„Die Nummer für die Pizzeria findest du am Kühlschrank, das Geld in der Kommode im Flur“, hörte Ethan die aufgeregte Stimme seiner Mutter am anderen Ende der Leitung, die sich gerade vermutlich mit aller Kraft durch eine Menschenmenge in der Stadt zu kämpfen versuchte. „Ich werde erst spät nach Hause kommen, warte also nicht auf mich. Falls was ist kannst du dich jeder Zeit an einen unserer Nachbarn wenden, die werden dir schon helfen.“
„In Ordnung“, meinte er, ohne ihr wirklich zuzuhören. Er hatte das Handy zwischen seinem Ohr und seiner Schulter eingeklemmt, da er seine Hände dazu brauchte den Reißverschluss seiner vollgestopften Tasche beim Gehen zu schließen. Er hatte heute die Bücher für das nächste Halbjahr erhalten und musste diese nun den gesamten Heimweg über mit sich schleppen.
„Ethan, bist du sauer? Ich verspreche, morgen habe ich wieder Zeit für dich, dann kannst du mir von deinem ersten Schultag erzählen und wir – ach, Mist, da kommt meine Bahn! Ich ruf später nochmal an um sicher zu gehen, dass alles in Ordnung ist.“ Klick. Und weg war sie.
„Wie du meinst“, murmelte Ethan noch düster, bevor er nach dem Handy griff und es in seiner Hosentasche verschwinden ließ. Es stimmte, es störte ihn tatsächlich ein bisschen, dass seine Mutter in der letzten Zeit so wenig Interesse an ihm zeigte – der Grund für seine schlechte Laune war sie jedoch nicht.
„Gibt es Stress?“, fragte Justin, der neben ihm herlief und offenbar immer noch den Versuch unternahm, ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Er hatte sichtlich Mühe damit, mit Ethan Schritt zu halten, ließ sich jedoch nicht abschütteln.
Er war ein blonder, schmaler Junge mit dunklen Augen und blasser Haut, der teilweise sogar noch kleiner als Ethan war und trotz der gelassenen Haltung irgendwie verloren schien.
„Nö“, sagte Ethan bloß, während er seinen Rucksack schulterte. Mehr hatte er nicht zu sagen, aus Angst, Justin würde ihn gar nicht mehr in Ruhe lassen, sollte er auch nur ein Wort mehr von sich geben. So hatte er sich das Ganze sicher nicht vorgestellt.
Ethan hatte erwartet seinen ersten Schultag an der neuen Schule völlig unauffällig zu verbringen, unbemerkt, so wie in den ganzen Filmen. Stattdessen hatte sich die gesamte Aufmerksamkeit seiner Klasse auf ihn gelegt und er war mit Fragen förmlich überhäuft worden. Es war erstaunlich, wie sehr sich alle für ihn interessiert hatten. Ethan war sich immer noch nicht sicher, ob er das gut oder schlecht finden sollte.
An seiner alten Schule war es so gewesen, dass jeder jeden gekannt hatte. Man hatte eben Beziehungen gehabt, ohne wirklich beliebt sein zu müssen. So kam es dass er, obwohl er sich nie in den Vordergrund gedrängt und sich eher zurückgehalten hatte, relativ viele Freunde und Bekannte besessen hatte.
Wie die Dinge hier liefen, konnte er nicht sagen. Möglicherweise sprachen die Leute hier bloß über ihn, weil er neu war, vielleicht würden sie ihn aber auch nach einer gewissen Zeit nicht in Ruhe lassen. Er hatte keine Ahnung, was da eigentlich auf ihn zukam.
Dass Justin ihn aber wohl die nächsten Monate immer wieder nerven würde, wusste er schon jetzt – der Junge war zwar Klassensprecher und hatte somit die Aufgabe, die neuen Schüler zu begrüßen, übertrieb es jedoch ein wenig damit. Er stellte zu viele Fragen, redete ununterbrochen und war einfach zu aufdringlich.
„Und wo genau wohnst du jetzt eigentlich?“, fragte Justin übertrieben beiläufig, als die beiden an einer Ampel anhielten, um auf das grüne Licht zu warten. Es war schon beinahe traurig, wie schwer es ihm fiel, in dieser Situation lässig zu bleiben. Ethan fragte sich sogar, ob Justin tatsächlich denselben Weg gehen musste wie er, oder es nur vorgab um mehr Zeit mit ihm verbringen zu können.
„Etwa fünfzehn Minuten von hier entfernt“, antwortete Ethan mit einem bitteren Unterton in der Stimme. Vor zwei Wochen, ungefähr am Anfang der Ferien waren er und seine Mutter hierher gezogen – in eine Kleinstadt namens Sedred, in der sie leben mussten, damit seine Mom ihrem neuen Job nachgehen konnte. Zunächst hatte er sich auf das Ganze gar nicht einlassen wollen. Ethan hatte sich dagegen gewehrt, sogar heftig. Aber am Ende war es nicht seine Entscheidung, wo sie leben sollten.
„Ah“, machte Justin leise, dem offenbar der Gesprächsstoff ausgegangen war. Um die beiden herum waren überall Schüler, die nach Schulschluss aus der Schule gestürmt waren und deren Gelächter und Gespräche nun aus allen Richtungen zu kommen schienen. Trotzdem war es so, als hätte sich zwischen Ethan und Justin plötzlich eine unsichtbare Wand aus peinlicher Stille gebildet, die, wie Ethan fand, ruhig hätte bestehen bleiben können.
Als die Ampel grün zeigte, liefen die beiden Jungs auf die andere Straßenseite, wobei sie den Pfützen ausweichen mussten, die sich auf dem nassen Asphalt gebildet hatten. Es hatte geregnet und der Himmel war teilweise immer noch von grauen, üppigen Wolken überseht. Ethan hoffte, trocken Zuhause anzukommen.
Zuhause. Wie seltsamen sich dieses Wort plötzlich anhörte, wenn man umzog.
„Übrigens sollte ich dir Bescheid geben, dass du in den nächsten Tagen ein Foto von dir im Sekretariat abgeben sollst, damit man dir einen Schülerausweis machen lassen kann“, erzählte Justin lächelnd, froh darüber, dass ihm doch noch etwas eingefallen war, was er in das Schweigen hinein hätte sagen können.
„Mach ich“, nickte Ethan desinteressiert. Er hatte zwar nicht besonders viele aktuelle Fotos von sich Zuhause herumliegen, aber das war gar nicht unbedingt nötig. Er hatte ein ziemlich markantes Gesicht, das sich in den letzten zwei Jahren kaum verändert hatte. Seine Haare waren braun und stets ein wenig hochgekämmt, die Augen blau wie die eines Mädchens und die Haut braun gebräunt, obwohl er schon seit Ewigkeiten nicht mehr im Urlaub gewesen war. Ethan war nicht besonders groß, dafür aber eigentlich ganz gut gebaut und sportlich.
„Tja, ich muss hier weg“, seufzte Justin mit leicht erleichtertem Gesichtsausdruck, als die beiden an einer Kreuzung ankamen und verschiedene Richtungen einschlagen mussten. „Ich schätze, wir sehen uns morgen wieder in der Schule?“
„Klar.“ Ethan zuckte die Achseln und blieb kurz stehen, um sich zu verabschieden.
Justin wurde kurz ruhig, hinkte verlegen von einem Bein auf das andere und atmete schließlich tief aus. „Sorry, Ethan, ich weiß, ich habe das heute nicht unbedingt gut gemacht. Tut mir auch leid. Ich war nur nicht ganz vorbereitet darauf, die Aufgabe zu erhalten, dich zu begrüßen.“
„Nein?“ Eigentlich interessierte es Ethan überhaupt nicht, was Justin zu sagen hatte, aber er tat ausnahmsweise einen auf überrascht. Nur aus reiner Höflichkeit.
Glücklicherweise bemerkte Justin das nicht und sprach einfach weiter. „Nein. Ich bin nur stellvertretender Klassensprecher. Eigentlich hätte Brooke dich empfangen sollen, aber die schien heute krank zu sein. Jedenfalls kommt sie bald wieder und wird ihre Sache sicher besser machen, als ich. Also … denk nicht, dass es weiterhin so scheiße bleiben wird.“ Justin rang sich ein Lächeln ab.
Und zum ersten Mal an diesem Tag hatte er Ethans ganze Aufmerksamkeit. Justin war heute der mit Abstand erste Mensch, der begriffen hatte, wie sehr ihm das alles auf die Nerven ging. Vielleicht hatte Ethan ihn nicht ganz korrekt eingeschätzt. Vielleicht war er gar nicht so ein Pfosten. „So scheiße war’s gar nicht“, lachte Ethan und klopfte ihm sacht auf die Schulter. „Du bist in Ordnung, denke ich. Hör aber auf, dich wie ein Mädchen zu verhalten, wenn du mich siehst. Das nervt. Und was diese Brooke angeht … hoffen wir mal, dass du recht hast, was sie betrifft. Sonst wirst du mich noch eine Weile begleiten müssen.“
Nach seinem dritten Versuch, die Pizzeria zu erreichen, gab Ethan es auf und legte den Hörer ab. Seine Mutter hatte ihm die falsche Nummer gegeben. Oder diese Pisser gingen einfach nicht ran. So oder so, er würde sich wohl nichts bestellen können.
Auch gut. Dann würde er eben zu der Pommes Bude um die Ecke gehen.
Ethan verließ die kleine, gelb gestrichene Küche und ging in den dunklen Flur, um sich das Geld aus der Kommode zu holen. Er musste zugeben, die neue Wohnung war viel schöner und größer, als seine alte. Der Boden im Flur war laminiert, sie hatten einen ordentlichen Balkon und ein komfortables Badezimmer. Auch sein neues Zimmer war um einiges besser, mit anständiger Aussicht und einer hören Decke. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätten sie aber dennoch nicht den Wohnort gewechselt.
Als er das Geld gefunden hatte, schlüpfte er schnell in seine alten Chucks und streifte sich eine Lederjacke über, die ihm seine Mutter letztes Jahr gekauft hatte. Es folgte ein kurzer Check, ob er seine Schlüssel und sein Handy bei sich hatte, bevor er die Tür aufmachte und die Wohnung verließ.
Leichtfüßig sprang Ethan über die Stufen hinweg und hatte den Weg durch das Treppenhaus schon nach wenigen Sekunden hinter sich. Als er hinaus auf die Straße trat, schlug ihm die Kälte und Nässe des Windes entgegen und er kniff irritiert die Augen zusammen, bevor er in Richtung der Pommes Bude zu gehen begann.
Vor einigen Tagen hatte Ethan sich ein wenig erkundigt und sich in seiner neuen Umgebung umgesehen. Es gab hier in der Nähe eine Pommes Bude, eine Apotheke, eine Grundschule und etwas weiter weg auch ein Krankenhaus.
Ethan würde lernen müssen, wo sich welche wichtigen Gebäude befanden, um sie stets rechtzeitig im Notfall erreichen zu können. Vor allem musste er aber wissen, wo er etwas zu essen bekam.
Es kam öfter vor, dass er außer Haus essen oder sich selbst etwas zubereiten musste, da seine Mutter die größte Zeit des Tages über arbeitete. Meistens kam sie genau dann nach Hause, wenn er einschlief und ging wieder, wenn er von der Schule zurückkehrte. Und wenn sie mal Zeit hatte, verbrachte sie sie gern mit Freunden in Clubs oder Bars.
Aber was sollte man auch von einer Frau erwarten, die mit siebzehn ihr erstes und einziges Kind bekommen hatte?
Nein, halt. Daran wollte er nicht mehr denken. Er wollte jetzt erst einmal in Ruhe etwas zu sich nehmen, irgendwo drinnen, wo es warm war und über die Geschehnisse der letzten zwei Wochen grübeln.
Ethan bog um die Ecke und hatte das Lokal schon im Blick, als ihn plötzlich von hinten jemand grob an der Schulter packte und mit voller Kraft zu sich herumriss. Hätte er sich nicht im letzten Augenblick noch rechtzeitig gefangen, hätte Ethan glatt den Boden unter den Füßen verloren.
„Krass. Hätte niemals gedacht, dich je wiederzusehen“, sagte Seth wenig begeistert und musterte Ethan, als müsste er sicher gehen, dass es auch wirklich er war. Kein Wunder, immerhin war es schon eine Weile her, seit sich die beiden das letzte Mal gesehen hatten. Vielleicht ein Jahr.
„Was machst du denn hier?“, fragte Ethan und riss sich los. Er trat ein paar Schritte zurück und erwiderte Seths forschenden Blick. Er hatte den Jungen gar nicht kommen hören. Dieser hatte sich kaum verändert. Blondes, kurz geschnittenes Haar, braune Augen und hauchdünne Lippen, die kaum mehr waren als ein Strich. Er sah seiner Schwester sehr ähnlich, was Ethan in jeder Hinsicht unheimlich fand.
„Hast du’s schon vergessen? Wir leben jetzt hier“, zischte Seth. Das „dank dir“ sprach er zwar nicht aus, aber sein feindseliger Gesichtsausdruck verriet seine Gedanken.
„Verstehe“, sagte Ethan langsam, während ihm allmählich bewusst wurde, in was für eine Scheiße er da eigentlich rein geraten war.
