tasche abmühte. In ihr befanden sich aber auch alle wichtigen Gegenstände, die sie nicht hatte in der Festung zurücklassen können: Ihre Kleidung, zwei von Kiriakis Büchern und Bastas Knochen. Sie war gar nicht darum herum gekommen, das Ganze mitzunehmen.

Agathe lächelte schief. „Nicht nötig. Das geht schon.“ Das war zwar eine Lüge, aber sie wollte nicht hilflos wirken.

Staubfinger verzog amüsiert den Mund. „Sicher?“

„Ja, aber … es nervt nur ein bisschen“, seufzte Agathe, bevor ihr ein Gedanke kam. Sie blieb auf der Stelle stehen und überlegte, ob das, was ihr durch den Kopf ging, machbar wäre.

„Was ist los?“, fragte Staubfinger und blieb ebenfalls stehen. Er drehte sich zu ihr um.

„Gib mir bitte mal eine Minute“, sagte Agathe und packte die schwere Tasche um ihre Schulter etwas fester.

„Gehen wir zurück?“, hörte sie Kiriaki hoffnungsvoll fragen.

Agathe beachtete sie nicht. Sie konzentrierte sich auf die Tätowierung an ihrem Rücken und formte dabei mit den Lippen die Worte, die Kiriaki ihr gesagt hatte, als sie in die Todeswelt reisen wollten. Damals hatte sie ein Portal auf den Boden gezeichnet, aber vielleicht war das hier gar nicht nötig – jetzt, wo Agathe den magischen Kreis nicht unter ihren Füßen, sondern gleich an ihrem Rücken hatte.

Es dauerte recht lange – so lange, dass Agathe fast glaubte, sich selbst doch überschätzt zu haben, aber dann spürte sie den Stoß einer unsichtbaren Kraft und ehe sie sich versah, waren Staubfinger und Kiriaki plötzlich aus ihrer Sicht verschwunden und sie hatte in Ehtagas Raum gewechselt.

Agathe stieß einen kurzen Schrei aus, als ihre Füße den Grund ihres Unterbewusstseins berührten, der nicht nur mit Scherben überseht war, sondern ihr nach dem Einsatz von Magie auch etwas uneben erschien. Sie wäre fast gestolpert, konnte sich im letzten Moment aber noch halten.

Aufmerksam nahm sich Agathe die Zeit, sich umzusehen. Es war das erste Mal, dass sie diesen Raum betrat, ohne Ehtaga darin zu erblicken – denn jetzt waren die beiden nicht länger durch einen Spiegel getrennt, sondern wieder vereint. Wieder eins, auch wenn Agathe immer noch Berührungsängste hatte.

Die Frau erblickte das Buch, mit dem sie nach dem Spiegel geschmissen hatte und hob es auf, dabei warf sie einige Spiegelscherben krachend auf den Boden. Das Buch war immer noch hier und Agathe hätte es nun einfach mitnehmen können. Was bedeutete, dass, wenn sie ihre Tasche nun hier ließ, sie diese später jeder Zeit hätte von hier abholen können, genau wie dieses Buch.

Es erstaunte sie zutiefst, dass sie mit ihrer Vermutung recht gehabt hatte.

„Ich kann also immer hierher wechseln, wenn es mir passt, weil ich das Portal dafür in gewisser Weise an meinem Körper trage“, murmelte sie leise vor sich hin. Sie betrachtete das Buch in ihren Händen. „Und auf alle Gegenstände, die ich hier lasse, kann ich also auch jeder Zeit zugreifen. Ich muss dann nur in diese Welt wechseln und sie holen.“

Das war mehr als praktisch für sie – denn so musste Agathe nicht nur nichts mit sich rumschleppen, sondern konnte auch sicher sein, dass ihr niemals etwas gestohlen werden würde.

Sie hätte sich selbst dafür schlagen können, dass sie sich nicht früher die Zeit dazu genommen hatte, sich mehr mit dieser Welt zu befassen – immerhin hätten ihr die letzten vier Tage mehr als günstig dafür zur Verfügung gestanden, aber da war sie ja mit anderem beschäftigt gewesen …

Agathe vertrieb die aufkommenden Gedanken an Basta und sah stattdessen zu den Scherben auf dem Boden und überlegte.

„Das Ganze hier ist nichts weiter als mein Unterbewusstsein in materialisierter Form“, flüsterte sie. „Im Grunde genommen, müsste ich nur …“

Sie strengte sich an und dachte so intensiv an Wasser, wie man an etwas so Schlichtes nur denken konnte. Es kostete sie Minuten, ihre Gedanken durchsetzen zu können, aber irgendwann geschah es tatsächlich, dass die Scherben, die den Boden bedeckten wie Eis zerschmolzen. Sie lösten sich einfach auf und wurden zu Wasser, das gemächlich durch den Boden sickerte und nichts weiter als eine feuchte Stelle hinterließ.

Agathe atmete überanstrengt aus.

„Ich kann diesen Ort kontrollieren“, dachte sie laut nach und stellte die Tasche auf dem nun leeren Boden ab, bevor sie das Buch darauf legte. „Oder ihn zumindest irgendwie beeinflussen.“

Sie wusste nicht genau, inwiefern das hilfreich sein würde, aber schaden konnte es nicht.

Agathe richtete sich wieder auf und ließ ihren Kopf ein weiteres Mal arbeiten – und nur wenige Atemzüge später befand sie sich wieder im Wald, wo sie ein überraschter Staubfinger und eine nahezu entsetzte Kiriaki empfingen.

„Wie?!“, rief Kiriaki aus und rieb sich ungläubig die Augen. „bin ich nun etwa völlig verrückt oder …“

„Das habe ich auch gesehen“, versicherte Staubfinger ihr, ohne die Augen von Agathe abzuwenden.

„Sie war einfach weg!“, rief Kiriaki aus. Völlig hysterisch.

„Wie hast du das gemacht?“, fragte Staubfinger an Agathe gewandt. Eher neugierig, als bestürzt. „Bist du etwa auch ein Geist?“

„Bloß eine sehr gute Hexe“, grinste Agathe ihm zu und war froh, ausnahmsweise mal diejenige sein zu können, die so ihre Geheimnisse hatte. Bei Staubfinger und seinem wissenden Lächeln hatte sie sonst nämlich immer das Gefühl, die Dumme zu sein. „Nicht mehr und nicht weniger.“

„Ich verstehe das nicht“, sagte Staubfinger. „Wo warst du?“

„Das wüsste ich auch gerne“, sagte Kiriaki entrüstet und schien zum ersten Mal hellwach zu sein. „Agathe, wie funktioniert das? Ohne Portal, vor allem.“

Agathe lächelte und zog einen Mundwinkel hoch. „Geheimnis.“

„Jetzt komm schon!“, rief Kiriaki aus und ging auf Agathe zu. „Du kannst das nicht einfach so stehen lassen! Du hast dich in Luft aufgelöst!“

„Wenn Basta und Staubfinger das mal gemacht haben, hast du dich nie so aufgeregt“, schmunzelte Agathe.

„Weil das für die beiden natürlich ist!“ Kiriaki wies mit einer Hand auf Staubfinger. „Das ist normal bei Geistern. Ich habe nie etwas davon gehört, dass Menschen das auch können … zumindest nicht ohne Kreis.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich werde aus dir nicht schlau. Und ich verlange, dass du es mir sofort erklärst.“

„Später vielleicht“, versprach Agathe.

„Nein, jetzt!“

„Du hast deine Tasche ja gar nicht mehr“, stellte Staubfinger nachdenklich fest und unterbrach Kiriaki.

Agathe lächelte. „Richtig beobachtet.“

„Das hätte ich jetzt wirklich nicht erwartet“, murmelte Staubfinger und fuhr sich mit einer Hand über das Gesicht, dabei beobachtete er Agathe zwischen seinen gespreizten Fingern hervor. Sie sah seinem Gesicht an, dass er ebenfalls zu erklären versuchte, wie sie das geschafft hatte. „Hätte nicht gedacht, dass mich etwas noch so sehr überraschen könnte … Ich bin fast beeindruckt.“

„Danke“, sagte Agathe sarkastisch. „Aber das ist nur gerecht, wenn man bedenkt, wie viele Fragen du schon in mir ausgelöst hast.“

Er hob eine Augenbraue. „Welche denn?“

„Zum Beispiel, woher du wusstest, dass Geister verschwinden, sobald sie den Handel mit ihren Beschwörern erfüllen“, sagte Agathe. „Basta wusste es nicht, und das, obwohl ihr beide Geister seid.“

„Ich bin aber auch nicht ganz gewöhnlich“, lächelte Staubfinger und sah dann als ihr vorbei, als würde er in Gedanken versinken. „Die weißen Frauen lieben Feuer, fürchten sich aber auch davor. Mit mir müssen sie das nicht. Sie haben mich gerne um sich gehabt, mit meinen Feuerspielchen und das selbst nachdem ich tot war.“ Er sah wieder zu ihr und zog einen Mundwinkel hoch. „Ich war ständig in ihrer Gesellschaft. Da erfährt man schon mal einiges von den Töchtern des Todes.“

Agathe runzelte die Stirn. „So ist das also …“

„Und woher wusstest du es?“, wollte Kiriaki von Agathe wissen. Sie klang sehr eindringlich und Agathe befürchtete, das Mädchen für die nächsten Stunden nicht mehr beruhigen zu können. Das würde noch ein witziger Weg werden.

„Ich bin selbst drauf gekommen“, sagte Agathe.

Staubfinger stieß ein leises Lachen aus. „Und Basta nicht?“

„Musste er nicht. Er hat es erfahren“, sagte Agathe trocken.

Das genügte, um das Lächeln von Staubfingers Gesicht zu wischen. „Ou“, machte er und klang fast eingeschüchtert. „Und wie hat er reagiert?“

„Das ist jetzt gerade nicht so wichtig“, winkte Agathe seufzend ab und drehte sich um, in die Richtung, in die sie schon die ganze Zeit über gelaufen waren. „Und jetzt lasst uns bitte weitergehen. Ich erkläre alles später, falls ich einen Weg finde, um es richtig in verständliche Worte zu fassen.“

- Kapitel 47 -

 

„Das ist ja einfach so … unglaublich“, hauchte Agathe überwältigt und sah sich ehrfürchtig um. Sie hatte in ihrem ganzen Leben noch nie eine richtige Stadt betreten, war mit ihrer Mutter höchstens hin und wieder von Dorf zu Dorf gegangen und konnte gerade nicht wirklich nachvollziehen, was für eine Größe die Häuser in Ombra erreichen konnten. Es gab mit Steinen gepflasterte Wege und so viele Straßen, dass man sich als Fremder sofort verlaufen hätte.

Um das Dorf, aus dem Agathe kam, vollständig zu durchqueren, brauchte man hingegen nicht einmal eine halbe Stunde.

„Zum ersten Mal in Ombra?“, fragte Staubfinger belustigt, als er sie in eine Seitengasse hinein führte. Er kannte sich hier offenbar bestens aus, was für Agathe eine nahezu unfassbare Leistung war – sich selbst traute sie sich nämlich nicht einmal halb so viel Orientierungssinn zu.

„Zum ersten Mal überhaupt in irgendeiner Stadt, besser gesagt“, murmelte sie, als sie dem Feuerschlucker folgte.

Dieser sah über die Schulter verwundert zu ihr. „Wirklich?“

„Hätte man sich bei ihrer Reaktion vorhin eigentlich schon fast denken können“, meinte Kiriaki etwas gelangweilt. „Als wir Ombra betreten haben, meine ich.“

Agathe hatte sich irgendwann auf dem Weg doch noch weich klopfen lassen und war tatsächlich dazu gekommen, Kiriaki zu erzählen, wieso es ihr nun möglich war, in eine andere Welt zu wechseln, ohne einen Kreis aufzuzeichnen.

In was für eine Welt sie aber wechselte, hatte sie für sich behalten und das hatte Kiriaki auch nach zahlreichen und äußerst hartnäckigen Versuchen nicht aus ihr heraus bekommen können.

