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Prolog

 

Es war vier Uhr morgens und im Fernsehen lief kaum noch etwas Interessantes. Ich saß im Schneidersitz gelangweilt aber noch nicht müde auf dem Sofa in unserem Wohnzimmer und musste mich durch alle Kanäle schalten, bis ich irgendwann ganz zufällig auf die Doku über das menschliche Gehirn stieß.

Und ich war vom ersten Moment an fasziniert.

Das lag vermutlich daran, dass hier nicht wie im Biologieunterricht erklärt wurde, wie es aufgebaut war und was für Funktionen es besaß, sondern wie es im alltäglichen Leben arbeitete. Der Mann im Fernsehen erklärte, wodurch sich das Verhalten von bestimmten Leuten im Zusammenhang mit Störungen in ihren Gehirnen veränderte: Sadisten, Masochisten, Autisten und zuletzt auch Soziopathen.

Soziopathen. Menschen ohne Mitgefühl und Empathie, also die Fähigkeit sich in andere zu versetzen. Als er begann, so selbstbewusst davon zu erzählen, als wäre er selbst einer, kehrten die Kopfschmerzen, die mich wach gehalten hatten wieder zurück.

Ich griff nach der Fernbedienung und schaltete das Gerät auf stumm. Die Lippen des Mannes bewegten sich weiterhin und er gestikulierte wild beim Reden, doch ich hörte ihn glücklicherweise nicht mehr.

Benommen sah ich mich im dunklen Zimmer um und wartete, bis das Pochen an meinen Schläfen nachließ. Es war keine gewöhnliche Art der Kopfschmerzen – sie wurden nicht wie bei anderen dadurch verursacht, dass ich zu viel Fern sah oder zu laut Musik hörte. Dieses Pochen kam immer dann, wenn ich überfordert war. Oder etwas nicht verstand.

Manchmal wurde es auch durch Wut verursacht.

Das Problem war, dass ich oft wütend wurde. Zum Beispiel, wenn ich mich langweilte – und da ich mit meinen Eltern bald für ein paar Wochen nach Mallorca fliegen sollte, würde das wohl oft der Fall sein.

Mir war klar, dass ich eine Beschäftigung brauchte – und zwar dringend.

Als die Doku zu Ende war, schaltete ich den Fernseher aus und streckte mich auf dem Sofa. Ich hätte schlafen sollen, doch in meinem Kopf blieben noch lange die Bilder über das Verhalten von Menschen, wenn sie mit gewissen Situationen konfrontiert wurden – und plötzlich hatte ich den perfekten Einfall für eine Beschäftigung.

- Kapitel 1 -

 

Elizabeth:

„Oh Gott, oh Gott, das ist so toll!“, hauchte ich aufgeregt, als ich über Keith hinweg aus dem Fenster des Flugzeugs sah. Wir hatten gerade abgehoben und die Landschaften unter uns entfernten sich immer weiter, bis die vielen Autos nur noch bunte, sich über graue Linien bewegende Punkte waren. Es war zwar nicht das erste Mal, dass ich diesen Anblick betrachten konnte, aber es fühlte sich kein Stück schlechter an.

Es waren Sommerferien und wir flogen endlich nach Mallorca. Ich konnte es immer noch nicht ganz glauben, da Keiths Eltern ständig am Überlegen gewesen waren, doch jetzt waren wir hier. Wir saßen im Flieger und wenn er nicht plötzlich in der Luft hängen blieb, konnte uns nichts mehr von unserem schönen Urlaub abhalten.

„Wie kommt es eigentlich, dass du nicht in einem Auto mitfahren kannst, dafür aber mit so einer Begeisterung mit dem Flugzeug fliegst?“, fragte Keith genervt, bevor er mich mit der Hand auf meinen Platz zurückschob. „Hast du keine Angst, dass er abstürzt oder so?“

„Mach ihr keine Angst“, bat Stieve, der sich gerade die Kopfhörer in die Ohren steckte und auf seinem Handy nach einem bestimmten Lied zu suchen schien. Mein kleiner Bruder war von dem wundervollen Anblick weniger begeistert als ich. „Darunter werden sonst nämlich alle leiden, glaub mir.“

Wir teilten uns einen Dreierplatz auf der linken Seite des Flugzeugs: Keith am Fenster, ich in der Mitte und Stieve ganz außen am Gang. Unsere Eltern waren etwas weiter hinten, weil es keine anderen Plätze gegeben hatte.

Als Keith und ich die Idee gehabt hatten, zusammen in den Urlaub zu fahren, hatte ich zunächst meine Zweifel mit mir rumgetragen, ob meine Eltern dem überhaupt zustimmen würden. Immerhin hatten sie weder Keith noch seine Eltern zu der Zeit besonders gut gekannt – heute war es glücklicherweise anders. Ich hatte meine Eltern dazu getrieben, seine mal auf ein Essen einzuladen und sie näher kennenzulernen, was tatsächlich zum Erfolg geführt hatte.

Inzwischen waren die vier zwar keine besten Freunde, verstanden sich aber dennoch sehr gut. Von Keith und seinen Eltern konnte man das noch nicht behaupten. Er war immer noch wütend auf sie, weil sie ihn auf das Internat geschickt hatten und selbst die Zeit der letzten drei Monate hatte nichts daran geändert. Es herrschte nach wie vor eisiges Schweigen in der Familie.

Das spielte aber keine große Rolle, weil Keith ohnehin die meiste Zeit mit mir und Stieve sein würde, während unsere Eltern ihre Freizeit ohne uns verbringen würden. So hatte jeder seinen Freiraum. Vielleicht würde sich das Verhältnis dann auch wieder etwas lockern.

„Das kommt daher, dass wir hier nicht mit irgendwelchen betrunkenen Idioten zusammenstoßen, von der Straße fliegen oder umkippen können“, erklärte ich und gab mir Mühe, die Bemerkung meines Bruders zu ignorieren. „Außerdem kann ich in Autos mitfahren, wenn es keinen anderen Ausweg gibt – ich tue es nur nicht gerne. Zum Flughafen bin ich immerhin ja auch mit dem Bus gefahren.“

Mir entging nicht, dass Keith und Stieve einen kurzen, aber bedeutungsvollen Blick tauschten. Die beiden hatten sich mittlerweile auch etwas zu gut kennengelernt. Ich sah von einem zum anderen. „Was denn?“

„Wir erwähnen jetzt mal lieber nicht, dass du auf der Fahrt vor lauter Nervosität eine Dose Cola verschüttet hast und dich fast übergeben hättest“, sagte Keith und sah dann unbekümmert aus dem Fenster, während er die Beine ausstreckte.

Ich konnte nicht beschreiben, wie weit mein Mund in diesem Moment offen stand. „Und das willst du mir vorwerfen? Dass ich leicht angespannt war?“

Keith lachte.

„Du findest das lustig, ja?“

Keine Antwort, bloß ein dummes Grinsen ohne Augenkontakt.

„Und du? Hast du noch was dazu zu sagen?“, fragte ich stattdessen Stieve, der mich wegen seiner Musik aber gar nicht hörte. Oder zumindest nur so tat, als ob, da ich genau erkennen konnte, dass er Pause gedrückt hatte.

Na gut, wenn sich keiner rechtfertigen wollte. Dann eben nicht.

„Okay“, meinte ich aufgebracht und verschränkte die Hände vor der Brust, bevor ich mich zurücklehnte. „Ihr werdet euch nicht entschuldigen. Message angekommen.“

Nachdem ich eine Zeit lang nichts gesagt hatte, drehte sich Keith doch noch zu mir, um mich anzusehen. Als er bemerkte, dass ich die Lippen fest zusammengepresst hatte, verdrehte er die Augen. „Du hast jetzt nicht ehrlich vor, deswegen den ganzen Flug über sauer auf mich zu sein, oder?“

„Vielleicht“, meinte ich und sah weg. „Aber das wirst du nie erfahren, weil ich ab jetzt nämlich nicht mehr mit dir rede.“

Keith stöhnte. „Jetzt komm schon. Ich dachte, wir wollten den Urlaub auf Mallorca genießen.“

„Das hier ist nicht der Urlaub, sondern nur der Flug“, erwiderte ich eisig. Es war mir nämlich egal, was die beiden dazu sagten – ich war sehr stolz auf mich, dass ich damals in dieses Auto gestiegen war, um zu Keith zu fahren und ihm mit seinen Problemen mit Train zu helfen. Umsonst war es auch nicht gewesen, denn immerhin hätte Train ohne mich nie zugegeben, dass er es selbst gewesen war, der sich wegen seines Masochismus in der Nacht diese Wunden zugefügt und Keith mit Schlaftabletten betäubt hatte.

Inzwischen bekam er von einem Psychiater professionelle Hilfe mit seinem Masochismus und wurde auf dem Internat laufend von Lehrern beobachtet, was ihn aber nicht zu stören schien. Train hatte sich geändert, konnte nun ohne Angst vor der Psychiatrie leben. Er hatte sich bei Keith mehrmals entschuldigt und die beiden waren so etwas wie Freunde geworden. Auch mit dieser Autistin Victoria schien er in letzter Zeit viel zu unternehmen, wenn ich Keith glauben konnte.

„Das spielt keine Rolle. Dieser Flug wird mehrere Stunden dauern und ich will nicht, dass du die ganze Zeit schmollend vor dich hin schweigst.“ Das war nicht einmal eine indirekte Entschuldigung. Er sagte es nur, weil es ihn nervte – nicht, weil es ihm leid tat.

„Da bist du selber Schuld“, entgegnete ich.

„Komm.“ Er legte mir eine Hand auf die Schulter und ich stieß sie weg. Keith wäre aber nicht Keith, wenn er keinen weiteren Versuch machen würde und nachdem ich ihn noch einige Male weggestoßen hatte, reichte es mir irgendwann. Ich ließ zu, dass er den Arm um meine Schulter legte und mich an sich drückte, mich ein Mal auf den Kopf und auf die Schläfe küsste. Ich sah ihn aber trotzdem nicht an.

„Sobald wir da sind und erst einmal unser Hotelzimmer sehen, wirst du deine schlechte Laune sowieso vergessen haben und dich sofort auf das Büfett stürzen“, schnurrte er mir zu.

„Du bist echt das Letzte“, murmelte ich und lehnte meinen Kopf gegen ihn. Er log wie gedruckt. Ich aß gar nicht soo viel.

„Ja. Und deswegen kannst du dir sicher sein, dass ich dir in jeder Sekunde, die du mich mit Schweigen strafst versuchen werde, dir in irgendeiner Art und Weise Unwohlsein zu bereiten.“ Und dann zog er seinen Arm plötzlich zurück und ich musste feststellen, dass es ihm irgendwie gelungen war, durch mein schwarzes Top hindurch meinen BH zu öffnen.

Er war und blieb unverbesserlich.

- Kapitel 2 -

 

Katharina:

  Es dauerte eine Ewigkeit, bis ich das Aufladekabel für mein Handy in meinem Koffer fand. Bis dahin hatte ich bereits die Hälfte meiner Sachen auf dem Bett des Hotelzimmers ausgeschüttet und eine schlimme Unordnung angerichtet, doch das interessierte mich nicht. Das hier war für die nächsten Wochen mein Zimmer und ich durfte damit machen, was ich wollte.

  Wir waren mit meinen Eltern in einem der Hotels in der Nähe des Strandes untergekommen und ich hatte es geschafft mich so weit durchzusetzen, dass ich in unserer Suite ein eigenes Zimmer bekommen hatte, während meine Eltern sich ein anderes teilen. Ich hätte auch mit ihnen in einem Raum schlafen können, doch das hätte ich nicht ausgehalten. So viel menschliche Nähe ertrugen meine Nerven einfach nicht. Ich konnte mich mit Menschen eine Weile unterhalten, doch wenn sich das Gespräch in die Länge zog oder ich mehr Zeit mit ihnen verbringen musste, hatte ich das Gefühl, erdrückt zu werden.

  Außerdem meldete sich dann immer dieses stechende Pochen in meinem Kopf.

  So mancher hätte nun vermutlich gemeint, dass ich mir deswegen irgendwo hätte Hilfe suchen sollen – und genau diese Leute konnten mich mal kreuzweise.

  Ich war 18 Jahre alt und konnte auf mich selbst aufpassen. Natürlich, ich war vielleicht nicht die beste Schülerin und hatte keinen besonders hohen IQ, aber das machte nichts. Man konnte die Intelligenz eines Menschen nicht in Zahlen wiedergeben und ein hoher IQ brachte einem nicht viel, wenn man ihn nicht richtig einsetzte – zum Beispiel beim Pläne schmieden.

  Und darin war ich – verdammt noch mal – sogar sehr gut.

  Ich legte mein Handy zum Aufladen neben mein Bett und suchte in dem Koffer nach meinem Portemonnaie. Meine Eltern waren gleich nach unserem Ankommen zum Strand gegangen, ich hingegen war im Hotel geblieben. Jetzt würde ich erst einmal in irgendein Cafe in der Nähe des Hotels gehen, mir dort ein kaltes Getränk kaufen und dann von einem Tisch aus unentwegt die Leute beobachten, bis ich jemanden fand, mit dem man Spaß haben konnte.

  Jemanden, mit dem ich meine Spielchen treiben konnte.

  Ein letztes Mal warf ich einen raschen Blick in den Spiegel an dem leeren Schrank, bevor ich mich zum Gehen wandte. Ich war groß, hatte blonde lange Wellen und blaue Augen, die manchmal etwas zu weit aufgerissen waren, wie mir selbst hin und wieder auffiel. Zudem hatte ich eine kleine Nase, helle Augenbrauen, schmale Lippen und blasse Haut, was sich aber vermutlich bald ändern würde. Hier war es wirklich heiß, weswegen ich auch nur ein kurzes, rotes Sommerkleid mit weißen Flip-Flops und einem schlichten Armband trug.

  Ich lächelte leicht, als mir auffiel, dass ich gut aussah – und dabei dennoch einschüchternd wirkte.

  Nachdem ich unser Hotelzimmer verlassen und hinter mir abgeschlossen hatte, drehte ich mich um und wollte gerade gehen, als ich am Ende des Ganges einen Jungen mit einem schwer wirkenden Koffer auftauchen sah. Er kam gerade die Treppe herauf und fluchte leise vor sich hin, in der Hand hielt er einen Schlüssel. „Die brauchen hier dringend Fahrstühle“, hörte ich ihn wütend murmeln.

  Ich lehnte mich gegen meine Tür, während er vor der Suite direkt neben unserer stehen blieb. Als er mich bemerkte, nickte er mir zur Begrüßung knapp zu und begann dann, die Tür aufzuschließen. Die Geste kannte ich nur zu gut von mir selbst. Eine Begrüßung aus reiner Höflichkeit. In Wirklichkeit hätte man den Rest der Welt einfach erschlagen können.

  Der Junge hatte blonde Haare und grüne Augen, die für einen beeindruckend intensiven Blick voller Kälte sorgten, wenn er sich umsah. Er war zwar ziemlich groß, schien aber dennoch etwas jünger zu sein. Vielleicht 15, vielleicht 16.

  Ich entschied mich, noch eine Weile in dem zwar breiten, dafür aber schlecht beleuchteten Gang mit den vielen Zimmern zu bleiben, um nichts zu verpassen.

  „Keith, hast du eure Suite gefunden?“, fragte ein Mädchen in seinem Alter, das ebenfalls außer Atem die Treppe hochgekrochen kam. Ein etwas jüngerer Junge folgte ihr schweigend. Die beiden hatten auch jeweils einen Koffer und sahen sich mit den braunen Haaren und den grauen Augen ziemlich ähnlich. Vermutlich Geschwister.

  „Ja, aber das scheiß Schloss klemmt“, sagte dieser Keith, während er versuchte, den Schlüssel zu drehen. Als die Tür nicht nachgab, ließ er seinen Koffer los und begann, auf höhst aggressive Weise an der Tür zu rütteln, was aber wenig brachte.

  Ich konnte ein amüsiertes Lächeln nicht verhindern. Es war immer wieder lustig anzusehen, wenn Menschen lieber zur Gewalt griffen, statt vernünftig zu sein.