Früher waren er und Rea, Seths jüngere Schwester, mal zusammen gewesen. Nachdem Ethan aber dahintergekommen war, dass sie ihn betrogen hatte, war sofort Schluss gewesen. Wie auch immer. Jedenfalls hatte er das nicht auf sich sitzen lassen wollen und so war es schließlich zu einer Aktion gekommen, auf die er inzwischen nicht unbedingt stolz war. Er hatte begonnen, Geschichten und Gerüchte über Rea in der Schule zu verbreiten … die meisten harmlos, viele aber auch ziemlich heftig.
Und leider auch nicht wahr.
Da es aber heutzutage an einer Schule niemanden mehr interessierte, ob etwas stimmte oder nicht, war Rea relativ schnell zum Opfer aller Mobber und Cliquen der älteren Klassen geworden, was mit der Zeit sogar immer schlimmer geworden war.
So war es eine Zeit lang weitergegangen, bis sie es nicht mehr ertragen hatte und letztendlich mit ihrer Familie umgezogen war – wohin genau, hatte Ethan nie erfahren. Bis heute.
„Und wie geht es Rea?“, fragte er so beiläufig wie möglich und wusste sofort, dass Seth ihm für diese Frage vermutlich am liebsten eine geklatscht hätte.
„Wie nett, dass du dir plötzlich Sorgen um sie machst“, fauchte Seth und sah Ethan beinahe schon angewidert an. „Sie ist jetzt auf einem Internat für Mädchen, um sich dort ein wenig – wie sie es nennt – zu erholen.“ Er dehnte das Wort und Ethan hörte die ganze Wut darin heraus, die Seth auf ihn hegte.
„Auf ein Internat? Aber ich dachte, ihr wärt extra hierher gezogen, damit sie auf eine normale Schule gehen kann“, sagte Ethan und wich sicherheitshalber ein wenig zurück. Das Wichtigste war jetzt, Seth nicht wütend zu machen. Der Junge war älter und ein wenig größer, er hätte Ethan mit Leichtigkeit hier und jetzt zusammenschlagen können. Außerdem kannte Ethan Seth recht gut. Vermutlich hatte dieser irgendein Taschenmesser oder einen Schraubenzieher in der Jackentasche, mit dem er Ethan leicht hätte verletzten können. Ein Stich in die Brust oder ein Schlag auf den Kopf. Das würde wehtun.
Seth lachte humorlos auf und schüttelte den Kopf. „Du bist so ein Vollidiot“, meinte er dann und wurde wieder ernst. „Versuch doch, eine Schule zu finden, an der man noch nicht von ihr gehört hat. Wir sind nicht ans andere Ende der Welt, sondern bloß eine Stadt weiter gezogen. Auch hier weiß man bescheid, was außerhalb von Sedred so abgeht. Die Leute wollen wissen, wer sich zu ihnen in die Klasse gesellt und informieren sich. Dafür haben wir ja alle schließlich Facebook.“
Ethan wusste nicht, ob er nicken, die Schultern zucken oder einfach nur das Maul halten sollte. Er musste hier weg, bevor Seth noch den letzten Nerv verlor. Seinen zusammengepressten Lippen nach zu urteilen, würde das nämlich nicht mehr lange dauern.
„Wie auch immer. Ich muss weg. Man sieht sich“, sagte Ethan schnell und wandte sich ab, um sich verziehen oder in der Pommes Bude Schutz suchen zu können, doch bevor er das schäbig wirkende Gebäude erreichen konnte, hörte er noch, dass Seth ihm etwas hinterher rief.
„Glaub nicht, dass es damit vorbei wäre“, waren seine genauen Worte. „Ich krieg dich noch auf jeden Fall und dann bist du dran!“
Von lauter Panik ergriffen begann Ethan mit einem Kloß im Hals schneller zu gehen, bis er das Lokal erreicht und durch die offene Tür hineingetreten war. Das Innere der Bude war von einem fettigen, salzigen Geruch gefüllt und an den Tischen saßen ein paar Mädchen, die leise miteinander tuschelten. Der Boden war feucht und dreckig von den Fußspuren der Besucher und an der Kasse lehnte ein einzelner, gelangweilter Mitarbeiter in einer gelben Uniform. Es war nicht der beste Ort, um zu essen.
Trotzdem fühlte sich Ethan hier drinnen viel sicherer als draußen auf der Straße, wo ihn der große Bruder seiner Ex jederzeit hätte zu Schrott verarbeiten können. Seth war also hier. Und er war immer noch wütend.
Ethan schluckte.
Das würde eindeutig noch lustig werden.
Ryan saß gelangweilt auf einem der Müllcontainer und warf unbekümmert das wahrscheinlich x-te Verpackungspapier eines Hustenbonbons auf den Boden. Er aß das Zeug in beunruhigenden Mengen und inzwischen hatte sich neben ihm ein beeindruckender Haufen Papier gesammelt, den er in der letzten halben Stunde dank seiner Sucht produziert hatte.
„Hey, Ryan, hörst du mir überhaupt zu?“, fragte Seth und packte ihn am Arm, um ihn einmal sacht zu schütteln.
„Hmm? Ah, ja, klar“, murmelte Ryan desinteressiert und ohne Seth auch nur anzusehen. Stattdessen ließ er seinen Blick zu dem Ende der Seitengasse wandern, in der sie sich befanden und beobachtete die Menschen, die gerade von der Schule oder der Arbeit zurückkehrten und an ihnen vorbeigingen.
Normalerweise hing Ryan mit seinen Jungs an anderen Orten herum. Zum Beispiel in Straßen, in denen sie bereits gefürchtet wurden, in der Nähe irgendwelcher Buden, auf leeren Spielplätzen oder in dem verlassenen Gebäude am Rande der Stadt – heute hatte er aber in einigen Stunden Basketballtraining und wollte daher in der Nähe seiner Wohnung bleiben.
„Und? was ist jetzt? Hilfst du mir oder nicht?“, wollte Seth wissen und zog noch einmal an Ryans Pulli. Das nervte.
Als Ryan zu Austin und Brandy sah, die sich auf dem anderen Müllcontainer gesetzt hatten, merkte er, dass auch die beiden von Seths Gejammer genug hatten. Während Austin die meiste Zeit über auf sein Handy starrte und nur hin und wieder die Augen hob, um Seth genervt anzublicken, kaute Brandy bloß auf seinem Kaugummi herum und betrachtete Seths Hinterkopf so eingehend, als würde er sich überlegen, wie er ihn am besten anspucken könnte.
Keine schlechte Idee.
Ryan sammelte sich kurz, genoss ein letztes Mal den minzigen Geschmack auf der Zunge und spuckte den Bonbon schließlich einfach aus. Dieser schoss nur knapp an Seth vorbei und landete in der Nähe seiner Schuhe. Er sagte nicht, ließ aber endlich Ryans Arm los und trat einen Schritt zurück.
Brandy lachte.
„Hör zu, Seth“, begann Ryan langsam und versuchte, so gelassen wie möglich zu bleiben. Er hatte keine Lust, ihm zu helfen. Die beiden waren keine Freunde, bloß Klassenkameraden und um ehrlich zu sein konnte Ryan Seth nicht einmal ausstehen. „Wenn du Ärger mit irgendeinem Kerl hast, ist das nicht mein Problem. Verprügel ihn gefälligst selbst und heul nicht rum.“
Irgendwie hatte Seth es geschafft, die drei in dieser Gasse zu finden und war bei ihnen mit seiner Geschichte angerannt gekommen, er hätte heute einen alten Bekannten wieder getroffen, der hierher gezogen war und den er gern – wie sollte man es nennen? – begrüßen würde.
Ryan verstand gar nicht, warum Seth ausgerechnet zu ihm kam. Mit diesem „Bekannten“ würde er sicher alleine fertig werden. Der Junge war kein Lappen, vielleicht bloß ein wenig dumm. Und das könnte im Grunde genommen noch bedrohlicher sein. Ein Metallrohr zum Draufhauen war in den Händen eines Schlägers gefährlich, in den Händen eines Idioten sogar tödlich.
„Ich will ihn aber nicht nur verprügeln“, erklärte Seth und lehnte sich gegen den Müllcontainer, auf dem Ryan saß. Augenblicklich verfinsterte sich seine Miene und er wirkte zum ersten Mal richtig angepisst. „Das wäre viel zu leicht. Ich will, dass sich dieser Scheißkerl die Augen ausweint vor Angst.“
Das überraschte Ryan. Es gab zwar viele Leute, mit denen Seth nicht ganz klar kam, aber bis jetzt hatte er noch nie so gesprochen, jedenfalls nicht in Ryans Anwesenheit.
„Uh-uh“, machte Brandy leise und grinste provokativ. Austin schwieg zwar, legte aber endlich das Handy weg und konzentrierte sich auf das Geschehen.
Und so ungern Ryan das auch zugab – er begann, Seth ernsthaft zuzuhören. Dieser hatte sich eben nämlich nicht danach angehört, als ginge es hier um etwas Unwichtiges wie einen alten, unbedeutenden Streit oder etwas Ähnliches.
Theatralisch seufzte Ryan, um das in ihm aufsteigende Interesse zu verbergen. „Und was genau hat dieser Typ denn angestellt, dass du ihn so zur Schnecke machen willst?“, fragte er und legte den Kopf schief.
„Das ist der Kerl, wegen dem wir hierher gezogen sind“, zischte Seth ohne ihn anzusehen und presste wütend die Kiefer zusammen.
Ryan und Brandy hoben überrascht die Augenbrauen und warfen sich bedeutungsvolle Blicke zu. Austin, der bisher geschwiegen hatte, sprach jetzt als erster ihre Gedanken aus. „Du meinst den, der diese Gerüchte über Rea verbreitet hat?“
„Ja, den“, sagte Seth und nickte schlechtgelaunt.
Kurz herrschte Stille, bis Brandy ein beeindrucktes Pfeifen durch die Zähne ausstieß und eine Handbewegung machte, als hätte er sich verbrannt. Offenbar war ihm inzwischen auch aufgegangen, wie ernst es Seth war. „Man, ich würde nur zu gern wissen, was du für diesen Kerl geplant hast, Junge“, meinte er ehrfürchtig in dessen Richtung und sah dann Ryan an. „Du auch?“
Abwesend nickte Ryan. Im Kopf überlegte er, ob er Seth nicht vielleicht tatsächlich ein wenig helfen sollte. Ihn konnte er vielleicht nicht ausstehen, aber Rea mochte er eigentlich. Sie war ein paar Mal auf den Festen seiner Schule aufgetaucht und hatte ganz sympathisch gewirkt.
Außerdem war sie eine der wenigen Personen, die ihn nicht blöd von der Seite angeglotzt hatten, als sie erfuhren, dass er schwul war. „Ich weiß selbst, wie es ist, wenn Menschen einen verurteilen, ohne einen überhaupt zu kennen“, hatte sie damals leise gesagt.
Ryan bekam eine Gänsehaut.
Er ging relativ offen damit um, da man als Schläger eher respektiert und gefürchtete wurde, wenn nur wenig Leute mit einem zu tun haben wollten (und die Tatsache, dass er schwul war ließ eine Menge Mitschüler und Nachbarn schleunigst auf Distanz gehen) – aber es war okay, hin und wieder auf Personen zu treffen, die sich darum nicht scherten.
Brandy zum Beispiel war das völlig gleichgültig. Er war nicht nur Ryans bester Freund, sondern auch die einzige Person, die ihn damit aufziehen konnte, ohne eine Kopfnuss zu bekommen.
Austin hätte er vermutlich auch nie geschlagen, wenn es nötig gewesen wäre, aber da dieser ohnehin nie etwas zu Ryans Vorliebe für Jungs sagte, spielte das gar keine große Rolle. Generell war Austin sehr ruhig. Gefährlich, brutal, aber ruhig.
„Möglicherweise könntet ihr ihn auf der Straße überfallen“, fuhr Seth fort und blickte von einem zum anderen. Er war der Einzige der auf dem Boden stand und musste daher ein wenig zu ihnen hinauf sehen. „Ihn verprügeln. Wenn er denkt, die brutalste Schlägertruppe der Stadt wäre hinter ihm her, wird er sicher Schiss kriegen. Und wenn sich das eine Weile lang so hinzieht, wird er es irgendwann nicht mehr aushalten.“ Jetzt atmete Seth schwer und sein Gesicht war gerötet, als stände er vor einem Wutanfall.
Ryan bemerkte, dass Austin ihn alarmiert ansah. Natürlich. Der Junge war so vernünftig wie immer. Sicher hatte er genau wie Ryan erkannt, dass Seth diesen Typen in den Selbstmord treiben wollte. Aber so weit würde es selbstverständlich nicht kommen. Ryan winkte ab und gab Austin zu verstehen, dass dieser sich keine Sorgen machen musste.
„Wie heißt der Kerl“, wollte er wissen, während er sich in den Schneidersitz setzte und seinen Kopf an den Handflächen abstützte.
Seth zögerte und musterte Ryan misstrauisch. „Das heißt, du hilfst mir?“
„Wie ist sein Name?“, wiederholte Ryan ohne zu antworten.