„Du kannst mir nicht vorwerfen, dass ich eben etwas aufgeregt bin“, entgegnete Agathe und rollte mit den Augen. „Ich habe bisher noch nie eine Stadt gesehen.“

„Ich hoffe, Basta nimmt es mir nicht übel, dass ich ihm die Gelegenheit genommen habe, das hier mit dir zu erleben“, murmelte Staubfinger so leise, dass nur Agathe ihn hören konnte. Als sie zu ihm sah, wirkte er jedoch nicht wirklich traurig oder schuldbewusst. „Sicher hätte er deine Reaktion gerne miterlebt.“

„Er wird es überstehen“, winkte Agathe ab. Und dann, weil ihr der Humor in Staubfingers Stimme nicht entgangen war: „Ihr beiden könnt euch wirklich nicht leiden, oder?“

„Dafür versteht ihr beide euch scheinbar sehr gut“, entgegnete Staubfinger.

Und dazu sagte Agathe nichts.

„Gehen wir jetzt zu dem Haus, in dem sich dieser Orpheus versteckt?“, fragte Kiriaki Staubfinger, als sie wieder auf eine richtige Straße hinaustraten. In Ombra war es so laut und lebendig, so viele Menschen waren unterwegs. Agathe gab sich nicht ganz so viel Mühe wie früher dabei, ihnen auszuweichen, aber wirklich gerne stieß sie in niemanden hinein.

Staubfinger schüttelte den Kopf. „Ich denke, es wäre zu gefährlich.“

„Also glaubst du auch, dass ihm etwas passiert ist“, bemerkte Agathe spitz, woraufhin Staubfinger aber bloß die Schultern zuckte.

„Man kann nie wissen“, sagte er.

„Und wohin gehen wir dann, wenn nicht zu Orpheus?“, fragte Kiriaki.

Ein schmales Lächeln stahl sich auf Staubfingers Gesicht, als er sie weiterführte. „Sagen wir, wir gehen zu einer Art alten Freundin von mir.“

 

Ungefähr eine Stunde später hatten sie es geschafft, die übrige Strecke bis zu ihrem Ziel hinter sich zu lassen und vor der Tür eines Hauses anzukommen, in dem eine kleine Familie hätte wohnen können.

„Hierher wolltest du?“, fragte Agathe skeptisch.

Staubfinger nickte und trat an die Tür. Er klopfte ein paar Mal und wartete dann ab. Es wurden Schritte hörbar, die rasch näher kamen und nur Sekunden später wurde die Tür von einer jungen Frau aufgemacht.

Das, was Agathe an ihr noch vor dem braunen Haar und den blauen Augen auffiel, war, dass sie schwanger war. Die Frau, vielleicht etwas jünger als Agathe selbst, trug ein schwarzes Kleid, das trotz seiner dunklen Farbe nicht den Bauch der Fremden verstecken konnte.

Als sie Staubfinger erkannte, lächelte sie. „Staubfinger! Was für eine Überraschung“, sagte sie verblüfft und öffnete die Tür gänzlich, sodass sie ihn direkt ansehen konnte.

„Hallo, Meggie“, begrüßte Staubfinger sie. „Ich weiß. Es ist ganz schön lange her, dass wir uns das letzte Mal gesehen haben. Letztes Mal warst du zumindest noch nicht ganz so weit“, sagte er mit einem Blick auf ihren Bauch.

Meggie lachte. „Ja, ich weiß. Ich kann förmlich spüren, wie er jeden Tag wächst.“

„Haben Resa und die anderen ihn schon in letzter Zeit gesehen?“, fragte Staubfinger beiläufig. „Ich kann mir vorstellen, dass Mortimer deswegen völlig fertig ist.“

„Es ist leider schon etwas länger her, seit ich sie gesehen habe“, seufzte Meggie. „In meinem Zustand kann ich nicht einfach in den Wald gehen – schließlich ist mein Kind auch der einzige Grund dafür, dass Doria und ich überhaupt in die Stadt gezogen sind. Und für Mo ist es nicht immer sicher, hierher zu kommen, deswegen …“ Sie zuckte die Schultern. „Wir werden wohl etwas warten müssen, bis zum nächsten Treffen.“

„Verstehe“, sagte Staubfinger und Agathe konnte seinem Ton anhören, dass er gerade nachdachte. „Also war keiner von ihnen in letzter Zeit hier.“

Sie wusste, warum er fragte. Vermutlich waren die Leute, von denen er sprach diejenigen, in deren Nähe er sich befunden hatte, als er vor einiger Zeit verstarb. Keiner von ihnen war in letzter Zeit bei Meggie gewesen und da sie auch nicht sonderlich überrascht davon war, Staubfinger zu sehen, konnte das eigentlich nur eins bedeuten.

Sie wusste gar nicht, dass er eigentlich tot war.

„Und was willst du hier, wenn ich fragen darf?“, wollte Meggie freundlich wissen. „Brauchst du etwas oder wolltest du mich nur besuchen?“

„Das würde ich gerne behaupten“, meinte Staubfinger und sein Lächeln wurde etwas schief. „Aber so ist es leider nicht. Ich bräuchte etwas Hilfe, wenn ich ehrlich sein soll.“

„Doria ist gerade nicht da, aber in ein paar Stunden sollte er zurückkommen …“

„Nicht seine. Deine Hilfe, Meggie.“

„Meine?“ Sie lachte und wies an sich herunter. „Ich bin gerade nicht wirklich im Stande, irgendwie zu helfen.“ Sie war in ihrer Schwangerschaft tatsächlich schon ziemlich weit.

Agathe konnte nicht anders, als auf ihren Bauch zu starren – sie spürte etwas wie Faszination in sich aufkommen, als sie das ungeborene Leben vor sich sah. Magie konnte nämlich einiges bewirken – sie konnte Leben nehmen, es zurückholen, es verlängern … aber Leben aus dem Nichts zu schaffen war damit nicht möglich und dass Menschen – trotz allen ihren Schwächen und ihrer Schlichtheit – dazu im Stande waren, das zu tun, was der Magie verwehrt blieb und neues Leben zu kreieren, war für Agathe mehr als nur bemerkenswert.

„Oh doch, Zauberzunge, du kannst an dieser Stelle sehr wohl helfen“, sagte Staubfinger mit Nachdruck in der Stimme. Agathe horchte bei der Erwähnung von Zauberzungen auf. Völlig gebannt sah sie zu Meggie hoch.

Und hier verstand Meggie sofort. Sie presste die Lippen zu einer dünnen Linie zusammen und etwas Düsteres huschte über ihr hübsches Gesicht. „Ach so“, presste sie dann hervor. „Diese Art von Hilfe.“

„Es ist wichtig“, sagte Staubfinger. „Sonst würde ich dich nicht darum bitten.“

Ganz zu überzeugen schien es Meggie noch nicht. Sie legte den Kopf schief und fasste sich mit zwei Fingern an die Schläfe. „Ach, Staubfinger, weißt du, eigentlich wollte ich das Ganze hinter mir lassen …“

„Hör dir unser Problem zumindest an. Danach kannst du ja immer noch entscheiden.“

Meggie war sich unsicher und sie machte auch keine Anstalten, dies zu verbergen. Sie musterte zunächst Staubfinger und sah dann an ihm vorbei, zu Kiriaki, bevor ihr Blick schließlich an Agathe hängen blieb.

Tu es bitte, versuchte Agathe mit den Augen zu sagen. Hör uns zumindest zu.

Und damit schien sie etwas zu brechen. „Na schön, na schön“, seufzte Meggie geschlagen und drehte sich um, um die drei in ihr Haus lassen zu können. „Ihr könnt gerne auf einen Tee reinkommen und mir erklären, worum es überhaupt geht.“ Sie räusperte sich. „Ich kann aber nichts versprechen.“

 

„Verstehe“, sagte Meggie nachdenklich und stellte die Tasse Tee, aus der sie eben noch getrunken hatte mit leicht zitternder Hand auf den Tisch. „Orpheus ist also wieder da.“

„Bist du erstaunt?“, fragte Staubfinger unbeteiligt, während er in der Küche umherschlenderte und die Möbel mit einem solch wachsamen Blick begutachtete, als wären diese wichtiger, als alle Personen im Raum.

Agathe beobachtete ihn irritiert von ihrem Platz am Tisch aus. Kiriaki lehnte an der Kante neben ihr und trank ebenfalls Tee. Agathe hatte ihre Tasse nicht angerührt.

„Wie meinst du das?“, fragte Meggie.

„Meiner Meinung nach war es eigentlich nicht anders zu erwarten, dass dieser Kerl irgendwann zurückkommen würde“, erklärte Staubfinger gelassen, aber in seinem Ton schwang etwas Dunkles mit. „Mich überrascht es nur ein wenig, dass du das nicht hast auch kommen sehen.“

„Ich habe gehofft, er wäre tot“, gestand Meggie und ließ geräuschvoll die Luft aus. Sie zog einen Schmollmund. „Aber das scheint nicht der Fall zu sein.“

„Du weißt, dass er sich an allen rächen wollen wird“, sagte Staubfinger.

„Ja“, stimmte Meggie ihm kleinlaut zu und Agathe ertappte sie dabei, wie sie eine Hand flüchtig zu ihrem Bauch wandern ließ.

„Könntest du dir, auch zum Wohle deines Kindes, nicht vorstellen, ihn aufzuhalten?“, fragte Staubfinger mit besonders viel Vorsicht. Immerhin deutete er gerade an, dass jemand nicht nur hinter Meggie, sondern auch hinter ihrem Kind her war.

„Und ihn aufzuhalten bedeutet in der harten Weise was?“, fragte Meggie, während sie ihren Kopf abwesend mit einer Hand an dem Tisch abstützte. Als ihr keiner antwortete, fügte sie hinzu: „Du willst, dass ich ihn umbringe, stimmt es? Dass ich einen Text schreibe, der ihn tötet.“

„Ich will dich zu nichts zwingen“, versicherte Staubfinger. „Aber du weißt, wie gefährlich er ist. Das wäre eine gute Lösung, um …“

„Du musst nicht weiterhin mit mir reden, als wäre ich immer noch ein Kind“, sagte Meggie plötzlich mit erstaunlich ruhiger Stimme. Ihre Augen waren ausdruckslos geworden, während sie in ihre Tasse starrte und sie war mit einem Mal ein Stück blasser geworden, aber ihre Hände hatten aufgehört zu zittern. „Ich verstehe mittlerweile, dass manche Dinge einfach getan werden müssen.“

Es verstrich ein Augenblick von absoluter Stille, in der sich niemand etwas zu sagen traute.

Nur nach einer Zeit wagte Agathe es, sich zu räuspern. „Soll das heißen, dass du uns helfen wirst?“, fragte sie.

„So ist es besser für alle“, meinte Meggie emotionslos und sah auf. „Nicht wahr?“ Sie betrachtete Agathe etwas eingehender und diese konnte förmlich spüren, wie schnell das Herz der anderen vor Angst schlug. „Ich weiß nicht, wer du bist“, fing Meggie dann langsam an, „aber selbst für dich würde es Vorteile haben.“ Sie biss sich auf die Lippe. „Ich muss es in gewisser Weise tun.“

„Tut mir leid, dass du das auf dich nehmen musst“, warf Staubfinger aufrichtig ein und sah Meggie fast mitleidig an. „Ich kann nur zu gut verstehen, dass der Gedanke vom Töten einem nicht gerade zusagt.“

Meggie stieß einen undefinierbaren Laut aus, der sich nach einem herzhaften Schnauben anhörte. „Und es ist einfach erstaunlich, wie viel leichter es einem gleich fällt, wenn man etwas hat, das man beschützen will“, sagte sie und legte nun ganz offen die Hand auf ihren Bauch. Dann wurde ihre angespannte Miene entschlossener und sie stützte sich am Tisch ab, um aufzustehen.

„Du wirst nicht warten?“, fragte Staubfinger erstaunt.

Meggie schüttelte den Kopf. „Ich bin gerade recht entschlossen. Ich will mich nicht wieder umstimmen lassen.“

Staubfinger nickte nur, das Gesicht völlig neutral. „Verstehe.“

„Ich würde euch aber gerne darum bitten, hier zu warten, während ich an die Arbeit gehe“, sagte Meggie, bevor sie zu einer Tür ging. Ihre Schritte waren etwas wackelig. „Dabei würde ich nämlich gerne allein sein.“

- Kapitel 48 -

 

Es war ein Leichtes für Athina, den Weg zurück zu ihrem alten Lager zu finden – um einiges schwerer hingegen war es, ihn hinter sich zu bringen. Sie war noch nie gerne lange Strecken gegangen und hatte diese Aufgabe meistens Kiriaki, Vika oder einer der anderen aufgetischt, aber nun ging das ja nicht mehr.