  „Mach die Tür nicht kaputt“, warnte das braunhaarige Mädchen ihn, bevor sie ihre eigene öffnete. Es war die Suite neben seiner, zwei weiter als unsere. „Warte am besten einfach auf deine Eltern oder lass dir gleich von meinen helfen, wenn sie hochkommen.“

  „Aber die wollten sich doch noch im Hotel umsehen, während wir auf unsere Zimmer sollten!“

  „Dann warte einfach.“ Sie und ihr Bruder verschwanden drinnen, während der Blonde immer noch nicht reinkam. Statt den beiden zu folgen, versuchte er sich weiter an der Tür, was mich innerlich nur noch mehr zum Lachen brachte. Süß, dieser Schwachkopf.

  Nach einer weiteren Minute des Zerrens und Rüttelns ließ Keith es aber irgendwann genervt sein und stieß geräuschvoll die Luft aus. „Das alles fängt ja echt super an“, murmelte er so leise, dass ich ihn kaum verstand. „Mal sehen, wie die restlichen zwei Wochen laufen werden.“

  Sofort klingelten bei mir alle Alarmglocken. Zwei Wochen. Ich würde länger hier sein, aber für den Anfang sollte es genügen. Ich glaubte, dass man mit ihm hätte viel Spaß haben können. Auf seine Kosten, verstand sich.

  „Ich gehe gleich runter“, sagte ich schnell zu ihm.

  Er hob den Blick und sah mich verwirrt an, als wäre er überrascht, dass ich immer noch hier war. „Was?“

  „Ich gehe gleich runter“, wiederholte ich langsam. „Wenn du mir deinen Namen verrätst, kann ich unten Bescheid sagen, damit jemand vom Personal zu dir hochkommt und hilft.“

  „Ach so … danke“, sagte er ein wenig überfordert. War nicht gewohnt, mit fremden Menschen umzugehen. Interessant. „Mein Name ist Keith.“

  „Und weiter?“

  „Keith Jefassun.“

  Ich nickte lächelnd, bevor ich an ihm vorbeiging und die Treppe zur Lobby hinunterschlenderte. Mein Kopf arbeitete bereits Pläne aus, aber alles der Reihe nach. Zuerst gab ich einem der Angestellten wie versprochen Bescheid, dass er sich um Keiths Schloss kümmern sollte und verließ dann das Hotel. Draußen kaufte ich mir etwas zu trinken, blieb aber nicht einfach in irgendeinem Laden sitzen um wie geplant Leute zu beobachten. Stattdessen ging ich in eins dieser Internet-cafés für Jugendliche.

  Ein Opfer hatte ich ja bereits gefunden.

  Jetzt musste ich mich nur noch ein wenig informieren. Ich setzte mich an einen der Rechner und schaltete ihn an, während ich die kühle Dose Cola aufmachte und langsam und genüsslich bei der Hitze von Mallorca daraus zu schlürfen begann. Vielleicht würde dieser Urlaub doch noch richtig gut verlaufen. Vorausgesehen, ich vermasselte es nicht.

  Als das Gerät bereit war, ging ich auf Google und gab Keith Jefassun ein.

 

Elizabeth:

  „Ich habe mir das Zimmer irgendwie größer vorgestellt“, sagte ich ein wenig enttäuscht, während ich meinen Koffer abstellte und mich prüfend umsah. In unserer Suite gab es zwei Schlafzimmer und ein Bad, dazu kam ein Ausblick auf das Meer. Sonst gab es aber nichts Spannendes oder Besonderes.

  „Außerdem dachte ich, dass wir nur in einem Zimmer und nicht in einem Bett schlafen müssen“, beschwerte sich Stieve, den vor allem das King Size Bett in unserem Raum zu stören schien.

  Als ich ihm einen leicht beleidigten Blick zuwarf, hob er schnell die Hände. „Nein, versteh das nicht falsch. Es wär ja kein Weltuntergang, wenn wir es uns teilen müssten, aber … bitte … das ist doch scheiße.“ Er zuckte hilflos mit den Schultern.

  „Vielleicht können Mama und ich in einem Zimmer schlafen, während du dir das hier mit Papa teilst“, schlug ich vor und kniete mich auf den Boden, um meine Sachen auszupacken.

  „So weit kommt’s noch“, schnaubte Stieve und begann ebenfalls, seinen Koffer auszupacken. Es gab zu jeder Seite des Bettes eine Kommode, also konnten wir unsere Sachen getrennt aufbewahren. „Lieber mit dir, als mit Papa.“

  „Na, das hört man doch gerne“, murmelte ich und legte (oder eher stopfte) meine Kleidung in eine der Schubladen. Sie ging hinterher zwar nicht mehr ganz zu, aber was soll’s? Wir waren im Urlaub. Auf die Kommode legte ich einen Kamm, mein Handy, meine Kamera, einen Musikverstärker und meine Sonnenbrille. Das Portemonnaie versteckte ich unterm Kissen, auch wenn das nicht das originellste Versteck war. Der Rest meiner Habseligkeiten blieb im Koffer, den ich unters Bett schob.

  „Was denkst du, wie lange werden sie sich im Hotel noch umschauen?“, wollte Stieve wissen. Er hatte seine Sachen auch schon fertig verteilt – viel ordentlicher als ich, was mein verletzter Mädchenstolz bestürzt feststellen musste. 

  Ich zuckte die Schultern, während ich eine Kaugummipackung aus meiner Hosentasche holte und mir eins davon genehmigte. „Du weißt doch, wie sie sind. Und Keiths Eltern hatten auch noch was zu erledigen. Außerdem werden sie Zeit brauchen, Mama mit dem Rollstuhl hier hochzubekommen.“

  „Wir haben doch extra im ersten Stock reserviert.“

  „Es gibt trotzdem eine Treppe, die überwunden werden muss.“ Ich kämmte mir schnell die Haare und setzte meine Sonnenbrille auf, bevor ich einen eiligen Blick auf die Uhr warf.

  Es war schon relativ spät, fast sechs Uhr. Wir waren um drei Uhr hier angekommen, hatten dann vom Flughafen ein bisschen laufen müssen, um dann mit dem Zug hierher zu fahren. Wir hätten auch einen Bus oder ein Taxi nehmen können, da ich mich unter großer Selbstbeherrschung wieder in Fahrzeuge traute, doch ich wollte es nicht allzu oft am Stück tun. Sonst würde noch irgendwann mein Herz stehen bleiben.

  „Ich hoffe, sie kommen bald. Ich hab Hunger. Du hast auch gehört, wie Mama mir vorhin versprochen hat, dass wir noch essen gehen?“, fragte Stieve mich. „Nicht, dass sie wieder behauptet, ich hätte mir das ausgedacht.“

  Ich nickte. „Ja, ja, hab ich gehört.“ Ich sah zum Fenster und musste lächeln, froh darüber, dass wir endlich hier waren. Immer noch grinsend sah ich zu meinem Bruder. „Und? Sollen wir uns auch ein wenig umsehen? Wir haben ja noch Zeit, bis unsere Eltern kommen. Ich hab da am Pool vorhin ein paar süße Mädchen in deinem Alter gesehen.“

  Stieve warf mir einen wütenden Blick zu. „Hör auf.“

  „Wieso? Wenn du willst könnte ich mit der süßen Blonden in dem blauen Badeanzug für dich reden.“

  „Die war nicht süß.“

  „Aha, sie ist dir aber trotzdem aufgefallen“, lachte ich und wedelte mit dem Finger, als hätte ich ihn bei etwas Verbotenem erwischt. Über Stieves Wangen legte sich ein roter Schein und er drehte sich weg, sodass ich es nicht mehr sah.

  „Ich geh aufs Klo“, informierte er mich diskret, als er aus dem Zimmer ging. Ich wusste natürlich genau, dass er in dem Bad bloß warten wollte, bis er nicht mehr rot war.

  Als ich Schritte hörte, dachte ich zunächst, er hätte es sich anders überlegt, doch dann erschien Keith in der Tür zu unserem Zimmer.

  „Na, hast du deine Suite öffnen können?“, fragte ich ihn.

  „Ja, ein Angestellter ist gekommen und hat mir geholfen“, sagte er, während er mich irritiert musterte. „Wieso trägst du drinnen eine Sonnenbrille?“

  Ich grinste und zuckte die Schultern. „Nur so aus Bock.“ Ich hatte wirklich gute Laune und vergaß dabei fast, dass ich mehrere Stunden mit einem offenen BH im Flieger hatte sitzen müssen.

  „Aha. Wie ich sehe, habt ihr auch ein King Size Bett, statt zwei getrennte“, bemerkte er und beäugte das Ding, in dem ich mit meinem Bruder schlafen müsste.

  Ich verzog das Gesicht. „Du hast so ein Glück, dass du so ein Ding für dich alleine hast. Ich muss es mir mit Stieve teilen.“

  „Du könntest auch bei mir schlafen“, schlug Keith vor.

  Ich lachte auf.

  Er runzelte die Stirn. „Was ist so lustig daran?“

  „Ja, klar. Als ob unsere Eltern das erlauben würden. Wir beide in einem Bett, in unserem Alter. Kannst du vergessen.“ Ich musste schmunzeln, weil allein die Vorstellung irgendwie komisch war.

  „Oh, aber wenn du die Wahl hättest, würdest du zustimmen, ja?“, neckte er mich.

  Statt zu antworten, verdrehte ich die Augen. Ein schwerer Fehler.

  Ehe ich die Zeit hatte, zurückzuweichen oder ihn wegzudrücken, war Keith auch schon bei mir und hob mich mit Leichtigkeit hoch, bevor er mich kurz darauf auf das Bett warf. Ich schrie kurz auf, landete aber weich. Die Sonnenbrille rutschte von meiner Nase und der Kaugummi fiel mir fast aus dem Mund, als ich benommen in sein grinsendes Gesicht blickte. „Was war das denn?“

  „Es nervt mich echt immens, wenn du mir nicht antwortest oder mich ignorierst. Ab jetzt kannst du jedes Mal, wenn du das machst was erleben.“

  „Und was machst du, wenn kein Bett in der Nähe ist, hmm?“

  „Dann mach ich dir eben wieder den BH auf.“ Er überlegte kurz. „Obwohl es der Bikini im Meer auch tun müsste.“

  Ich musste schlucken, weil ich wusste, dass er es ernst meinte. „Wenn du das machst, werde ich …“ Mir fiel nicht ein.

  Ich brachte Keith dadurch nur zum Lachen. „Du willst mir drohen?“ Er machte einen Schritt auf mich zu.

  Ich rutschte auf dem Bett zurück. „Ich habe keine Angst vor dir.“

  „Mal sehen.“ Er setzte sich neben mich auf das Bett und zog mich trotz heftigem Widerstand zu sich heran, bevor er mit seinen Fingern sacht über meine Oberschenkel fuhr. Sofort durchlief eine Gänsehaut meinen Körper und ich versuchte, mich aus seinem Griff zu winden.

  „Nein, nicht kitzeln!“, schrie ich und versuchte, ihn wegzustoßen. Vor allem nicht an den Oberschenkeln und an den Knien, ich hielt es dort kaum aus. Er machte aber weiter und hörte erst auf, als ich schwer atmend in seinen Armen erschlaffte und mich nicht mehr zur Wehr setzte.

  Er ließ mich nicht los und legte sein Kinn auf meine Schulter. Das sah vermutlich komisch aus, da ich irgendwie nur halb auf seinem Schoß saß, aber es war bequem. Und angenehm.

  „Die nächsten zwei Wochen werden echt super“, flüsterte ich dann, als ich meine Sprache wiedergefunden hatte.

  Er küsste mich auf die Wange, auf die Nase, auf die Stirn und auf den Kopf. „Ganz sicher.“

  „Bitte nicht in diesem Bett.“ Wir sahen beide erschrocken auf, als wir merkten, dass Stieve ins Zimmer gekommen war und uns skeptisch musterte. „Da schlafe ich heute Nacht auch noch. Wenn ihr sowas schon macht, dann bitte bei Keith.“

 

- Kapitel 3 -

 

Elizabeth:

  Ich atmete den salzigen, frischen Geruch, der am Strand so üblich war tief ein und stieß dann nur langsam die Luft aus, während ich auf meinem Handtuch lag und durch die Sonnenbrille hindurch zum Himmel blickte. Auf meiner Haut spürte ich den feinen Sand und an meine Ohren drang immer wieder in einem angenehmen Rhythmus das Rauschen der Wellen.

  Es war ein wunderschöner Moment – der aber mehr als schnell vorbei war.

  „Hast du eigentlich vor, irgendwann ins Wasser zu gehen?“, fragte Keith mich, der neben mir saß und sehnsüchtig zum Meer starrte. Er hatte eine schwarze Badehose und ein lederndes Armband an, das ich ihm mal geschenkt hatte.

  „Ich will diesen Sommer endlich braun werden“, entgegnete ich und rückte die Sonnenbrille zurecht. Eigentlich war ich nur zu faul, um aufzustehen, doch das konnte ich ihm nicht sagen.

  „Du bist braun genug.“

  „Geh doch zu Stieve. Oder zu deinen Eltern.“

  Keith würdigte diesen Vorschlag nicht einmal einer Antwort, sondern schnaubte verächtlich. „Nicht in diesem Leben.“

  „Irgendwann wirst du wieder mit ihnen reden müssen.“

  „Ja, aber der Tag ist noch fern.“

  Wir waren gestern alle im Hotel geblieben und hatten uns erst einmal von dem Flug erholt. Essen waren wir auch nicht gegangen, stattdessen hatte Stieve sich mit einer billigen Chipstüte vom Zimmerservice zufrieden geben müssen, was ihn den Rest des gestrigen Abends hatte schlecht gelaunt und mürrisch werden lassen.

  Heute hingegen waren wir ausgeruht und positiv in aller Früh zum Strand gegangen, nachdem wir alle zusammen gefrühstückt hatten. Keith und ich waren bisher nur in der Sonne gewesen, während seine Eltern und mein Bruder sich die meiste Zeit über im Wasser aufgehalten hatten. Meine Eltern waren verschwunden – vermutlich fuhr mein Vater gerade meine Mutter in ihrem Rollstuhl die Küste entlang, oder sie suchten nach einem ruhigen Ort, an dem sie neben den Wellen auf dem Sand sitzen konnte.

  Ich musste lächeln. Man konnte sagen, was man wollte – auch wenn meine Mutter seit dem Unfall vor drei Jahren im Rollstuhl saß, war sie alles andere als unglücklich. Das würde sich auch nicht ändern, solange sie meinen Vater hatte.

  „Komm schon, lass uns endlich gehen“, bettelte Keith und rüttelte an meinem Arm.

  Ich seufzte. „Keine Lust. Geh ohne mich.“

  Eigentlich hätte ich nun mit irgendeiner verrückten Aktion gerechnet. Vielleicht, dass er mich einfach hochhob und sich über die Schulter warf oder dass er mich einfach über den Sand in Richtung des Meeres zu rollen begann (was ich ihm zugetraut hätte). Keith machte aber nichts. Er schwieg, sah ein paar Mal zu mir und wieder zurück zum Meer, stand dann schweigend auf und ging zum Wasser. Einfach so.

  Ich sah ihm überrascht hinterher, erstaunt, dass er sich so leicht hatte abwimmeln lassen. Dann schloss ich aber die Augen und entschied mich, mein einmaliges Glück zu genießen und mich von den warmen Sonnenstrahlen verwöhnen zu lassen.

  Wegen der gestrigen Nacht war ich etwas müde und schläfrig. Es war schwerer gewesen, mit Stieve in einem Bett zu schlafen, als ich zunächst angenommen hatte. Wir waren ständig gegeneinander gestoßen und hatten uns gegenseitig aufgeweckt, was dazu geführt hatte, dass ich mir irgendwann doch gewünscht hatte, Keiths Vorschlag angenommen und bei ihm im Zimmer geschlafen zu haben.

  Es wäre schön gewesen, in der Nacht bei ihm zu sein. Vielleicht, wenn es mir gelang, meine Eltern zu überzeugen, würden sie mir doch erlauben, bei ihm …

  Ich konnte den Gedanken nicht einmal zu Ende denken, als mich eine plötzliche Welle an beinahe schmerzender Kälte erfasste und ich geschockt Luft holen und die Augen aufreisen musste. Ich keuchte und setzte mich ruckartig auf, wobei das eiskalte Wasser meinen Körper hinunter zu laufen begann.