„Ethan. Ethan irgendwas.“
„Vorläufig wird es also nur der Vorname sein. Auch okay, wir finden den schon … weißt du, auf welche Schule er geht?“
„Jedenfalls nicht auf unsere“, bemerkte Brandy und lächelte behindert. Manchmal war er viel zu albern. „Sonst hätte Seth dich direkt nach der Schule geholt, um ihn fertigzumachen.“
„Ich habe ihn heute in der Nähe des Krankenhauses gesehen, als er sich etwas zu essen holen wollte“, brummte Seth. „Wahrscheinlich wohnt er irgendwo hier in der Nähe, was bedeutet, dass er auf die Welinghtoon gehen müsste.“
„Die Welinghtoon also“, murmelte Ryan. Das war gar nicht so weit weg und lag ganz in der Nähe von seiner eigenen Schule. Dieser Ethan wohnte also praktisch bei ihm in der Nähe. Perfekt.
„Was hast du jetzt vor?“, wollte Austin wissen und sah ihn fragend an. Auch Brandy war ausnahmsweise mal still und blickte gespannt zu ihm rüber.
„Hey, Seth“, sagte Ryan, als hätte er die Frage nicht gehört. „Was haben wir morgen in der ersten und zweiten Stunde?“
„Sport.“
Ryan schnippte. „Super, toll. Wir schwänzen und schnappen uns Ethan auf seinem Schulweg. Nach einer kurzen Dresche verschwinden wir und erzählen dem Sportlehrer, die Bahn hätte sich verspätet oder etwas in der Art.“ Kein genialer Plan, aber annehmbar.
„In Ordnung“, stimmte Seth zu und nickte. Erleichterung legte sich über sein Gesicht als er begriff, dass Ryan und seine Schlägertruppe ihm tatsächlich helfen würden.
„Austin, du wirst morgen auch mit schwänzen“, sagte Ryan. Da die beiden nicht in derselben Klasse waren, wusste er nicht, welches Fach Austin morgen in der ersten Stunde hatte, aber das hatte auch nicht wirklich viel Bedeutung. Austin hasste Schule mehr als jeder von ihnen. Er würde alles tun, um seinen Unterricht zu verpassen. „Lass dir eine gute Ausrede einfallen lassen. Und sag Daniel Bescheid, der soll auch kommen.“
Ohne zu protestieren, nickte Austin und begann wieder, auf seinem Handy zu schreiben. Er und Ryan waren zwar Freunde, aber dieser war und blieb immer noch der Anführer der Gang. Wenn er einem seiner Jungs etwas befahl, dann taten diese das für gewöhnlich auch.
Jetzt kam der etwas unangenehmere Teil. „Brandy, du fällst diesmal weg“, sagte Ryan ernst. „Die Lehrer werden es bemerken, wenn schon wieder wir beide am selben Tag zur selben Zeit fehlen. Vergiss nicht, seit der Aktion im Park sprechen sie über uns. Tyler sollte auch mal außen vor bleiben. Der hat sich seit der letzten Schlägerei sowieso noch nicht ganz erholt.“
Ryan konnte ihm ansehen, dass Brandy davon nicht begeistert war. Trotzdem murmelte er ein unzufriedenes „okay“, wofür Ryan ihm dankbar war.
Insgesamt waren sie fünf in ihrer Gang. Tyler, Daniel, Austin, Brandy und zuletzt Ryan als Anführer. Die gefährlichste Gang der Stadt Sedred. Über diesen Titel musste Ryan immer noch lachen. Zu Beginn waren sie nämlich bloß fünf Freunde gewesen, die zusammen immer wieder mal in Schwierigkeiten geraten waren. Es war nie ihr Ziel gewesen, eine Gang oder etwas Ähnliches zu werden.
„Dann ist es ja entschieden“, sagte Ryan gut gelaunt, lehnte sich zurück und tat, als würde er an einer Zigarette ziehen, wie es manchmal die Mafiabosse in Filmen taten. Dann stieß er den nicht vorhandenen Qualm aus und grinste Seth an. „Morgen werden wir ihn aufmischen.“
Ethan lehnte an einem Baum neben seiner Schule und hielt nebenbei mit den Augen Ausschau nach Justin. Dieser hatte ihm nämlich versprochen, heute vor dem Unterricht mit ihm ins Sekretariat zu gehen, um alles für die Herstellung von diesem Schülerausweis erledigen zu können. Allerdings würde es in wenigen Minuten schellen und von Justin war immer noch nichts zu sehen.
„Wo bleibt er?“, murmelte Ethan, schnappte sich seine Tasche und suchte darin nach seinem Handy. Ob Justin wohl an ihm vorbeigegangen war? Wohl kaum. Ethan war extra zehn Minuten früher gekommen und hatte sich genau neben den Eingang des Schuldgeländes gestellt, um Justin nicht zu verpassen. Es wäre schwer für diesen gewesen, ihn zu übersehen.
Als er Justins Nummer wählte, ging dieser nicht ran. Auch nicht beim zweiten Anruf. Vielleicht hatte er sein Handy vergessen, sein Akku war leer oder er hatte es einfach nur auf stumm gestellt. Ethan seufzte und versuchte es erneut. Er wollte auf keinen Fall alleine ins Sekretariat. Nicht nur, weil er befürchtete, dann alles falsch machen zu können, sondern auch weil er (wie jeder andere Schüler) eine scheiß Angst vor dem Sekretär hatte.
Dieser sah mit seinen Tattoos und den Piercings nämlich so aus, als wäre er dem schlimmsten Ghetto entsprungen.
Ethan rieb sich müde die Augen, während er das Handy wieder in seine Tasche gleiten ließ. Er hatte letzte Nacht nur schlecht geschlafen und schuld daran war bloß seine gestrige Begegnung mit Seth. Ethan wollte immer noch heulen, wenn er daran dachte.
Dadurch, dass der große Bruder seiner Ex hier lebte, würde für ihn einiges schwerer werden. Seth lebte schon seit einem Jahr hier, sicher hatte er sich in dieser Zeit neue Freunde gesucht, die er – und darin war sich Ethan sicher – auf ihn hetzen würde. Ethan hatte sich in kürzester Zeit eine Menge Feinde gemacht. Er musste dringend was unternehmen.
Genau in diesem Moment schälte es zum Unterricht und er konnte beobachten, wie sich der Schulhof augenblicklich leerte. Einige Leute drückten schlechtgelaunt ihre Zigaretten aus und begaben sich eilig zum Eingang des Gebäudes, andere trödelten und schlenderten so langsam dahin, als hätten sie alle Zeit der Welt.
Ethan stand alleine da und begann, sich ungeduldig um zugucken. Er trat näher an den Straßenrand und sah sich nun in allen Richtungen nach Justin um, aber dieser war unauffindbar.
Unsicher leckte sich Ethan über die trockenen Lippen und tastete zur Ablenkung nach dem Foto von sich, das er heute mitgenommen hatte und das sich in seiner Jackentasche befand. Er war angespannt und konnte nicht einmal erklären, woran genau das lag. Es war, als würde er sich darauf vorbeireiten, gleich die Flucht vor irgendetwas ergreifen zu müssen.
Das kommt dir nur so vor, rief er sich in Gedanken zu und lockerte seine Schultern. Du hast Angst wegen Seth und bist paranoid. Tatsächlich half ihm diese Denkweise und er erlaubte es sich für einige Sekunden, Ruhe zu bewahren – schwerer Fehler.
Denn als Ethan sich umdrehen wollte, spürte er nur noch, wie ihn etwas Hartes im Magen traf und mit voller Wucht auf den Rücken warf. Der Aufprall war heftig. Er verzog das Gesicht, als sein Hinterkopf gegen den Boden stieß, doch das war noch lange nicht das Schlimmste. Der nächste Schlag landete in der Nähe seiner Schulter und ließ Wellen von stechendem, unendlichem Schmerz durch seinen ganzen Körper fahren. Ethan schrie und hielt sich instinktiv eine Hand vors Gesicht, um einen weiteren Schlag abwehren zu können.
„Siehst du? Wir sind doch noch rechtzeitig gekommen. Er hat hier wohl auf jemanden gewartet, zu unserem Glück.“ Jemand lachte. Dann erklang ein dumpfes Geräusch, so als würde jemand einen Schläger auf den Asphalt drücken.
Ethan regte sich nicht. Er nahm Schritte wahr und spürte die Anwesenheit mehrerer Personen um sich herum und deren Blicke. Noch viel intensiver spürte er aber den Schmerz, der sich in seinem Oberkörper ausbreitete. Vor allem der Schlag in den Magen hatte gesessen. Er konnte förmlich fühlen, wie sich seine Organe zusammenzogen und wie das Blut durch seine Adern rauschte. Ihn quälte das dringende Verlangen, sich auf die Seite zu drehen und den Kopf in seinen angezogenen Knien zu vergaben, doch er riss sich zusammen.
Desto mehr er sich bewegte, desto mehr würden sie ihn verletzen wollen.
„Hey, der regt sich gar nicht mehr“, sagte eine neue Stimme. Kurz darauf spürte Ethan, wie ihn jemand mit der Schuhspitze am Kopf anstieß. Er stöhnte.
„Das hat gar nichts zu bedeuten. Hätte er das Bewusstsein verloren, würde er nicht mit aller Macht versuchen, sein Gesicht zu schützen“, meinte der von vorhin.
Ethan machte ein paar ruhige Atemzüge. Es tat höllisch weh, aber wenn er sich nicht unter Kontrolle hielt, würde er anfangen zu husten, was ihm nur noch viel schlimmere Quallen zugefügt hätte.
Nach einer gewissen Zeit, in der der Schmerz langsam zu verblassen begann, traute Ethan sich endlich, die Hand von seinem Gesicht zu nehmen und die Augen zu öffnen. Zunächst sah er nur Sterne vor sich tanzen. Er musste ein paar Mal zögerlich blinzeln. Als seine Sicht aber langsam schärfer zu werden begann, bemerkte er den Jungen, der über ihm stand und ihn von oben herab anlächelte.
Er war groß und trug eine dunkelrote Mütze, unter der seine schwarzen, ungekämmten Haare hervorkamen. Die hellen Augen waren hinter einer blassen Sonnenbrille versteckt, die immer wieder von seiner Nase abrutschte. Der schwarze Kapuzenpulli war ihm eindeutig zu groß und die ausgetragene Jeans zerrissen, die roten Chucks alt und das Lederarmband an seinem Handgelenk abgenutzt. Das Ende des Baseballschlägers in seiner Hand hatte er an seine Schulter gelehnt, als wüsste er, dass er ihn vorerst nicht mehr brauchen würde.
Es standen noch andere Jungs bei ihm, die hielten sich aber etwas zurück und hatten keine Schläger. Es waren etwa vier oder fünf. Ethan nahm sich nicht die Zeit, sie richtig zu zählen oder sich jeden einzelnen von ihnen genauer anzusehen. Momentan hatte er wirklich andere Sorgen.
„Also doch nicht ohnmächtig?“, fragte der mit dem Schläger grinsend und verpasste Ethan einen leichten Tritt in die Seite. Dieser zog scharf die Luft ein. „Austin, halt mal“, sagte der Typ und reichte seinen Schläger dem Jungen namens Austin.
Dieser nahm ihn entgegen, ohne Ethan aus den Augen zu lassen. Er war eher kleiner, blond und blass, sah aber auch nicht gerade nach einem Schwächling aus. Eine Schlägerbande also.
Fantastisch. Einfach fantastisch.
„Ryan, was zur Hölle machst du da eigentlich?“, hörte Ethan jemanden sagen und erkannte die Stimme sofort. Seth. Wer sonst? Er hätte gelacht, hätte es ihn in dem Moment nicht das Bewusstsein gekostet.
„Reg dich ab, Seth“, sagte der schwarzhaarige und ging in die Hocke. Ethan mied es, ihm direkt ins Gesicht zu blicken, aus Angst, er könnte die in ihm aufsteigenden Tränen sehen. In seinem Kopf drehte sich immer noch alles, als wäre ihm schwindelig und sein Körper war nach wie vor benommen.
„Wir wollten ihn nur schnell verprügeln und dann abhauen. Wenn wir hier noch länger bleiben, werden wir erwischt!“ Ethan konnte Seth nicht sehen, hörte aber die Angst aus ihm heraus und hoffte bloß, dass dieser Kerl vor einen Bus geriet.
„Werden wir nicht“, erwiderte der Kerl namens Ryan und griff mit einer schnellen Bewegung in Ethans Haare. Er zog seinen Kopf hoch und zwang ihn dazu, ihm ins Gesicht zu sehen. „Tut das weh?“, fragte er mit unschuldiger Miene und zog noch etwas fester.
Ethan schrie wieder auf und versuchte, sich loszureißen, aber er hatte nicht die Kraft dazu. Ryan war viel stärker und mindestens ein Jahr älter. Wenn er es gewollt hätte, hätte er Ethan mit bloßen Händen den Arm brechen können, sofort und auf der Stelle.
Überrascht lachte Ryan, als Ethan ihn am Arm packte und versuchte, ihn wegzustoßen. „Na sieh mal einer an! Der Junge will sich ja noch währen!“ Der Rest dieser Penner lachte und in der nächsten Sekunde spürte Ethan, wie Ryan seinen Kopf gegen den Asphalt schmetterte. Im Vergleich dazu war der Schlag in den Magen und in die Schulter vorhin noch gar nichts gewesen. Das hier fühlte sich an, als würde Ethans Gesicht in Flammen stehen. Ryan drückte ihn mit der Wange gegen den harten Asphalt und sein Kiefer knackte unangenehm. Vielleicht hatte er sich das vor lauter Furcht aber auch nur eingebildet.