Ich hoffe, diese beiden namens Basta und Agathe bekommen von Orpheus so richtig eine reingewürgt, dafür, dass sie die weißen Hexen ausgelöscht haben, dachte sie sich grimmig, als sie zum wiederholten Mal fast über eine Wurzel gestolpert wäre.

Sie wollte eigentlich nicht zurück zum Lager, weil dort vermutlich noch die ganzen Leichen der Mädchen rumlagen, aber ihr blieb nichts anderes übrig – denn momentan stand sie ohne jeden Besitz da und falls sie noch nicht von irgendwelchen Elfen ausgeraubt worden waren, hätten sich in den Zelten der Mädchen noch einige Wertgegenstände befinden müssen, die sich auf die Schnelle zu Geld machen ließen.

Athina musste immerhin irgendwie überleben. Sie war noch lange nicht bereit zu sterben, weswegen ihr Herz, das diesen Basta in seinen Schranken hielt, auch kurz zum Stehen kam, als sie irgendwo in der Ferne das Geheul von Wölfen hörte.

„Keine Sorge“, flüsterte sie sich selbst zu, nachdem sie sich etwas beruhigt hatte. „Wölfe jagen nicht bei Tag. Außerdem lassen sie Menschen in Ruhe – zumindest in dieser Waldgegend, wo es wirklich genug anderer Beute gibt.“

Schließlich hatte Athina diesem Weg nicht umsonst gewählt.

Sie war gleich aufgebrochen, nachdem sie und Orpheus Basta in dem Keller gefangen hatten, denn immerhin gab es keinen Grund mehr für sie, dort zu bleiben. Jetzt, wo sie ihren Nutzen erfüllt hatte und nicht mehr von Agathe und Basta bedroht war, konnte sie wieder ihren Weg gehen – auch wenn die nächsten Zeiten hart werden würden.

Das war ihr klar.

Etwas nervös sah sie sich um, als sie das Geräusch von Schritten erkannte. „Sie werden mir nichts tun“, redete sie leise auf sich ein und ging weiter, über die Schneise, die sich quer durch den weglosen Wald zog. „Dafür haben sie keinen Grund.“

Und das sagte sie sich so oft, dass sie es auch glauben konnte – bis zu dem Moment, als sie auf der Stelle erstarren musste, weil von irgendwo zwischen den Bäumen heraus zwei grüne, scharfe Augen zu ihr herüber starrten, begleitet von einem tiefen Knurren.

Athina gefror in diesem Moment förmlich das Blut in den Adern. Sie schluckte.

„Das kann nicht sein …“ Athinas Stimme war gerade mal ein Flüstern, als sie sich langsam – so langsam, wie sie nur konnte – zurück bewegte. Nach hinten, weiter weg von dem Tier.

Leider war der Wolf, der sie ins Visier genommen hatte in einer unglaublich schlechten Stimmung, denn Athinas Rückzug schien ihn nur noch mehr zu provozieren. Mit einem Knurren sprang er aus dem Gebüsch hervor und machte einige gefährliche Schritte auf sie zu.

„Nicht rennen“, sprach Athina geräuschlos, während ihr der Schweiß ausbrach. Sie hatte gerade so viel Angst wie noch nie zuvor – und dabei war es nicht das erste Mal, dass sie in einer gefährlichen Situation steckte. Es ging mehr um den Blick des Tieres. Es war ein mörderischer Ausdruck, der ihr eine Gänsehaut und ein sehr schlechtes Gefühl im Magen verschaffte. „Nicht rennen. Das wird ihn nur noch wütender machen.“

Und obwohl alles ihrer Erfahrung nach hätte anders kommen müssen, sah sie, wie das Tier plötzlich einen Satz nach vorne machte und von Wut getrieben absprang. Athina sah den massigen Körper noch mit großen Augen auf sich zukommen, bevor ein grausamer Schmerz durch ihren Körper schoss und ihr gleich Sekunden später das Bewusstsein raubte.

Etwas selbstkritisch musste sie feststellen, dass Wegrennen in dieser Situation vielleicht doch das Klügste gewesen wäre.

- Kapitel 49 -

 

Noch zur selben Zeit, als Athina dem Wolf über den Weg lief, spürte Agathe trotz der großen Distanz, die sie voneinander trennte eine Gänsehaut über ihren Rücken jagen. Sie schauderte, während sie am Tisch in Meggies Küche saß und zuckte unwillkürlich zusammen.

„Was ist?“, fragte Kiriaki irritiert, der die seltsame Bewegung nicht entgangen war. „Ist dir kalt?“

„Nein“, murmelte Agathe sofort etwas verwirrt und strich über ihre Oberarme, um sich zu beruhigen. Sie konnte selbst nicht erklären, was genau mit ihr gerade passiert war. Es hatte sich angefühlt, als hätte ihr jemand plötzlich mit kalten Händen in den Nacken gefasst. „Ich … verstehe es selbst nicht ganz.“

„Was redest du da?“, fragte Kiriaki, halb auf dem Tisch liegend.

Sie, Agathe und Staubfinger warteten schon seit einiger Zeit in der Küche, während Meggie sich in ein leeres Zimmer zurückgezogen hatte, um einen Text zu schreiben, den sie anschließend auch lesen würde. Bisher war alles ruhig gewesen, bis Agathe dieses abrupte Gefühl bekommen hatte – davor hatte sie sich auf nichts anderes konzentrieren können, als auf Meggies Arbeit.

Agathe musste gestehen, dass es sie in den Fingern brannte einer Zauberzunge beim Arbeiten zuzusehen. Sie wusste, dass Basta diese Leute zu verabscheuen schien, aber sie selbst hatte ein großes Interesse an ihnen.

Das bereitete ihr fast Schuldgefühle.

„Du siehst irgendwie verstört aus“, bemerkte nun auch Staubfinger, der sich im Gegensatz zu den anderen beiden nicht hingesetzt hatte, weil nicht genügend Stühle vorhanden waren. Er lehnte an der Wand.

„Es ist bloß ein merkwürdiges Gefühl …“, sagte Agathe und nahm eine gerade Haltung ein. „Als ob etwas passiert wäre.“

„Was denn?“, fragte Kiriaki und blinzelte zu ihr hoch.

„Das finde ich gleich heraus“, sagte Agathe und stand auf. Ohne jede Vorwarnung nahm sie einen kurzen Atemzug, bevor sie sich konzentrierte und dann einfach in ihr Unterbewusstsein wechselte.

Sie hatte bereits die Vermutung gehabt, dass hier etwas passiert sein musste, aber das, was sie sah, hatte sie nicht kommen sehen.

„Basta!“, rief sie erstickt aus, als sie den Mann mit dem Rücken zu sich mitten in Ehtagas Raum stehen sah.

Basta, etwas überrascht, drehte sich sofort um, als er ihre Stimme hörte und riss die Augen auf. „Wie kommst du denn auf einmal hierher?“, fragte er erstaunt und Agathe begriff erst jetzt, warum er dort stand, wo er stand. Er hatte die Wand abgetastet.

„Hast du etwa nach einer Tür gesucht?“, fragte sie etwas sprachlos.

Während sie sich Sorgen gemacht hatte? War das sein Ernst?

„Bescheuert – ich weiß“, schnaubte er. „Ich bräuchte im Grunde genommen ja keine. Aber ich bin hier irgendwie gelandet und hab mich gefragt …“ Er brach den Satz ab, als Agathe plötzlich bei ihm war und die Arme um seinen Oberkörper schlang. Sie drückte ihn so fest, dass sie Basta kurz nach Atem schnappen hörte, aber da er ein Geist war, war das eher ein Reflex. Agathe vergrub das Gesicht an seinem Hals und umklammerte mit den Fingern sein Hemd, nur um sicher zu gehen, dass er wirklich da war.

Es sprach zwar gegen ihre ganze Natur und so gern sie es abgestritten hätte – sie hatte sich in den Tagen seiner Abwesenheit das Schlimmste ausgemalt.

Vier Tage, sprach sie innerlich auf sich ein, während ihr Herz langsam wieder regelmäßiger zu schlagen begann, es waren nur vier Tage. Und trotzdem spürte sie Erleichterung wie eine Welle der Freude über sich ergehen, als sie ihn vor sich stehen sah – unversehrt.

Unwillkürlich fragte sie sich, wie sie wohl reagiert hätte, wenn er länger weggewesen wäre. Vermutlich mit sehr viel mehr Tränen.

Nur zögerlich erwiderte er die Umarmung. Basta legte vorsichtig die Hände um sie und drückte sie innig. Sie spürte, wie er seinen Kopf drehte, um ihr einen Kuss auf die Stirn zu geben, aber genau in dem Moment lehnte Agathe sich zurück, um ihn wütend anfunkeln zu können.

„Wo zur Hölle warst du?!“, fuhr sie ihn an, ließ ihn aber nicht los. „Du warst vier verdammte Tage fort!“

Basta blinzelte nur verdutzt über ihren Stimmungswandel. „Das war nicht meine Schuld“, sagte er sofort und seine Augen schienen ihr wirklich eine unausgesprochene Entschuldigung mitteilen zu wollen. „Orpheus und eins von diesen Gören haben mich in eine Falle gelockt.“

Agathe runzelte die Stirn, während sie zu ihm aufsah. „Gören?“

„Anscheinend haben wir nicht alle erwischt, als wir diese weißen Hexen getötet haben“, knurrte Basta. „Eine ist übrig geblieben und hat sich mit diesem Hund verbündet. Sie hat mir eine Art magische Falle gestellt, die mit ihrem Herz verbunden war.“

„Hmm“, machte Agathe, während sie sich wieder gegen ihn lehnte. Bastas Griff an ihr war nun etwas entschlossener, aber nach wie vor sanft. Sie waren nur vier Tage getrennt gewesen, aber Agathe lebte nun schon so lange in seiner Gesellschaft, dass es ihr unnatürlich vorgekommen war, ohne ihn zu sein.

Sie war ein eingefleischter Gewohnheitsmensch.

„Ich weiß nicht genau, warum die Wirkung nachgelassen hat“, fuhr er fort und schien nicht wirklich zu merken, was eigentlich dahinter steckte, dass Agathe sich so an ihn presste. Ahnte er eigentlich irgendwas? „Vielleicht ist die gestorben. Zumindest würde es erklären, warum ihr Herz so irrsinnig schnell geschlagen hat … bevor es dann endgültig verstummt ist.“ Er räusperte sich. „Ich konnte es irgendwie spüren, während ich gefangen war. Und als da kein Herzschlag mehr zu finden war, habe ich versuchte, an einem anderen Ort aufzutauchen … bin aber stattdessen hier gelandet.“

„Vermutlich, weil deine Knochen hier sind“, sagte Agathe gedankenverloren und sprach mal wieder, ohne es sich vorher richtig überlegt zu haben.

Sie fühlte, wie Basta sich etwas verspannte. „Meine Knochen?“, fragte er verwirrt.

Ach. Das musste sie ja auch noch erklären. „Ja. Ich habe sie hergebracht.“

„Wieso?“

„Ist das wichtig?“, lächelte Agathe ihn an und legte dann den Kopf schief – genau so, dass er einen perfekten Zugang zu ihrem Hals hatte.

Wie geplant – oder gewünscht – wanderten Bastas Augen sofort zu dem, was der Kragen ihres Hemdes nicht verbarg. Er schmunzelte. „Wenn du so fragst“, meinte er, die Hände an ihrer Taille, „schätze ich mal nein.“ Er beugte sich leicht vor, aber bevor seine Lippen ihre Haut berührten, hielt er inne. „Darf ich?“, fragte er zögernd, wobei sein Atem über ihren Nacken strich.

Agathe machte bloß ein leises, zustimmendes Geräusch.

Basta küsste ihren Hals und ließ seine Hände ihre Hüften rauf- und runter wandern, was in dieser Kombination wohlige Schauer über Agathes Rücken und Arme lauen ließ. Sie stellte sich instinktiv auf die Zehenspitzen und schloss die Augen, um seinen Geruch besser einziehen zu können.

„Ich habe dich vermisst“, entkam es ihr dann kaum hörbar.

Basta hielt abrupt inne und sah sie an, die Augenbrauen etwas gehoben. „So?“, fragte er ehrlich überrascht, aber anscheinend auch erfreut.

