Cover

Mit Stift und Linse

 

Seit vielen Jahren fotografierte Rachel nun alles, was ihr vor die Linse geriet – ob Orte, Leute, Tiere, besondere Anlässe oder einfache Kleinigkeiten aus dem Alltag, die ihr das Leben etwas versüßten; sie nahm wirklich alles auf.

  Ein Talent dafür hatte sie aber immer noch nicht entwickelt.

  Rachel musste schmunzeln, als sie auf den Bildschirm ihrer Kamera sah und die verwackelte Aufnahme eines Kuchens in Schlossform entdeckte, die sie eben gemacht hatte. Es war eindeutig nicht ihr bestes Foto, aber auch nicht ihr Schlechtestes.

  „Sieht das Bild schön aus?“, fragte das kleine Mädchen hinter der Theke am Kuchenstand und lehnte sich neugierig vor, sodass ihre Zöpfe fast in die Schokoladenglasur einer Torte gerieten. Sie war ein entzückendes Ding, fast so süß wie das Gebäck, das sie verkaufte.

  Rachel lächelte ihr zu. „Nein. Ich bin eine furchtbare Fotografin“, lachte sie und machte ihre Kamera bereit für eine neue Aufnahme. „Aber das macht nichts. Ich habe alles, was ich brauchte. Fast, jedenfalls. Lächel mal“, sagte sie und richtete die Linse auf das Kind vor ihr.

  Das Mädchen lächelte und zeigte eine niedliche Zahnlücke zwischen den Zähnen, als sie in die Kamera strahlte. Rachel schoss das Foto, bedankte sich noch einmal, kaufte sich ein paar Kekse für Zuhause und ging dann zum nächsten Stand.

  Sie liebte diese ganzen Feste, die Grundschulen für gute Zwecke organisierten und genoss jede Sekunde, die sie unter den fröhlichen Kindern verbringen konnte. Sie musste zwar immer alleine zu solchen Veranstaltungen gehen, weil ihre Eltern am Wochenende zu tun hatten und ihre Freunde von sowas nicht viel hielten, aber das war kein Problem. Solange Rachel ihre Kamera hatte, war sie nicht allein.

  Sie schob sich vorsichtig durch die Menschenmasse in den Gängen der kleinen Grundschule und verzog sich in eine Ecke, in der gerade nicht so viel los war. Als sie das ruhige Plätzchen erreichte, nahm sie ihren Rucksack von der Schulter und öffnete ihn.

  Ihr Rucksack war, genau wie ihre Kamera, immer dabei. Darin befanden sich stets eine zweite Speicherkarte für Fotos, falls die eine mal zu voll wurde, ein zweiter Akku, ein Stadtplan, ihr Geldbeutel, ihr Handy mit Kopfhörern, eine Wasserflasche und ihr liebstes Buch.

  Rachel trug diese Dinge immer bei sich, weil sie ihr etwas wie Sicherheit boten. Diese Sicherheit hatte sie dringend nötig, denn ohne diese Sachen war es für sie nicht immer möglich, alleine vor die Tür zu gehen. Das lag daran, dass Rachel krank war. Seit ihrer Geburt.

  Es war keine Behinderung, sondern eher eine psychische Störung. Rachel war ohne inneres Auge, also ohne Vorstellungskraft auf die Welt gekommen, weil der Teil in ihrem Gehirn, der dafür verantwortlich war, eine Art Fehlfunktion hatte oder gar völlig kaputt war.

  Wenn sie denselben Leuten immer wieder begegnete oder dieselben Orte aufsuchte, erkannte sie sie wieder, aber bildlich vor Augen rufen konnte sie sie sich nicht. Auch an den Verlauf von Ereignissen oder Filmen konnte sie sich erinnern, sie aber nicht innerlich noch einmal durchlaufen. Wenn sie gewisse Dinge also nicht regelmäßig sah, konnte es gut sein, dass sie sie nach einer gewissen Zeit vergaß.

  Es war etwas wie eine innerliche Blindheit.

  Rachel konnte damit aber mittlerweile recht gut umgehen. Um nichts zu vergessen, fotografierte sie alles mit ihrer Kamera und erstellte Zuhause Alben. Wenn sie mal durch die Stadt fuhr und sich verlief, weil sie sich den richtigen Weg nicht mehr erdenken konnte, zückte sie den Stadtplan in ihrer Tasche und fand sich dann doch zurecht. Alles in Allem hatte sie es also recht geschickt in den Griff bekommen. 