„Ryan, ich glaube das reicht“, sagte Austin bedächtig und trat etwas näher ran. „Ich wette, gleich taucht hier irgendwo ein Lehrer auf.“
Ethan sah, dass Ryan gerade etwas erwidern wollte, als weiter weg die wütende Stimme eines Mädchens erklang: „Hey, ihr da! Ich würde euch raten, euch sofort zu verpissen, wenn ihr nicht wollt, dass ich die Polizei rufe!“
Obwohl Ethan bemerkte, wie sich Ryans Griff um seine Haare lockerte, wagte er es nicht, auch nur ein Wort von sich zu geben. Stattdessen schloss er die Augen und hoffte, dass das Mädchen nicht hierher kam.
„Verschwinde Brooke, das hier geht dich nichts an“, hörte er Seth sagen.
„Das hier soll mich nichts angehen? Hast du sie noch alle?!“ Sie klang jetzt echt verärgert. „Es geht mich sehr wohl was an, wenn du ständig Leute an meiner Schule verletzt! Wir wissen beide, dass es nicht das erste mal ist, Seth, und wenn du und deine kleinen Freunde jetzt nicht sofort das Weite sucht, werde ich dir das Leben sowas von zur Hölle machen, dass du dir wünschen wirst, du hättest auch die Chance, an einem Internat aufgenommen werden zu können, um mir zu entkommen!“
Was ne Rede.
Und was ein dummes Kind, dachte sich Ethan.
„Ryan, wir sollten verschwinden. Das hier können wir ein anderes Mal klären“, drängte Austin wieder.
„Ich versteh immer noch nicht, warum wir das hier machen müssen“, sagte ein Kerl, der bis jetzt geschwiegen hatte. „So viel Aufwand für nichts.“
„Halt die Klappe, Daniel!“, fauchte Seth aufgebracht.
„Habt ihr mich nicht gehört?! Ich will, dass ihr sofort verschwindet!“, schrie Brooke, deren Stimme nun so nah war, dass sie wahrscheinlich bei ihnen angekommen sein musste. Sie war sehr laut geworden. Keine schlechte Taktik. Es könnte jeder Zeit ein Lehrer aus dem Fenster sehen, der sich bei seinem Unterricht von dem Geschrei gestört fühlen würde.
Ethan bekam das alles aber nicht besonders mit. In seinem Kopf herrschte ein permanentes Dröhnen, welches so laut war, dass er hätte annehmen können, er befände sich in einem Club mit viel zu lauter und nervender Musik, als in einer ruhigen Straße in der Nähe einer Schule. Na ja, so ruhig war es inzwischen doch nicht mehr.
„Ryan“, drängte Austin gehetzt. Er hatte offenbar auch durchschaut, was Brooke mit ihrem Geschrei erreichen wollte.
„Warte kurz“, zischte Ryan, während im Hintergrund das Gestreite von Seth und Brooke zu hören war. Was Austin und dieser Daniel in der Zwischenzeit trieben, konnte Ethan weder sehen noch hören. Vielleicht waren sie abgehauen, vielleicht standen sie beide bloß schweigend daneben. Was auch immer. Momentan hatte das sowieso keine Bedeutung für ihn. Im Augenblick zählte für ihn nur Ryan, der bedrohlich nah an ihn herangekommen war.
Er kniff Ethan in die Wange und wartete, bis dieser ihn widerwillig ansah. Ihm war das alles sehr unangenehm. „Das ist noch nicht vorbei, Kleiner“, flüsterte Ryan langsam, während er Ethan durch seine Sonnenbrille abschätzend musterte. „Hast du das verstanden?“
Ethan schluckte, unfähig, sich zu bewegen. Er war schon öfters in Schlägereien verwickelt worden. Das hier war auch nicht das erste mal, dass er als einzelner verprügelt wurde – aber so viel Angst hatte er noch nie in seinem Leben gehabt und er konnte mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass das hundertprozentig an Ryan lag.
Wie dieser ihn ansah, wie er ihn musterte. Kalt. Ein anderes Wort konnte es nicht beschreiben. Ethan wand den Blick ab, nicht länger in Lage, in Ryans Augen zu blicken. Sie waren so hell, dass sie an Eissplitter erinnerten. Eine Gänsehaut lief über seinen Rücken.
„Ich fragte, ob wir uns verstanden haben“, wiederholte Ryan und kniff noch fester in seine Wange.
„Ja“, brach Ethan heraus und schaffte es irgendwie, Ryans Hand mit seiner eigenen wegzuschieben. Kurz fürchtete er, es sich damit mit Ryan verspielt zu haben, doch dieser stand endlich auf und drehte sich zu seinen Jungs um.
„Wir hauen ab“, kündigte er an und trat ein paar Schritte zur Seite. „Austin, Daniel, ihr beiden geht jetzt sofort wieder zur Schule. Seth, wir beide warten, bis Sport vorbei ist und behaupten dann, wir hätten geglaubt, es entfällt.“
„Und was ist mit ihr?“, fragte Seth. Ethan vermutete, dass er das Mädchen meinte, Brooke.
Sie lachte hohl. „Ich mach gar nichts, solange du von hier verschwindest. Sollte ich dich aber noch einmal hier erwischen, wirst du es bereuen. Du weißt, dass ich deine Schule und deine Adresse kenne. Wenn du weiterhin Probleme machst, werden eure Lehrer ganz schnell erfahren, was ihr so treibt, wenn bei euch etwas entfällt“, drohte Brooke.
Seth schien etwas antworten zu wollen, doch Ryan kam ihm zuvor. „Nur keine Angst. Er benimmt sich“, versicherte er lächelnd. In Ethans Richtung gewandt, sagte er noch: „Bis dann.“
Kurz darauf setzte er sich in Bewegung und seine Bande folgte ihm. Sie entfernten sich schnell, doch bevor sie völlig verschwinden konnten, drehte sich Seth noch einmal um und rief: „Ich habe dir ja gesagt, dass ich dich kriegen werde, Ethan! Dieses Mal kommst du nicht davon!“ Dann lief er wie ein wahnsinniger lachend weiter.
Ethan hätte aufstehen sollen, doch er blieb liegen und verdaute die Schmerzen und die Angst, die ihn immer noch zittern ließen. Alles tat höllisch weh und ihm wurde übel, als ihm etwas zuflüsterte, dass das gerade mal der Anfang von einem harten Kampf gewesen war. Das wirklich Schreckliche kam erst auf ihn zu.
„Alles in Ordnung?“, hörte Ethan Brooke sagen, als die Schläger gruppe aus ihrer Sicht verschwunden war. Sie war neben ihn getreten und schien sich über ihn zu beugen, falls er den auf seinem Gesicht entstandenen Schatten richtig deutete.
Nein, wollte er antworten. Nichts ist in Ordnung. Meine Welt zerbricht gerade und ich schwebe in Lebensgefahr. Alles tut weh und ich glaube, ich muss mich übergeben.
Doch statt seine Gedanken laut auszusprechen, öffnete er die Augen und setzte sich mühsam und unter großer Selbstüberwindung auf. „Geht“, murmelte er und prüfte, ob er am Kopf blutete. Glücklicherweise nicht. Dabei hatte es sich stark danach angefühlt, als Ryan seinen Schädel gegen den Boden gedrückt hatte.
„Komm, du bist doch ein Mann“, scherzte Brooke und reichte ihm ihre Hand.
Ethan sah zu ihr hoch, um sie betrachten zu können. Vorhin, als er auf dem Boden gelegen und vor Schmerz gewimmert hatte, hatte er sie nur flüchtig aus dem Augenwinkel sehen können.
Sie hatte blonde, gelockte Haare, die bis zu ihrer Brust reichten und mit einigen Haarspanngen gebändigt worden waren. Ihre Augen waren braun und von dunklen, dicht geschminkten Wimpern umrahmt, ihre Haut gebräunt. Brooke hatte zwar schmale, dafür aber sehr stark geschminkte und geschwungene Lippen, was ihr Gesicht schön und gepflegt wirken ließ.
Ihr Outfit hingegen war weniger gut gewählt worden. Sie trug ein dunkelgrünes T-Shirt mit einer schwarzen Sportjacke drüber, eine schwarze Jogginghose und gründe Chucks. Statt einer Schultasche hatte sie einen Sportbeutel um die Schulter hängen, der so wirkte, als hätte er schon einiges durchgemacht.
Ethan griff nach ihrer Hand und rappelte sich mit ihrer Hilfe auf. Als er wieder auf den Beinen stand, drohte er kurz umzukippen, doch er konnte sich noch rechtzeitig an ihr abstützen.
„Ich glaube, wir sollten dich ins Sekretariat bringen“, schlug sie vor und hielt ihn fest, damit er nicht wieder umfiel.
„Ja“, flüsterte er bloß. Sein Kopf war immer noch ganz benebelt und er spürte, wie stechende Kopfschmerzen daran zu nagen begannen. Er brauchte jetzt dringend Ruhe.
„Du bist Ethan, richtig? Der Neue in unserer Klasse“, sagte Brooke und begann, einen Schritt nach dem anderen zu gehen. Das tat sie langsam, damit er gemächlich hinterhergehen konnte.
Ethan nickte bloß. Ihm war das Ganze hier peinlich. Eigentlich hätte er sich ja wehren sollen, doch aus bereits gesammelten Erfahrungen wusste er, dass es die Sache nur verschlimmert hätte. Sie hätten dann alle gleichzeitig auf ihn eingedroschen und wären dann auch nicht so schnell verschwunden. Trotzdem riss es an ihm, dass Brooke hatte ihm zur Hilfe kommen müssen und dass sie ihn nun wie ein ängstliches Kind zur Schule führte.
Er versuchte, sich gerade hinzustellen und ohne zu humpeln weiterzugehen. Die Schmerzen waren nicht das größte Problem. Es war viel mehr die Furcht, die seine Knie weich werden ließ und ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen drohte.
„Du bist die eigentliche Klassensprecherin, hab ich recht?“, fragte er beinahe beiläufig, als sie den Schulhof betraten. Ab hier hörte er auf, sich an ihr abzustützen und ging alleine weiter, sie hielt ihn aber immer noch fest und ließ ihn auch nicht los.
„Ja, genau. Hatte gestern einen Arzttermin. Tut mir leid, ich weiß, ich hätte dich empfangen sollen. Ich hoffe, Justin hat das gut gemacht …“
„Ich bringe Justin um“, brach Ethan zwischen zusammengebissenen Zähnen heraus. „Ich habe auf diesen Idioten gewartet und wäre er nicht zu spät gekommen -“
„Das war nicht sein Fehler“, fiel Brooke ihm ins Wort und machte dann ein bedrücktes Gesicht. „Sorry, wir hätten dir Bescheid sagen sollen. Wir haben gestern am Telefon abgemacht, dass ich dich an seiner Stelle ins Sekretariat begleite, um den Schülerausweis herzustellen. Ich habe heute nämlich keine Schule, weil ich für mein Spiel befreit wurde, und da ich eh Zeit hatte und nicht zum Unterricht musste, wollte ich das übernehmen.“
Sie hielt inne und wartete offenbar auf seine Reaktion.
Ethan wusste nicht, was er sagen sollte, zuckte also bloß die Achseln. Als ein unangenehmes Brennen sich in seiner Schulter nach dieser Bewegung ausbreitete, seufzte er.
„Ich brauche meine Tasche“, sagte er und stoppte.
„Hier.“ Brooke reichte sie ihm. Ihm war gar nicht aufgefallen, dass sie sie mitgenommen hatte. Er hatte sie fallen gelassen, als Ryan ihm das erste Mal mit dem Schläger eine verpasst hatte.
Er nahm sie, schwang sie sich über die Schulter und ging – oder humpelte – langsam weiter. Brooke lief neben ihm her und obwohl sie ihn nicht mehr festhielt hatte er das Gefühl, dass sie jederzeit bereit war, nach ihm zu greifen, sollte etwas passieren.
„Warum wollten diese Kerle dich verprügeln?“, fragte sie unvermittelt, als die beiden den Eingang in die Schule erreichten. „Und was meinte Seth, als er sagte, du würdest dieses Mal nicht davonkommen?“
Ethan zuckte innerlich zusammen, winkte aber ab. „Lange Geschichte.“
„Ist mir egal.“ Sie sah ihn aus großen Augen an und er wusste jetzt schon, dass sie ihn so lange damit nerven würde, bis er ihr alles erzählt hatte. Noch ein Justin also.
Er sah weg. „Ein anderes Mal, okay? Wenn ich in einer anderen Verfassung bin.“
„Ich komme noch darauf zurück“, versicherte sie, als sie die Schule betraten.
„Sicher.“
„Weißt du, wo das Sekretariat ist?“, wollte sie wissen, als die beiden die winzige Treppe hinaufstiegen und sich dann in einem langen Gang befanden, dessen Türen geschlossen waren. Hier lagen die Klassenräume der jüngeren Schüler, die der älteren waren oben. Super. Ethan freute sich schon drauf, die ganzen Stufen hinaufkriechen zu müssen.
„Ja, Justin hat mich gestern herumgeführt.“
„Gut. Dann können wir dir schnell deinen Ausweis machen lassen und hinterher deine Eltern anrufen, damit sie dich abholen.“
„Was das angeht, würde ich es gerne lassen“, sagte Ethan schnell und hoffte, nicht allzu verdächtig zu wirken.