Agathe sah etwas beschämt weg, als sie verlegen lächelte. „Ja.“

„Das ist gut“, schnurrte er gegen ihren Hals. „Das ist sehr gut.“

Sie spürte, wie ihr Gesicht zu brennen begann und war froh, dass er sie nicht länger ansah. „Wenn du meinst“, murmelte sie ausweichend und genoss es, wie er sacht mit den Zähnen über die empfindliche Haut ihres Nackens fuhr.

Er traute sich heute eindeutig mehr, als nur Tage zuvor.

„Wir sind dir nach Ombra gefolgt, als du so lange wegeblieben bist“, sagte Agathe und löste sich von ihm.

Bastas Blick bekam etwas Alarmiertes, als er das hörte. „Das hättet ihr nicht tun sollen“, sagte er schnell. „Orpheus hat irgendwas vor – auch wenn ich nicht genau weiß, was. Er ist hier und ich glaube, dass er hinter dir her ist.“

„Um Orpheus werden wir uns nicht mehr lange Sorgen machen müssen“, lächelte Agathe ihn hinterhältig an. „Wir haben einen Weg gefunden, ihn aufzuhalten.“

„Welchen?“, fragte Basta misstrauisch.

„Er wird dir nicht gefallen.“

„Welchen?“, wiederholte er eindringlich.

„Wir haben diese Frau namens Meggie – eine der Zauberzungen – aufgesucht und sie um Hilfe gebeten.“

„Ach.“ Basta lachte erstaunt und spöttisch zugleich auf. „Und wie soll euch die kleine Hexe bitte helfen?“ Dann schien er kurz zu überlegen. „Obwohl, so klein müsste sie inzwischen auch nicht mehr sein. Ich war ja immerhin eine ganze Weile weg.“

„Sie ist jetzt sogar schwanger“, warf Agathe ein. „Aber das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist, dass sie sich bereit erklärt hat, einen Text zu schreiben und zu lesen, der Orpheus töten soll.“

Das brachte Basta zum Lachen. „Wirklich?“, fragte er. „Das kommt unerwartet, so gutherzig wie sie immer getan hat. Wieso will sie das machen?“

„Weil sie anscheinend selbst noch Probleme mit Orpheus zu haben scheint und sich um ihr Kind sorgt“, erklärte Agathe.

Basta grinste. „Mal sehen, ob sie es wirklich macht.“

„Davon bin ich überzeugt“, sagte Agathe. „Ihre Sorge war echt.“

Darauf antwortete Basta bloß mit einem Schmunzeln.

„Lass uns jetzt wieder rüber wechseln“, schlug Agathe vor und griff nach seiner Hand. „Es ist langsam an der Zeit.“

„Bevor wir das tun“, hielt Basta sie auf, „hätte ich es aber noch ganz gerne, dass du mir das mit meinen Knochen erklärst.“

„Muss das gerade jetzt sein?“, fragte Agathe zerknirscht.

Basta nickte ernst, drückte aber sanft ihre Hand. „Erklär es mir.“

„Als du damals nach Kiriaki gesucht hast, nachdem du erfahren hast, dass ich ein Kreuz von ihr bekommen habe, bin ich doch wieder in mein Dorf geflohen“, murmelte Agathe. „Als ich erfuhr, dass meine Mutter schon tot war, wollte ich verschwinden, habe zuvor aber noch deine Knochen im Wald ausgegraben und vor Kurzem hergebracht.“

„Wieso hast du sie ausgegraben?“, fragte er.

Agathe biss sich auf die Zunge. Damals hatte sie sie dazu benutzen wollen, um ihn irgendwie aufzuhalten, falls sie eine Methode gefunden hätte … aber das konnte sie nicht sagen.

„Weil sie wichtig sind“, sagte sie nur. „Sie sind deine menschlichen Überreste.“

„Na und?“

„Eine Seele ist nichts weiter, als eine formlose, körperlose Kraft“, versuchte Agathe es ihm zu erklären. „Sie ist mächtig, kann aber nur in einem Körper wirklich leben. Wenn sie keinen hat, holt sie der Tod zu sich in seine Welt, weil es nicht vorgesehen ist, dass Seelen ohne Leib in unserer Welt existieren.“

„Kann man ihm nicht entkommen?“

„Theoretisch wäre das sogar möglich, wenn die Seele einen anderen Ort hätte, an den sie fliehen könnte“, überlegte Agathe laut. „Einen Ort, der dieselbe Funktion hätte wie ein Körper, weil er vom Rest der Welt abgeschnitten ist – aber so einen Platz gibt es nicht. Zumindest habe ich nie etwas davon gehört und auch in der Erinnerung meiner Mutter lässt sich darüber nichts finden.“

„Und was hatten die Knochen nun damit zu tun?“, fragte er.

„Sie sind die Ausnahme. Denn wenn man noch die menschlichen Überreste einer Seele besitzt, kann man sie daran binden und sie, zumindest für eine Zeit lang, in Form eines Geistes zurückholen.“

Jetzt schien Basta argwöhnisch zu werden. „Was heißt denn für eine Zeit lang?“

Agathe grinste. „Zum Beispiel, bis der Handel zwischen dem Geist und seinem Beschwörer erfüllt ist.“

Basta lachte. „Ach so.“

„Jedenfalls sind die Knochen in dem Moment das einzige, woran ich dich binden kann, solange es keinen anderen Ort als die Todeswelt gibt, an die deine Seele sonst flüchtet.“ Agathe erlaubte sich an dieser Stelle eine kleine Lüge. „Ich musste also aufpassen, dass ihnen nichts passiert.“

Hoffentlich würde er sich nicht daran erinnern, dass sie zu der Zeit eigentlich so etwas wie einen Streit gehabt hatten.

„Aber ich kann doch in eine feste Form wechseln“, meinte Basta. „Der Körper, den du mir gegeben hast, müsste doch eigentlich reichen, um meine Seele festhalten zu können.“

„Der Körper ist gut, aber nicht perfekt“, sagte Agathe und ignorierte es, als Basta amüsiert einen Schmollmund über diese Bemerkung zog. „Ohne menschliche Überreste würde er deine Seele auch nicht mehr halten können. Dafür ist er nicht stark genug.“

„Schon gut, schon gut, ich habe es verstanden“, meinte er und winkte ab. „Komplizierte Sache, diese Magie.“

Sie legte den Kopf schief. Zumindest hatte sie ihn genug verwirrt, um weitere Nachfragen aufzuhalten. „Also wechseln wir jetzt rüber?“, fragte Agathe hoffnungsvoll.

„Wohin?“, wollte er wissen. „Ich weiß gar nicht, wo ihr euch befindet. Ich kann nicht an einen Platz wechseln, den ich nicht kenne.“

„Ach, verdammt“, fluchte Agathe, die begriff, dass sie mit ihren schwachen Kenntnissen über Ombra nicht einmal in der Lage war, ihm den Weg zu beschreiben. Dann hatte sie einen Einfall. „Wir machen es dann so: Wechsel einfach zum Ausgang der Stadt, vor die Stadttore Wir werden ohnehin bald fertig sein und holen dich dann auf dem Weg nach Hause ab.“

Er nickte und Agathe glaubte kurz, in seinen Augen etwas funkeln zu sehen, beschloss aber, nicht weiter darauf einzugehen.

„Bis gleich“, meinte sie und wollte gerade wieder in Meggies Haus wechseln, als er plötzlich einen Schritt vor trat und nach ihrem Handgelenk griff. Basta küsste sie so schnell, dass sie es kaum kommen sah, tat es jedoch vorsichtig und irgendwie voller … Liebe?

„Danke“, flüsterte er, nachdem sich ihre Lippen wieder lösten.

Agathe, etwas umgeworfen, blinzelte verwundert und verwirrt. „Äh … Wofür?“

Wieder dieser Glanz in seinen Augen. „Dass du es Zuhause nennst.“

- Kapitel 50 -

 

Agathes Freude über Bastas Rückkehr wurde von einer leichten Verwirrung gedämpft, als sie wieder in die Küche von Meggies Haus wechselte und feststellte, dass weder Staubfinger, noch Kiriaki sich darin befanden. Sie stand in einem leeren Zimmer.

„Leute?“, rief sie fragend aus und sah sich um. Nur kurz darauf hörte sie eilige Schritte und Kiriaki steckte ihren Kopf in die Küche, die Augen weit wie die eines Rees. „Agathe?“

„Ich bin zurück“, sagte diese gelassen. Und dann: „ist was geschehen?“

„Da passiert gerade was Seltsames“, sagte Kiriaki knapp angebunden und verschwand wieder in dem Flur, aus dem sie gekommen war. Agathe fiel auf, dass das der Weg zur Haustür war.

„Was denn?“, fragte sie und folgte dem Mädchen interessiert.

Als sie bei der Haustür ankam, bemerkte sie, dass Kiriaki wieder zu Staubfinger gegangen war, der durch ein kleines Fenster neben der Tür hinaus ins Freie starrte. Er wirkte sehr wachsam, während er dort dastand.

„Basta ist wieder da“, verkündete Agathe, in der Hoffnung, ihn so auf sich aufmerksam machen zu können. „Er wartet neben den Stadttoren auf uns, damit wir ihn später abholen können. Anscheinend hatte er ein paar Probleme mit Orpheus, aber …“

„Entschuldige, dass ich dich unterbrechen muss …“, sagte Staubfinger. „Aber ich glaube, wir haben gerade größere Sorgen, als die um Basta“, meinte er, ohne den Blick vom Fenster abzuwenden. Selbst aus der Entfernung, die sie von einander trennte, konnte Agathe erkennen, wie angespannt seine Schultern waren.

Das machte sie schon etwas stutziger, als Kiriakis bloße Aufregung. Sie runzelte die Stirn. „Was ist denn los?“, wollte sie wissen und trat näher. „Geschieht gerade etwas?“

Und dann hörte sie plötzlich außerhalb des Hauses Stimmen. Laute und, vor allem, aufgebrachte Stimmen vieler Menschen.

„Da ist irgendein Chaos auf der Straße ausgebrochen“, murmelte Staubfinger düster. „So verdammt viele Menschen.“

Agathe konnte es nun deutlicher hören, die vielen Rufe. Sie legte die Stirn noch etwas mehr in Falten und trat an die Haustür, bevor sie nach der Klinke griff. Sie drückte sie runter, noch bevor Staubfingers „Nicht!“ sie erreichen konnte und öffnete die Tür nur einen Spalt weit, was jedoch genügte.

Mit einer Kraft, als würden mehrere Leute dagegen drückten, flog die Tür endgültig auf.

Etwas perplex starrte Agathe in die Gesichter einiger Leute, die nicht weniger schockiert zu sein schienen, vor ihr zu stehen. Die fremden Menschen schienen ihre Fassung jedoch vor ihr wiederzuerlangen, denn einer von ihnen riss sich wieder zusammen und rief: „Das ist sie! Das ist die verdammte Hexe!“

Agathe zuckte zusammen. Sie war nur selten als Hexe bezeichnet worden – eigentlich fast nur von Basta und sich selbst und dass es nun völlig Fremde taten, war kein gutes Zeichen. Sie wollte zurückweichen, wurde aber ohne jede Vorwarnung am Handgelenk gepackt und mit einem solchen Ruck aus dem Haus gezogen, dass sie über ihre eigenen Füße stolperte.

Hart schlug Agathe auf dem Boden auf und ehe sie begreifen konnte, was eigentlich los war, war sie nicht länger in Meggies Haus, sondern auf der Straße – inmitten einer Menschenmasse, dessen Aufregung nahezu greifbar war.

„Wir haben sie gefunden!“, hörte sie jemanden schreien, genauso wie viele andere.

„Das ist sie!“

„Wir müssen diese Hexe schnell töten!“

„Unsere Stadt wirst du nicht mit deiner Anwesenheit verfluchen!“

Und dann spürte sie einen heftigen Tritt gegen die Seite, zusammen mit einer Hand, die grob in ihr Haar griff, um sie wie ein Tier weiter von dem Haus wegzuzerren, während die Menge Platz machte, um sie durch zu lassen.

Agathe hatte nicht die leiseste Ahnung, was hier gerade vorging – aber selbst in ihrem Anflug von Panik und ihrer Verwirrung konnte sie klar genug denken, um zu wissen, dass sie nicht sicher war. Es war der perfekte Moment, um in Ehtagas Raum zu wechseln. Dafür musste sie sich nur kurz auf ihre Tätowierung konzentrieren und die Worte aufsagen, die Kiriaki ihr eigentlich für die Todeswelt gegeben hatte.