  Vor mir stand Keith, mit einem leeren Eimer in der Hand und einem schiefen Lächeln im Gesicht.

  Ich flippte nicht aus, verlor mich nicht. Ich sah ihn einfach nur ungläubig an. „Was zur Hölle war das eben?“ Ich zitterte wie Espenlaub und konnte förmlich spüren, wie sich meine Lippen blau färbten.

  „Wie gesagt, du bist braun genug“, verkündigte er und warf den Eimer achtlos beiseite. Gebieterisch nickte er mit dem Kopf zum Meer. „Jetzt ab ins Wasser, sonst erfrierst du.“

  „Wo hast du den Eimer her?“

  „Stand da rum.“

  „Er könnte einem Kind gehören.“

  „Wen interessiert es?“ Er sah mich durchdringend an. „Und? Was ist jetzt? Gehst du freiwillig ins Wasser oder muss ich dich mit Gewalt dorthin bringen?“

  Ich streckte meinen Arm nach ihm aus, da ich bereits wusste, dass es zwecklos gewesen wäre, jetzt noch zu widersprechen. „Trag mich.“

  „Du bist nass.“

  „Nicht mein Problem. Und auch nicht meine Schuld.“

  Keith kam zu mir und bückte sich, bevor er mich geschickt hochhob. Mit meinem Gewicht war ich zwar nicht immer zufrieden, doch in seinen Armen fühlte ich mich völlig leicht – vor allem, weil es Keith kaum Mühe zu bereiten schien, mich zu halten (auch wenn er immer behauptete, ich würde zu viel fressen).

  „Die Leute gucken zu uns“, flüsterte er mir zu und wies unauffällig zu ein paar der anderen Menschen am Strand. „Es sieht komisch aus, wenn ich dich jetzt dahin trage.“

  Ich lächelte erschöpft und fuhr mit einem Finger über sein Schlüsselbein. „Wen interessiert es?“

 

Katharina:

  Für gewöhnlich gingen Leute, wenn sie auf Mallorca Urlaub machten an den Strand, in ein schickes Restaurant oder in die vielen Läden, die es hier extra für Touristen gab. Manche lernten auch neue Menschen kennen, knüpften Kontakte oder feierten die ganze Nacht lang irre Partys, bis sie vor lauter Alkohol kaum noch stehen konnten und völlig fremde Personen ankotzten.

  Ich saß lediglich mit einem offenen Fenster, einer kühlen Limonade und durch Kopfhörer laufender Musik im Hotel auf meinem Bett und betrachtete forschend die vielen Blätter mit Texten vor mir, die ich in dem Internet-café ausgedruckt und hierher gebracht hatte.

  Vor mir lag eine große Sammlung an Informationen, die ich gestern im Netz hatte finden können und ich musste gestehen, dass ich selbst überrascht war, wie viel das Internet über eine einzige Person preisgeben konnte, wenn man nur gründlich genug suchte.

  Bei Facebook hatte ich das, was ich über Keith wissen wollte praktisch mühelos herausfischen können: Seinen Geburtstag und sein Sternzeichen, genauso wie seine Herkunft, seine Schule und seinen Jahrgang, seine Hobbys, dank ein paar Fotos und einer aufwendigen Suche bei Google maps sogar seine ungefähre Adresse und noch vieles mehr. Auch, dass er in einer Beziehung mit einer gewissen Elizabeth Gloried zu sein schien, hatte ich in Erfahrung bringen können. Dem Profilbild der Kleinen nach war diese Elizabeth das braunhaarige Mädchen, das ich gestern mit ihm im Flur gesehen hatte.

  Seine Freundin war also mit ihm hier … Umso besser. Noch eine gute Informationsquelle.

  In einem veralteten Internetbericht war ich aber auf das Interessanteste gestoßen, was meine Nachforschung über Keith zu bieten gehabt hatte: Es war ein Bericht über ein Gerichtsverfahren gewesen. Die Eltern eines Jungen, den Keith vor Jahren schwer zusammengeschlagen hatte, hatten ihn auf Schmerzensgeld verklagen wollen. Die Klage war abgelehnt worden, und zwar mit folgender Begründung des Richters: „Wegen bewusster Provokation eines Sadisten abgelehnt.“

  Bewusste. Provokation. Eines. Sadisten.

  Diese Worte jagten ein angenehmes Kribbeln durch meinen Körper. Als würde ich bei einem Glückspiel mitmachen – nur, dass ich im Gegensatz zu allen anderen bereits wusste, wie es enden würde und genau die richtigen Einsätze gestellt hatte. Ich fühlte mich mächtig.

  Keith war Sadist. Er war ein kranker Junge, dem es gefiel, anderen Schmerzen zuzufügen und der es genoss, wenn Menschen oder Tiere litten. Jemand Besseres hätte mir gar nicht über den Weg laufen können. Das hier war wie Schicksal.

  Es würde sicher interessant werden, mit ihm meine Versuche zu treiben.

  Was genau ich mit Keith eigentlich machen würde, hatte ich mir noch nicht ganz überlegt. Ich würde ihn zunächst nur testen. Ich würde beobachten, wie er auf gewisse Situationen reagierte und wie er mit seinem Sadismus umging. Und nach einer Zeit, wenn ich genug über seine Denkweise in Erfahrung gebracht hatte, würde ich ihn möglicherweise für meine Zwecke manipulieren können.

  Konnte ja nicht schaden, wenn man einen brutalen Hund an der Leine hatte, oder? Und selbst wenn am Ende alles den Bach runter ging, würde ich immer noch meinen Spaß bei der Sache gehabt haben. Ich konnte also nur gewinnen.

  Nachdem ich unter dem Aufwand, ich sei eine Verwandte von ihm ein paar seiner Klassenkameraden bei Facebook angeschrieben hatte, war ich auch an seine Nummer gekommen. Mein gesamtes Kontaktbuch sei gelöscht worden, habe ich ihnen erzählt. Ich bräuchte dringend seine Handynummer.

  Von wegen.

  Über seine Freundin hatte ich mich auch ein wenig informiert, auch wenn sie in meinem Plan eher eine Nebenrolle spielen würde. Sie ging in dieselbe Schule wie Keith, war in seinem Alter, hatte einen kleinen Bruder namens Stieve und eine Mutter im Rollstuhl. Durch einen Bericht hatte ich erfahren, dass sie mal in einen Unfall verwickelt gewesen war. Viel mehr aber auch nicht.

  Ich griff nach meinem Handy und stellte die Musik ab, bevor ich die Kopfhörer aus meinen Ohren holte und einen kräftigen Schluck aus meiner Limonade nahm. Dann wischte ich mir erschöpft den Schweiß von der Stirn und fächelte mir mit der Hand Luft zu.

  Es war wirklich, wirklich heiß. Nur zu gerne wäre ich jetzt zum Pool gegangen, um mich abzukühlen …

  Eine Sache musste ich aber noch erledigen. Ich begann, aus allen Informationen und allen Stichpunkten in meinem Notizheft, die ich so gesammelt hatte einen ausführlichen Text zu verfassen. Nach etwa zehn Minuten hatte ich eine Seite voll bekommen, die ich kurz weglegte. Ich schwang die Beine über die Bettkante und stand auf, bevor ich die ganzen Blätter mit meinem Notizheft unordentlich unter mein Bett schob.

  Später würde ich aufräumen und alles entsorgen. Momentan war nur entscheidend, dass meine Eltern das alles nicht fanden. Sie würden wieder unnötige Fragen stellen.

  Nachdem ich in meinen roten Badeanzug geschlüpft war, schnappte ich mir die eben geschriebene Seite und verließ unsere Suite. Meine Eltern waren mal wieder ohne mich unterwegs – auf meinen Wunsch hin, verstand sich.

  Als ich im Flur war, sah ich mich unauffällig um, ob sich jemand in der Nähe befand und als ich mir sicher war, dass mich keiner sah, huschte ich rasch zu seiner Tür und schob das Blatt unter dem winzigen Spalt durch. Natürlich hätten es auch seine Eltern finden können, aber daran hatte ich schon gedacht. Zuvor hatte ich die Seite einmal in der Mitte gefaltet und mit verstellter Schrift „an Keith“ darauf geschrieben.

  Hoffentlich würde es niemand sonst lesen.

  Trotz des Risikos hatte ich ein fantastisches Gefühl, als ich mich auf dem Weg zum Pool befand. Ich musste ständig grinsen, was bei mir nur selten vorkam und bei dem Gedanken, dass Keith sich ab jetzt ständig aus weiter Ferne beobachtet fühlen würde, während der echte Jäger in der Suite nebenan lauerte, machte sich wieder dieses Gefühl von Macht in mir breit.

  Auch das Pochen kam nicht mehr. Den ganzen, langen Tag über nicht.

 

Keith:

  Selbstvergessen stocherte ich in dem Fleisch auf meinem Teller herum und versuchte, es in der würzigen Soße zu ertränken. Mir war der Appetit vergangen – vor allem, weil ich die flüchtigen Seitenblicke meiner Mutter nur überdeutlich auf der Haut spürte, während ich aß. Ich versuchte trotzdem, Augenkontakt zu vermeiden, denn sonst würde unter Garantie ein Gespräch entstehen.

  Das wollte ich um jeden Preis verhindern.

  Inzwischen war es Mittag und wir waren im Hotel, um zu essen. Mit wir meinte ich leider aber nur meine Eltern und mich. Elizabeth und ihre Familie mussten etwas mit den Angestellten klären, weil in ihren Zimmern plötzlich das Licht aufgehört hatte zu funktionieren. In diesem Hotel ging schon einiges schief.

  „Wir sollten nach dem Essen unbedingt noch irgendwo hingehen“, versuchte meine Mutter wieder die Stille zu brechen. Sie sah mir mit ihren dunkelblonden Haaren und dem schmalen Gesicht sehr ähnlich, zumal sie dieselbe Lippenform wie ich hatte. Von meinem Vater hatte ich die grünen Augen und den stechenden Blick.

  Den hatte er auch in diesem Moment, in dem er versuchte, in Ruhe sein Essen zu sich zu nehmen und jeden Kontakt mit mir zu vermeiden. Vermutlich dachte er, ich würde von alleine angekrochen kommen, sobald ich nicht mehr sauer war.

  Da konnte er lange warten. Sehr lange.

  „Hier in der Nähe soll heute noch eine Party für Jugendliche stattfinden“, fuhr meine Mutter nervös fort, als würde sie nicht merken, dass ihr keiner zuhörte. „Vielleicht willst du ja mit Elizabeth dorthin?“

  Ich hob das Fleisch mit der Gabel und ließ er dann lustlos auf meinen Teller fallen. Im nächsten Augenblick spürte ich die Spritzer der Soße in mein Gesicht fliegen. Ich griff nach einer Servierte. „Keine Lust.“

  „Willst du dann vielleicht noch einmal schwimmen gehen?“

  „Nein.“ Ich wischte mir das Gesicht ab.

  „Ach so … okay.“ Meine Mutter schien jetzt endgültig aufzugeben. Gekränkt sah sie wieder auf ihren Teller und nahm ein Stück von ihrem Salat in den Mund. Dass ihre Unterlippe dabei leicht zitterte und ihre Augen einen glasigen Glanz annahmen, entging mir nicht.

  Ich verdrehte innerlich die Augen.

  Na gut, sie gab sich im Gegensatz zu meinem Vater wenigsten Mühe, sich zu versöhnen. Außerdem bezweifelte ich nicht, dass sie es nach dem Vorfall mit Train bereits bereute, mich auf ein Internat geschickt zu haben, wo ich praktisch rund um die Uhr Menschen neben mir hatte, denen ich weh tun konnte. So grob musste ich auch nicht zu ihr sein.

  „Ich würde Elizabeth aber gern irgendein Geschenk kaufen – als eine Art Andenken an diesen Urlaub. Willst du mit mir vielleicht zu einem der Läden kommen und mir beim Aussuchen helfen?“, presste ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und legte die Servierte weg. Es brachte mich immer wieder an meine Grenzen, wenn ich für meine Mutter über meinen Schatten springen musste.

  Sie sah mich überrascht an, bevor sie erfreut lächelte und nickte. „Sehr gerne.“

  „Gut“, sagte ich und begann, mich ein wenig zu entspannen. Komischerweise hatten sowohl ihre Tränen, als auch ihr Lächeln diese beruhigende Wirkung auf mich. „Dann hol ich mal eben schnell etwas Geld aus meinem Zimmer.“

  Mir entfiel nicht, dass mein Vater mich skeptisch musterte. Natürlich, ihm war klar, warum ich das tat. Auch meiner Mutter war es mit großer Wahrscheinlichkeit klar, aber wen kümmerte das? Sie lächelte. Punkt. Und deshalb erwiderte ich bloß den Blick meines Vaters schweigend und rutschte dann auf meinem Stuhl zurück, um den Speisesaal zu verlassen und auf unser Zimmer zu gehen.

  Auf dem Weg dorthin erwischte ich mich bei dem Gedanken, die Schuldgefühle meiner Mutter so weit zu treiben, dass sie mich wieder nach Hause zurücknahm. Man durfte mich nicht falsch verstehen – das Internat war nicht soo übel. Es war ganz in Ordnung. Aber es passte mir einfach nicht, dass ich Elizabeth nie sehen konnte.

  Natürlich, wir kannten uns nicht lange. Eigentlich viel zu wenig, um unsere Beziehung überhaupt als ernst bezeichnen zu können. Außerdem waren wir noch ziemlich jung – aber das Alter allein zählte nicht. Ich musste nicht älter sein, um sagen zu können, dass meine Gefühle echt waren.

  Dass ich ihre Nähe genoss, obwohl ich Menschen für gewöhnlich hasste.

  Dass sie mir fehlte, wenn ich nur übers Telefon mit ihr sprechen konnte.

  Dass sie mir vom aller ersten Moment an, in dem ihr Mäppchen wegen mir runtergefallen war gefallen und dass sie allen meinen Respekt verdient hatte, nachdem sie mein Spiel mit mir zu Ende gespielt hatte.

  Kurz gesagt: Ich liebte dieses Mädchen. Vielleicht sogar mehr, als ich es mir bisher selbst gestanden hatte …

  Ich war so tief in Gedanken versunken, dass ich gar nicht bemerkte, wie wenig Zeit ich brauchte, um unsere Suite zu erreichen. Sogar die Treppe war ich in gewisser Weise unbewusst hochgestampft. Ich holte meinen Schlüssel aus meiner Hosentasche und schloss auf. Als ich aber die Tür aufstieß, hörte ich ein lautes Knistern, als würde etwas über den Boden geschleift werden.

  Ich sah mit gerunzelter Stirn runter und entdeckte ein Stück Papier. Ein zusammengefaltetes Blatt, das unter dem Türspalt hindurch geschoben worden war. Verwirrt hob ich es auf und stellte verblüfft fest, dass auf einer Seite „für Keith“ geschrieben stand. Ich hätte angenommen, dass das Blatt von Elizabeth war, wäre da nicht diese seltsam geschwungene Handschrift. Nicht ihre Schrift.

  Merkwürdig, dachte ich im Stillen und faltete es auseinander. Der Inhalt überraschte mich am meisten. Dort standen nämlich bloß lauter Fakten über … mich. Über meine Geburt, meine Herkunft, Meine Familiengeschichte. Über mein halbes Leben.

  Verdutzt las ich den Zettel noch eine Weile, bis mir einfiel, warum ich eigentlich hier hochgekommen war. Das Geschenk für Elizabeth. Ich ging in mein Zimmer und schob den Zettel unter mein Kissen, bevor ich meinen Geldbeutel holte und die Suite wieder verließ, um zu meiner Mutter zu gehen.

  Der Zettel blieb aber noch lange in meinem Kopf – nicht, weil er besonders beunruhigend war. Solche Infos konnte man schließlich von überall bekommen, wenn man über eine Person recherchierte. Ich stellte mir bloß immer wieder unwillkürlich die Frage, wer es gewesen sein könnte.

  Und noch viel wichtiger; Warum?  