Sie runzelte verwirrt die Stirn. „Wieso?“
Ethan wollte nicht, dass seine Mutter hiervon etwas mitbekam und ihn dazu noch extra während ihrer Arbeit abholen musste. Er hatte ihr versprochen, sich von jetzt an von Schwierigkeiten fernzuhalten, einen neuen Anfang zu machen. Wenn sie erfuhr, dass die ganze Geschichte mit Seth wieder an die Oberfläche gekommen war … Ethan schluckte.
„Ich will keinen schlechten Eindruck hier bei den Lehrern machen. Was werden die denken, wenn die sehen, dass ich mich schon an meinem zweiten Schultag prügle? Man sieht es mir ja nicht an, wenn ich nicht humple, oder? Dann kann ich ja gleich auch hier im Unterricht bleiben.“
Brooke zog spöttisch eine Augenbraue hoch. Sie glaubte ihm nicht. Sie glaubte ihm sowas von nicht! Aber erstaunlicherweise beließ sie es dabei und protestierte nicht.
„Ich werde nicht jeden Tag einen Arzttermin und ein Spiel haben, Ethan. Du kannst dich darauf gefasst machen, dass ich dich an Justins Stelle in den nächsten Tagen überallhin in dieser Schule begleiten werde. Denk also nicht, du könntest irgendwas vor mir geheim halten.“ Ihre Augen funkelten herausfordernd bei dem letzten Satz.
„Ich habe es schon mit Justin ausgehalten, du wirst kein Problem sein“, sagte Ethan und lächelte.
Als sie das Ende des Ganges erreicht hatten und vor der Tür zum Sekretariat stehenblieben, sah er zuerst sie und dann ihren Sportbeutel skeptisch an. „Und du hast wirklich den ganzen Tag frei, nur wegen einem Spiel?“
„Ja, klar, wenn es von viertel nach acht bis halb zwei dauert, weil noch andere Mannschaften dabei sind“, meinte Brooke, während sie an die Tür klopfte. „Ich hätte sonst nur fünfzehn Minuten Unterricht. Kann man doch auch gleich alles weglassen.“
„Ja, Moment!“, ertönte es von drinnen. Es war die Stimmte dieses seltsamen Sekretärs.
„Hab mich nur gewundert. An meiner alten Schule musste man nämlich zum Unterricht erscheinen, zu Spielbeginn gehen und am Ende wieder zurückkehren, falls die Schule bis dahin noch nicht zu Ende war“, erklärte Ethan.
„Oh, was hast du denn gemacht?“, fragte Brook und hob die Augenbrauen, als hätte sie niemals im Leben erwartet, dass Ethan Sport machen könnte.
„Basketball“, antwortete dieser leichthin. Es war zwar schon eine Weile her, dass er es wirklich gespielt hatte, aber er müsste immer noch sehr gut sein.
„Hast du schon mal darüber nachgedacht, dich in der Sportmannschaft einzutragen?“, löcherte sie ihn und er fragte sich, wie lange der Sekretär noch brauchen würde.
Brooke bemerkte seinen genervten Blick in Richtung Tür und sagte: „Er braucht immer etwas länger. Schlechte Angewohnheit, lässt Menschen gerne warten. Also, was ist mit der Schulmannschaft?“
„Na ja, ich hätte es schon gern gemacht, aber kann man sich mitten im Halbjahr überhaupt noch eintragen?“, murmelte er ausweichend. Tatsächlich hätte er nichts dagegen, mal wieder zu spielen.
„Eigentlich nicht, aber komm, ich hab da so meine Verbindungen zu den Lehrern“, lachte Brooke und drückte ihm ihren Ellenbogen in die Rippen. „Bin ja nicht umsonst Klassensprecherin.“
„Bist also ein Schleimer?“
„Ein wenig vielleicht. Zahlt sich aber aus, nicht nur für mich.“ Sie hielt kurz inne. „Ich werde mal sehen, was sich da machen lässt mit der Mannschaft.“
„Was machst du überhaupt?“, fragte er und beäugte sie. Für Basketball war sie eindeutig zu klein. Ethan hatte ja selbst gerade mal genug Größe dazu. Wie eine Fußballerin sah sie auch nicht aus.
„Tennis“, antwortete sie und strich sich dabei das Haar aus dem Gesicht. Ihre blonden Locken schienen ein Eigenleben zu führen, so wild waren sie. „Aber das mach ich nur, um mich fit zu halten. Mein wirkliches Hobby ist Breakdance, aber das haben wir hier an der Schule nicht.“
„Breakdance“, wiederholte Ethan leise.
„Ja, es gibt da ein paar Orte in dieser Stadt, an denen sich Leute in meinem Alter treffen und sozusagen Battles veranstalten, so wie in den ganzen Filmen“, erklärte Brooke und lächelte. Sie lächelte ganz schön viel, wie Ethan auffiel. Allerdings nicht dieses freundliche Lachen, das jedes Mädchen von nebenan auf seinen Lippen trug. Es hatte etwas Freches, etwas Herrisches.
Sie sah auf ihre Uhr und atmete erschrocken auf. „So spät schon! Mein Spiel fängt in zwei Minuten an, verdammter Mist! Ich dachte, das alles würde nicht so lange dauern, aber da war ja noch diese dumme Schlägerei!“ Sie blickte ihn an. „Tut mir leid, das wirst du ohne mich machen müssen. Ich hau jetzt ab, aber morgen sehen wir uns wieder. Besorg dir von Justin meine Nummer und schreib mir später, wie es dir geht.“ Ohne ein weiteres Wort lief sie zurück den Gang entlang, in die Richtung aus der sie gekommen waren.
„Wer bist du, meine Mutter?“, rief Ethan ihr hinter.
Beim Laufen wirbelte sie einmal herum und zeigte bedrohlich mit dem Zeigefinger auf ihn. „Ich meine es ernst, besorg dir meine Nummer und schreib mir! Sonst komme ich persönlich bei dir vorbei und sorge für ein Treffen mit deinen Eltern, für das du dich noch Jahre später in Grund und Boden schämen wirst.“
In der nächsten Sekunde hatte sie die Treppe erreicht und war verschwunden. Ethan lächelte. Sie war schon irgendwie süß.
Leider aber auch auf dem besten Weg, zu Seths neuer Zielscheibe zu werden, sobald Ethan die Lage richtig beurteilen konnte.
„Ist das dein Ernst?“, fragte Ethan aufgebracht und hielt das Handy noch etwas fester an sein Ohr gedrückt. Er befand sich gerade zusammen mit Justin auf dem Heimweg und die beiden liefen durch eine Straße, in der offenbar kürzlich ein kleiner Unfall stattgefunden hatte, oder so ähnlich. Jedenfalls war es hier ziemlich laut und Ethan musste die Stimme heben, damit Brooke ihn verstehen konnte.
Diese hatte gar nicht erst auf seinen Anruf gewartet, sondern ihn gleich selbst kontaktiert. Wie sie an seine Nummer gekommen war, war ihm ein Rätsel.
„Ja! Der Sportlehrer, der die Basketballmannschaft trainiert war auch bei unserem Spiel anwesend und da habe ich eben gleich nachgefragt, ob du dich noch anmelden könntest“, erzählte sie aufgeregt. „Er meinte, er müsste das aber erst noch mit dir persönlich klären. Komm einfach am Freitag in der siebten Stunde in die Halle und frag dort mal nach, dann könnt ihr das in Ruhe besprechen.“
„Ich habe gesagt, dass ich es mir noch überlegen werde!“, schrie Ethan in den Hörer und merkte ein wenig zu spät, dass sie die laute Straße längst verlassen hatten und sich wieder in einer ruhigen Gegend befanden. Justin zuckte bei seinem Ton zusammen, sagte aber nichts.
„Nein, du hast gesagt, du würdest gerne anfangen zu spielen“, erläuterte Brooke. „Und das hat sich für mich danach angehört, als wärst du damit einverstanden. Es ist ja noch nichts entschieden, du kannst immer noch nein sagen wenn du willst - was ich aber bezweifle.“ Sie klang so selbstsicher, dass es ihn fast schon ärgerte. Sie kannte ihn nicht mal und dachte bereits, alles über ihn zu wissen.
Ethan setzte zu einer Antwort an, aber sie kam ihm zuvor. „Reg dich ab, du kannst es dir ja immer noch überlegen und ihm sagen, dass du doch nicht willst. Falls du noch Fragen hast, kannst du mich später anrufen. Da kommt mein Bus. Bye.“
Und da war sie auch schon weg. Aufgelegt, ohne zu warten. Genau wie seine Mutter.
Leise knurrend steckte Ethan sein Handy weg und fragte sich, ob sich dieses Mädchen ab jetzt immer in sein Leben einmischen würde. Vermutlich schon. Seiner Meinung nach nahmen die Klassensprecher in dieser Stadt ihre Sache ein wenig zu ernst, aber daran würde er wohl oder übel nichts ändern können.
„Was hat sie gesagt?“, fragte Justin ihn, als die beiden um eine Ecke bogen.
„Sie hat den Sportlehrer überredet, mir eine Chance zu geben, in die Basketballmannschaft zu kommen“, brummte Ethan. Er hatte Justin erzählt, dass er Brooke mittlerweile kennengelernt hatte. Von der Schlägerei hatte er nichts erwähnt.
„Ist das schlecht?“
„Sie hat es ohne meine Erlaubnis getan. Außerdem hab ich schon genug Stress in letzter Zeit“, erwiderte Ethan und hätte sich gern die Zunge abgebissen.
„Wieso? Was ist denn los?“, erkundigte sich Justin. Das Funkeln, das dabei in seine Augen trat, gefiel Ethan nicht. Er musste dieses Thema schnell abschließen, bevor alles außer Kontrolle geriet und er sich doch noch versprach. Denn dann würde Justin zu Brooke rennen und die beiden würden ihn gemeinsam ausfragen. Oh Gott …
Ethan musste sich Mühe geben, um nicht ins Stottern zu geraten. „Ach, nichts wirklich Schlimmes. Bloß die Sache mit dem Umzug, mit dem Anfang an der neuen Schule … Du weißt schon. Ist alles ein wenig ungewohnt“, log er. In Wirklichkeit waren diese Dinge seine kleinsten Probleme.
Gut, dass Justin nichts bemerkt hatte und nicht weiter darauf einging. „Verstehe. Das wird mit der Zeit aber besser werden. Hast du eigentlich deinen Schülerausweis schon?“
„Nein, den bekomme ich morgen. Der Sekretär hat gesagt, dass das ein wenig dauern kann.“
„Wieso hast du heute morgen eigentlich so lange gebraucht?“, fragte Justin wie aufs Stichwort. „Ich dachte, es würde ganz schnell gehen. Immerhin hättest du nur das Foto abgeben und überprüfen müssen, ob alle Angaben stimmen.“
„Weißt du was? Frag einfach Brooke, was da passiert ist“, sagte Ethan und fasste unwillkürlich an seine schmerzende Schulter. Es störte zwar, war aber erträglich. „Ich bin mir sicher, sie wird dir liebend gern erzählen, was heute Morgen alles passiert ist.“ Und das war nicht einmal gelogen.
Justin schien mit der Antwort unzufrieden und wollte weiter nachfragen, aber da erreichten sie schon die Kreuzung, an der sich ihre Wege trennten. „Dann bis morgen“, sagte Justin, bevor er in seine Straße abbog.
„Bis morgen“, rief Ethan ihm nach und beeilte sich, weiterzugehen. Nebenbei sah er sich immer wieder um, ob Seth hier irgendwo in der Nähe war. Gestern hatte er ihn schließlich auch in seiner Gegend getroffen. Es konnte gut sein, dass er hier in der Nähe wohnte. Das war schlecht. Ethan konnte sich nicht vorstellen, jeden Tag so verängstigt durch die Straßen laufen zu müssen.
Aus lauter Panik rief er sich noch einmal alle Orte ins Gedächtnis, an die er hätte im Notfall flüchten können: Krankenhaus, Apotheke, die Pommes Bude, die Grundschule …
Erleichtert atmete er aus, als er nach einigen Minuten das Haus erreichte, in dem er nun lebte. Grau, schon etwas älter und in einer Gegend, die erstaunlich sauber und leise war. Hier kam es nicht allzu oft zu kriminellen Handlungen, hier hingen nur selten Betrunkene herum und es wurden nie Partys geschmissen, die in der Nacht stören konnten.
Scheinbar war sie perfekt für einen Neuanfang.
Doch seit seiner Begegnung mit Seth und der Gewissheit, dass dieser sich hier irgendwo in der Nähe rumtreiben konnte, kam dieser Ort Ethan wie eine Falle vor. Seine Mutter könnte es sich nicht leisten, wieder umzuziehen und er musste hier bleiben und sich seiner Angst stellen. Er war ein Gefangener.
Gehetzt holte er seine Schlüssel aus der Tasche und betrat das Treppenhaus. Wenig später schloss er die Wohnungstür auf und betrat den momentan vermutlich einzigen Platz, an dem er sich noch sicher fühlen konnte.