Doch gerade, als Agathe begann, die ersten von ihnen zu flüstern, ließ etwas ihren Kopf zur Seite fliegen – eine Ohrfeige hatte sie so hart und überraschend getroffen, dass sie sich fast auf die Zunge bis, als sie zur Seite fiel. „Halt die Schnauze!“, hörte sie einen Mann knurren und noch bevor sie die Zeit hatte, wieder zu sich zu kommen, hatte sie auch schon etwas um den Mund. Sie wusste nicht, ob es ein Tuch oder ein Seil war, aber es kratzte, war unangenehm und ließ ihrer Zunge nicht mehr genug Raum, um auch nur ein einziges Wort zu bilden.

Und das war eindeutig ein Problem.

„Haltet sie fest“, kam von irgendwo der Befehl und zwischen den ganzen Tritten, die sie noch einstecken musste, spürte Agathe auch, wie ihr etwas um die Hände gelegt wurde. Ein starker Druck hielt sie hinter ihrem Rücken zusammen und ihre Schultern bogen sich nach hinten.

Was zur Hölle passiert hier gerade nur?, dachte sie in ihrer aufsteigenden Panik. Wie hat es dazu nur kommen können?

Ihre Frage wurde indirekt beantwortet, als ein paar der Männer um sie herum sie packten und auf die Beine zerrten, sodass sie inmitten dieser Menge stehen konnte. Denn für einen kurzen Augenblick befand sie sich in einer Position, in der sie über die Menschen um sich herum hinwegsehen konnte, direkt zum Straßenrand, wo eine einzelne Gestalt dastand und das Schauspiel amüsiert beobachtete. Orpheus hatte noch die Zeit, Agathe vom Weiten zuzuwinken, bevor er wieder aus ihrer Sicht verschwand, weil die Leute um sie herum ständig in Bewegung waren.

„Wir müssen sie zum Marktplatz bringen!“, ertönte es, bevor Agathe wieder am Kragen gepackt und mit sich gezerrt wurde.

Ihre Ohren wurden spitz. Marktplatz?

Was wollten sie denn da?

„Passt bloß auf, sie soll gefährlich sein!“ Die Hand, die ihren Kragen umklammerte, kam ständig mit ihrem Nacken in Berührung und Agathe hätte am liebsten über den Haut zu Haut Kontakt geschrien, aber sie war noch geknebelt und so grob, wie sie mit sich geschleppt wurde, wurde ihr förmlich die Luft aus den Lungen gepresst.

Sie konnte nicht erklären, was genau gerade geschah, aber sie wusste, dass sie sich ganz genau davor ihr ganzes Leben lang gefürchtet hatte.

Heute war es so weit. Heute würde sich Agathe ein für alle Mal dazu bekennen müssen, eine Hexe zu sein und auch als solche von den Menschen gerichtet werden.

- Kapitel 51 -

 

Kiriaki war es nicht leicht gefallen, mit Orpheus Schritt zu halten, denn selbst, nachdem Agathe von einigen Menschen verschleppt worden war, war vor Meggies Haus ein irrsinnig großer Krawall gewesen. Das Mädchen hätte die gegnerische Zauberzunge fast aus den Augen verloren, weil sie sich hatte durch die Menschenschar winden müssen, aber letztendendes war es ihr doch noch irgendwie gelungen, ihm zu folgen.

Sie hatte ihn sofort gesehen. Kiriaki hatte zusammen mit Staubfinger das Geschehen vor Meggies Tür durch das kleine Fenster beobachtet, aber während Staubfinger nur auf Agathe geachtet hatte, hatte Kiriaki ihn bemerkt. Diesen einen Mann, der zwar keine Angst gehabt hatte, aber dennoch nicht näher gekommen war, um den anderen zu helfen, die „Hexe“ einzufangen.

Er hatte bloß gelächelt.

Kiriaki hatte nicht viel Zeit zum nachdenken gehabt, nachdem sie ihn entdeckt hatte, denn sobald Agathe weggebracht worden war, war er auch schon losgegangen – in eine andere Richtung, völlig unbekümmert und zufrieden, als wäre für ihn ein wunderbarer Tag gekommen. Kiriaki war sofort aus dem Haus gestürmt und hatte nicht einmal auf Staubfinger geachtet, der sie nicht rechtzeitig hatte aufhalten können.

Jetzt folgte sie ihm völlig außer Atem, aber dennoch so unauffällig wie möglich durch eine schmale Seitengasse, die in eine Art Innenhoff führte. Sie kamen langsam in eine Gegend, die nicht besonders von Menschen erfüllt war, weswegen Kiriaki sich zu sorgen begann, dass er sie früher oder später bemerken würde. Bisher war sie ihm nämlich nicht aufgefallen – weswegen sie umso überraschter war, als er plötzlich stehen blieb und sich an die Seite griff.

Kiriaki verharrte. Sie war etwa zwanzig Schritte von ihm entfernt, wich instinktiv aber noch ein kleines Stückchen zurück. Was als nächstes geschah, konnte sie trotzdem nahezu perfekt mit verfolgen:

Orpheus griff etwas fester nach seiner Seite und beugte sich leicht nach vorne, als wäre ihm schlecht. „Scheiße“, hörte Kiriaki ihn erstickt ausstoßen, bevor er plötzlich nach vorne kippte.

Und mehr kam nicht. Kein Geschrei, kein Stöhnen. Er blieb einfach liegen.

Kiriaki konnte nichts anderes tun, als in stiller Faszination zu begreifen, wie wirksam Meggies Art der Magie eigentlich war … und wie gefährlich.

Sie machte fast einen Satz zur Seite, als ihr plötzlich jemand von hinten die Hand auf die Schulter legte.

„Nur die Ruhe“, hörte sie Staubfinger sagen, als sie mit bleichem Gesicht zu ihm herumfuhr. „Es bin nur ich.“

„Erschreck mich doch nicht so!“

„Ich musste ja irgendwie sicher gehen, dass du nicht einfach wieder davon läufst“, meinte er. „Was sollte das überhaupt?“

Kiriaki schluckte und wies hinter sich, zu der Leiche, die etwas weiter entfernt von ihnen lag. Die beiden standen immer noch in der Seitengasse, Orpheus lag bereits im Innenhoff einiger Gebäude, die alles andere als schön wirkten. Kiriaki vermutete, dass er sich hier die letzte Zeit über versteckt hatte. „Ich bin ihm nachgelaufen, weil ich angenommen habe, dass es Orpheus gewesen ist. Und sobald ich sehe … habe ich auch recht behalten.“

„Er ist also schon tot“, stellte Staubfinger etwas kälter fest, als Kiriaki es ihm zugetraut hätte und obwohl er sicher nicht so eine bösartige Person war, glaubte sie, etwas wie Zufriedenheit in seinen Augen erhaschen zu können. „Das ging schnell.“

„Das war Meggies Zauber, oder?“

„Bestimmt. Sie ist gerade fertig gewesen, als du davon gestürmt bist. Ich habe ihr gesagt, dass ich alles später erklären würde und hab mich dann …“ Er beendete den Satz nicht.

„Aufgelöst?“, fragte Kiriaki.

Er nickte nur.

„Sie wusste gar nicht, dass du tot warst, habe ich recht?“

„Nein“, sagte Staubfinger. „Aber es war ohnehin mal an der Zeit, dass sie es erfährt, denke ich.“ Er räusperte sich. „Ich werde trotzdem noch einmal später mit ihr reden müssen, um ihr zu erklären, weshalb ich so schnell abgehauen bin.“

„Hat sie den Lärm vor der Tür nicht gehört?“

„Scheinbar nicht“, meinte Staubfinger. Dann lachte er trocken auf. „Kann man aber auch verstehen. Ich glaube, dass man kaum noch etwas um sich herum wahrnimmt, wenn man gerade dabei ist, einen Menschen zu töten.“

„Die ersten paar Male vielleicht“, sagte Kiriaki. Sie sah ihn an. „Bist du mich suchen gegangen?“

„Nicht sofort. Zuerst bin ich Agathe eine Weile gefolgt.“ Staubfinger sah etwas gehetzt über die Schulter. „Es scheint, als würden die Leute sie zum Marktplatz bringen, um sie dort zu verbrennen.“

„Das können sie nicht so plötzlich tun“, erwiderte Kiriaki. „Das läuft für gewöhnlich etwas anders ab, mit Hexen …“

„Dieses Mal hat – oder besser gesagt, hatte – aber Orpheus seine Finger mit im Spiel“, entgegnete Staubfinger. „Und das bedeutet, dass momentan alles sein kann. Sie werden sie vermutlich so schnell verbrennen, wie es nur geht.“

„Wir müssen ihr helfen“, sagte Kiriaki und spürte, wie etwas wie Panik sie langsam überkam. Das war nicht gut – es war immer am besten, in solchen Situationen einen kühlen Kopf zu bewahren und es faszinierte sie, dass Staubfinger das so leicht zu gelingen schien. Sie selbst war nämlich drauf und dran, die Beherrschung zu verlieren.

„Natürlich. Aber wir müssen auch bedenken, dass wir auf uns alleine gestellt sind“, warf Staubfinger ein.

Kiriaki kam ein Gedanke. „Basta wartet doch an den Stadttoren auf uns!“, rief sie eifrig aus. „Wir sollten ihn sofort holen.“

Der Feuerschlucker nickte schweigend. Er drehte sich um und ging los, während Kiriaki ihm eilig folgte. Sie war schon zuvor in Ombra gewesen, kannte sich aber dennoch noch nicht allzu gut aus, weswegen es klüger war, sich auf Staubfinger zu verlassen, wenn es um den Weg ging.

Die beiden machten sich auf – und die frische Leiche, die nicht weit von ihnen entfernt lag, ließen sie einfach zurück.

 

Kiriaki war erleichtert, zu sehen, dass Basta tatsächlich an den Stadttoren auf sie wartete, als sie endlich ihr Ziel erreichten. Er hatte sich auf den Boden gesetzt, in das Gras, von dem die Erde dieser Gegend überseht war. Schon vom Weiten erkannte er, dass etwas fehlte.

„Wo ist Agathe?“, fragte er ohne jede Begrüßung, verwirrt, als die beiden in seine Hörweite kamen.

Kiriaki hörte auf, Staubfinger zu folgen und sprintete voraus, zu Basta. „Man hat sie gefangen genommen!“, rief sie ihm zu, noch bevor sie ihn erreichte. „Sie soll als Hexe verbrannt werden, noch heute vermutlich.“

„Was?“ Basta sprang sofort auf und musterte die beiden mit zusammengekniffenen Augen. Kiriaki blieb vor ihm stehen. „Wie kommt das bitte?“

„Orpheus“, antwortete Staubfinger nur, als er ebenfalls bei ihnen angekommen war.

Basta stieß ein tiefes Knurren aus, bevor er fluchte. „Was für ein verdammter Mist“, hörte Kiriaki ihn leise zischen, aggressiver, als sie es je von ihm gehört hatte. „Ich wusste doch, dass er etwas geplant hat.“

„Zumindest brauchen wir uns um den keine Sorgen mehr zu machen“, warf Staubfinger gelassen ein. Er klang fast unbeteiligt. „Er ist jetzt nämlich tot, dank Meggies Hilfe.“

„Und wo ist Agathe?“, fragte Basta sofort.

„Sie ist auf den Marktplatz verschleppt worden“, erklärte Staubfinger, „von einem wütenden Mobb.“

Kiriaki entging nicht, dass Basta bei diesen Worten eine Spur blasser wurde, was bei einem Geist fast an einem Wunder grenzte. „Wie?“, fragte er erstickt.

„Sie ist gewaltsam verschleppt worden, das sagte ich doch.“

„Konnte sie nicht einfach von dort verschwinden?“, fragte Basta nach und Kiriaki hörte aus seiner Stimme das leichte Zittern heraus.

Staubfinger schüttelte den Kopf. „Man hat sie geknebelt.“

„Wenn sie aber wieder sprechen könnte …“

„Das wird dennoch nicht funktionieren.“ Staubfinger räusperte sich kurz. „Ich bin ihr bis zum Marktplatz gefolgt und habe kurz zugesehen, um die Lage einschätzen zu können. Sie scheinen alles für eine Verbrennung vorzubereiten und währenddessen haben ein paar der Männer sich damit begnügt, Agathe ein bisschen … nun ja. Auszupeitschen.“

Bei diesen Worten sahen sowohl Kiriaki, als auch Basta ihn völlig entsetzt an.