 

- Kapitel 4 -

 

Elizabeth:

  „Vielleicht hätten wir uns ein anderes Hotel suchen sollen?“, fragte ich missmutig, während ich das Licht in unserem Zimmer prüfend ein und aus knipste. Nachdem wir heute Morgen vom Strand zurückgekommen waren, hatten wir festgestellt, dass mit der Glühbirne irgendwas nicht gestimmt hatte. Während Keith mit seinen Eltern essen gegangen war, hatten wir uns beschweren müssen. Ich hatte gehofft, ihn dann im Hotel vorzufinden, doch sein Vater hatte gemeint, Keith und seine Mutter wären nicht da.

  Ich hatte bloß erleichtert aufgeatmet. Zumindest ging er noch mit ihr weg. Die Frau tat mir allmählich wirklich leid, so wie er mit ihr umging.

  „Zwei Wochen werden wir hier schon aushalten“, meinte Stieve, bevor er sich aufs Bett warf. Es quietschte unangenehm und ich befürchtete fast, es würde zusammenbrechen.

  „Nächstes Mal werden aber wir beide das Hotel aussuchen“, sagte ich und ging zu meiner Kommode, bevor ich nach der Sonnencreme griff und mir etwas davon auf die Arme schmierte. Es war längst Mittag und wir hatten gerade gegessen, doch es war immer noch richtig heiß.

  Ich liebte Mallorca.

  „Hast du vor, heute noch irgendwo hinzugehen?“, fragte Stieve mich.

  Ich schüttelte den Kopf. „Ich denke, ich nehme jetzt bloß eine kalte Dusche und bleibe für den Rest des Tages hier. Außerdem will ich warten, bis Keith wieder zurück ist.“

  „Wo ist er überhaupt?“

  „Keine Ahnung, mit seiner Mutter weg. Was willst du eigentlich heute noch machen?“ Ich sah ihn an.

  Stieve zuckte im Liegen die Schultern, während er die Hände hinter dem Hals verschränkte. „Mama und Papa wollen in der Stadt noch ein paar schöne Fotos machen, aber ich komme nicht mit. Ich glaube, ich gehe einfach ein wenig an den Pool.“

  Ich lächelte. „Wird die Kleine in dem blauen Badeanzug auch dort sein?“

  Er verzog keine Miene, sah mich nicht mal an. „Vielleicht.“

  „Also hast du sie doch angesprochen?“

  „Kann sein.“ Er spannte sich sichtlich an.

  Ich musste nur noch mehr grinsen. „Und? Wie heißt das Honigstück denn?“

  „Nenn sie nicht so.“

  „Wieso? Darfst das nur du?“, neckte ich ihn.

  „Sabrina. Sie heißt Sabrina“, sagte er betont ruhig und setzte sich auf.

  Ein Schmunzeln stahl sich auf mein Gesicht. Ich war so froh für ihn. Er hatte nicht oft etwas mit Mädchen zu tun und es war so süß mit ansehen zu können, wie er möglicherweise auf seine erste Beziehung zusteuerte.

  „Ich geh jetzt dann mal“, sagte er und stand eilig auf.

  Bevor er aber aus dem Zimmer verschwinden konnte, rief ich ihm noch „viel Spaß mit dem Honigstück!“ hinterher. Stieve blieb kurz wie angewurzelt im Türrahmen stehen, drehte sich aber nicht um und sagte auch nichts. Stattdessen atmete er langsam auf und verließ dann die Suite.

  Als er weg war, lachte ich. Mein kleiner Bruder war so süß.

  Ich stand auf und ging ebenfalls aus unserem Zimmer, um dann erschrocken festzustellen, dass meine Eltern in ihrem saßen und mich beide verwirrt ansahen. Mir wurde schlagartig bewusst, dass sie gehört haben mussten, was ich Stieve eben hinterher gerufen hatte. Das erklärte auch seine komische Reaktion von eben.

  Meine Mutter runzelte die Stirn. „Honigstück?“ Sie hatte eine Tasse mit Eistee in der Hand, den sie durch einen Strohhalm trank und saß auf ihrem Bett. Ihr Rollstuhl stand neben ihr, falls sie irgendwohin wollte. Mein Vater lehnte am Balkon und sah mich genauso abwartend an, wie sie.

  Ich geriet ins Stocken. „Ich … ich meinte …“

  „Wo geht Stieve denn hin?“, fragte mein Vater.

  „Er … zum Pool. Er geht zum Pool. Und ich geh jetzt duschen.“

  „Und was meintest du mit Honigstück?“, bohrte er weiter nach.

  Ich war froh, dass es genau in diesem Moment an der Tür klopfte. Einige Sekunden später steckte Keith unsicher den Kopf in das Zimmer. Als er uns sah, sagte trocken: „Ah, gut. Ihr seid zurück.“

  „Endlich bist du da“, sagte ich übertrieben glücklich, als hätte ich schon lange auf ihn gewartet und lief zu ihm rüber. Ich packte ihn an der Hand und zog ihn mit mir, in mein Zimmer, bevor meine Eltern noch weitere Fragen stellen konnten.

  „Wir gehen gleich noch ein paar Fotos machen“, sagte mein Vater. „Willst du vielleicht ..?“

  „Nein!“, rief ich entschieden und schloss dann die Tür. Erleichtert lehnte ich mich gegen sie und atmete einmal aus, bevor ich mich zu Keith umdrehte und ihn anstrahlte. „Bin ich vielleicht froh, dass du gerade jetzt aufgetaucht bist. Stieve würde mich umbringen, wenn …“

  Ich hatte nicht die Zeit, zu Ende zu sprechen, denn plötzlich trat er an mich heran und packte mich an den Hüften, um mich an sich zu ziehen und mich zu küssen. Es war ein langer Kuss. Und obwohl es angenehm war, legte ich meine Hände auf seine Brust und schob ihn sacht zurück, bevor ich ihn skeptisch ansah. „Wofür war das denn?“

  „Lass mich nie wieder mit meinen Eltern allein“, sagte er und schüttelte langsam den Kopf. „Nie wieder. Es war die Hölle. Ich habe meine Mutter vor lauter Schuldgefühlen glatt gefragt, ob sie mit mir in einen der Läden hier um die Ecke kommt.“

  „Wieso musstest du in einen der Läden?“, fragte ich.

  Er ließ mich los und griff in seine Tasche, aus der er ein schwarzes Päckchen rausholte. Wortlos reichte er es mir und als ich es unentschlossen entgegennahm, musste ich feststellen, dass es schwer war. Als ich es öffnete, sah ich darin eine Kette.

  Ich runzelte die Stirn. „Was ..?“

  „Die ist für dich“, erklärte Keith leicht verlegen und griff nach der Kette. Als er sie rausholte, konnte ich sie genauer betrachten. Es war ein glatter, dunkler Stein mit eingravierten Mustern, der an einer silbrigen Kette hing. Es sah schön aus und würde zu vielen Sachen passen. Keith strich meine Haare zurück, bevor er das Schmuckstück hinter meinem Hals zusammenschloss.

  Ich berührte den kühlen Stein und hob eine Augenbraue. „Womit hab ich das denn verdient?“

  Er zuckte die Schultern. „Einfach so.“

  „Hat sie viel gekostet? Du musst kein Geld für mich ausgeben.“

  „Das kannst du ruhig meine Sorge sein lassen.“

  „Du hast deine Mutter bezahlen lassen, ja?“

  Er zuckte leicht zusammen. „Jeder hat eine Hälfte des Preises übernommen.“

  Ich vergrub das Gesicht kopfschüttelnd in einer Hand, bevor ich mich auf die Zehenspitzen stellte und ihm einen liebevollen Kuss auf die Stirn gab. „Willst du heute noch irgendwohin?“, fragte ich ihn und stellte mich wieder normal hin.

  Er schüttelte den Kopf. „Nein. Nicht wirklich.“

  „Gut, ich wollte auch im Hotel bleiben. Ich geh noch schnell duschen und dann machen wir irgendeinen Film an, ja?“, fragte ich, während ich das Päckchen von der Kette auf meine Kommode legte und aus einer der Schubladen ein sauberes Handtuch holte.

  Keith setzte sich auf mein Bett. „In Ordnung. Ich warte hier.“

  Ich warf mir mein Handtuch über die Schulter und ging ins Bad, das mit unserem Zimmer in Verbindung stand (was eigentlich recht unvorteilhaft war, weil meine Eltern dann immer wieder bei mir reinkommen müssten, wenn sie dorthin wollten) und schloss die Tür hinter mir. Ich traute Keith nämlich zu, sonst einfach reinzukommen.

  Als ich mich zum Spiegel drehte, bemerkte ich sofort wieder den dunklen Stein um meinen Hals. Er glitzerte leicht im Licht und passte irgendwie sehr schön zu meinen Haaren, was ich nicht ganz erklären konnte. Das nahm ich wahr. Und noch etwas fiel mir auf den zweiten Blick auf: Nämlich, dass ich immer noch unbewusst lächelte.

 

Keith:

  Nachdem Elizabeth im Bad verschwunden war, um zu duschen, legte ich mich auf ihr Bett und streckte mich ausgiebig, sodass sich meine angespannten Muskeln ein wenig lockerten.

  Ich war froh, dass ihr die Kette gefiel, die ich ihr gekauft hatte. Da hatten sich die zwei Stunden in Gesellschaft meiner Mutter, in denen wir zusammen den Laden durchsucht hatten doch gelohnt.

  Auch war ich erleichtert, dass Elizabeth genau wie ich nur im Hotel bleiben wollte, statt zu irgendeiner Party zu gehen. Es war für mich immer noch am besten, einfach Zeit mit ihr allein zu verbringen. Wir mussten auch nicht immer reden. Ein paar Stunden mit einem Film oder im Wasser taten es auch.

  Ich sah erschrocken auf, als ich eine Vibration in meiner Hosentasche spürte. Ach ja. Ich benutzte mein Handy in letzter Zeit so selten, dass ich schon fast vergaß, dass ich es überhaupt hatte. Als ich es hervorholte, sah ich, dass ich eine Nachricht hatte.

  Die Nummer war unbekannt.

  Vielleicht hätte ich angenommen, das sich jemand verwählt hatte, wäre da nicht der seltsame Inhalt der Nachricht gewesen: Hast du meine Botschaft gefunden?

  Zunächst verstand ich nichts. Dann kam mir aber der Zettel mit Informationen über mich in den Sinn, den ich unter meinem Kissen versteckt und immer noch nicht vollständig gelesen hatte.

  Sofort setzte ich mich auf und tippte eine Nachricht: Wer bist du?

  Auf eine Antwort musste ich kaum warten: Nenn mich Soziopath. 

  Ich verstand nichts. Prüfend sah ich zum Bad, aber da ich bereits wusste, dass Elizabeth nicht weniger als 15 Minuten brauchen würde, fuhr ich mit den Fragen fort. Die Antworten von „Soziopath“ waren immer sehr diskret und unklar. Nach ganzen fünf Minuten, in denen ich mit ihm geschrieben hatte, war ich immer noch nicht klüger als vorher.

  -Keith: Was willst du von mir?

  -Soziopath: Ich will Spaß haben.

  -Keith: Hast du den Zettel unter meiner Tür durchgeschoben?

  -Soziopath: Ja.

  -Keith: Wieso?

  -Soziopath: Ich wollte mein Wissen mit dir teilen.

  -Keith: Welches Wissen?

  -Soziopath: Ich weiß alles über dich.

  -Keith: Schön.

  -Soziopath: Du sollst wissen, dass ich dich beobachte.

  -Keith: Was bringt dir das?

  -Soziopath: Das wirst du noch erfahren.

  -Keith: Woher hast du meine Nummer?

  -Soziopath: Musst du nicht wissen.

  -Keith: Was willst du eigentlich?

  -Soziopath: Ich will alles, was ich noch nicht über dich weiß in Erfahrung bringen.

  -Keith: Müsste ziemlich viel sein.

  -Soziopath: Weniger, als du vielleicht denkst.

  -Keith: Du glaubst also, alles über mich zu wissen?

  -Soziopath: Ja.

  -Keith: Beweis es.

  -Soziopath: Reicht der Zettel nicht? Das war nämlich nur der Anfang.

  -Keith: Gib mir etwas, das mehr persönlich ist. Etwas, was man nicht irgendwo aufschnappen kann. Dann glaube ich dir.

  -Soziopath: Du willst Beweise? Die kriegst du.

  Und danach nichts mehr.

  Ich verdrehte die Augen und ließ mein Handy wieder in meine Tasche gleiten. Vermutlich bloß irgendein Idiot, der zu viel Freizeit in den Ferien hatte und irgendwo meine Nummer gefunden hatte. Vielleicht war es ein alter Klassenkamarad mit einem neuen Handy? Sowas konnte ich jetzt wirklich nicht gebrauchen. Außerdem würde der Kerl eh nichts anrichten können.

  Nur … da blieb doch noch der Zettel. Über den machte ich mir nämlich schon meine Gedanken. Schließlich hatte ich ihn nicht bis zum Schluss gelesen, gerade mal die Hälfte. Den würde ich mir doch noch gerne näher ansehen.

  Elizabeth durfte jedoch nichts davon erfahren. Sie würde sich nur Sorgen machen und dann wäre unser schöner Urlaub hin. Ich musste den Zettel lesen, wenn sie nicht in der Nähe war. Da sie aber gleich rauskommen würde, würde sie sich fragen, wo ich war, wenn ich jetzt verschwand.

  Ich stand auf und ging zu der Badezimmertür, bevor ich ein paar Mal klopfte. „Elizabeth?“

  Zuerst Stille. Dann ein zögerliches „Ja?“

  Ich räusperte mich. Es war wichtig, dass ich sie nun überzeugen konnte. Sie durfte keinen Verdacht schöpfen. „Hör mal, deine Eltern wollten doch noch in die Stadt gehen und Fotos machen, oder? Und meine Eltern werden da eh sofort mitkommen, deshalb … Später wird Stieve sicher, wo auch immer er gerade ist, zurückkommen und vielleicht sollten wir den Film lieber bei uns gucken, um ihm nicht auf die Nerven zu gehen? Schließlich ist dort keiner.“ Nach kurzem Überlegen fügte ich noch hinzu: „Dann haben wir etwas Zeit und Raum für uns allein.“    

- Kapitel 5 -

 

Elizabeth:

  „Das schöne an Mallorca ist, dass es, selbst wenn es dunkel wird, immer noch warm bleibt“, sagte ich und warf mir einen Mentos in den Mund. Nach der kalten Dusche und mit dem minzigen Geschmack auf meiner Zunge konnte ich die Hitze zwar für einige Minuten vertreiben, es bildete sich aber weiterhin Schweiß auf meiner Stirn.

  Ich würde diesen Sommer sowas von braun werden.

  Keith und ich saßen zusammen auf dem Balkon seiner Suite und sahen uns auf meinem DVD-Spieler Titanic an. Den Film konnte ich mir immer wieder ansehen und wir hatten ja viel Zeit.

  „Sag mal, magst du Titanic überhaupt?“, fragte ich Keith, da mir jedes Mal, wenn ich zu ihm rüber sah auffiel, dass er irgendwie abwesend wirkte. Außerdem warf er ständig eilige Blicke über die Schulter, als würde er auf etwas warten. „Du weißt, du musst ihn meinetwegen nicht gucken. Wir können was schauen, was uns beiden gefällt.“

  „Nein, nein, der ist okay … Ist schon okay“, murmelte er schnell und legte seinen Arm um mich. „Der ist in Ordnung.“

  „Besser, du sagst die Wahrheit. Der geht echt lange“, meinte ich und streckte meine Beine noch etwas weiter aus. Wir hatten unsere Füße beide auf das Balkongerüst gelegt und saßen auf Stühlen, die wir von drinnen raus gezerrt hatten. Der DVD-Spieler lag teilweise auf unser beider Schoß und vor uns war der Anblick des Meeres in der Nacht. Die Sonne war erst vor Kurzem untergegangen.

  „Wie lange es wohl noch dauert, bis unsere Eltern kommen? Es wird schon dunkel“, bemerkte Keith.

  „Du kennst sie doch. Die lassen sich bei sowas Zeit. Vermutlich unterhalten sie sich noch mit irgendwem.“

  „Stieve ist auch schon länger weg.“

  „Ja, aber das hat andere Gründe“, grinste ich wissend.