Ethan machte die Tür wieder zu, lehnte sich kurz gegen die Wand, schloss die Augen und atmete tief durch. Ein und wieder aus. Dann schlüpfte er aus seinen Schuhen und seiner Jacke, verstaute alles in einem Schrank im Flur und ging in sein Zimmer.
Dieses war viel größer als sein altes, auch wenn er nicht besonders viel Platz brauchte. Er hatte bloß ein Bett mit blauer Decke, einen geräumigen Schrank für seine Kleider, einen etwas kleineren für seine Bücher und CDs, einen Schreibtisch mit PC und eine Kommode, auf der ein alter Röhrenfernseher stand, den er schon seit Jahren hatte. Um sich wohler zu fühlen hatte Ethan einige Poster von Basketballspielern und Fotos aus alten Zeiten an die dunkelblaue Tapete gehängt.
Auf manchen davon sah man ihn selbst als Kind, während er mit seiner Mutter spielte, auf anderen hing er mit Freunden an seiner alten Schule ab. Die Bilder mit Rea hatte er alle vernichtet.
Ethan legte seine Tasche weg und zog sich um, bevor er sein Zimmer wieder verließ und in die Küche ging. Als er eintrat, sah er seine Mutter am Küchentisch sitzen und in einer Zeitung blättern. Ihre braunen Haare waren nass und ungekämmt, sie war ungeschminkt und trug ihren Bademantel. Er vermutete, dass sie gerade aus der Dusche gekommen war.
Ohne ihn zu bemerken nippte sie an der Tasse Kaffee, die neben ihr auf dem Tisch stand und blätterte eine Seite um. Sie sah müde aus. Um ihre schönen grünen Augen hatten sich dunkle Ringe gelegt und sie wirkte blass. Ethan wand sich ab, nicht bereit, weiterhin diesen Anblick ertragen zu müssen.
„Hi, Mom“, murmelte er, bevor er sich zum Kühlschrank schob. Ein angenehmer Geruch lag in der Küche, sie hatte also mal wieder selbst gekocht.
Seine Mutter zuckte zusammen und hob überrascht den Blick, als hätte sie völlig vergessen, dass er auch noch hier lebte. Perplex guckte sie ihn an, blinzelte, überlegte. Dann lächelte sie erschöpft, als wäre ihr alles wieder eingefallen und stand langsam auf. „Hallo, Spatz“, flüsterte sie und schloss ihn in den Arm. Ethan leistete Widerstand, ließ sie dann aber doch gewähren. Er wusste, dass er gegen sie keine Chance hatte.
„Ich habe dich seit Tagen nicht gesehen“, flüsterte sie und küsste ihn liebevoll auf die Stirn. Sie war genauso groß wie er und roch nach Parfüm und Zigaretten. Mit einem Seufzer lehnte sich Ethan gegen sie und atmete ihren Geruch ein, während er sich mit dem Kopf an ihre Schulter drückte. „Meine Arbeit macht mich fertig.“
„Aber heute hast du frei, oder?“, murmelte er.
„Ja, Schätzchen. Von Freitag bis Sonntag, wie gewöhnlich. Ich habe heute aber noch eine der neuen Kollegin zu uns eingeladen, damit sie mit uns essen kann.“
„Nette Art, sich neue Freunde zu suchen“, grinste Ethan und schauderte, als sie ihm über den Rücken strich.
„Na und? Es funktioniert doch.“ Sie lachte leise und trat nun einen Schritt zurück. Bis auf die Spuren der Müdigkeit in ihrem Gesicht war sie immer noch sehr hübsch. Vor allem, wenn sie so wie jetzt lächelte. „Und wie läuft es bei dir so? Hast du dir schon neue Freunde gesucht?“
„Da gibt es diesen Typen, Justin“, erzählte Ethan, als seine Mutter sich wieder an ihren Platz am Küchentisch begab. „Er ist der Klassensprecher und hat mich ein bisschen herumgeführt an meinem ersten Tag.“
„Wie war dein erster Tag?“, wollte sie wissen.
Er zuckte die Schultern. „Ganz okay. Die Klasse ist nett, freundlich. Die Lehrer sind eigentlich auch okay. Was soll schon sein?“
Irgendwas an seinem Ton hatte sie misstrauisch gemacht. Besorgt hob seine Mutter wieder den Blick und runzelte die Stirn. „Ethan, ist sonst alles in Ordnung? Du hast auch keine Probleme gehabt? Denn falls was ist weißt du ja, dass du dich immer an mich wenden kannst. Du …“
„Es ist nichts“, versicherte er ihr. Dann erinnerte er sich an seine schmerzende Schulter und fügte hinzu: „Bin vorhin nur im Treppenhaus gestürzt. War nichts Brutales, schmerzt nur ein wenig.“
„Süßer, ich hab dir doch gesagt, dass du aufpassen sollst“, seufzte sie und vertiefte sich dann wieder in ihrer Zeitung. „Falls es spät noch weh tut gehen wir zum Arzt. Nimm dir jetzt aber erstmal etwas zu essen und geh vielleicht noch schnell duschen, Jenny kommt schon bald.“
„Klar“, meinte er und nahm sich einen Teller.
Vielleicht war sie nicht immer da, wenn er sie brauchte und arbeitete oder amüsierte sich stattdessen. Vielleicht hatte sie ihn mit siebzehn zur Welt gebracht, war dann von ihrem Freund verlassen worden und hatte ihn alleine erziehen und für ihn sorgen müssen.
Und trotzdem dachte Ethan selbst nach all der Zeit, dass sie eine gute Mutter war und es auch immer sein würde.
Ethan lag gerade zusammengerollt auf seinem Bett und schaute Fern, als seine Mutter die Tür öffnete und ihren Kopf in sein Zimmer steckte. „Jenny hat gerade an der Tür geklingelt, sie ist da. Ist bei dir alles klar, hast du deine Hausaufgaben gemacht?“
Auf den Straßen war es schon dunkel geworden und der Abend war hereingebrochen. Natürlich hatte er seine Hausaufgaben schon gemacht, dazu hatte er ja genug Zeit gehabt, was seiner Mutter jedoch bei ihrem ständigen Stress gar nicht aufgefallen war.
Zumindest hatte sie sich ihre Haare mittlerweile geföhnt und war auch geschminkt. Statt ihrem Bademantel trug sie ein schwarzes T-Shirt und eine helle Jeans.
„Ja, ja, alles erledigt“, lallte Ethan verschlafen. Er hatte eine Weile hier rumgelegen und war zwischendurch bei der Werbung eingedöst, weswegen es ihm nun schwer fiel, augenblicklich wach zu werden. Verstohlen rieb er sich die Augen. „Bin nur müde.“
„Na los, komm, du sollst ja auch nicht die ganze Zeit über mit uns im Wohnzimmer sitzen, sondern bloß kurz Hallo sagen“, beteuerte seine Mutter und verdrehte die Augen, als würde sie mit einem trotzigen Kind sprechen.
„Ich komm ja gleich“, murrte Ethan, während er nach der Fernbedienung griff und die alte Kiste auf stumm stellte. Dann stemmte er sich aus dem Bett und schlenderte zur Tür.
„Was ist denn mit deinen Haaren los?“, fragte seine Mutter und strich ihm mit eiligen Bewegungen über den Kopf.
„Hör auf“, sagte Ethan und versuchte, ihre Hand beiseite zu schieben.
„Ethan, du siehst aus wie ein Igel!“
„Mein Gott, interessiert doch keinen“, seufzte er und schob sich schnell an ihr vorbei, bevor sie noch etwas anstellen konnte. Mütter blieben eben Mütter, egal mit wie vielen Jahren sie ihre Kinder zur Welt brachten.
Ethan ließ sich auf dem schwarzen Sofa im Wohnzimmer nieder und lehnte sich entspannt zurück. Dann stemmte er die Knie gegen den Glastisch vor sich und machte es sich bequem.
„Versuch, halbwegs menschlich zu wirken“, flüsterte ihm seine Mutter zu, als sie an ihm vorbeilief, um die Tür zu öffnen.
„Klar“, murmelte er sarkastisch und sah ihr hinterher.
Von hier aus konnte er die Haustür nicht sehen und hörte nur die Schritte, als Jenny die Wohnung betrat. Er hörte, wie die beiden sich fröhlich begrüßten und wie seine Mutter sie nach ihrem Weg hierher ausfragte.
„Wir haben dieses Haus fast gar nicht gefunden“, erzählte eine weibliche Stimme, die Jenny gehören musste. „Sind vorhin sogar daran vorbei gelaufen.“
Ethan hörte genauer hin. Wir?
Sie war also in Begleitung von ihrem Mann. Nichts Ungewöhnliches. Jetzt, wo er darüber nachdachte, fiel Ethan auf, dass er vorhin Schritte gehört hatte, die für eine Frau viel zu schwer gewesen waren.
„Und das ist also dein Sohn, ja?“, hörte er plötzlich seine Mutter sagen. „Freut mich dich kennen zu lernen. Warte, deine Schuhe kannst du hier abstellen …“
Während seine Mutter dem Jungen im Flur noch den Schrank für die Schuhe zeigte, betrat Jenny, die ihre Ballerinas und ihre Jacke längst abgelegt hatte, das Wohnzimmer und nickte ihm zur Begrüßung zu. „Hallo. Du musst Ethan sein“, sagte sie und lächelte. Sie wirkte nett, aber irgendwas an ihr störte Ethan. Sie erinnerte ihn an irgendwen.
„Hallo“, murmelte er, während er sie sich genauer ansah. Da war eindeutig etwas an ihr, was ihm ein mulmiges Gefühl gab. Schwarze glatte Haare, schmales Gesicht. Braune Haut und graue Augen, die an Eissplitter erinnerten. Nein. Oh nein …
„Ethan, das ist Jennys Sohn“, sagte seine Mutter, als sie das Wohnzimmer betrat und einen Jungen hinter sich herzog, der Ethan nur allzu bekannt vorkam. Einen Jungen, dessen Gesicht er noch lange nicht vergessen würde.
„Hey, Ethan“, sagte dieser, ohne auch nur jegliche Emotion zu zeigen. In derselben Mütze und demselben Pulli, die er auch heute Morgen trug, als er ihn verprügelt hatte. Dieses mal aber ohne die viel zu große Sonnenbrille und den Baseballschläger.
Ethans Mundwinkel zuckte. „Hi, Ryan.“
Ethans Hände zitterten so stark, dass er, als er den Tee zubereiten wollte, beinahe den ganzen Zucker verschüttete, weil er in seiner Panik den Löffel kaum richtig halten konnte. Fluchend legte er ihn beiseite und knackte mit den Fingern, um sich einigermaßen unter Kontrolle zu bringen.
Während dieser ganzen Zeit kreiste nur ein einziger Gedanke in seinem Kopf: Ryan war hier und das war nicht einmal alles. Er war nicht nur hier, sondern auch der Begleiter von Jenny; Der Kollegin seiner Mutter, mit der sie sich gerade offenbar anzufreunden versuchte.
Seine Mutter, Jenny und Ryan saßen gerade im Wohnzimmer und unterhielten sich, während Ethan mit der Ausrede in die Küche geflohen war, er würde den beiden gerne ein Getränk anbieten. In Wirklichkeit hatte er einfach keinen anderen Ausweg gewusst. Am liebsten würde er sich für den Rest des Abends verkriechen und erst wieder hervorkommen, wenn Jenny und Ryan verschwunden waren.
Da seine Mutter das aber niemals zulassen und ihr sein verdächtig langer Aufenthalt in der Küche bald auffallen würde, musste er allmählich wieder ins Wohnzimmer.
Ethan riss sich zusammen und nahm die beiden Tassen Tee in die Hand. Der heiße Dampf stieg zu ihm herauf und beruhigte ihn. Ein wenig.
„Du hast aber lange gebraucht“, sagte seine Mutter, als er wieder ins Wohnzimmer kam. Währenddessen zog sie skeptisch eine Augenbraue hoch und strich sich dabei eine braune Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie saß auf einem Hocker neben dem Glastisch, Ryan und Jenny hatten es sich auf dem Sofa bequem gemacht.
„Ich hatte ein kleines Problem mit dem Zucker“, murmelte Ethan leise und stellte die Tassen auf dem Tisch ab. Dabei sah er Ryan kein einziges Mal an. Dieser saß schweigend neben seiner Mutter.
„Danke für den Tee“, sagte diese und lächelte Ethan an. Jenny war hübsch, auch wenn ein paar Jahre älter als seine Mutter. Und sie wirkte nett. Nicht wie jemand, der einen brutalen Schläger als Sohn hatte. Ethan fragte sich, ob Jenny überhaupt von Ryans ganzen Schlägereien wusste (er war sich nämlich sicher, dass er nicht der Einzige gewesen war, der zu dessen Opfern zählte …)
„Kein Ding“, murmelte Ethan und blickte sich unauffällig um. Zu seinem Pech hatte sich seine Mutter schon auf den Hocker gesetzt. Der einzige freie Platz war also auf der Couch. Neben Ryan.
Wo sonst?
Ethan sprang über seinen Schatten und setzte sich zögerlich neben ihn. Zu seinem Erstaunen tat Ryan, als wäre das nichts Besonderes und rückte sogar ein bisschen zur Seite, um ihm Platz zu machen. Ansonsten schien er Ethan zu ignorieren.