„Was?!“, fragte Basta und die Röte kehrte in sein Gesicht zurück, etwas stärker als zuvor.

„Das hast du noch gar nicht erwähnt“, sagte Kiriaki.

Staubfinger ignorierte die Reaktionen der beiden gekonnt. „Ich glaube, sie haben ihren Rücken erwischt. Kiriaki, du meintest doch vorhin zu mir, Agathe könnte sich einfach auflösen, weil sie diesen Kreis auf ihrem Rücken hat.“

„Das war aber nur eine Vermutung …“

„Jedenfalls ist der erwischt worden.“ Staubfinger fuhr sich nachdenklich durch das rötliche Haar. „Und ich weiß nicht, ob es noch wirkt, wenn ihre Tätowierung, oder was auch immer sie da hat, beschädigt ist. Wenn …“

„Und wieso hast du ihr nicht geholfen?“, unterbrach Basta ihn barsch. Er hatte sich dem Feuerschlucker zugewandt, sodass die beiden sich gegenüber standen – und Kiriaki irgendwie halb dazwischen. Das Mädchen fühlte sich äußerst unwohl in dieser Position, aber etwas sagte ihr, dass es gefährlich gewesen wäre, zur Seite zu treten.

Staubfinger ließ sich von Bastas wütendem Unterton nicht beeindrucken. „Und was hätte ich, deiner Meinung nach, denn tun sollen? In meiner unsichtbaren Form jeden der Menschen einzeln umbringen?“ Er schüttelte den Kopf. „Das hätte nicht einmal funktioniert, wenn ich es probiert hätte. Es waren dafür viel zu viele.“

„Aber du hättest doch trotzdem irgendwie versuchen können, ihr zu helfen!“, widersprach Basta stur. „Irgendwie!“

„Und wo hast du eigentlich die letzten Tage über gesteckt?“, fragte Staubfinger plötzlich, fast beiläufig, als wäre es kein großes Thema, aber Kiriaki sah etwas in seinen Augen, das vom Gegenteil überzeugt war.

„Das geht dich nichts an.“

„Du hattest Probleme mit Orpheus, wie ich gehört habe.“

„Halt einfach die Klappe.“

„Wenn wir uns jetzt streiten, helfen wir Agathe auch nicht“, warf Kiriaki kleinlaut ein, weil sie das Gefühl hatte, hier zwischen zwei Fronten geraten zu sein. Sie war sich nicht mehr sicher, ob es hier überhaupt noch um Agathe ging, aber die Luft zwischen Staubfinger und Basta war dick. Wenn sie nicht eingriff, würde hier noch was passieren. „Wir sollten uns lieber beeilen, bevor es zu spät ist.“

Kiriaki brachte es nur unter Mühe auf, nicht zusammenzuzucken, als Bastas Blick zu ihr schoss. „Du hast recht“, sagte er plötzlich, womit er sie mehr als überraschte, bevor er an ihr vorbei ging. „Lasst uns gehen.“

Aber er kam nicht weit, weil Staubfinger ihn mit einer Schnelligkeit, die Kiriaki nicht mit dem Auge erfassen konnte, am Handgelenk packte.

Basta sah knurrend zu ihm zurück. „Lass mich los!“, verlangte er.

Staubfingers Griff lockerte sich nicht. „Und wo willst du dann hin?“

„Sie selbstverständlich retten“, fauchte er. „Was denn sonst?“

„Und das, obwohl du weißt, dass sie dir Capricorn nicht zurückbringen kann?“ Kiriaki hielt angespannt die Luft an, als Staubfinger das sagte. Sie hätte erwartet, dass Basta wütend werden würde, aber dieser schien nur sprachlos. „Ich habe schon mitbekommen, dass du es weißt“, fügte Staubfinger dann hinzu, als sein Gegenüber nichts sagte.

Einen kurzen Moment lang wirkte Basta noch etwas aus der Fassung. Dann runzelte er aber verärgert die Stirn und riss sich mit einer heftigen Handbewegung aus Staubfingers Griff. „Und wenn schon“, spuckte er. „Das interessiert mich nicht.“

„Du willst sie also nur ihretwegen retten? Nicht für Capricorn?“ Staubfinger klang unüberzeugt – als würde er mit diesen Fragen sicher gehen wollen.

„Was dagegen?“, fauchte Basta.

„Nein“, erwiderte Staubfinger tonlos. „Bin nur etwas überrascht. So viel Reife hätte ich dir nämlich nicht zugetraut.“

„Du schindest momentan einfach Zeit, Staubfinger.“

Kiriaki sah gebannt zwischen den beiden hin und her. Sie hatte bisher noch nicht erlebt, dass sie so derartig auf einander losgegangen waren – was erstaunlich war, wenn man bedachte, wie lang sie alle zusammen unter einem Dach gelebt hatten. Unwillkürlich fragte sie sich, ob dieser falsche Frieden an Agathes ständiger Anwesenheit gelegen hatte.

„Ich schinde keine Zeit“, stellte Staubfinger klar. „Ich hätte keinen Grund dafür.“

„Ich weiß ja nicht“, spottete Basta. „Immerhin käme dir das hier nur gelegen. Es wäre doch eine perfekte Rache für alles, was ich dir angetan habe – dass ich jetzt Agathe verlieren würde.“

„Leute …“, versuchte Kiriaki es ein weiteres Mal, wurde aber mal wieder überhört.

„Sicher wäre das die perfekte Rache“, sagte Staubfinger, „und keiner hier kann behaupten, dass du sie nicht verdient hättest“ – darauf bekam er nicht einmal von Basta eine Antwort – „aber hier geht es nicht nur um uns beide. Es geht auch um ein Menschenleben – das von Agathe, um genau zu sein. Und ich hasse sie nicht genug, um sie in das hier einzumischen. Bei solchen Dingen denke ich nicht nur an mich selbst. Im Gegensatz zu dir“, fügte er noch hinzu.

Kiriaki wusste nicht mehr, was sie von den beiden hätte erwarten sollen. Das, was Basta als nächstes sagte, überraschte sie dennoch ein weiteres Mal: „Also können wir jetzt endlich gehen?“

Staubfinger steckte die Hände in die Taschen. „Ja.“

„Allerdings brauchen wir so etwas wie einen Plan“, warf Kiriaki schnell ein, erleichtert, dass sich die Lage gelegt hatte.

Basta sah sie skeptisch an. „Irgendwelche Ideen?“

„Ich hätte eine“, murmelte Kiriaki unsicher und senkte den Blick. „Aber die hat ganz schön viele Risiken …“

„Immer noch besser, als nichts“, entgegnete Basta schulterzuckend, womit es wohl entschieden war. „Und jetzt sag schon. Wie lautet dein Vorschlag?“

Kiriaki linste zu Staubfinger rüber. „Er hat ein bisschen etwas mit Feuer zu tun.“

- Kapitel 52 -

 

Agathe hatte viele schlaflose Nächte damit verbracht, sich auszumalen, wie der Tag, an dem man sie als Hexe entlarven würde hätte aussehen können. Sie hatte sich vorgestellt, stundenlang gefoltert und vergewaltigt zu werden, oder einfach in irgendeinem Kerker rumsitzen zu müssen, um auf den Tod zu warten. Sie hätte sich etwas wie ein Gericht vorgestellt, oder dass Leute sich auf dem Weg zu ihrer Hinrichtung einen Spaß mit ihr erlaubt hätten, indem sie sie ausbuhten oder mit etwas nach ihr warfen.

Dass man sie sofort einfach auf den Marktplatz zerrte, um sie dort zu verbrennen, hatte sie nicht erwartet. Sobald sie wusste, funktionierte das eigentlich auch etwas anders – aber ihr war klar, dass Orpheus hier mit drin steckte.

Was auch immer er den Leuten gesagt oder ihnen angelesen hatte, dass sie es kaum abwarten konnten, Agathe zu töten – es funktionierte.

Agathe fühlte sich wie bei einem Stehgericht, während sie einige Armlängen über dem Boden an den hölzernen Pfahl gefesselt war und darauf wartete, dass die Menschen die nötigen Vorbereitungen für ihre Hinrichtung getroffen hatten. Währenddessen nährte sich keiner von ihnen dem Scheiterhaufen, als hätten sie Angst, allein durch Agathes Nähe die Pest zu bekommen.

Danach hatte das aber noch vor einigen Minuten noch nicht ausgesehen, als diese vier – oder fünf? – Kerle sich so richtig mit der Peitsche an ihr ausgelassen hatten. Agathes Körper war von oben bis unten mit blutigen Hieben überseht, die sie eigentlich ganz gut wegstecken konnte, die aber einen entscheidenden Harken hatten:

Das Portal war zerstört. Das dünne Ende der Peitsche hatte Agathes Haut an den entscheidenden Stellen regelrecht in Stücke gerissen und selbst wenn es ihr gelingen sollte, das Tuch in ihrem Mund loszuwerden, würde es ihr nichts bringen.

Sie saß in der Falle.

Und gerade deswegen überraschte es sie selbst, dass sie in einem solchen Moment fähig war, etwas wie Glücksgefühl zu empfinden, als direkt vor ihr plötzlich eine Gestalt auftauchte und sie mit weiten Augen anstarrte.

„Was zum ..?“, fragte Basta fassungslos, als er sah, wie derartig sie entstellt worden war.

Agathe sah zu ihm herunter, konnte ihn aber nicht ganz erfassen, weil ein Tränenschleier ihr die Sicht nahm. Sie wollte seinen Namen rufen, aber das Tuch in ihrem Mund hinderte sie daran und so entkam ihrer Kehle nichts anderes als ein schluchzender, jämmerlicher Laut.

„Warte“, sagte Basta schnell und verschwand, nur, um Sekunden später direkt hinter ihr wieder aufzutauchen. Der Pfahl, an den sie gebunden war, hatte hinten rum eine Art Halterung, auf die man sich stellen konnte, um die Hexen etwas weiter oben festzubinden, sodass ihre Füße nicht den Boden berührten. Das Seil um Agathes Magen und Brust presste ihr bereits alle Luft aus der Lunge, aber noch etwas enger wurde ihre Kehle, als Basta von hinten nach dem Tuch griff, dass ihren Mund am Reden hinderte. Agathe wusste, was dieses Gefühl bedeutete: es kamen neue Tränen nach.

„Basta …“, schaffte sie es irgendwie seinen Namen zu murmeln.

„Psch“, machte Basta hinter ihr, in dem Versuch, sie zu beruhigen. „Mach dir keine Sorgen. Wir bringen dich hier schon weg.“ Sie spürte, wie er den Knoten in ihrem Nacken löste und gleich darauf war das Tuch nicht einmal mehr halb so eng um ihr Gesicht geschlungen und Agathes Zunge hatte wieder etwas wie Platz. „Du darfst das Ding noch nicht ganz runter nehmen“, erklärte Basta ihr schnell und Agathe spürte, wie er die beiden losen Enden hinter ihre Ohren legte, sodass sie nicht herabfielen. „Ich werde sie so platzieren, dass du es dir sofort runter reisen kannst, wenn es nötig ist, aber jetzt darf es noch niemand bemerken.“

„Danke“, flüsterte sie leise.

„Psch“, machte er wieder und dieses Mal spürte Agathe seine Hände an ihrem Gesicht nur, um ihre Wangen zu streicheln, und nicht um das Tuch zu richten. Basta erfasste mit einem Finger die Stelle, über die die meisten Tränen gelaufen waren und verharrte dann kurz. „Dafür werden sie büßen“, hörte Agathe ihn dann mit eisiger Beherrschung sagen. „Ganz bestimmt.“

„Was habt ihr vor?“, fragte Agathe zitternd, weil ihr aufgefallen war, dass Basta nicht allein war. Schon die ganze Zeit über, während sie auf ihn geachtet hatte, war Staubfinger offenbar damit beschäftigt gewesen, um den Scheiterhaufen herum zu schleichen und etwas wie Pulver auf dem Boden zu verteilen. Dabei platzierte er es nicht unbedacht, sondern in einer Art Muster, rieb es in die Ritzen des Pflasters und in dem Moment verstand Agathe.