  Nur das Lesen bereitete ihr noch Probleme.

  Wenn Leute Romane lasen, versanken sie in den Geschichten und hatten zumindest eine verschwommene Vorstellung von den Charakteren und den Orten, die diese aufsuchten – bei Rachel war das nicht der Fall. Sie hatte schon viele Bücher gelesen und die Geschichte spannend gefunden, doch es war ihr eher so vorgekommen, als hätte sie einen endlos langen Sachtext gelesen. Sie fand es schade, sich nichts von dem Gelesenen vorstellen zu können und selbst die Verfilmungen konnten ihr nicht besonders helfen, weil sie sich nur selten genau an die Beschreibungen hielten. Es war also nur ein schwacher Trost.

  Vor allem ein bestimmtes Buch hatte es ihr angetan. „Das Reich der toten Rosen“ war der Titel ihres liebsten Romanes, in dem die Protagonistin jede Nacht in eine Traumwelt hinabstieg, die ein wenig der aus „Alice im Wunderland“ glich. Rachel hatte das Buch mehr als oft gelesen und hoffte immer noch auf eine Verfilmung, die aber scheinbar nie kommen würde. Dafür war das Buch einfach zu unbekannt und Rachel würde wohl eine Ewigkeit darauf warten müssen, zu erfahren, wie genau das Reich der toten Rosen nun eigentlich aussah.

  Das Mädchen fischte sich ihre Wasserflasche aus dem Rucksack und trank einen kräftigen Schluck, bevor sie die Flasche wieder einsteckte und den Rucksack schulterte. Es war ein heißer Sommertag und obwohl sie sich im Gebäude befand und somit vor den Strahlen der Sonne geschützt war, bildeten sich Schweißperlen auf Rachels Stirn und jeder sachte Windzug war ein Genuss.

  Rachel nahm ihre Kamera fester in die Hand und ging weiter. Inzwischen hatte sie fast alle Stände durchgeguckt und von allem, was sie interessierte mindestens ein Foto geschossen. Es wäre genau jetzt an der Zeit für sie gewesen, zu gehen, wenn sie nicht noch eine offene Tür gesehen hätte, von der sie sich sicher war, sie vorhin übersehen zu haben.

  Vorsichtig betrat Rachel den umgestellten Klassenraum und sah sich um. Hier war es erstaunlich ruhig, nicht so lebendig wie auf den Gängen, aber das lag daran, dass in diesem Zimmer niemand war. Niemand, außer einem einzigen Jungen.

  Er hatte sich eine rote Cap verkehrtherum auf die braunen Haare aufgesetzt, das schwarze T-Shirt unordentlich in die Jeans gestopft. Er trug dunkle Schuhe mit einem roten Zeichen und um seinen Hals hing ein dickes Kreuz aus Holz. Der Junge lehnte an einem Tisch und blätterte gerade in einer Zeitschrift. Als er Rachel hereinkommen hörte, sah er kurz auf und warf ihr einen gelangweilten Blick zu, widmete sich dann aber wieder seinem Magazin.

  Rachel sagte nichts und sah sich interessiert in dem Raum um. Hier gab es keinen wirklichen Stand, aber es waren überall Tische im Zimmer verteilt, auf denen sich Bilder stapelten. Es hingen auch Bilder an der Wand, sie hingen an den Fenstern, einfach überall. Kaum einen Fleck gab es in dem Raum, der nicht von irgendwelchen Kritzeleien erfüllt war, selbst auf dem Boden in den Ecken waren einige verteilt. 

  Völlig überwältigt ging Rachel von einem Tisch zum anderen, wagte es aber nicht, ein Foto zu machen, weil es ihr irgendwie unangemessen erschien. Sie betrachtete bloß selbstvergessen die Zeichnungen von Käfern, Pflanzen, Zimmern und Kleidern, bevor ihr Blick auf etwas fiel, das ihr den Atem verschlug.