Allmählich dämmerte diesem auch, was hier abging. Jenny hatte also gar keine Ahnung, was Ryan außerhalb der Familie so trieb. Sollte sie davon erfahren, würde er wahrscheinlich eine Menge Ärger kriegen. Vielleicht hätte Ethan das in einer anderen Situation ausgenutzt, doch dieses Mal wäre es auch für ihn von Vorteil, wenn die Sache mit der Schlägerei geheim bleiben würde.
Wenn auch nur seiner Mutter zuliebe.
Jenny nippte vorsichtig an ihrer Tasse. „Eigentlich wollten wir ja heute bei euch zum Abendessen bleiben“, begann sie, als sie einen Schluck genommen hatte. „Aber ich glaube, das schaffen wir heute nicht mehr. Ich habe noch eine Menge zu erledigen, wenn ich nach Hause komme. Ich habe dir doch erzählt, dass bald die Cousine meines Mannes zu uns zu Besuch ist, oder?“ Sie zuckte entschuldigend die Achseln.
Ethans Mutter nickte verständnisvoll. „Ja, ja, daran erinnere ich mich. Ist aber auch nicht so schlimm, dann treffen wir uns vielleicht ein anderes Mal. Woher kommt seine Cousine noch mal?“
So ging es weiter. Das Gespräch nahm im Laufe der Zeit ein Thema nach dem anderen durch, aber Ethan hörte kaum zu und sagte auch nichts. Stur starrte er auf einen Punkt auf dem Boden und lauschte seinem ungleichmäßigen Herzschlag. Dabei beobachtete er Ryan aus dem Augenwinkel und konnte erkennen, dass dieser genauso angespannt war wie er.
Er hat Schiss, schoss es Ethan durch den Kopf. Jetzt konnte er zumindest sagen, dass Jenny auf jeden Fall nichts von Ryans Schlägereien wusste.
Für einen Moment fragte sich Ethan, wie alles wohl gelaufen wäre, wenn Ryan erst morgen beschlossen hätte ihn zu verprügeln – also nachdem er erfahren hätte, dass Ethan der Sohn einer Kollegin seiner Mutter war. Hätte er ihn dann immer noch verprügelt oder ihn in Ruhe gelassen? Würde er ihn nach dem heutigen Tag weiterhin verfolgen und Seth helfen oder Ethan stattdessen aus dem Weg gehen?
Alles Fragen, die er gern gestellt, auf die er aber keine Antwort erhalten hätte.
Ethan war so sehr in seine Gedanken vertieft, dass er erst reagierte, als seine Mutter zum wiederholten Mal seinen Namen sagte. Verwirrt sah er sie an. „Hmm?“
„Ich habe dich gefragt, ob du gehört hast, was Jenny sagte.“
„Äh, nein, tut mir leid, ich war grad … weg.“
Seine Mutter verdrehte kurz die Augen, seufzte dann und wiederholte: „Jenny sagte, Ryan würde auch Basketball spielen, genau wie du.“
„Ja? Äh … cool.“
„Cool? Mehr hast du dazu nicht zu sagen? Normalerweise rastest du immer direkt aus, wenn du auf jemanden triffst, mit dem du dich über solche Sachen unterhalten kannst. Was ist heute eigentlich mit dir los?“ Seine Mutter runzelte die Stirn.
Ethan schüttelte abweisend den Kopf und spürte zum ersten Mal Ryans stechenden Blick an seiner Schläfe. Dieser schien ihn mit den Augen durchbohren zu wollen. „Es ist nichts. Mir geht es nur nicht so gut.“
„Ist es wegen deiner Schulter?“, wollte seine Mutter wissen und klang mit einem mal besorgt. „Hat der Schmerz zugenommen?“
„Nein, ich …“
„Wieso? Was ist denn mit seiner Schulter?“, fragte Jenny neugierig.
Ethan spürte förmlich wie Ryan versuchte, ihn mit seinen Gedanken zu erwürgen. Dabei sah er gar nicht danach aus. Ryan saß ganz gelassen da und wirkte entspannt. Nur seine Augen und die winzigen Schweißperlen an seiner Stirn verrieten, wie sehr er sich in diesem Augenblick fürchtete.
„Ethan ist heute auf der Treppe hingefallen, hat er erzählt“, erklärte seine Mutter. „Eigentlich wollten wir damit zuerst zum Arzt gehen, haben es uns aber anders überlegt.“
Jenny nickte. Ryan stieß hörbar die Luft aus.
Und dann sagte Ethans Mutter etwas, was er ihr vermutlich noch lange nicht vergessen würde: „Du solltest dich lieber in deinem Zimmer hinlegen, wenn es dir nicht gut geht. Ryan könnte ja solange bei dir bleiben und dir Gesellschaft leisten - ich glaube ohnehin, dass es euch beiden hier mit uns zu langweilig ist. Allein könnt ihr euch zumindest normal unterhalten.“
Ethan erstarrte. Er glotzte sie an und versuchte ihr irgendwie mitzuteilen, dass er es nicht wollte. Er musste ihr irgendwie klar machen, dass sie das einfach nicht zulassen durfte. „Mom, das …“
„Gar keine schlechte Idee“, sagte plötzlich Ryan, der bisher kaum etwas von sich gegeben hatte und unterbrach ihn. Seine Stimme klang rau, schwer. Als könnte er nicht atmen.
Noch bevor Ethan verstehen konnte, was hier eigentlich abging, stand Ryan auf und drehte sich zu ihm um. Jetzt, wo er erneut auf ihn herabblickte, wirkte er genauso bedrohlich wie heute Morgen. „Kommst du?“
Ethan starrte ihn fassungslos an. Es verging eine Sekunde. Dann noch eine. Es schienen viele Sekunden zu vergehen, in der die beiden sich einfach nur ansahen und nichts geschah - bis Ryan nach Ethans Arm griff, ihn etwas zu grob auf die Beine zerrte und mit sich zog. Dieser wehrte sich nicht. Er befand sich in einer Art Schockstarre oder so ähnlich.
„Wo ist dein Zimmer?“, fragte Ryan bedrohlich ruhig und ohne ihn anzusehen, als die beiden das Wohnzimmer verlassen und den Flur betreten hatten.
„D-d-da“, stotterte Ethan atemlos und wies auf seine Tür.
Ryan öffnete sie so selbstverständlich, als wäre es seine eigene, stieß Ethan in den Raum und kam dann als nächstes selbst hinterher. Er schloss die Tür wieder und verharrte einen kurzen Moment mit der Hand an der Klinke, als müsste er erst einmal erleichtert ausatmen.
Wie ein Schlafwandler drehte sich Ethan um und sah sich mit leerem Blick in seinem Zimmer um. Die Fenster waren hinter schwarzen Vorhängen versteckt, der Fernseher immer noch auf stumm geschaltet. Keine weitere Tür und kein Fluchtweg.
Er verzog das Gesicht, als Ryan ihn am Kragen packte und mit ganzer Kraft gegen die Wand warf. Dabei drückte er ihn mit der anderen Hand an seiner schmerzenden Schulter fest, als wolle er ihn an die Schläge des heutigen morgens erinnern.
„Ich hoffe für dich, dass du niemandem was erzählt hast“, fauchte Ryan und beugte sich zu ihm herunter. Die grauen Augen waren zusammengekniffen und er knirschte mit den Zähnen. Ethan spürte seinen unruhigen Atem auf den Wangen. Minzig und scharf, als hätte er die letzten Tage ununterbrochen Kaugummi gekaut. „Sonst könnte das für uns beide böse enden.“
„Meine Mutter weiß nichts“, erwiderte Ethan und versuchte, Ryan wegzudrücken. Keine Chance. Ethan war kein Schwächling, aber gegen Ryan kam er nicht an.
„Besser für dich“, zischte dieser und ließ ihn endlich los. Er trat einen Schritt zurück und beobachtete Ethan so eingehend, als würde er in seinen Kopf sehen wollen. „Denn sollte ich erfahren, dass du dein Maul doch nicht halten konntest, werde ich dich mit mehr als bloß einer schmerzenden Schulter davonkommen lassen.“
„Ich werde schon nichts sagen“, versicherte Ethan und erlaubte es sich, sich gegen die Wand zu lehnen, um den Schock zu verarbeiten, den das alles in ihm ausgelöst hatte.
„Und deine kleine Freundin?“, wollte Ryan wissen.
„Wen meinst du?“
„Ich meine das blonde Ding, das dir heute Morgen den Arsch gerettet hat. An deiner Stelle würde ich dafür sorgen, dass sie ebenfalls alles für sich behält, denn für ihr Wohlergehen kann ich nichts garantieren.“ Langsam schüttelte er den Kopf, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen.
Brooke.
Ethans Kehle wurde trocken. „Sie wird auch nichts sagen. Weder etwas über dich, noch über Seth, noch über deine Freunde. Ich werde sie schon dazu bringen, leise zu sein.“ Hoffentlich wirkte er dabei nicht allzu erschrocken. Vielleicht war Brooke ein wenig zu aufdringlich und zu laut, aber das war immer noch kein Grund zuzulassen, dass sie von einer Schlägerbande verprügelt wurde.
Vor allem, wenn das wegen ihm geschah.
Leider verstand Ryan seine Worte falsch. In seinem Gesicht regte sich kurz etwas, was Ethan nicht ganz deuten konnte. „Sie ist also deine Freundin.“
„Nein, sie …“
„Perfekt. Da ich das jetzt weiß, hast du einen Grund mehr, die Klappe zu halten“, unterbrach Ryan ihn und grinste. Er strich sich die schwarzen Haare aus dem Gesicht und rückte die dunkelrote Mütze zurecht.
Ethan antwortete nicht. Er hatte sich entschieden, dass es wohl besser wäre, ab jetzt nichts mehr zu sagen.
Plötzlich ertönte ein Klingeln. Eine schnelle Melodie, die stark an den Remix irgendeines Liedes erinnerte. Ryan griff in seine Tasche und holte ein Handy hervor. Nachdem er auf die eingehende Nummer geblickt hatte, fluchte er leise und ging ran.
„Brandy? Alter, das passt jetzt überhaupt nicht. Ich hab keine Zeit dafür … Wir sind bei einer Kollegin meiner Mutter … nein … egal … Ich erzählt dir, wie es gelaufen ist, sobald ich wieder zu Hause bin … ja … du nervst … ist mir doch gleichgültig … nein … ich leg jetzt auf. Bye.“
„Einer deiner Gefolgsleute?“, fragte Ethan spitz und wusste selbst nicht ganz, woher er den Mut dazu genommen hatte.
Zu seinem Glück lachte Ryan sogar darüber und warf sein Handy achtlos beiseite. Es landete auf Ethans Bett und blieb dort liegen. „Gefolgsleute? Von mir aus kannst du es nennen, wie du willst. Das Wichtigste ist nur, dass dir bewusst ist, wie viele dieser ‚Gefolgsleute’ dazu bereit wären, dir den Kopf abzureisen, sollte ich es ihnen sagen“, erklärte er und wartete dabei gespannt Ethans Reaktion ab.
Anstatt erschrocken dreinzublicken, runzelte dieser die Stirn. „Ich versteh das nicht. Wenn du ach so mächtig bist, warum hilfst du dann Seth? Ausgerechnet diesem Idioten? Für mich sah es nicht einmal danach aus, als würdest du ihn besonders mögen. Warum der ganze Mist also?“
„Ganz einfach, du Genie“, sagte Ryan und kam wieder einen Schritt näher, bevor er Ethan den Finger vor die Brust stieß, „weil ich über Rea Bescheid weiß und ganz und gar nicht lustig finde, was du ihr angetan hast.“ Dabei wirkte er so ernst, dass man meinen könnte, sie wäre seine Schwester.
Darauf war Ethan nicht vorbeireitet. Er wusste nicht, was er sagen sollte und starrte Ryan einfach mit offenem Mund an. Ein erneutes Mal stiegen die Schuldgefühle in ihm hoch, die er so lange verdrängt und weggeschoben hatte. Es tat ihm leid, tat es wirklich.
Aber man konnte solche Dinge nun einmal nicht ungeschehen machen.
Beschämt senkte er den Blick. „Du weißt auch davon?“, fragte er kleinlaut.
„Natürlich weiß ich davon.“
„Dann solltest du auch wissen, dass es mir leid tut. Glaub es, oder nicht, aber wenn ich es ungeschehen machen könnte, würde ich alles dafür tun. Und das sage ich nicht nur so, sondern meine es völlig ernst.“ Ethan atmete schwer ein und hob den Blick, um Ryan in die Augen sehen zu können, damit dieser sah, wie ehrlich er es meinte. „Ich schwöre es.“
Und zum ersten Mal schien Ryan verunsichert zu sein. Unentschlossen leckte er sich über die Lippen und musterte Ethan interessiert. Er schien nachzudenken. Dann stieß er aber bloß ein verächtliches Schnauben aus und wandte sich ab. „Ob es dir leid tut oder nicht, spielt keine Rolle mehr. Ihr Ruf ist zerstört und daran wirst du nichts mehr ändern können. Außerdem glaube ich nicht, dass Seth sich darum schert, ob du es bereust oder nicht. Du weißt, dass er dich in den Selbstmord treiben will?“
Ethan nickte. „Das wollte er schon damals. Hat mit Steinen vor meinem Haus gewartet und sie dann in mein Fenster geworfen, wenn er mich gesehen hat. Er wurde zwar nicht erwischt, ich weiß aber, dass er es war. Wir konnten es nur nicht beweisen.“
Ryan wollte gerade etwas sagen, als es an der Tür klopfte. Die beiden Jungen fuhren zusammen und wechselten verstohlene Blicke. „Ja?“, fragte Ethan dann.