  Keith runzelte die Stirn. „Wie meinst du das?“

  „Nicht so wichtig.“

  „Wie auch immer. Warte kurz, ich muss mal eben aufs Klo.“ Er sprang so schnell auf, dass der Spieler fast auf den Boden fiel. Ich fing ihn auf und setzte ihn auf meinen Schoß, während Keith vom Balkon verschwand.

  „Soll ich auf Pause drücken, während du weg bist?“, wollte ich wissen.

  „Nein!“, kam es von drinnen.

  Ich zog einen Schmollmund und versuchte, es mir wieder bequem zu machen. „Dann eben nicht.“ Ich stellte die Lautstärke etwas leiser, weil in dieser Szene recht viel Musik vorkam und lehnte mich dann wieder zurück. Da es sich aber irgendwie falsch anfühlte, ohne Keith hier zu sitzen, stellte ich den Film mit einem tiefen Seufzer doch auf Pause.

  Hoffentlich beeilte er sich.

  „Hast du vielleicht eine Schere?“

  Ich sah überrascht zur Seite, als ich die Stimme des Mädchens auf dem Balkon nebenan hörte. Sie war älter als ich, mit blonden, welligen Haaren und blauen Augen. In der Hand hielt sie eine Schachtel aus Pappe.

  Ich legte den Kopf schief. „Wie bitte?“

  „Ich bräuchte eine Schere.“ Sie wies auf den Karton. „Hast du vielleicht eine?“

  Bedauernd schüttelte ich den Kopf. „Nein. Tut mir leid, dass ist nicht meine Suite. Ich könnte aber gleich meinen Freund fragen, vielleicht weiß er, ob seine Eltern hier irgendwo eine liegen haben.“

  Das Mädchen winkte ab und stellte den Karton weg. „Nein, nein, nicht nötig. Ist sowieso nicht so wichtig.“

  „Oh, okay. Wofür hast du sie denn gebraucht?“, fragte ich und drehte mich zu ihr. Da Keith ohnehin gerade weg war und ich auf ihn warten musste, konnte ich mich auch ein wenig unterhalten.

  „Ach, ich musste hier bloß ein paar Löcher rein schneiden.“ Sie stellte den Karton ab und lehnte sich an das Balkongerüst. Sie schmunzelte. „Du bist also mit deinem Freund hier? Wie heißt ihr beiden denn?“

  „Sein Name ist Keith und ich bin Elizabeth. Wie heißt du?“, wollte ich wissen.

  Das Mädchen lächelte leicht und riss für einen kurzen Moment etwas zu weit die hellen Augen auf, als wüsste sie nicht, wie sie ihr Gesicht am freundlichsten wirken lassen konnte. Dann wurde ihr Ausdruck aber wieder normal und sie legte spielerisch den Kopf schief. „Ich bin Katharina.“

 

Katharina:

  „Ich bin Katharina“, sagte ich so freundlich, wie ich nur konnte. Manchmal dauerte es, bis ich den nötigen Gesichtsausdruck und die nötige Stimme dazu fand, doch wenn ich sie hatte, dann gab es kaum jemanden, der noch in mich hineinsehen konnte. Meine Gedanken waren dann tief unter dieser Maske aus einem Lächeln und glänzenden Augen versteckt. „Aber du kannst mich wie mein Bruder auch einfach Kathy nennen.“

  „Wie alt ist dein Bruder denn? Und ist er auch hier? Ich hab nämlich auch einen. Die beiden könnten vielleicht mal zusammen abhängen, wenn ihnen langweilig ist“, sagte Elizabeth.

  Ich bemühte mich, traurig zu wirken und legte ganz leicht die Stirn in Falten, bevor ich meinen Blick zum Meer wandern ließ. Diese Show zog ich oft ab. „Bruce ist 16. Er konnte aber nicht mitkommen, weil er Zuhause noch in Behandlung ist. Wir haben ihn bei unserer Tante gelassen, damit ihn jemand im Auge hat.“

  „Ou, das tut mir leid. Was für eine Behandlung ist es denn, in der er ist?“, fragte Elizabeth mitfühlend. „War er vielleicht in irgendeinen Unfall verwickelt?“

  Überrascht sah ich sie an. „Nein. Wieso fragst du?“

  „Nur so … Ich war nämlich selbst mal in einen verwickelt und leide seitdem teilweise an Amaxophobie“, erklärte Elizabeth gelassen.

  „Amaxophobie“, wiederholte ich nachdenklich. Eigentlich hatte ich mit diesem Gespräch zwar etwas anderes herausfinden wollen, doch das, was ich eben gehört hatte war auch recht interessant. Diesen Begriff würde ich später noch im Internet suchen müssen. Bevor ich das tat, musste ich aber noch weiter mit ihr reden.

  Es war nämlich so, dass ich log. Nichts auf dieser Welt konnte ich so gut wie lügen. Ich hatte weder einen Bruder namens Bruce, der in Behandlung war, noch wurde ich von jemandem Kathy genannt. Es hieß Katharina, fertig. Auf diese Weise konnte ich aber Elizabeth dazu bringen, mehr von sich zu erzählen. Außerdem war das hier eine gute Gelegenheit, auch mit ihr ein wenig zu spielen.

  „Was war das denn jetzt für eine Behandlung, wenn ich fragen darf?“, wollte Elizabeth wissen. Sie schien wirklich interessiert daran zu sein. Ein etwas zu offener Mensch.

  Das dumme Stück machte es mir fast schon zu leicht. Ich tat, als würde ich zögern und sah mich um, als würde ich befürchten, jemand könnte uns belauschen. „Er ist Sadist und hat in letzter Zeit immer öfter Wutanfälle, weißt du“, erklärte ich flüsternd. Dass sich in Elizabeths Gesicht was regte, entging mir nicht. „Wir wissen gar nicht, was wir mit ihm noch machen sollen. Keine Therapie scheint wirklich zu helfen.“ Ich seufzte demonstrativ. „Vielleicht wird es gar nicht besser.“

  „Ganz bestimmt wird es besser“, versicherte Elizabeth schnell. „Keith – also mein Freund – ist auch Sadist, aber es gelingt ihm immer mehr, seine Probleme unter Kontrolle zu bekommen.“

  Ich setzte ein verblüfftes Gesicht auf. „Du bist mit einem Sadisten zusammen?“

  „Nun … ja. Findest du das schlimm?“, fragte Elizabeth verwirrt.

  Ich zuckte die Schultern. Mal sehen, ob ich ihr etwas in den Kopf setzen konnte. „Na ja, irgendwie schon. Ich liebe Bruce, weil er mein Bruder ist, aber es gibt auch Momente, da … da hab ich Angst vor ihm. Hast du keine Angst, dass Keith dich irgendwann verletzen könnte?“

  Elizabeth schüttelte entschieden den Kopf. „Nein.“

  „Er hat es also noch nie versucht?“, fragte ich weiter. Da musste es doch irgendwas geben. Irgendwas …

  Für einen Augenblick sah ich, wie Elizabeth zusammenzuckte und unsicher die Lippe zwischen die Zähne zog. „Hmm …“

  „Ja?“

  „Also … Er hat es einmal tun wollen. Mit der Faust ins Gesicht, nachdem ich ihn davon abgehalten habe, eine Katze umzubringen, aber …“ Sie schüttelte den Kopf. „Er hat es nicht getan.“

  „Und du fürchtest dich nicht, dass er es eines Tages doch tun könnte?“ Ich hatte die Hoffnung, sie so zum Nachdenken zu bringen, doch es schien sie nicht zu erschrecken.

  „Nein“, erwiderte Elizabeth entschlossen.

  „Aber auch nur, weil du vermutlich nicht alles über ihn weißt, oder?“, drängte ich weiter. Es frustrierte mich, dass Elizabeth so locker damit umging und sich nicht einschüchtern ließ. Gemächlich meldete sich das Pochen in meinem Kopf.

  Selbstsicher legte Elizabeth die Beine übereinander und lächelte zuversichtlich. Vermutlich dachte sie, ich hätte Respekt vor ihr. „Doch, ich weiß alles über ihn.“

  „Alles?“

  „Alles. Er hat mir auch von allen Tieren erzählt, die er als Kind gequält hat. Dass er sogar schon im Kindergarten Leute in seinem Umfeld gern terrorisiert hat. Alles.“

  Ich versuchte, jedes Wort in meinem Gedächtnis zu behalten, bevor ich wieder nett lächelte. „Das ist schön. Ich wünschte wirklich, Bryce würde mir auch so sehr vertrauen. Aber ich bin sicher, dass du Recht hast. Irgendwann wird er sich wohl auch zusammenreisen.“

  Elizabeth blinzelte. „Hieß er nicht Bruce?“

  „Wer?“

  „Dein Bruder.“

  „Nein, sein Name war Bryce“, sagte ich und hätte mich für diesen Fehler schlagen und mir die Haare ausreisen können, weil ich so wütend auf mich selbst wurde. Normalerweise log ich doch wie gedruckt! Das Pochen in meinem Kopf nahm immer mehr zu und es fühlte sich inzwischen fast so an, als würde man mir heiße Dolche in den Schädel jagen.

  Ich griff mir verkrampft an die Schläfe. So würde ich nicht weiterreden können, sonst würde ich mich nur noch mehr versprechen. Aber ich hatte ja ohnehin genug gehört. „Entschuldige mich … Ich brauche dringend eine Tablette. War schön, sich mit dir zu unterhalten“, sagte ich an Elizabeth gewandt und verschwand ohne ein weiteres Wort nach drinnen.

  Dort ging ich auf mein Zimmer und warf mich schwungvoll aufs Bett, um zu warten, bis die Kopfschmerzen verschwunden waren. Das dauerte wie üblich nur einige Minuten.

  Als der Schmerz ein wenig nachgelassen hatte, tastete ich die Kommode neben meinem Bett nach meinem Handy ab. Unter dem Namen Soziopath hatte ich Keith heute einige Nachrichten geschrieben, um ihn wissen zu lassen, dass er in meinem Netz steckte.

  Er wollte Beweise? Ich schmunzelte. Die sollte er kriegen.

 

Keith:

  Mit klopfendem Herzen und flachem Atem lehnte ich an der Tür des Badezimmers und hielt mit zitternden Händen das Blatt umklammert, das Soziopath unter der Tür durchgeschoben hatte und das ich eben zu Ende gelesen hatte.

  Natürlich war ich nicht wie behauptet aufs Klo gegangen, sondern hatte das Blatt unter meinem Kissen hervorgeholt, um es hier in Ruhe zu lesen – was ich inzwischen fast schon wieder bereute.

  Okay – ich hatte zwar gesagt, ich würde mir wirklich keine allzu großen Sorgen machen, doch dass dieser Typ von meinem Sadismus wusste, hatte mich ein wenig bestürzt. Auch, woher er sowohl meine alte, als auch meine neue Adresse hatte und woher er wusste, dass mein Vater Amerikaner und meine Mutter Polin war, wüsste ich nur zu gerne. Das war beängstigend.

  Es kotzte mich an, dass dieser Kerl offenbar doch mehr wusste, als ich ihm zugetraut hatte.

  Und noch etwas: Es machte mir tatsächlich Angst.

  Ich ließ die Hände sinken und legte den Kopf in den Nacken, bevor ich kurz die Augen schloss. Nein, nicht so, so würde dieser Urlaub mit Elizabeth sicher nicht enden. Nicht mit einem durchgedrehten Stalker im Nacken, der nichts besser zu tun hatte, als mich zu verarschen.

  Wie aufs Kommando vibrierte plötzlich das Handy in meiner Hosentasche. Nervös holte ich es heraus, da ich bereits ahnte, wer es war – und ich behielt mit meiner Vermutung Recht.

  Besonders lang oder sinnvoll war die Nachricht von Soziopath dieses Mal nicht: Na, du?

  Ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter, bevor ich tippte: Was willst du?

  Wieder begann ein lautloses Gespräch, das sich einige Minuten in die Länge zog;

  -Soziopath: Ich habe Beweise gesammelt. Das wolltest du doch.

  -Keith: Ich hab’s verstanden, du bist cool. Jetz lass mich in Ruhe.

  -Soziopath: Willst du sie hören?

  -Keith: Was?

  -Soziopath: Die Beweise. Persönliche Sachen, die eigentlich nur dich, deine Familie oder Elizabeth was angehen würden.

  -Keith: Woher kennst du Elizabeth?!!

  -Soziopath: Ich habe doch gesagt, dass ich alles über dich weiß. Auch über deine kleine an Amaxophobie leidende Freundin und die Dinge, die zwischen euch vorgehen.

  -Keith: Was für Dinge?!

  -Soziopath: Jetzt doch neugierig geworden?

  -Keith: Mach keinen Scheiß! Was für Dinge meinst du?

  -Soziopath: Zum Beispiel deinen Versuch, sie mit der Faust ins Gesicht zu schlagen.

  -Keith: Ich habe nie versucht, sie zu schlagen.

  -Soziopath: Ganz sicher? Das habe ich aber anders in Erinnerung. Denk mal an die Katze, die du hättest töten können, wenn sie nicht aufgetaucht wäre.

  Und an der Stelle wäre ich fast ohnmächtig geworden. Das war noch untertrieben. Ich hätte kotzen können, so schnell hatte mein Herz gehämmert.

  -Keith: Wie lange verfolgst du mich eigentlich schon?!

  -Soziopath: Lange genug, um zu wissen, dass du schon seit dem Kindergarten krank bist. Es war schön für dich, die Leute in deiner Umgebung zu quellen, nicht wahr? Und die ganzen Tiere erst …

  -Keith: Ich hab mich geändert!

  -Soziopath: Das glaube ich nicht. Und ich kenne dich besser als du selbst.

  -Keith: Du kennst mich nicht und du kannst mich mal. Ich kann auch leben, ohne anderen weh zu tun.

  -Soziopath: Wenn du meinst. Hoffen wir bloß, dass Elizabeth später Mal wegen deiner Selbstüberschätzung nicht leiden muss …

  Und ich schwöre, ich hätte ihm nach dieser letzten Nachricht so richtig die Meinung reingedrückt, hätte es in dem Moment nicht an der Tür geklopft. Ich fuhr zusammen und versteckte das Handy vor lauter Schreck schnell wieder in meiner Tasche.

  „Keith?“, kam es von draußen. Elizabeth, wer sonst. Kein Stalker, kein Soziopath. „Kommst du bald? Oder ist dir schlecht?“ Sie klang besorgt.

  Sie klang besorgt, obwohl ich bloß ein paar Minuten zu lange weg war und nicht etwa in Lebensgefahr schwebte oder so ähnlich. Niemals würde ich diesem Mädchen weh tun.

  „Ja, ich komm gleich … warte ganz kurz“, rief ich und begann, das Blatt zu zerreißen. Immer und immer wieder, bis es nur noch viele winzige Teile in meinen Händen waren. Mit diesen Teilen ging ich zum Klo, klappte die Brille hoch und warf sie achtlos hinein, bevor ich die Spülung drückte. Es dauerte eine Weile, bis das ganze Papier runtergespült war, doch so würde es zumindest niemals jemand finden.

  Dieses Wissen besaßen momentan also nur ich, meine Eltern, Elizabeth und Soziopath.

- Kapitel 6 -

 

Keith:

  Als ich den Zettel zerrissen und im Klo runtergespült hatte, war ich dumm genug gewesen zu erwarten, dass es damit auch vorbei sein würde. Das war es selbstverständlich nicht.

  Genauso wenig, wie ich vorgehabt hatte, Elizabeth damals nach unserem Kuss im Wartezimmer des Psychiaters in Ruhe zu lassen, hatte Soziopath vor mich bei seinen Stalker-Spielchen zu schonen.

  Seit dem Abend war genau eine Woche vergangen – also die Hälfte unseres Urlaubes hier und ich wachte an keinem Morgen davon auf, ohne eine Nachricht von ihm vorgefunden zu haben, in der aufgelistet war, was ich am Tag zuvor alles getan hatte. Egal, ob es am Strand, in der Stadt oder im Hotel gewesen war. Es schien, als würde er mich rund um die Uhr beobachten.

  Als sei das nicht schon beängstigend genug, hatte es da noch diese Nacht gegeben, in der ich von einer weiteren Nachricht von ihm geweckt worden war. Es war wie üblich nicht viel Text gewesen, bloß ein knappes Geh mal vor die Tür.