„Basta, das wird nicht klappen.“

„Psch …“ Seine Hände wanderten von ihrem Gesicht zu ihren Hüften, sodass er sie leicht anheben konnte und Agathes Körper nicht nur von den eng anliegenden Seilen gehalten wurde. Ihr fiel das Atmen sofort viel leichter.

„Basta, bitte …“

„Es wird funktionieren.“

„Das Portal aus Feuer zu formen ist Irrsinn“, flüsterte sie. „Es wird viel zu undeutlich sein, als dass es klappen könnte.“

„Staubfinger ist gut darin, mit dem Feuer umzugehen. Er wird das schaffen, glaub mir.“

„Basta …“

„Du kannst nicht sicher sein, dass es schief geht, oder? Für Magie gibt es immerhin nicht wirklich so etwas wie Regeln. Alles, was man über sie weiß, sind die Erfahrungen mit ihr. Und das da hat sicher noch niemand versucht.“ Er drückte sie leicht, aber es half nicht.

Agathe legte den Kopf in den Nacken, in dem Versuch, einen Blick auf Basta zu erhaschen, aber er war zu weit hinter ihr. „Wieso … wieso malt ihr das Muster nicht einfach auf den Boden?“

„Das würde zu sehr auffallen.“ Basta begann zu knurren. „Du weißt nicht, wie wachsam Menschen sind, wenn sie wirklich, wirklich Angst haben. Staubfinger können sie zwar nicht sehen, aber wenn ein rätselhaftes Muster um deinen Scheiterhaufen erscheinen würde, würden sie verrückt spielen. Das hier ist viel unauffälliger, trotz der Risiken. Außerdem würde bei einem bloßen Muster jeder sofort zu dir rennen, wenn sie sehen, dass du einen Zauber aufsagst, aber …“

„Aber ins Feuer würde sich niemand werfen“, beendete Agathe den Satz kaum hörbar.

Basta drückte wieder ihre Seiten. „Genau.“

„Das wird nicht funktionieren.“

„Vertrau mir.“ Sie schnappte den Geruch von Pfefferminz auf.

Vorne waren einige Männer vorgetreten und hielten eine Art Rede, um das restliche Volk noch etwas anzustacheln. Einer von ihnen hielt eine brennende Fackel in der Hand und Agathe wurde noch einmal vor Augen geführt, wie wenig Zeit ihr noch blieb.

Sie schloss die Augen, von der Ansprache ihrer Henker bekam sie nicht viel mit. Nur, dass das Wort „Hexe“ laufend verwendet wurde.

„Basta?“, fragte sie leise und konnte weitere Tränen nicht vermeiden. An diesem Tag weinte sie viel.

„Psch …“, machte er nur. Er selbst klang etwas überfordert und angespannt, jetzt, wo er das Feuer gesehen hatte. „Beruhig dich. Es wird alles gut.“

„Und wenn nicht … danke trotzdem.“ Agathe schluckte den Knoten in ihrem Hals herunter.

„Sag sowas nicht. Du wirst das schon schaffen.“ Er klang so entschlossen, dass sie ihm gern geglaubt hätte. Sanft fuhr Basta mit einer Hand über ihren Bauch, vorsichtig, um nicht die Wunden der Peitschenhiebe zu verschlimmern. „Du bist doch mein Teufelsweib.“

„Basta?“

„Hör bitte auf, so viel zu reden“, flüsterte er besorgt. „Sie könnten es bemerken und das ist gefährlich. Versuch bitte, mir nur das Nötigste mitzuteilen, wenn es wirklich sein muss.“

„Ich liebe dich.“ Agathe hörte Basta abrupt inne halten und sie selbst bebte, während diese Worte ihre Lippen verließen, aber die Ansprache der Männer schien sich dem Ende hinzuneigen und wenn sie es nicht jetzt loswurde, würde es für immer zu spät sein. „Ich liebe dich und auch wenn es jetzt so mit mir enden muss, bereue ich nichts.“ Sie hätte gerne nach seiner Hand gegriffen, oder irgendwas in dieser Art, aber ihre Finger waren unter den eng anliegenden Seilen gefangen. Sie musste sich mit seinen Händen an ihren Hüften als Berührung begnügen.

Und obwohl die Lage mehr als ernst war, erlaubte Basta es sich, ein leises, trockenes Lachen auszustoßen. „Du könntest bereuen, mir das nicht früher gesagt zu haben“, meinte er leise und Agathe hörte etwas, das sie nicht einordnen konnte. Sie hätte auf Erleichterung getippt, oder auf Sehnsucht.

Agathe schluchzte auf.

Sie spürte, wie Basta sich vorlehnte und ihr etwas wie einen Kuss auf den Hinterkopf hauchte. „Ich dich auch“, sagte er noch kaum hörbar.

Und dann kam der Mann mit der Fackel langsam näher. Er blieb nur wenige Schritte von Agathe entfernt stehen und sammelte sich ein letztes Mal.

Bastas Griff an ihren Hüften versteifte sich. „Es geht los“, murmelte er.

Und dann warf der Mann die Fackel, sodass das Heu und alles, was man um Agathe und den Pfahl herum gelegt hatte, Feuer fing. Die Flammen begannen, sich nach oben zu fressen und sofort erschien auch der berüchtigte Rauch, der Agathe keuchen und husten ließ. Sie spürte die erste Hitze an ihren Füßen und ein widerwertiger Gestakt nach Asche wehte zu ihr hoch, aber Basta war noch da und das ließ sie sich in dieser Situation fast gut fühlen.

Immerhin hatte sie geglaubt, dass wenn sie schon so hätte sterben müssen, sie es ganz allein getan hätte.

„Scheiße“, hörte sie irgendwo inmitten dieses Durcheinanders Staubfinger fluchen. Der Feuerspucker bewegte sich wie ein Tänzer zwischen all dem Feuer, versuchte es zu kontrollieren und ihm zu schmeicheln. Agathe konnte es nicht ganz mit verfolgen, weil der Schmerz, die Angst und die Panik ihre Sinne lahm legten, aber von dem, was sie mitbekam, war sie fast beeindruckt.

„Wie lange noch?“, rief Basta hinter ihr.

„Wartet noch!“, schrie Staubfinger sofort zurück. „Es muss sich erst noch etwas legen, damit das Muster erkennbar ist! Wartet!“

„Beeil dich!“, rief Basta.

Agate musste einen Schrei unterdrücken, als das Feuer immer weiter zu ihr vordrang. Wenn Gebäude in Flammen aufgingen, erstickten die Menschen darin schneller an dem Qual, als dass sie die Zeit hatten, von den Feuerzungen gefressen zu werden, aber hier, draußen auf dem Marktplatz, gab es keine Möglichkeit dafür. Die Menschen wollten, dass Agathe den ganzen Weg über bis zu ihrem qualvollen Tod litt, und das so richtig.

„Oh Gott …“, stieß sie aus und konnte nicht verhindern, dass ihr Körper unkontrolliert zu zucken begann. Viel zu stark waren die Schmerzen, von denen er gepackt wurde, als ihr Kleid Feuer fing – dabei konnte sie kaum noch sagen, ob diese Quallen von den Peitschenhieben oder den Flammen kamen.

„Beruhig dich“, hörte sie Basta sagen und er klang fast flehentlich. In diesem Moment erkannte Agathe, dass auch er begann, verzweifelt zu werden. „Bitte!“

Agathe ließ sich vom Schmerz völlig überwältigt nach vorne kippen, so weit, wie es die Seile nur erlaubten und dann wurde sie von einer fast schon friedlichen Ruhe überkommen. Das wäre in dieser Situation vielleicht gar nicht so falsch gewesen, normalerweise, aber hier war es anders – denn Agathe glaubte kurz, dass ihr schwarz vor Augen wurde.

„Ich … Ohnmacht“, stieß sie zwischen einem Hustenanfall hervor, den der Rauch verursachte. Das Feuer leckte immer noch an ihrer Haut und griff langsam auf ihre Haare über.

„Was?! Nein!“, rief Basta und schüttelte sie mit einem Mal heftig. „Nein! Nein! Nur das nicht! Staubfinger, verdammt!“

„Es ist noch nicht ganz …“, setzte der Feuerschlucker zur Antwort an, aber er wurde von Basta unterbrochen.

„Dafür bleibt keine Zeit mehr!“

Agathe schaffte es unter Mühe, die Augen zu öffnen, als sie ein Messer aufklappen hörte, weil Basta begonnen hatte, die Seile zu trennen und sah nach unten. Das, was sie in ihrer beeinträchtigten Wahrnehmung sehen konnte, war unglaublich: Die Flammen schienen sich tatsächlich zu etwas zu formen, das Blumenranken ähnelte und obwohl es nicht ganz so fein war, wie die Tätowierung, erinnerte es sofort daran.

Für einen Augenblick hatte sie fast Hoffnung.

Agathe begann, leise die nötigen Worte aufzusagen, als das Tuch um ihr Gesicht sich löste und herabfiel. Alles um sie herum war nur noch eine wallende Hitze, aber die Worte schafften es dennoch nach draußen, weil sie viel zu lange in Agathes Kopf gefangen gewesen waren, als dass sie sie jetzt hätte vergessen können. Agathe sagte das Letzte von ihnen gerade dann, als Basta mit der Messerklinge durch die dicken Seile brach und der Druck um ihren Körper verschwand.

Völlig schlaff begann Agathe, nach unten zu fallen, mit dem Gesicht voran. Sie sah noch den Boden auf sich zu kommen, die leuchtenden Blumenranken, die sie zu begrüßen schienen und letztendlich war da nur noch der letzte, erlösende Schmerz des Aufpralles, als sie mit voller Wucht auf das Portal traf.

- Kapitel 53 -

 

„Ich weiß, dass ich dich mit dieser Frage geradezu auffordere, mich wieder zu verwirren“, meinte Basta neugierig, „aber meintest du nicht, in den Erinnerungen deiner Mutter hätte es nichts über einen solchen Raum gegeben?“

„Gab es auch nicht“, lachte Agathe, die mit vor der Brust verschränkten Händen neben der verkohlten Leiche stand, die am Boden vor ihren Füßen lag und einen leichten Geruch der Fäulnis zu verbreiten begann. „Und gerade das macht es ja so witzig.“

„Seltsamen Humor hast du“, meinte Basta schmunzelnd, der entspannt an der Wand lehnte.

Die beiden befanden sich in Ehtagas Raum – Agathes materialisiertem Unterbewusstsein, das von ihrer Mutter erschaffen worden war, um ihre eigenen Erinnerungen darin einzusperren.

„Findest du das etwa nicht amüsant?“, fragte Agathe verschmitzt. „Ich dachte, du wärst ein Freund der Ironie. Immerhin hat meine Mutter das Ganze nur gemacht, weil sie Angst vor der Strafe des Todes hatte, sobald ihre Seele in sein Reich wandern würde – dafür hat sie versucht, alles auf mich zu schieben und mich manipuliert, wobei sie durch reinen Zufall einen Raum erschaffen hat, der Fähig ist, eine Seele aufzunehmen.“ Agathe konnte sich ein Kichern nicht verkneifen. „Im Grunde genommen hätte sie sich selbst hier verstecken können, ist wegen ihrer Feigheit aber einfach gestorben.“

Und es erschreckte Agathe fast schon selbst ein wenig, wie locker sie das alles wegsteckte.

Basta fuhr sich nur schweigend durch das dunkle Haar.