  Es war das Bild von einem steinernen Brunnen, der von lauter Blumentöpfen umgeben war, deren Blumen, Blätter und Pflanzen perfekt ineinander wuchsen und etwas wie ein Gebüsch bildeten. In „Das Reich der toten Rosen“ gab es einen ähnlichen Brunnen. Der war zwar von einer anderen Art von Blumen umgeben und hatte eine hellere Farbe, aber die Zeichnung war echt nah dran.

  Mit steifen Schultern drehte sich Rachel zu dem Jungen um, der immer noch in der Zeitschrift blätterte. „Verkauft ihr die Bilder?“, fragte sie mit zitternder Stimme, die Aufregung ließ sie ganz heiser klingen.

  Der Junge sah nun auf und musterte sie. Er hatte braune Augen und unnatürlich rote Lippen, was Rachel sofort auffiel. Sowas sah sie nicht oft bei Jungs. „Ja, klar. Wusstest du nicht, dass man mit sowas richtig viel Geld verdienen kann?“, fragte er etwas sarkastisch und sah wieder in seine Zeitschrift. Er dachte, dass sie sich über ihn lustig machte und nahm ihre Frage gar nicht ernst.

  „Nein, jetzt mal ernsthaft. Was würde ein Bild kosten?“, fragte Rachel entschlossen und nahm das Bild mit dem Brunnen in die Hand. Sie zeigte es ihm. „Ich würde das hier gerne haben.“

  Etwas irritiert sah er sie wieder an. Er schien nachdenken zu müssen, ob sie ihn nun verarschte, oder nicht, aber als er Rachels ehrlichen Gesichtsausdruck sah, seufzte er geschlagen, legte das Magazin weg und verschränkte die Hände gelassen vor der Brust. „Wenn du es wirklich willst, kannst du es haben. Die Bilder sind umsonst.“

  „Ihr verkauft sie nicht?“, fragte sie überrascht und betrachtete die Zeichnung genauer. Es war sehr sorgfältig gemacht. Es stimmte alles daran, der Zeichenstill, die Farben, die Schattierungen. Man hatte sich viel Mühe damit gemacht und obwohl es eine nette Geste wäre, konnte Rachel sich nicht vorstellen, dass jemand umsonst so lange an einer Sache saß.

  Der Junge zuckte die Schultern. „Wer sollte sie schon kaufen? Die Lehrer dieser Schule haben mich gebeten, mit den Kindern ein wenig Zeichenunterricht zu betreiben und das alles ist dabei herausgekommen.“ Er wies einmal um sich, dabei wirkte er wenig begeistert. „Du kannst so beeindruckt tun, wie du willst, aber die traurige Wahrheit ist, dass außer ein paar Eltern niemand bisher hier war, um sich die Bilder auch nur anzusehen, geschweige denn eins mitzunehmen.“ Er lächelte ihr schwach zu. „Gratulation. Du bist die erste, die irgendein Interesse daran zeigt.“

  „Zeichenunterricht mit Kindern, sagst du“, murmelte Rachel und drehte das Bild um. Hinten stand ein Name in kleinen Buchstaben drauf geschrieben. „Robin Drebes“, las sie leise vor, bevor sie wieder zu dem Jungen sah. „Und du sagst, das hier hätte ein Grundschüler gemalt? Dafür ist das aber ziemlich gut.“

  „Nein, das ist von mir“, sagte der Typ und wirkte zum ersten Mal fast verlegen.

  „Und du willst wirklich nichts dafür?“, fragte Rachel.

  Robin betrachtete sie unsicher. Er begann anscheinend zu begreifen, dass sie es ernst meinte und wusste gar nicht, wie er mit dem Lob an seinen Bildern umgehen sollte. Er wandte sich ab. „Nein.“

  „Du kriegst trotzdem was. Du hast mir nämlich gerade einen großen Wunsch erfüllt, den ich schon seit mindestens ein paar Jahren habe“, erklärte Rachel und streckte ihm die Hand mit der Tüte entgegen, in der sich die Kekse befanden, die sie vorhin gekauft hatte.

  Verwirrt sah Robin die Tüte an. „Was ist das?“

  „Kekse.“

  „Das brauchst du wirklich nicht.“ Er schluckte und suchte nach einem Punkt im Zimmer, den er ansehen konnte.