  Schon seltsam, so eine Nachricht um vier Uhr morgens zu bekommen. Raus gegangen war ich trotzdem. Ich hatte mich leise an meinen schlafenden Eltern vorbeigeschlichen und war auf den Flur hinausgetreten, um dort einen Karton vor unserer Tür vorzufinden. Verwirrt hatte ich ihn aufgehoben und war damit wieder zurück auf mein Zimmer gegangen.

  In dem Karton hatten sich Mäuse befunden. Sechs Stück, um genau zu sein. Weiß, mit weichem Fell und alle etwas mager. Ich hatte den Karton schnell wieder geschlossen, bevor sie hatten abhauen können und dabei erst bemerkt, dass die Pappe für Sauerstoff durchlöchert gewesen war.

  Was soll ich damit?, hatte ich Soziopath per Nachricht gefragt.

  Es hatte mich erstaunt, dass er sofort geantwortet hatte. Offenbar schien der Kerl keinen Schlaf zu brauchen. Tob dich ruhig ein bisschen mit den Viechern aus und steck sie dann zurück in den Karton. Wenn du ihn dann wieder auf den Gang bringst, werde ich ihn entsorgen und es muss niemals jemand erfahren.

  Mir war erst einige Sekunden später aufgegangen, dass er von mir verlangte, die Mäuse umzubringen. Das hatte wieder ein hitziges Gespräch ausgelöst:

  -Keith: Wieso sollte ich das machen?!!

  -Soziopath: Du bist doch Sadist.

  -Keith: Ja, aber ich steh über solchen Dingen. Ich kann auf sowas verzichten!

  -Soziopath: Ja, aber wie lange noch? Natürlich, du versuchst dich zu ändern und niemandem mehr weh zu tun, aber dir ist bestimmt klar, dass du hin und wieder auch nachlassen wirst … Jetzt hast du die Chance. Hierfür wird dich keiner bestrafen.

  -Keith: Vergiss es. Und was bringt dir das überhaupt??

  -Soziopath: Ich will dir nur einen Gefallen tun.

  -Keith: Wer’s glaubt.

  -Soziopath: Wir wissen beide, dass du es willst. Warum tust du es nicht einfach?

  -Keith: Weil ich mir vorgenommen habe, mich zu ändern!

  -Soziopath: Für wen?

  An dieser Stelle hatte ich kurz den Atem angehalten. Dieser Arsch wusste es ganz genau. Dennoch hatte ich ihm nicht die Genugtuung überlassen wollen, mich sprachlos zu erleben.

  -Keith: Für Elizabeth.

  -Soziopath: Ist ja putzig. Stimmt, warum Tiere quälen, wenn man verliebt ist? Aber deine Freundin wird nicht immer bei dir sein. Sie wird dich nicht immer glücklich machen. Tiere hingegen wird es immer geben …

  -Keith: Und ob sie mich immer glücklich machen wird. Darauf kannst du dich verlassen.

  -Soziopath: Bist du sicher?

  -Keith: Ja.

  -Soziopath: Ganz sicher?

  -Keith: Ja, verdammte Scheiße.

  -Soziopath: Sobald ich weiß, hatte sie doch früher Angst vor dir.

  -Keith: Und wenn schon.

  -Soziopath: Denkst du nicht, dass das irgendwann wieder der Fall sein könnte?

  -Keith: Nein. Nicht, solange ich ihr dafür keinen Grund gebe.

  -Soziopath: Wie zum Beispiel diese Mäuse im Klo runterzuspülen?

  -Keith: Ja.

  -Soziopath: Aber das bedeutet, dass du denkst, sie würde sich wieder vor dir fürchten, wenn du ihr einen Grund gibst, ja?

  -Keith: Dazu wird es nicht kommen.

  -Soziopath: Das werden wir noch sehen.

  Hier war es wieder zu Ende gewesen. Ich hatte das Handy seufzend weggelegt, mir den Karton geschnappt und ihn – mit lebendigem Inhalt – wieder auf den Gang hinausgestellt, bevor ich ins Bett gegangen war. Am nächsten Morgen war ich dank dem Wecker früher aufgewacht, als alle anderen und war rausgegangen, um zu prüfen, ob das Ding noch da gewesen war.

  Er hatte sich tatsächlich noch da befunden, wo ich ihn abgestellt hatte, jedoch mit einem Blatt Papier daneben. Darauf hatte gestanden: An Keith. Das hier hätte dein Werk sein können. Und die Mäuse darin waren nicht länger am Leben, sondern vergiftet gewesen. Hatten an so einer Art Giftkugel genascht, die jemand reingeworfen hatte. Ich hatte den Kopf geschüttelt und den Karton in den Mülleimern hinter dem Hotel entsorgt. Sobald ich wusste, hatte ihn bis heute niemand gefunden.

  Das alles hatte mich in den letzten Tagen nervös werden lassen. Glücklicherweise war es niemandem aufgefallen – bis auf Elizabeth, die mich ein paar Mal darauf angesprochen hatte. Ich hatte jedoch abgewinkt und gemeint, es sei nichts und dann vom Thema abgelenkt.

  In Wirklichkeit dachte ich kaum noch an was anderes, als Soziopath. Vor allem, weil er recht gehabt hatte. Ich hatte tatsächlich große Lust gehabt, diese Mäuse … Nein, nein. An sowas hatte ich nicht einmal denken dürfen.

  Ich durfte mir nicht zu viele Sorgen machen – denn solange ich mich zusammenriss, konnte mir nichts passieren.

 

  „Halloooo, Keith?“, fragte Elizabeth und rüttelte an meinem Arm. Sie sah mich mit gerunzelter Stirn und durch ihre Sonnenbrille hindurch forschend an. „Hast du mir überhaupt zugehört?“

  „Hmm, was? Ja, ja, hab ich“, murmelte ich und rieb mir die Augen. Ich schlief nicht besonders gut, seit dieser Geschichte mit den Mäusen und war daher ein wenig … langsam. Wenn wir nicht an diesem Tisch eines Cafés sitzen würden, wäre ich nun vermutlich wie ein Betrunkener hin und her geschwankt.

  „Ach ja? Und was hab ich gesagt?“, fragte Elizabeth herausfordernd. Sie wirkte bereits ein wenig wütend und verschränkte die Arme vor der Brust.

  „Dass unsere Eltern heute noch in dieses Restaurant gehen und von uns wissen wollten, ob wir Lust hätten, mitzukommen … Ich hör schon zu“, versicherte ich ihr.

  „Und? Was sagst du?“, wollte sie wissen.

  „Ich für meinen Teil werde auf jeden Fall mitkommen“, sagte Stieve, der ebenfalls am Tisch saß und einen Eiskaffee schlürfte. „Ich habe keine Lust mehr, immer im Hotel zu essen. Gut, dass wir mal ausgehen.“

  „Wir sind nicht wegen dem Essen nach Mallorca gekommen“, entgegnete Elizabeth grinsend. Dann sah sie wieder mich an. „Ich wär aber auch dafür. Was ist mit dir? Kommst du mit oder bleibst du allein im Hotel?“

  Ich spürte, wie meine Augen zufielen. Sie sollte aber nicht wieder glauben, ich würde ihr nicht zuhören. „Wenn es euch recht ist, würde ich heute doch lieber auf dem Zimmer bleiben. Ich fühle mich nicht besonders gut …“, log ich und versuchte, krank auszusehen.

  Ein schwerer Fehler in Elizabeths Anwesenheit. Sofort musterte sie mich von oben bis unten und lehnte sich zu mir vor. „Was ist denn los? Ist dir schlecht oder wirst du krank?“

  „Keine Ahnung. Es ist eher so, dass …“

  „Hey, Elizabeth.“

  Ich drehte mich verwirrt um, als ich die fremde Stimme hörte. Hinter mir stand ein Mädchen mit blonden Haaren und blauen Augen, die ein rotes Sommerkleid trug und etwas älter als wir zu sein schien. Ihr Lächeln war irgendwie komisch, genauso wie der Blick durch die etwas zu stark geweiteten Augen, doch sie war dennoch hübsch.

  „Hallo, Katharina“, antwortete Elizabeth freundlich, aber nicht weniger überrascht als ich darüber, dass das Mädchen sie angesprochen hatte. Sie schienen sich also nicht besonders gut zu kennen. „Das ist deine Nachbarin, sie wohnt in der Suite neben eurer“, erklärte sie mir.

  Ich sah Katharina flüchtig an. „Hey.“

  Das Mädchen lächelte wieder. Mir fiel auf, dass sie mich dabei etwas zu lange ansah. Als würde sie mich … scannen. „Ich wollte auch nicht länger stören“, sagte sie dann im Plauderton, „aber es ist nur so, dass jemand vor Kurzem eine Kiste mit toten Mäusen in den Mülltonnen unseres Hotels gefunden hat. Sie wurden vergiftet. Ich würde euch also empfehlen, aufzupassen. Man kann ja nicht wissen, was sich alles so in einem Hotel rumtreiben kann.“

  Ich spürte, wie sich meine Schultern anspannten.

  „Vergiftet?“, fragte Elizabeth fassungslos.

  „Ja. War aber irgendeine Chemikalie, bei der man den Tod lange hinauszögern kann. Wer auch immer das mit ihnen angestellt hat, hat sie eindeutig lange leiden lassen“, sagte Katharina. Dann, als Elizabeth und Stieve bloß schwiegen, sah sie auch noch zu allem Überfluss in meine Richtung und legte besorgt den Kopf schief. „Alles in Ordnung bei dir? Du wirkst so angespannt. Keine Angst, es sind nur Mäuse. Selbst wenn es bei euch welche geben sollte, werden sie nichts tun.“

  Ich guckte sie perplex an, bevor ich bemerkte, dass Stieve und Elizabeth mich beide ansahen. Natürlich vermuteten sie etwas anderes. Sofort warf ich die Hände in die Luft und schüttelte den Kopf.  „Das war ich nicht!“

  „Das würden wir nie behaupten“, versicherte Elizabeth schnell und griff beruhigend nach meinem Arm. „Ich weiß, dass du dich beherrschen kannst.“

  „Du musst wohl Keith sein“, sagte Katharina und schenkte mir wieder diesen durchdringenden Blick. Ich starrte verständnislos zurück.

  „Sie weiß, dass du Sadist bist“, flüsterte Elizabeth mir zu. „Ihr Bruder ist auch einer. Er ist gerade in Behandlung.“

  „In Behandlung?“, fragte ich mit heiserer Stimme. Sowas fehlte mir nur noch. Falls Elizabeth und Stieve insgeheim doch dachten, ich sei das mit den Mäusen gewesen …

  „Er wollte nicht nach Mallorca mitkommen … ist vermutlich aber auch am besten so. Er hatte ohnehin viele Wutanfälle und die vielen Leute hier hätten ihn nur gestresst. Er ist immer sehr aggressiv, wenn es laut um ihn herum ist. Soll bei Sadisten ja öfter der Fall sein.“ Mir fiel auf, dass Katharina bei ihren Worten unauffällig zu Elizabeth rüber sah.

  Wütend verzog ich den Mund, um mir meinen Kommentar zu verkneifen. Wollte sie Elizabeth eigentlich gegen mich aufhetzen oder was?

  „Ist wohl nicht bei allen so“, sagte Elizabeth zu meiner Überraschung entspannt und zuckte die Schultern. So viel Vertrauen hatte ich irgendwie gar nicht erwartet. Katharina offenbar auch nicht. Wir beide sahen meine Freundin schweigend an. Diese lächelte und klopfte mir auf die Schulter. „Keith hält das echt super aus. Er ist sogar auf einem Internat.“

  „Ach … ist das so?“, brach Katharina durch zusammengebissene Zähne hervor. Kam es mir nur so vor, oder wirkte sie nun irgendwie zornig? Es war, als würde sie etwas an Elizabeth frustrieren. 

  „Ja“, bestätigte Elizabeth, ohne etwas zu merken.

  Katharina brachte noch ein letztes Lächeln, das inzwischen eher einer Grimasse ähnelte zu Stande und griff sich dann an den Kopf. „Entschuldige … Ich brauche wieder meine Tabletten“, flüsterte sie, bevor sie sich umdrehte. Über die Schulter warf sie noch ein halbherziges „Einen schönen Tag noch“ und verließ dann ohne etwas zu bestellen das Cafe. Wieso war sie denn überhaupt hergekommen?

  Na ja, egal. Ich sah das jedenfalls als perfekte Gelegenheit, ebenfalls abzuhauen. Ich stand langsam auf und stieß die Luft aus. „Okay. Ich glaube, ich geh jetzt mal aufs Zimmer“, murmelte ich, bevor ich mich zu Elizabeth hinunter beugte und ihr einen knappen Kuss auf den Mund gab. „Viel Spaß noch beim Essen.“

  „Und ich soll dich nicht begleiten?“, fragte Elizabeth noch einmal zur Sicherheit. „Vielleicht sollten wir deinen Eltern Bescheid sagen und dich ins Krankenhaus bringen?“

  Ich schüttelte den Kopf (vor allem, weil die Typen im Krankenhaus ganz schnell bemerken würden, dass ich bloß bluffte). „Nein, es geht. Ich schaff es schon bis zum Hotel“, versicherte ich und verließ dann ebenfalls das gemütliche Cafe.

  Draußen brannte die Sonne erbarmungslos auf meinen Kopf herab und um mich herum war eine dichte Menschenmasse. Katharina hatte schon recht gehabt, so viele Leute auf einmal nervten mich tatsächlich, doch durch den Aufenthalt auf dem Internat und das Wohnen mit Train hatte ich mich inzwischen irgendwie daran gewöhnt.

  Nichtsdestotrotz fühlte ich mich erdrückt von dem ganzen Lärm und den Stimmen, als ich am Hotel ankam. In mein Zimmer wollte ich nicht gehen, da dort mein Handy lag und inzwischen wieder eine neue Nachricht von Soziopath gekommen sein musste, die ich nicht sehen wollte … Da ich mich selbst aber gut genug kannte, wusste ich, dass ich sie auf jeden Fall lesen würde. Also ging ich gar nicht erst hin.

  Stattdessen suchte ich im dem Hotel irgendwo nach einem ruhigen Ort, doch überall wo ich hinging waren Menschen. Wenn auch nur ein paar, es war immer jemand anwesend. Und im Moment wollte ich nur einmal allein und unbeobachtet sein.  

 

Katharina:

  Ich versuchte, regelmäßig zu atmen und nicht mehr zu schluchzen, während ich mich auf dem Rand des Hoteldaches abstützte und mir die Tränen aus dem Gesicht wischte. Sosehr ich auch versuchte, mich zu beruhigen – der Schmerz ließ einfach nicht nach. Das Pochen dröhnte unaufhörlich gegen meine Ohren und trieb mir weiter Tränen in die Augen.

  Es wurde nur selten so schlimm, dass ich weinte. Das lag vermutlich daran, dass ich nur selten so wütend wurde wie eben.

  Es frustrierte mich bis in mein Innerstes, dass Elizabeth so standhaft blieb. Ich hatte bereits bei unserer Plauderei auf dem Balkon versucht, ihr irgendwie Angst einzujagen … sie davon zu überzeugen, dass Keith ihr weh tun könnte …

  Auch eben hatte ich versucht, sie zu manipulieren, aber dieses Weib ließ nicht mit sich reden. Sie war der festen Überzeugung, dass Keith ein guter Mensch war. Sie glaubte an ihn.

  Wie mich das anwiderte …

  Bei diesem Gedanken durchfuhr mich ein weiterer, stechender Schmerz und nicht einmal die frische Luft hier konnte helfen. Da mich die ganzen Menschen um mich herum zur Weißglut getrieben hatten, war ich auf das Dach unseres Hotels geflohen, um hier Ruhe zu finden.

  Das Schloss war zwar nicht leicht zu knacken gewesen, doch ich hatte es geschafft.

  Ich schluchzte laut, während es mir immer schlimmer erging. Wäre ich doch bloß nicht in dieses dumme Cafe gegangen, um ihn besser ausspionieren zu können.

  Er würde mir diesen Schmerz noch bezahlen – ganz bestimmt.