„Aber eigentlich hätten wir von Anfang an darauf kommen können“, murmelte Agathe und trat über die am Boden liegende Leiche hinweg, sodass sie zu der Wand gehen konnte, an der Basta lehnte. Als sie sie erreichte, streckte die eine Hand aus und berührte diese. „Dieser Raum ist extra dafür erschaffen worden, etwas festzuhalten, das nicht greifbar oder ertastbar ist. Um Erinnerungen einzusperren – und da eine Seele genauso wenig eine Gestalt hat, hätte man sich denken können, dass dieser Ort die Macht besitzt, auch sie festzuhalten.“

„Allerdings verstehe ich nicht, warum das nicht jede Hexe so macht, wenn es so einfach ist“, warf Basta ein. „Du meintest ja, man könnte dem Tod entfliehen, wenn es einen anderen Platz als sein Reich gibt, an den eine Seele fliehen kann. Dieser Raum hier kann es anscheinend – aber wieso hat das noch nie jemand vor uns bemerkt?“

„Ich glaube, dass das nicht bekannt ist“, meinte Agathe. „In den Erinnerungen meiner Mutter habe ich immerhin auch nichts darüber gefunden. Sie wusste wohl selbst nicht, wozu sie fähig war. Oder vielleicht liegt das aber auch mit Orpheus‘ Lesekünsten zusammen.“

Basta hob eine Augenbraue. „Was meinst du?“

„Er hat doch immerhin mitgeholfen, diesem Raum den letzten Schliff zu geben“, erklärte Agathe. „Vielleicht ist dieser Ort – ein Platz, der für den Tod unerreichbar ist – nicht die reine Kraft meiner Mutter gewesen, sondern eine Kombination aus den Zauberzungen und Hexerei.“

Basta zog eine Grimasse. „Das ist viel zu kompliziert.“

„Nicht wirklich“, zuckte Agathe die Achseln. „Doch ich schätze, das brauchst du ohnehin nicht wirklich zu verstehen. Das wichtigste ist ja, dass ich es hierher geschafft habe, bevor ich gestorben bin“, meinte sie und wies mit einer wagen Geste zu der Leiche. Ihr Körper war von den Flammen so dermaßen entstellt worden, dass sie sich kaum noch wieder erkannte, wenn sie auf ihren toten Leib herabsah.

Nachdem Basta sie losgebunden hatte, hatte Agathe das Portal nur Sekunden vor ihrem Tod berühren können – allerdings hatte der Wechsel in die andere Welt ihr den Rest gegeben und Agathe war gleich nach ihrem Ankommen hier gestorben. Ihre Seele hatte hier bleiben können, statt in die Todeswelt zu wandern, da dieser Platz mächtig genug war, um alles Gestaltlose in sich gefangen halten zu können. Ihr verstorbener Leib war jedoch auch hier und Agathe würde sich noch überlegen müssen, wie sie ihn loswerden könnte.

„Ja“, sagte Basta und sie spürte plötzlich seine Hand auf ihrer Schulter. „Das ist das wichtigste.“

Agathe seufzte. „Schade nur, dass ich hier nicht mehr weg können werde“, meinte sie träge.

Anders als Basta, war ihre Seele an nichts gebunden. Sobald sie diesen Raum verlassen würde, würde der Tod sie sich holen und dann wäre Agathe verloren.

Immerhin drohte ihr nun dieselbe Strafe wie ihrer Mutter. Der Tod wollte ihre Seele vernichten, sodass sie endgültig starb.

„Aber ich kann ja noch rein und wieder raus von hier“, sagte Basta. „Ich werde alles hierher holen, was du dir wünschst.“

Agathe lächelte müde. Das war zwar nicht das eigentliche Problem, aber zumindest versuchte er es. „Danke. Und vielleicht lässt sich ja noch irgendwas mit meinen Knochen machen“, meinte sie und sah kurz zu ihrer Leiche. „Auch wenn ich ein wenig bezweifle, dass ich jetzt noch viel bewirken kann, als Geist.“

„Wie schmeichelnd“, bemerkte Basta trocken, jedoch mit gehobenen Mundwinkeln.

„Ich meinte mit Magie.“

„Das weiß ich doch.“

„Vielleicht wird aber Kiriaki irgendwann etwas mit meinen Knochen anfangen können“, murmelte Agathe. „Wenn sie lernt, mit Magie umzugehen, kann sie meine Seele vielleicht daran binden. Dann kann ich hier auch wieder raus, ohne zu befürchten, sofort ins Todesreich gezerrt zu werden.“

„Ich bezweifle ein wenig, dass die Kleine das auf die Reihe bekommt“, meinte Basta skeptisch. „Sie weiß doch gar nicht, wie das geht.“

„Trotzdem solltest du ihr irgendwann meine Knochen bringen“, schlug Agathe vor. „Und wo ist sie jetzt überhaupt?“

Es war schon einige Tage her, seit Agathe hätte verbrannt werden sollen. Seitdem hatte sie Ehtagas Raum nicht verlassen – Basta war jedoch hin und wieder in die andere Welt gewechselt, um die Lage zu prüfen.

„Man erzählt sich bereits Geschichten über dich“, hatte er ihr grinsend mitgeteilt, nachdem er das erste Mal zurückgekommen war. „Und soll ich dir verraten, wie man dich nennt?“

„Och, bitte nicht.“

„Die dunkle Teufelstochter“, hatte er ihren Einwand ignorierend gesagt und eine Hand nach ihrem dunklen Haar ausgestreckt. „Die Hexe, die sich bei ihrer Verbrennung einfach aufgelöst hat und sich nun an den Bewohnern Ombras rächen will.“

Agathe hatte bloß zurückgegrinst. „Darauf können sie wetten.“

Aber so, wie es gerade aussah, würde sie noch lange auf eine Art Rache warten können, denn ihre Situation war, wie gesagt, kompliziert.

„Die Kleine hat auf einen Hoff zurückgezogen“, erklärte Basta.

„Sie ist nicht zu Capricorns Festung zurückgegangen?“

„Nein.“

„Das ist erstaunlich.“ Agathe räusperte sich. „Und du?“

Er sah sie fragend an. „Was soll mit mir sein?“

„Willst du zurück?“

„Was soll ich da, wenn du nicht dort bist?“, fragte er zurück. Und an der Art und Weise, wie gierig seine Augen sie fixierten, wusste sie, dass er es ernst meinte.

Agathe schluckte bei seiner Antwort und versuchte zu verbergen, wie gerührt sie in diesem Moment war. „Aber es kann doch nicht sein, dass du dich hier selbst einsperrst, nur weil ich nicht weg kann.“ Sie wies um sich. „Ich bin daran gewöhnt, in nichts weiter als einem Zimmer zu leben. Das ist kein Problem für mich – es könnte aber eins für dich sein.“

„Tu nicht so, als hättest du nichts dagegen“, meinte Basta. „Ich weiß, dass du dein altes Leben gehasst hast.“

„Das hier ist aber nicht wie mein altes Leben“, entgegnete Agathe. „Jetzt habe ich ja dich bei mir.“

Er legte seine Hände auf ihre Hüften und zog sie energisch an sich ran, sodass Agathe Hals über Kopf gegen ihn fiel. „Meine Rede“, schnurrte er in ihre Haare, während er sie an sich drückte. Agathe lächelte gegen seinen Hals.

„Du bst also zufrieden?“, flüsterte sie.

Sie spürte, wie er zwei Finger unter ihr Kinn schob. Basta hob ihr Gesicht an, sodass er sie nicht nur ansehen, sondern auch küssen konnte. Wieder breitete sich dieser vertraute Geschmack nach Pfefferminz in ihrem Mund aus, als er seine Lippen fordernd gegen ihre drückte.

Es war ein liebevoller Kuss.

„Wir sollten trotzdem versuchen, diesen Raum hier etwas zu verändern“, lächelte Agathe, als sie sich wieder lösten. Sie sah zu ihrem alten Körper. „Immerhin werde ich hier in gewisser Weise für immer leben müssen. Da können wir uns auch … etwas einrichten.“

Basta legte den Kopf schief, als er seine Hand mit ihrer verschränkte. „An was hast du da gedacht? Soll ich etwas aus der anderen Welt hierher bringen, um es für dich besser zu gestalten?“

Sie schüttelte amüsiert den Kopf. „Nein, nicht nötig“, versicherte sie ihm. „Vergiss nicht, dass das hier mein Unterbewusstsein ist. Ich habe hier das Sagen und auch wenn ich es noch nicht ganz unter Kontrolle habe“, erklärte sie mitten in der Bewegung, „sollte es für den Anfang reichen. Zum Beispiel, um diese kleine Welt zumindest ein bisschen größer werden zu lassen.“

„Es wundert mich fast ein wenig, dass du dich so leicht damit zufrieden gibst, hier zu bleiben“, meinte Basta währenddessen. „Ich dachte, wir wollten die Welt beherrschen.“

„Es wurde ja nie erwähnt, welche Welt.“ Agathe streckte die Hand aus und kurz wirkte es, als würde sie ins Leere greifen, aber nur Sekunden später bildete sich an der Wand plötzlich ein Türgriff – und um den Türgriff herum, eine Tür. Agathe umfasste die Klinke und lächelte Basta seitlich zu, bevor sie runter drückte. „Machen wir das Beste daraus.“

- Kapitel 54 -

 

Seit Anbeginn der Zeiten existierten Leben und Tod nun schon auf dieser Welt. Das war eine lange Zeit, viel zu lange, und in ihrem Verlauf konnte er sich an nur wenige Male erinnern, in denen diese vergänglichen Geschöpfe namens Menschen etwas wie Wut in ihm ausgelöst hatten.

Das letzte Mal war vor einiger Zeit gewesen, als ein Buchbinder gemeint hatte, dem Naterkopf Unsterblichkeit schenken zu müssen, indem er mithilfe von magischen Worten ein Buch erschuf, das das Sterben verhinderte.

Und heute war es diese Hexe.

„Dass sie es wirklich geschafft hat“, warf er einen seiner Gedanken in den leeren Raum, den er sein Reich nannte. Die Welt des Todes, die in der Welt der Lebenden so viele Namen hatte, im Grunde genommen aber dieselbe, eine Aufgabe: nämlich die Toten aufzunehmen.

Der Tod spürte Agathes zerstörten Leib. Er spürte ganz genau, wie irgendwo ihr Körper langsam zu Erde zerfiel und ihr Gefäß somit zerbrach, was in ihm die Lust weckte, nach ihrer Seele zu greifen, aber diese war für ihn nicht erreichbar.

An irgendeinem Ort, den er nicht benennen konnte.

„Ich erinnere mich noch“, flüsterte er leise. Er wusste noch ganz genau, was er gedacht hatte, als Agathe ihm versprochen hatte, nicht in seine Hände zu fallen. Er hatte sie nicht ernst genommen, obwohl er ganz genau gewusst hatte, was für eine Nervensäge bereits ihre Mutter gewesen war – und das hatte er jetzt davon. Jetzt hatte sie ihre Drohung eingehalten und widersetzte sich ihm.

Er hätte sie schon viel früher holen sollen.

„Diese Menschen werden immer dreister“, murmelte er und schaute durch die Schwärze seiner Welt auf die der Lebenden hinab.

Immerhin war es ja nicht nur so, dass ihm allein Agathe entkommen war. Den Brandstifter hatte sie gleich bei sich behalten, nachdem sie ihn von einem Nachtmahr in einen gewöhnlichen Geist verwandelt hatte. Aber viel schlimmer war vermutlich der Verlust des Feuerspuckers, den seine Töchter so geliebt hatten.

Es gab die Möglichkeit für lebende Menschen, Geister in ihrem Inneren aufzunehmen, was jedoch nur wenige machten, da es eine regelrechte Folter sein konnte, sich seinen Körper zwischen zweien zu teilen. Dieses kleine Mädchen, das schon öfter mal beinahe zu ihm gekommen wäre, schien da jedoch anders zu sein – denn wenn er in die andere Welt sah, und sie erblickte, während sie sich mit dem Feuerspucker einen Körper teilte und auf einem Hof mit einer dunkelhaarigen Frau lebte, erschien sie ihm tatsächlich glücklich. So glücklich, dass er die Hoffnung, sie würde den Feuerschlucker irgendwann doch noch aus ihrem Körper verbannen, aufgab – und da sie zu allem Überfluss auch noch sehr jung war, würde er noch eine lange Weile darauf warten müssen, bis ihr Körper nicht mehr fähig war, zwei Seelen zu halten.

Dieser gerissene Fuchs, dachte der Tod über den Feuerspucker. Da hatte er es ein letztes Mal geschafft, ihm noch einmal zu entkommen – und das, nachdem der Tod ihm ohnehin schon zehn Jahre mehr gewährt hatte.

„Sie werden wirklich immer schlauer, diese Menschen“, überlegte er leise und zog sich aus der Welt der Lebenden zurück, zurück in sein dunkles, kaltes Reich. „Und ich frage mich langsam fast, ob es unter ihnen nicht welche gibt, die der Unsterblichkeit doch würdig sind.“

Aber das war bloß so ein Gedanke.

 

Ende

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 11.10.2015

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Mona, und, da ihr in gewisser Weise alle Rechte an den wunderbaren Figuren gehören, auch an Cornelia Funke, die mit ihrer Tintenwelt-Trilogie bis heute einen Ehrenplatz in meinem Bücherregal hat :)

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