  „Nein, nimm sie“, versuchte Rachel ihn zu überreden und lächelte wieder. „Du kannst sie haben. Du hast mir mit dem Bild einen großen Gefallen getan.“

  „Jetzt übertreib bitte nicht.“ Nun wirkte er wieder etwas genervt, schien aber nicht wirklich wütend auf sie zu sein. Mit hochgehobener Augenbraue blickte er sie an. „Wieso sollte das Bild so wichtig für dich sein?“

  Rachel legte die Tüte auf einen der Tische und lehnte sich genau wie Robin dagegen, dann begann sie in aller Ausführlichkeit, ihm ihr Problem zu erklären. Sie hatte Leuten schon oft von ihrer inneren Blindheit erzählen müssen, weswegen das alles wie eine eingeprobte Rede klang. Robin hörte zwar zu, machte aber bei jedem ihrer Worte ein Gesicht, als wäre sie verrückt. Zu Beginn glaubte er ihr kaum, aber sein Interesse an ihrem Leben wuchs im Laufe des Gespräches mit jedem Satz, den sie sagte.

  „Also. Nimmst du jetzt die Kekse oder nicht?“, fragte sie zum Schluss ihrer Rede, aber Robin schüttelte nur ungläubig den Kopf.

  „Innere Blindheit“, murmelte er dabei völlig aufgelöst. „Das klingt echt übel. Und das kann man nicht irgendwie heilen?“

  „Nein“, sagte Rachel. Dann musste sie lächeln. Diese Frage hatte sie schon oft gehört. „Man kann nur versuchen, es sich so angenehm wie möglich zu gestalten. Und das Bild wird mir dabei gewaltig helfen, das kannst du mir glauben.“

  Darauf erwiderte Robin erst einmal nichts. Er sah sie nur an, nachdenklich, und spielte mit seinem Kreuz herum. Dann griff er nach der Tüte, die Rachel zwischen ihnen hingelegt hatte, öffnete sie schweigend, nahm sich einen Keks und bis ein Stück ab. Nach ein paar Sekunden der Stille schluckte er das Gebäck runter. „Wieso hilft dir das Bild?“, fragte er dann, ohne sie anzusehen.

  Rachel nahm ihren Rucksack von der Schulter und suchte darin nach dem Buch. Als sie es fand, holte sie es heraus und reichte es ihm. Auf dem Cover war nichts weiter, als eine schwarze Rose vor einem weißen Hintergrund, darunter eine goldene Schrift mit Namen des Autors und Titel des Romanes.  

  „Es sieht aus wie eine Szene aus diesem Buch“, erklärte Rachel. „Mein liebstes Buch. Wie gesagt, meine Vorstellungskraft ist nicht zu gebrauchen, daher ist es für mich nicht immer einfach, Bücher zu lesen. Ich muss alles zuerst auf Bildern sehen.“

  Robin blätterte in dem Buch. Es war nicht besonders dick, umfasste vielleicht 200 Seiten. „Wow“, murmelte Robin leise, „deine Lage ist echt … ganz schön beschissen.“

  „Ja, so könnte man es nennen“, lachte Rachel und legte die Beine übereinander. Sie hatte die Kunstwerke der Grundschüler etwas verschoben und saß nun auf einem der Tische.

  „Konntest du den Brunnen nicht selbst zeichnen?“, fragte Robin, immer noch mit dem Buch beschäftigt.

  Traurig schüttelte Rachel den Kopf. „Zu gerne. Aber man muss sich etwas vorstellen können, um es zu zeichnen.“ Sie hatte es oft versucht, aber ohne Anleitung einer anderen Person wollte es einfach nicht klappen.

  Robin nickte. „Verstehe. Ich schätze, du hast Recht.“ Er räusperte sich. „Ich hatte früher Zeichenunterricht und fand es am Anfang auch ziemlich schwer, weil ich nie genau wusste, wie ich anfangen soll … Das ist ziemlich blöd.“ Er biss sich auf die Lippe.

  „Warum hast du aufgehört?“, fragte Rachel freundlich, aber nicht zu aufdringlich.