- Kapitel 7 -

 

Elizabeth:

  „Die Kartoffeln hier schmecken wirklich richtig gut“, sagte Keiths Mutter, nachdem sie zu Ende gekaut hatte. „Nur die Soße ist etwas zu fettig. Meinst du nicht auch?“

  Ich schwieg einige Sekunden, bis ich begriff, dass sie mit mir gesprochen hatte. Sofort sah ich auf und nickte. „Ja, schon ein kleines bisschen.“

  „Elizabeth, probier mal den Salat. Der müsste dir echt gut schmecken, ist fast so wie bei Tante Amelia“, sagte mein Vater, der noch dabei war, sein Hähnchen zu essen. Wir saßen mit sechs Personen an einem der Tische dieses Restaurants, in das meine Eltern hatten gehen wollen und genossen die Atmosphäre, die hier herrschte. Na ja, alles bis auf mich.

  Ich machte mir nämlich immer noch meine Gedanken um Keith. Er hatte die letzten Tage über immer so abwesend gewirkt und nun ging es ihm zu allem Überfluss auch noch nicht mehr gut … Wenn es was Ernstes war? Seinen Eltern durfte ich ja nichts sagen, sonst wäre er wütend auf mich.

  Das wollte ich nicht.

  Ich trommelte noch eine Zeit lang auf dem Tisch herum, bevor ich auf meinem Stuhl zurückrutschte und aufstand. Augenblicklich wurden die Gespräche am Tisch unterbrochen und alle sahen zu mir. „Ich bin gleich wieder da“, sagte ich, während ich mich umdrehte. Da das Hotel nur fünf Minuten von hier entfernt war, war ich mir sicher, dass ich zurück sein könnte, bevor Stieve, dieser Vielfraß, sich über meine Kartoffeln gestürzt hätte. „Ich muss nur ganz schnell ins Hotel.“

 

Keith:

  Ich war überall gewesen. Sowohl in der Hotellobby, als auch im Speisesaal. Im Spielraum und beim Pool, aber nirgendwo hatte ich mich wirklich entspannen können. Irgendwann hatte ich begonnen, einfach durch die Flure zu laufen und mit dem Fahrstuhl rauf und runter zu fahren.  

  Dabei hatte ich immer wieder über die Schulter gesehen und mich manchmal hinter irgendwelchen Ecken versteckt, um zu sehen, ob Soziopath hinter mir her gewesen war. Immerhin hatte er irgendwie die Mäuse vor meine Tür gebracht. Der Gedanke, dass er ebenfalls in diesem Hotel leben konnte, war mir erst neulich gekommen.

  Da mich aber niemand zu verfolgen schien, entspannte ich mich ein wenig. Irgendwann fuhr ich mit dem Fahrstuhl zum obersten Stockwerk, doch als ich hinaustrat, sah ich, dass es eine Treppe gab, die noch höher führte. Und obwohl – oder eher gesagt, gerade weil – daneben ein Schild mit „Bitte nicht betreten“ darauf hing, beschloss ich, nachzusehen, was oben eigentlich war.

  Etwas zögernd ging ich die Treppe hoch und kam an eine Tür mit einem ziemlich demoliert wirkenden Schloss. Als hätte jemand es mit aller Kraft aufgebrochen. Als ich die Tür langsam aufstieß und hindurchtrat, fand ich mich auf dem Dach des Hotels wieder.

  Die Luft hier oben war sehr frisch und obwohl die Sonne bereits dabei war, unterzugehen, war es auch hier angenehm warm. Ich ging ein paar Schritte weiter und streckte mich. Von unten drang gedämpft der ganze Krach der Touristen zu mir herauf und der Wind pfiff leise. Ja, hier konnte man sich wohl fühlen.

  Mir fiel erst jetzt aus dem Augenwinkel der rote Punkt rechts von mir auf und als ich mich umsah, bemerkte ich das Mädchen in dem hellen Sommerkleid. Es war diese Blondine namens Katharina. Sie stand mit dem Rücken zu mir am Rand des Gebäudes und lehnte sich an die Erhebung.

  Ich wollte mich bereits abwenden, als sie sich plötzlich abstützte. Mit einem schwungvollen Sprung setzte sie sich auf die steinerne Erhebung, die die Menschen vom Rand zurückhalten sollte und ließ die Beine in der Tiefe baumeln. Zu allem Überfluss hielt sie sich nicht fest. Sie legte ihre Hände in ihren Schoß und schien zu weinen.

  War sie denn völlig lebensmüde?!

 

Katharina:    

  Ich fragte mich, warum ich nicht schon früher daran gedacht hatte, mich auf die Erhebung zu setzen und die Beine runter baumeln zu lassen. Mein Herz begann zu schlagen, während ich in die Tiefe starrte und die Wut wurde durch Angst abgelöst.

  Somit milderten sich die Kopfschmerzen auch ein kleines Stück.

  Hätte ich die Schmerzen nämlich noch länger auf so einem Level ertragen müssen, wäre ich vermutlich bereits von hier oben runtergesprungen. Hier gab es insgesamt sechs Stockwerke – ich würde den Aufprall an sich also gar nicht spüren, dafür aber den Wind, der in den Sekunden davor durch meine Haare strich und das Gefühl von Freiheit während des freien Falls. Kein schlechter Tod.

  Ich atmete tief ein.

  „Ich hoffe, dass du nicht das vorhast, woran ich denke“, sagte plötzlich jemand hinter mir. Ich drehte mich erschrocken um und spürte, wie meine Kehle trocken wurde, als ich Keith dort stehen sah. Er war ein paar Schritte von mir entfernt und wirkte verunsichert, als würde er nicht wissen, ob er mir helfen oder mich lassen sollte. „Das könnte vielen Leuten dort unten nämlich gewaltig den Urlaub verderben.“

  „Was machst du denn hier?!“, fauchte ich ihn an und kniff meine Augen feindselig zusammen. In der untergehenden Sonne zogen sich unsere Schatten über das verlassene Dach und ich fragte mich, ob mich von unten jemand sehen und den Hotelbesitzer informieren würde. „Solltest du nicht beim Essen mit deinen Eltern sein?!“

  „Eigentlich hab ich bloß nach einem Ort für mich allein gesucht“, sagte er und zuckte die Schultern. Dann runzelte er aber die Stirn und sah mich fragend an. „Woher weißt du das? Hat Elizabeth dir vielleicht …“

  „Gar nichts hat deine Freundin mir gesagt!“, fauchte ich, während wieder Tränen über meine Wangen rollten. Es machte mich wütend, dass er hier war und es brachte mich zum Heulen. Und es machte mich umso wütender, dass er mich beim Heulen sah. Ich drehte mich wieder weg, während die Kopfschmerzen ins Unerträgliche wichen. So schlimm war es bisher noch nie gewesen. In meinem ganzen Leben noch nicht.

  „Okay, entschuldige dass ich gefragt hab“, sagte er sarkastisch. „Willst du jetzt vielleicht runterkommen?“

  „Oder was? Dir kann es doch eh gleichgültig sein, was mit mir passiert!“, schrie ich und tat dann etwas, was ich mir selbst nie zugetraut hätte. Ich stand auf. Nicht auf den Boden des Daches, sondern auf die Erhebung. Sie war gerade so breit, dass ich stabil darauf stehen konnte – gefährlich war es trotzdem.

  Während ich selbst noch wie benommen über meine Tat staunte, stürmte Keith einen Schritt vor, die Augen geweitet. „Bist du bescheuert? Komm da runter!“

  „Oder was?“, fragte ich trotzig und schob das Kinn vor, bevor ich die Hände verschränkte. Ich sah mit funkelnden Augen auf ihn herab und spürte, wie meine Schläfen pulsierten. „Wenn ich runter komme, wird es nicht besser werden. Die Schmerzen werden bleiben.“ Ich warf einen kurzen Blick in die Tiefe, bevor ich anstachelnd zu Keith sah. „Vielleicht solltest du mich schubsen? Dann werde ich erlöst und du kannst deinen Spaß haben. Na los, trau dich!“

  Keith hob die Augenbrauen. Alle Farbe wich aus seinem Gesicht. „Was redest du da eigentlich für einen Mist?“

  Tja, das hätte ich auch gerne gewusst. Ich verstand zwar recht gut, was ich da sagte, ich hätte jedoch nie geglaubt, dass ich das aussprechen würde.

  Es war nämlich so, dass ich mir doch ganz zu Beginn meines Spieles vorgenommen hatte, Keiths Sadismus zu reizen. Wenn ich ihn jetzt provozierte und er mich schubste, würde ich zwar sterben, doch ich wäre mit mir zufrieden. Die Wut und der Schmerz wären vorbei. Wenn er mich aber nicht schubste, würde ich zwar am Leben bleiben, dann aber vermutlich vor lauter Quallen durch meine Niederlage selbst hier runterspringen.

  Der Wind, der hier oben herrschte brachte mich kurz zum Wanken.

  „Ich mein’s ernst, komm da lieber runter!“, rief Keith, traute sich jedoch offenbar nicht, näherzukommen.

  „Wieso?“, provozierte ich weiter. „Weil du Angst hast, Elizabeth könnte dann denken, du hättest mich geschubst und mein Tod sei deine Schuld? Weil sie dann Angst vor dir hätte?“, schrie ich jetzt aus vollem Hals. Meine schrille Stimme zerriss die hier herrschende Stille.

  „Du …“ Keith schien kurz sprachlos zu sein und es dauerte eine quälend lange Ewigkeit, bis ihm ein Licht aufging. „Du bist Soziopath, hab ich recht?“ Er wirkte nicht einmal anklagend oder vorwurfsvoll. Einfach nur verblüfft.

  „Überraschung!“, rief ich aufgebracht und breitete die Hände aus. „Nicht erwartet, was?“

  „Ehrlich gesagt bin ich schon fast erleichtert“, gestand Keith und wirkte tatsächlich mit einem Mal lockerer. „Hatte vor wenigen Tagen nämlich sogar die Befürchtung, du könntest ein Pädophiler sein. Ich bin glücklich, dass es gerade du bist.“

  „Glücklich?!“, kreischte ich außer mir. Ich hatte mir wirklich eine andere Reaktion erhofft.

  Er war so ein Idiot. So ein behinderter, gestörter und dummer Idiot! Ich hätte ihn schlagen können, um seinen Sadismus irgendwie heraufzubeschwören. Das hätte mir zumindest irgendeine Art von Selbstzufriedenheit gegeben und das Chaos in meinem Kopf hätte sich ein wenig gelegt.

  Aber nein, nein. Ich hatte versagt. Ich hatte so sehr versucht, ihn zu manipulieren, dass ich begonnen hatte, mich selbst kaputt zu machen. Ich war ein Versager. Ein Loser.

  Mit jedem Gedanken schien mein Kopf weiter zu schmelzen, bis … ich zur Seite kippte. Für einen Moment schienen meine Knie nachzugeben und ich sah kurz, wie alles vor einem Tränenschleier verschwamm, während meine Beine weg knickten – ich stürzte aber nicht.

  Ein Gewicht an meinen Hüften zog mich zurück auf die Seite des Daches und ich schlug dort hart auf dem Boden auf. Ich blieb mitgenommen liegen und versuchte zu verstehen, was eben passiert war.

  „Du hast echt einen Schaden!“, sagte Keith, der neben mir in die Hocke gegangen war und mich von oben bis unten musterte. Ich begriff erst jetzt, dass es er gewesen sein musste, der mich beim Umkippen an den Hüften gepackt und auf die Seite des Daches gezogen haben musste. Sonst würde ich nun wahrscheinlich in die Tiefe dort unten stürzen.

  Ich spürte keine Dankbarkeit, sondern schämte mich nur noch mehr. Und was das mit sich brachte, musste ich wohl nicht mehr erklären.

  „Wieso hast du mich nicht geschubst?“, fragte ich schluchzend und rappelte mich taumelnd auf. Ich griff nach meiner glühenden Wange, mit der ich auf dem harten Boden aufgeschlagen war und die nun sogar ein wenig blutete. Ansonsten schien es mir gut zu gehen – wenn man von den Kopfschmerzen absah.

  „Sowas würd ich nie tun“, sagte er bestimmt und packte mich grob am Arm, bevor er mich von der Erhebung wegzerrte, zur Mitte des Daches. „Auch wenn ich, seit ich weiß, dass du Soziopath bist riesige Lust habe, dir eine zu klatschen.“

  Ich wischte mir die Tränen mit dem Handrücken aus dem Gesicht und warf ihm den kältesten Blick zu, der in meinem Zustand nur möglich war. „Warum tust du es nicht?“

  „Weil ich keine Mädchen schlage“, sagte er ein wenig genervt und schaute mich irgendwie missbilligend an. „Vor allem nicht, wenn sie weinen.“

  „Denkst du, ich bin schwach, du Arsch?“, fragte ich und stieß ihm die Hände vor die Brust. Keith stolperte ein paar Schritte zurück, ging aber nicht auf die Provokation ein.

  Ich war zwar älter, aber nicht größer als er und er konnte mir direkt in die Augen sehen. Mit genau dem intensiven Blick, durch den er mir am Tag seines Ankommens überhaupt aufgefallen war.

  „Du bist echt das Letzte“, sagte er finster.

  „Komisch, diese Worte von einem Sadisten zu hören!“, schrie ich. Ich spuckte ihm den Satz förmlich ins Gesicht, aber er reagierte nicht.

  „Weißt du, ich glaube ich muss dir danken“, begann er langsam, auch wenn er dabei kein Stück freundlich wirkte. „Wegen Leuten wie dir habe ich einen Grund mehr zu versuchen, dagegen anzukämpfen. Einfach nur, um zu zeigen, dass ich es kann.“

  Ich verdrehte die verheulten Augen und schnaubte verächtlich. „Bitte. Hör endlich auf, hier solche Reden zu halten. Du machst mich echt krank.“

 

Elizabeth:

  Ich lief eilig durch einen der vielen Hotelflure und sah mich nach allen Seiten um. Ich war vom Restaurant aus sofort zum Hotel gegangen, hatte Keith jedoch weder in meiner, noch in seiner Suite finden können. Aus Angst, ihm hätte es doch schlechter gehen können, war ich zur Krankenstation gegangen, doch da war er auch nicht gewesen.

  Und da ich ihn auch an keinem normalen Orten wie dem Pool oder der Lobby gefunden hatte, war ich auf den Gedanken gekommen, dass er in seinem Zustand vielleicht nach einem Adrenalin-Kick gesucht hatte.

  Es gab zwei Orte in diesem Hotel, zu denen der Zutritt für Gäste untersagt war. Zuerst hatte ich im Keller nachgesehen, doch dort waren alle Türen abgesperrt gewesen und einer der Angestellten hatte mich davongejagt. Jetzt blieb nur noch das Dach. Auch wenn ich bezweifelte, dass er dort war, wollte ich sicher gehen und an allen Orten des Hotels nachsehen.

  Also nahm ich die Treppe am Ende des Flures und sprang in meiner persönlichen Höchstgeschwindigkeit die Stufen hinauf. Es gab tatsächlich einen Weg zum Dach und als ich an der Tür ankam, nahm ich zunächst an, dass diese auch versperrt war, bis ich das kaputte Schloss bemerkte.

  Jetzt war ich mir doch irgendwie sicher, dass Keith hier gewesen sein musste.

  Als ich aufs Dach hinaustrat, bestätigte sich mein Verdacht glücklicherweise und ich atmete erleichtert auf. Dort hinten stand Keith, ihm gegenüber Katharina. Nur … warum weinte sie? Warum hielt sie sich die Wange? Und … warum schrien sie sich gegenseitig an?

  Ich runzelte die Stirn und lief zu ihnen. Meine Erleichterung von eben, weil ich Keith gefunden hatte, war verschwunden. „Keith?“, rief ich auf halbem Wege und sofort verstummten die beiden. Sie sahen gleichzeitig in meine Richtung und wirkten irgendwie erschrocken. Vermutlich hatten sie zuerst angenommen, ich sei einer der Angestellten. „Was ist hier los?“

  „Sie macht mich wahnsinnig!“, fauchte Keith und ging auf mich zu. Oder besser gesagt, an mir vorbei. Mit geballten Fäusten und vor Zorn zitternd ging er auf die Tür zu, natürlich ohne auf meine Frage geantwortet zu haben.