  Er schnaubte. „Du siehst doch, es ist Zeitverschwendung. Niemand interessiert sich dafür.“ Er schob sich unruhig hin und her. „Ehrlich gesagt bist du die erste, von der ich glaube, dass sie es mit ihrem Lob überhaupt ernst meint.“

  „Ich finde nicht, dass das alles Zeitverschwendung ist“, sagte Rachel aufrichtig. „Du bist ziemlich gut.“

  Robin schwieg nach diesem Kompliment nur. Abwesend drehte er das Buch hin und her. „Und du musst wirklich alles fotografieren?“, fragte er nach einer Weile in dem Versuch, das Thema zu wechseln.

  Rachel tat ihm den Gefallen und nickte. „Ja. Da fällt mir ein …“ Sie nahm ihre Kamera und schaltete sie an, bevor sie das Gerät auf Robin richtete. „Lächel mal.“ Sie drückte aber schon ab, bevor er verstehen konnte, was geschah und fand schon kurz darauf ein Bild von einem verwirrten Robin, der verständnislos in die Kamera sah.

  „Lösch das bitte“, bat er, aber Rachel wich zurück, bevor er etwas machen konnte.

  „Nein, das passt schon“, versicherte sie und schaltete das Gerät eilig aus.

  „Wehe, du zeigst das irgendwem“, drohte er ihr hitzig.

  Rachel grinste und winkte ab. „Keine Sorge, das wird schon niemand außer mir sehen.“

  „Gut“, murmelte Robin finster und betrachtete wieder das Buch in seinen Händen.

  Rachel erinnerte sich an die Uhrzeit und warf einen kurzen Blick auf ihre Armbanduhr. Sie hatte eigentlich schon vor Längerem gehen wollen, aber durch das Gespräch mit Robin hatte sich ihr Aufenthalt hier etwas in die Länge gezogen. „Ich muss jetzt los, wenn ich den letzten Bus noch erwischen will“, sagte sie und griff nach ihrem Rucksack. Die Tüte mit den Keksen ließ sie liegen und tat, als würde sie sie vergessen.

  „Kann ich das Buch für ein paar Tage haben?“, fragte Robin plötzlich und wies auf „Das Reich der toten Rosen.“

  Rachel zuckte erschrocken zusammen. „Na ja … klar“, sagte sie etwas verdutzt. Die Vorstellung, ohne einen ihrer Helfer leben zu müssen, gefiel ihr jedoch nicht besonders. „Aber … ich brache es so schnell wie möglich zurück, sonst …“

  „Kein Problem.“ Robin sprang lässig vom Tisch. „Ich bringe es dir vorbei, sobald ich fertig bin. Kann ich deine Nummer haben?“ Er fragte einfach aus dem Nichts und Rachel wusste nicht wirklich, wie sie reagieren sollte.

  „Äh, ja …“, murmelte Rachel unsicher. „Ich … Ich schätze schon.“ Sie diktierte ihm schnell ihre Nummer, bevor sie sich verabschiedete und die Grundschule verließ, um ihren Bus zu erwischen.

  Als sie in dem Fahrzeug saß, war es seltsam, dass ihre Tasche nicht das sonstige Gewicht hatte. Sie fühlte sich leichter an, als normalerweise und Rachel fühlte sich unwohl. Trotzdem hoffte sie, dass Robin sein Versprechen halten und ihr das Buch so schnell wie möglich vorbeibringen würde.

  Rachel war so vertieft in ihre Gedanken, dass sie gar nicht darauf kam, sich zu fragen, warum genau Robin das Buch eigentlich gewollt hatte. Die Antwort erfuhr sie erst einige Tage später.

 

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  Es waren vier Tage seit dem Fest in der Grundschule vergangen und Robin war immer noch nicht vorbeigekommen, um ihr das Buch zurückzugeben, dafür hatten die beiden aber mehrmals miteinander geschrieben.

  Robin hatte sie gleich am selben Tag angeschrieben, um sich mit ihr zu unterhalten. Nicht über Kunst, nicht über ihre innere Blindheit, sondern über ganz alltägliche Sachen wie Schule und Freizeit.

  Für Rachel waren schriftliche Gespräche solcher Art besonders schön, weil sie sie immer wieder nachlesen konnte, selbst in ferner Zukunft, wenn schon einige Jahre vergangen und die Erinnerungen verblasst waren. So konnte sie sich trotz Allem an schöne Momente erinnern.

  Und Robin war es eindeutig wert, sich an ihn zu erinnern.

  Robin, was ist jetzt mit meinem Buch?, hatte sie ihm an einem Abend geschrieben, weil sie es inzwischen kaum noch aushielt. Zu diesem Augenblick saß Rachel gerade im Schlafanzug auf ihrem Bett und bastelte mit gedämpfter Musik im Hintergrund an einem neuen Album. Sie konnte nicht mehr zählen, wie viele sie eigentlich hatte.

  Hab ganz vergessen, dir Bescheid zu geben, lautete seine Antwort, die in weniger als einer Minute kam. War heute vorhin bei dir Zuhause, aber es war niemand da. Das Buch liegt im Briefkasten. Ich hoffe, es gefällt dir.

  Rachel runzelte die Stirn über diese Bemerkung und sprang sofort von ihrem Bett, bevor sie ins Treppenhaus lief und an ihren Briefkasten ging. Das Buch lag tatsächlich darin, aber in einem großen Umschlag. Rachel nahm es mit in ihre Wohnung, schloss die Tür hinter sich und stampfte zurück in ihr Zimmer, um sich dann aufs Bett zu werfen.

  Mit klopfendem Herzen riss sie den Umschlag von dem Buch herunter und betrachtete es mit einer seltsamen Aufregung in der Brust. Es sah aus wie immer, jedenfalls von außen. Als Rachel aber die erste Seite aufschlug und weiterblätterte, wurde ihr ganz heiß.

  Robin hatte in das Buch gezeichnet. Jede Seite, jeder verwendbare Fleck war von ihm bekritzelt worden. Neben den Texten räkelten sich steinerne Säulen nach oben, die von den verschiedensten Blumen bewachsen und detailiert geschmückt waren. In den Ecken sah man Füchse, Katzen, Hunde und alle anderen Tiere, während Vögel mit bunten Flügeln zwischen den Buchstaben flogen. Robin hatte Kärtchen mit Bildern von den Charakteren reingelegt und an manchen Stellen sogar etwas wie einen Comic gezeichnet, was Rachels Mund vor Erstaunen aufklappen ließ.

  Sie konnte es nicht fassen. Das war so schön, dass sie es kaum beschreiben konnte. Die meisten Zeichnungen waren wie dahingeworfen, ein wenig unordentlich, aber trotzdem so treffend, dass sie zum ersten Mal glaubte, keine Vorstellungskraft zu benötigen. Sie sah alles klar und deutlich vor sich.

  Völlig fasziniert sah sie sich jede einzelne Seite an und betrachtete die dazugehörigen Bildchen, bis sie die Dankesaussagung am Ende des Buches erreichte. Darunter war nämlich relativ viel Platz geblieben, sodass Robin eine weitere Zeichnung hatte hinzufügen können.

  Das Bild bestand aus kaum mehr als ein paar taktvoll platzierten Strichen, war aber trotzdem leicht zu erkennen: es war ein Mädchen, dass sich auf die Zehenspitzen stellte und mit hinter dem Rücken verschränkten Händen einen Jungen auf die Wange küsste. Daneben stand eine kurze Nachricht:

  Hey, Rachel. Ich hoffe, dir gefällt, was ich aus dem Buch gemacht habe. Ich gehe übrigens wieder zum Zeichenunterricht und bräuchte daher ein paar Übungen. Falls du also noch weitere Bücher hast, nur her damit. Und wenn du dich wieder bedanken willst, musst du dir nichts ausdenken. Meinen Vorschlag findest du neben dieser Nachricht. Kekse täten es aber auch.

  Rachel schlug sich die Hand auf den Mund, um nicht vor Freude aufzuschreien. Sie war so berührt in dieser Sekunde, dass sie ganz schwer atmete und gar nicht wusste, was sie denken sollte. Am liebsten hätte sie Robin sofort geschrieben, aber ihr fehlten einfach die Worte.

  Vor allem wegen seiner Nachricht unter der Dankesaussagung. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie es war, einen Jungen zu küssen – selbst wenn es nur die Wange war – aber so, wie ihr Körper reagierte, wie ihre Atmung flacher und ihr Herz schneller wurde, glaubte sie zum ersten Mal in ihrem Leben im Voraus zu wissen, dass ihr etwas gefallen würde.

  Sie war sich sogar fast sicher, dass es ihr gefallen würde.

 

Ende

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 30.11.2014

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