  Ich drehte mich verwirrt um und sah ihm hinterher, als er an mir vorbeiging. „Warte aber bitte auf mich!“

  Er verschwand im Treppenhaus und ich hatte keine Ahnung, ob er mich gehört hatte. Er wurde immer sehr impulsiv, wenn er aufgebracht war. Seufzend wandt ich mich wieder Katharina zu und blickte das verweinte Mädchen flehend an. „Erklär du mir bitte, was hier eben passiert ist. Und wieso weinst du?“

  „Er hat mich geschlagen!“, sagte Katharina und nahm die Hand von ihrer Wange. Mir fiel auf, dass diese seltsam rot und geschwollen aussah, als … als hätte jemand sie mit voller Wucht geohrfeigt.

  Ich schluckte und riss ungläubig die Augen auf. „Was?“

  „Er ist wütend geworden, weil ich vorhin die Sache mit den Mäusen angesprochen habe und hat mir aus heiterem Himmel einfach eine verpasst!“, schluchzte Katharina. „Ich glaube, dass er es war. Er hat gehofft, dass niemand sie finden würde und hat mich jetzt deswegen verletzt.“ Sie wirkte völlig fertig. Ihre Haare wurden vom Wind in alle Richtungen verweht und sie schwankte leicht im Stehen. Aber … dennoch.

  Ich sah sie eine Zeit lang an, bevor ich langsam den Kopf schüttelte. „Das kann nicht sein.“

  „Wie?“, fragte sie entrüstet und wies auf ihr Gesicht. „Denkst du, ich hab mir das selbst angetan?!“

  „Das hatten wir auch schon einmal“, sagte ich mit dem Gedanken an Train und sah mir die Wange genauer an. Mir fiel auf, dass sie ein wenig blutete. Konnte man eine Person so hart schlagen, dass sie an der Wange zu bluten begann? „Aber das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist, dass Keith mir gesagt hat, dass er das mit den Mäusen nicht gewesen ist.“

  „Dann lügt er halt“, warf Katharina nun mehr irritiert, als weinerlich ein.

  Wieder schüttelte ich den Kopf. „Tut er nicht.“

  „Woher willst du das wissen?“ Katharina schrie schon fast. Ich verzog keine Miene.

  „Er würde mich nicht anlügen. Sowohl er, als auch ich selbst verstehen ganz genau, dass ich gewusst habe, worauf ich mich einließ, als ich mit ihm zusammengekommen bin. Er muss sich nicht verstellen, denn er weiß, dass ich seinen Sadismus verstehe und ihm nichts vorwerfe. Ich finde es ja schon erstaunlich, wie sehr er sich meinetwegen überhaupt zusammenreist. Er würde mich nicht anlügen.“ Den letzten Satz zog ich in die Länge und betonte jede seiner Silben.

  Katharina presste die Lippen aufeinander und sah aus, als ob sie mich hätte erwürgen können. „Und was denkst du, was eben hier passiert ist, wenn er mich nicht geschlagen hat?“, brach sie leise hervor und gab mir einen giftigen Blick.

  Ich zuckte die Achseln. „Keine Ahnung. Und mich interessiert es auch nicht besonders.“

  „Du bist echt naiv“, zischte Katharina. „Hoffentlich verletzt er dich eines Tages so sehr, dass du endlich aufwachst.“

  „Ich bin nicht diejenige, die aufwachen sollte“, murmelte ich und drehte mich um. Ich ließ Katharina dort stehen und ging zurück zum Treppenhaus. Was für ein verrücktes Ding, dachte ich dabei noch und meinte es völlig ernst. Mir waren inzwischen so einige Leute mit psychischen Macken begegnet – darunter Keith, Train und Victoria – aber Katharina schien wirklich ein besonderer Fall zu sein.

  Es war, als würde man mit einer Schlange reden.

  Ich wollte mich bereits auf die Suche nach Keith machen, als ich ihn am Ende der Treppe auf einer der Stufen sitzen sah. Er hielt sich den Kopf und fuhr sich immer wieder durch die dunkelblonden Haare.

  Ich ging zu ihm, aber er bemerkte mich nicht. Auch nicht, als bloß ein paar Stufen über ihm stand. „Hey.“

  Er drehte sich nicht um. „Ganz egal, was sie dir erzählt hat: sie lügt.“

  „Ich weiß“, sagte ich und setzte mich neben ihn.

  Er sah mich überrascht an. Seine Augen wirkten glasig. „Ja?“

  „Sie hat behauptet, du hättest sie geschlagen.“

  Sein Gesichtsausdruck wurde dunkel. „Und das könnte nicht sein, oder was?“

  „Keith, du hast mir doch mal gesagt, dass du keine Mädchen schlägst. Dass du sie früher, wenn sie dich nervten, beschimpft aber nie zur Gewalt gegriffen hast. Außerdem hast du mir versichert, dass auch die Sache mit den Mäusen nicht auf dein Konto gefallen ist. Mehr muss ich wirklich nicht hören.“ Ich warf einen Blick über die Schulter. „Außerdem hab ich das Gefühl, dass das Miststück da oben ein wenig zu gerne lügt.“

  „Das kannst du laut sagen“, brummte er. Er sah mich nicht mehr an, sondern starrte selbstvergessen auf den Boden zwischen seinen Beinen.

  Ich beobachtete ihn skeptisch. „Dir hat sie auch was in den Kopf gesetzt, oder?“

  „Es ist irgendwie so, dass ich eine längere Zeit über indirekt Kontakt mit ihr hatte …“, murmelte Keith und fuhr sich wieder durch die Haare. „Sie hat dabei eine Menge Blödsinn erzählt … der gleichzeitig aber irgendwie auch Sinn ergeben könnte.“

  „Wie soll ich das verstehen?“, fragte ich. „Wann hattest du denn Kontakt zu der?“

  „Erklär ich später. War aber nicht meine Schuld, diese Stalkerin hat mich irgendwie selbst aufgespürt – weshalb auch immer. Jetzt ist aber wirklich nicht die Zeit, das zu erzählen.“ Er rieb sich die Augen. Ein Zeichen dafür, dass sein Wutanfall allmählich nachließ.

  „Was hat sie denn nun zu dir gesagt?“, wollte ich wissen und rückte näher an ihn heran. Das mit der Stalkerin würde ich mir aber noch merken und später darauf zurückgreifen.

  „Ist nicht so wichtig.“

  „Keith.“

  „Ja, schon gut. Sie meinte irgendwann, dass du nur solange ich keine Scheiße baue bei mir bleiben würdest. Sobald irgendwas passiert, könntest du dich wieder vor mir fürchten, hat sie mir erzählt. Das hat mich ein wenig unter Druck gesetzt, aber das ist egal.“ Er leckte sich über die Zunge. „So weit lass ich es nicht kommen.“

  „Jetzt wird mir so einiges klar“, sagte ich und sah zur Decke, wo eine schwache Glühbirne vor sich hin flackerte.

  „Was denn?“

  „Ich habe doch gesagt, dass ich schon einmal mit ihr geredet hab – damals, in deiner Suite, als wir Titanic geguckt haben. Da hat sie mir von ihrem Bruder erzählt, der angeblich auch Sadist sein soll. Sie hat mich immer wieder gefragt, ob mir bewusst wäre, dass du mich jederzeit verletzen könntest und ob mir das nicht Angst machen würde.“

  Keith spannte sich spürbar an. Ich legte einen Arm um ihn. „Und was hast du gesagt?“

  „Na was schon?“, fragte ich und platzierte meinen Kopf auf seiner Schulter. „Dass mich das alles nicht interessiert. Und dass ich das Risiko eingehen würde.“

  Er nahm einen tiefen Atemzug. „Ich würde dir nicht weh tun.“

  „Ich weiß.“

  „Ich hätte es aber mal fast getan.“

  „Fast. Warum sich über Dinge ärgern, die fast passiert wären?“

  Er lachte leise.

  „Wieso habt ihr euch gerade eigentlich gestritten?“, fragte ich stattdessen. Ich erinnerte mich nicht gerne an den Vorfall mit der Katze.

  Wieder wurde er ernst. „Sie wollte, dass ich sie vom Dach schubse.“

  Das kam so unerwartet, dass ich vor Verblüffung lächelte, auch wenn das alles andere als lustig war. „Nicht dein ernst.“

  „Doch. Und dann wollte sie, dass ich sie schlage.“ Er schnaubte. „Und – Gott – ich habe wirklich Lust dazu gehabt.“

  „Das liegt aber nicht an deinem Sadismus. Ich habe ihr vorhin nämlich selbst eine Ohrfeige verpassen wollen“, schmunzelte ich.

  Keith lächelte und sah mich kurz an, bevor er mein Gesicht zwischen die Hände packte. Er zog mich zu sich heran und küsste mich auf die Stirn, bevor er meinen Kopf an seine Brust drückte. Wenn uns jetzt einer von den Angestellten hier fand, würde er das alles ganz sicher falsch verstehen. Und in Kombination mit dem kaputten Schloss würde es sicher eine Menge Ärger geben.

  „Müsstest du jetzt nicht eigentlich in einem Restaurant sein?“, fragte er mich.

  Ich umarmte ihn ganz fest. „Eigentlich schon. Bin aber zurückgekommen, um zu gucken, wie es dir so geht. Du schuldest mir ein Essen.“

  „Was immer du willst“, murmelte er und strich mir übers Haar.

  Ich stieß den Atem aus und schloss die Augen, während ich mich an ihn drückte. Katharina lag sowas von falsch. Keiths Gegenwart könnte mich niemals verletzten – jedenfalls nicht so stark, dass ich meine Beziehung mit ihm jemals bereuen könnte.

  Ohne ihn wäre ich damals niemals in dieses Auto gestiegen. Ich hätte es niemals gewagt, gegen meine Amaxophobie anzukämpfen und auch wenn ich sie noch nicht völlig besiegt hatte – die ersten Schritte hatte ich nur dank ihm bewältigen können.

  Keith hingegen würde sich ohne mich niemals so zusammenreisen. Wer wusste es schon? Vielleicht hätte er Katharina heute doch von diesem dummen Dach geschubst. Oder die Mäuse vergiftet.

  Wir heilten uns gegenseitig. Wir halfen uns, über unseren Problemen zu stehen, auch wenn wir vielleicht noch ziemlich jung waren.

  Mir wurde in diesem Augenblick etwas Entscheidendes bewusst: Vielleicht würden wir nicht für immer zusammen bleiben, vielleicht nicht in alle Ewigkeit – aber auf jeden Fall für eine lange und glückliche Zeit.

Epilog

 

Katharina:

„Katharina? Schatz, bist du schon wach?“, hörte ich meine Mutter sagen, als sie zögernd in mein Zimmer kam.

„Was willst du?“, knurrte ich in mein Kissen. Es war schon fast zwölf Uhr, doch da mein Schlafrhythmus wegen der jüngsten Ereignisse vollkommen durcheinander geworfen worden war, lag ich immer noch im Bett. Die Sache mit dem Dach war inzwischen etwa eine Woche her und seitdem war das Pochen im meinem Kopf zu meinem ständigen Begleiter geworden.

„Da hat eben ein Junge an der Tür geklopft ...“

„Na und?“, zischte ich.

„Er sagt, sein Name wäre Keith.“

„Schon gut, ich komme“, sagte ich und setzte mich auf. Ach ja, das hätte ich fast vergessen. Heute war ja der Tag, an dem Keith und Elizabeth sich wieder verzogen. Ich hatte die beiden seit meinem unbeabsichtigten Selbstmordversuch in Ruhe gelassen – es hatte sich nämlich herausgestellt, dass ich mit meinen Spielchen nicht nur anderen, sondern auch mir selbst geschadet hatte.

Mir wurde immer klarer, dass ich das Ganze hätte lassen sollen.

Mit dunklen Ringen um die Augen und verflitzten Haaren stand ich in meine Decke gehüllt auf und stampfte aus meinem Zimmer, wobei ich mich an meiner Mutter vorbeischob. In meinem Magen drehte sich alles um, als ich an der Tür zum Flur ankam und dort Keith mit einem breiten Grinsen im Gesicht und einem Umschlag in der Hand stehen sah.

„Wir müssen gleich zum Flughafen und ich wollte vorher noch einmal Tschüss sagen“, erklärte er, bevor er die Hand ausstreckte und mir den Umschlag reichte.

Ich war kalt wie ein Eissplitter, als ich ihn entgegen nahm und sprach auch so. „Was ist das?“

„Oh, da du mich ja so gut kennst, wollte ich auch ein wenig mehr über dich erfahren. Leicht war es nicht, aber dort drinnen ist alles, was ich gestern noch so zusammenkratzen konnte. Sowohl über dich, als auch über Soziopathen.“ Er lächelte etwas zu freundlich, was die Kopfschmerzen wieder schlimmer werden ließ. Ich verzog den Mund vor Schmerz, sagte aber nichts. Noch nie in meinem Leben war ich so gedemütigt worden.

„Soziopathen“, begann er langsam und genüsslich, als hätte ich ihn um eine Erklärung gebeten. Zum ersten Mal wünschte ich, er würde seine Schadenfreude etwas zurückhalten. „Menschen ohne Empathie. Also Leute, die sich nicht in andere hinein versetzen können.“ Er hielt kurz inne und musterte mich. „Aus deiner Sicht wird es immer nur dich geben, und niemand sonst. Für dich sind andere bloß Spielzeug. Und genau das unterscheidet uns.“

„Ach ja?“, giftete ich zynisch und verdrehte die Augen. „Sobald ich weiß gehst du mit deinen Mitmenschen auch nicht gerade so um, wie es normale Leute tun sollten“, bemerkte ich spitz. Es tat gut, sich nicht verstellen zu müssen und überfreundlich zu sein. Jetzt konnte ich zumindest reden, wie ich wollte.

„Nein, das nicht“, gestand Keith und zuckte die Achseln. „Aber es gibt immer noch Leute, die mir wichtig sind. Für die ich trotz meines Sadismus sorgen will und ohne die ich nicht leben könnte. Weiß du, was das bedeutet?“

Es breitete sich eine angespannte Stille aus. Dann sprang ich aber doch über meinen Schatten und stellte die Frage, wenn auch mit scharfem Unterton. „Was?“

„Es bedeutet, dass ganz egal für wie schlau und raffiniert du dich auch hältst, ganz egal wie schäbig ich manchmal mit anderen umgehen kann – ich werde trotzdem immer ein kleines Stückchen menschlicher sein als du“, erklärte er kühl. Dann lächelte er ein letztes Mal freudlos und trat zurück. „Auf Wiedersehen, du krankes Stück.“

Ich sah ihm wortlos nach, als er den Flur entlang ging und dann die Treppe runtersprang. Nach ein paar Minuten seines Verschwindens und völliger Bewegungslosigkeit meinerseits, spürte ich etwas in mir hochkommen. Es war aber keine Wut und keine Übelkeit – es war ein Lachanfall.

Ich brach in hysterisches Gelächter aus. Ich konnte gar nicht mehr aufhören zu lachen, über das, was er eben gesagt hatte und griff an meinen Bauch, die Decke fiel von meinen Schultern und der Umschlag glitt aus meinen Fingern. Es bildeten sich schon fast Tränen in meinen Augen und mit einem Mal, als hätte ich ein ganzes Jahr ruhevoll geschlafen, legte sich alles in meinem Kopf.

Jeglicher Schmerz und Druck verschwand.

„Menschlichkeit?“, lachte ich und richtete mich wieder zur vollen Größe auf, bevor ich mir die Seite hielt.

Menschlichkeit. Sollte er doch ruhig stolz sein auf seine Menschlichkeit. Schwäche würde ich das nennen. Sowas brauchte ich nicht. Niemand brauchte Empathie, wenn er an der Macht stand. Weder Politiker, Könige oder Götter.

Aber zumindest hatte Keith mich auf eine gute Methode gebracht, das Pochen loszuwerden – lachen. Lachen, über andere und ihre Art zu denken. Heute war ich ganz besonders froh, mich nicht in andere versetzen zu können, denn wen kümmerte es schon, was diese Kleingeister dachten?

Ich war ein Genie. Und wenn ich dafür auf Menschlichkeit verzichten musste, nahm ich das gerne in Kauf.

 

Ende der "Psychisch nicht normal"-Reihe.

Vielen Dank fürs Lesen.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 31.07.2014

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