Die Tür ging auf und Jenny trat halb herein. Verlegen lächelte sie. „Ryan, dein Vater hat gerade angerufen. Ich glaube, wir sollten langsam nach Hause gehen. Es ist schon spät und du hast morgen Schule. Außerdem glaube ich, dass wir Ethan die Chance geben sollten, sich anständig zu erholen.“
Normalerweise hätte Ethan aus Höflichkeit widersprochen, gesagt, ihm ginge es gut. Jetzt wollte er Ryan aber so schnell wie möglich los werden und zuckte deshalb stumm die Achseln.
„In Ordnung“, sagte Ryan und sah Ethan an. Und dann, mit einem winzigen Grinsen auf den Lippen, klopfte er ihm freundschaftlich auf den Rücken, was die Schmerzen in Ethans Schulter wieder hochfahren ließ. „Dann, bis zum nächsten mal.“
„Ich freue mich schon“, brach Ethan hervor und folgte Ryan widerwillig, als dieser mit seiner Mutter das Zimmer verließ und zur Wohnungstür ging.
Ryan und Jenny zogen sich an, wurden von Ethans Mutter freundlich verabschiedet und gingen schließlich, ohne jede Spur hinterlassen zu haben. Als wären sie nie da gewesen.
„Und?“, wollte seine Mutter mit funkelnden Augen wissen, als sie wieder alleine waren. „Wie gefällt sie dir?“
Ethan rang sich ein müdes Lächeln ab. „Sie ist toll.“
Seine Mutter schrie erfreut auf und umarmte ihn – eine ihrer vielen übertriebenen Gästen, die sie ausführte, wenn sie entweder sehr froh oder betrunken war. „Das ist super“, sagte sie, als sie ihn endlich losließ. „Das ist wirklich super. Das heißt, wir werden uns in Zukunft öfter sehen können. Ich freue mich schon darauf.“
„Ich auch“, murmelte Ethan mit einem düsteren Unterton in der Stimme und taumelte in sein Zimmer zurück. Ihm war nach Heulen zu Mute. Eigentlich hätte er am liebsten geflennt, aber es kamen keine Tränen. Sie waren weg.
Erschöpft warf er sich aufs Bett und vergrub das Gesicht in den Händen, bevor er den kalten Gegenstand spürte, der sich in seinen Rücken bohrte. Verwirrt drehte er sich auf die Seite und nahm ihn in die Hand. Das, was er sah, gefiel ihm ganz und gar nicht.
Denn er hielt Ryans vergessenes Handy in der Hand.
„Und du hast wirklich nicht vor, Seths Verhalten bei seiner Schule zu melden?“, fragte Justin erstaunt und hob die Augenbrauen. Er hatte heute Morgen verschlafen, weswegen ihm seine blonden Haare wirre vom Kopf abstanden und er so aussah, als wäre er gerade erst aufgestanden. Unter seine Augen hatten sich dunkle Ringe gelegt und die Klamotten passten überhaupt nicht zusammen. Er schien sie heute in größter Eile irgendwie zusammengewürfelt zu haben.
Brooke schüttelte den Kopf. „Nein. Das wird ohnehin nichts bringen. Am Ende sorge ich nur dafür, dass er seine Wut umso öfter an Schülern unserer Schule auslässt und das will ich nicht.“
„Ich finde trotzdem, dass er damit nicht durchkommen sollte“, meinte Justin und rümpfte die Nase.
Die beiden standen am Haupteingang zum Schulgebäude und warteten auf Ethan, der jeden Moment kommen sollte. Brooke sah rüber zu der Straße außerhalb des Schulgeländes – genau dahin, wo Ethan gestern noch von dieser Schlägerbande verprügelt worden war.
Bei der Erinnerung an diesen Anblick begann ihr Blut vor Zorn zu kochen. Seth hatte schon einige schlimme Dinge durchgezogen, aber nicht sowas. Er hatte noch nie seine Freunde mitgebracht, um jemanden zu verprügeln. Der Gedanke, das könnte nicht das letzte Mal sein, machte ihr Angst.
Dieses Mal hatte sie sie zwar vertreiben können, aber ob ihr das später mal erneut gelingen würde, wusste sie nicht. Sedred war nie eine harmlose Stadt gewesen, doch seit vor einem Jahr Seth hier aufgetaucht war, war es deutlich schlimmer geworden. Sie hatte ihn zum ersten Mal gesehen, als er sich an einem ihrer Klassenkameraden vergriffen hatte.
Seitdem befanden sie sich in einer Art ewigem Konflikt.
„Weißt du aber, was ich gerne wüsste?“, dachte Brooke laut nach, ohne die Augen von der Stelle zu wenden, an der das ganze geschehen war. „Ich wüsste gern, warum Seth Ethan überhaupt verprügelt hat. Immerhin war das gerade Mal sein zweiter Schultag gewesen.“
„Er hat mir aber erzählt, dass er bereits seit Beginn der Ferien hier lebt“, erwiderte Justin und rieb sich müde die Augen. „Das bedeutet, er ist schon seit mehr als zwei Wochen in Sedred. Genug Zeit, um sich Feinde zu machen.“
„Als ich ihn darauf angesprochen habe, sagte er, es sei eine lange Geschichte. Ich habe das Gefühl, er kennt Seth von früher. Auch wenn ich mir nicht erklären kann, woher.“ Brooke runzelte die Stirn.
„Hast du vor, ihn auszufragen?“, wollte Justin wissen.
„Klar.“
„Das wird nicht so leicht, wie du es dir vielleicht vorstellst. Er ist ziemlich verschlossen und redet nicht besonders gerne. Die meiste Zeit über bin eigentlich nur ich am Sprechen.“
Brooke sah Justin an und lächelte verschwörerisch. „Glaub mir, ich bring ihn schon noch dazu, mit mir zu reden.“
Normalerweise machte sich Brooke nicht solche Mühe bei neuen Schülern. Sie begleitete sie die ersten Tage, wartete, bis sie Freunde gefunden hatten und hing dann wieder mit Justin herum.
Ethan war eine Ausnahme. Nicht nur, weil es schien, als würden er und Justin sich gut verstehen, sondern weil Brooke ihn ebenfalls mochte. Er war süß. Und gutaussehend. Möglicherweise wäre es übertrieben gewesen, zu sagen, sie hätte sich auf den ersten Blick ihn in verliebt – an so einen Kitsch glaubte Brooke nicht – aber sie konnte nicht leugnen, dass er ihr Interesse geweckt hatte.
Und sie hätte gern erfahren, wie es weitergehen könnte.
Wie aufs Stichwort sah sie, wie Ethan den Schulhof betrat und die beiden bemerkte. Halbherzig winkte er ihnen zu und schlenderte in ihre Richtung. Er sah gar nicht gut aus. Nicht so wie Justin, als hätte er verschlafen – eher so, als hätte er die letzte Nacht überhaupt nicht geschlafen.
„Alles okay?“, fragte Brooke zögerlich und kam ihm ein wenig entgegen. „Du wirkst blass.“
„Mir geht’s gut“, versicherte er und verdrehte die Augen. Dabei wirkte er so, als würde er jeden Moment umkippen, auch wenn er glücklicherweise nicht mehr humpelte. „Ich habe nur …“
„Wieso hast du mir nicht erzählt, dass du von Seth und seinen Freunden vermöbelt wurdest?“, fragte Justin aufgebracht und war schon bei ihm, bevor Brooke ihn aufhalten konnte.
Ethan sah zuerst ihn und dann sie an. „Du hast es ihm also erzählt.“
„Natürlich habe ich es ihm erzählt!“, sagte sie. „Er hat mich später nach der Schule angerufen und gefragt, was gestern passiert ist – also warum du so lange im Sekretariat gebraucht hast. Hätte ich lügen sollen?“ Sie hob abwehrend die Hände, als müsste sie sich schützen.
Ethan antwortete mit einem tiefen Seufzen.
„Ich glaub echt nicht, dass du niemandem was gesagt hast“, tobte Justin und schüttelte bei jedem Wort verständnislos den Kopf. „Wie kann man eigentlich so behindert sein? Du hättest es irgendeinem Lehrer sagen müssen, dem Rektor, dem Sekretär zumindest …“
„Das ist nicht nötig“, widersprach Ethan und spannte sich dabei sichtlich an. Brooke betrachtete ihn nun genauer. „Ich würde es bevorzugen, wenn niemand etwas von dieser Sache erfährt. Niemand, okay? Das muss auf jeden Fall unter uns bleiben.“ Er wirkte sehr ernst, aber Brooke entging nicht der flehende Unterton in seiner Stimme.
Justin schien widersprechen zu wollen, doch ein einziger Blick von ihr genügte, um ihn verstummen zu lassen.
„Schon gut. Das bleibt geheim“, sagte sie und machte eine Handgeste, mit der sie zeigen wollte, dass das Thema nun abgeschlossen war. „Aber jetzt mal zu etwas, worüber du dich freuen kannst. Weißt du jetzt eigentlich, ob du in die Sportmannschaft willst?“
Ethan zuckte die Schultern. „Ich weiß nicht. Ich werde noch darüber nachdenken, bis Freitag hab ich ja noch Zeit. Sollten wir nicht langsam reingehen? Es ist Schweine kalt und es schält sowieso gleich.“
„Endlich“, murmelte Justin, als sie sich in Bewegung setzten und das Schulgebäude betraten. „Ich dachte schon, wir würden für immer in der Kälte rumstehen müssen.“
„Zumindest hat es aufgehört zu regnen“, meinte Ethan bloß, als sie die Treppe heraufstiegen.
Brooke lief hinter den beiden Jungs her und beobachtete Ethan aufmerksam. Sie hatte immer noch das Gefühl, dass irgendwas nicht stimmte. Sie konnte die Sorgen, die ihn gepackt hatten, förmlich spüren.
Mitten auf der Treppe blieb sie stehen. „Ethan?“, sagte sie kleinlaut.
„Hmm? Was ist?“, wollte er wissen und drehte sich zu ihr um. Er stand ein paar Stufen über ihr und sah zu ihr herab. Justin war währenddessen einfach weitergelaufen.
Brooke bewies ein weiteres Mal, dass Dinge wie Zurückhaltung für sie völlig fremd waren. „Kann es sein, dass du über irgendwas sprechen willst? Ist was passiert?“
Er blinzelte. Einmal, zweimal. Dann schluckte er und drehte sich wieder langsam um. Obwohl sie sein Gesicht nicht länger sehen konnte, hörte sie seinem Ton an, dass er log, als er sagte: „Nicht dass ich wüsste.“
Noch im selben Moment saß Ryan an seinem Platz im dreckigen Klassenraum seiner Schule und kaute nervös auf seinem Stift herum. Er konnte kaum still halten und fuhr sich andauernd durch die schwarzen Haare, da ihm keine sonstige Beschäftigung für seine Hände einfiel.
So erging es ihm schon die ganze Zeit, seit er bei Ethan zu Hause gewesen war.
Dieses Mal war er nur knapp entwischt. Fast hätte seine Mutter herausgefunden, was er mit Brandy, Austin und den anderen so außerhalb von Zuhause trieb. Das wäre schlecht. Denn wenn sie dahinter kam, dass er andere verprügelte, würde sie auch irgendwann herausfinden, was er im Laufe der letzten Jahre so alles getrunken und genommen hatte.
Alkohol trank Ryan nur noch selten. Früher hatte er es hin und wieder gemacht, aber nur, wenn er mit Brandy unterwegs gewesen war. Auch hatte er ein paar Mal eine Zigarette geraucht, ohne zum Kettenraucher zu werden. Trotzdem hatte er noch heute manchmal das Verlangen, an einem guten Stück zu ziehen.
So wie jetzt zum Beispiel.
Ja, eine einzige Zigarette hätte ihn beruhigt, ihm ein wenig Stress abgenommen – aber daran durfte er nicht denken. Ryan hatte sich nach seinem ersten und letzten Kater vorgenommen, es ruhiger mit dem Alkohol und den Drogen anzugehen.
Doch obwohl er sich bisher an sein Vorhaben gehalten und seit mehreren Monaten weder etwas geraucht noch getrunken hatte, war ihm plötzlich, als wäre sein Kopf leer. Als wäre er betrunkener, als eh und je.
Leider kannte Ryan einen Begriff für dieses Gefühl: Angst. Er hatte Angst davor, dass man ihm auf die Schliche kommen könnte.
Außerdem hatte er gestern, als er und seine Mutter sich auf dem Rückweg von Ethan befunden hatten, sein Handy irgendwo in der Bahn vergessen. Das Handy an sich war ihm eigentlich so ziemlich egal. Er konnte es jeder Zeit ersetzen. Was ihn viel mehr besorgte, waren die darauf gespeicherten Chatverläufe. Er und Brandy hatten sich über so ziemlich jeden lustig gemacht, den sie zusammen aufgemischt hatten – und das waren nicht wenige.
Wenn jemand Falsches das Handy fand … so ein Mist …
In diesem Moment bemerkte er aus dem Augenwinkel, wie sich jemand auf den Stuhl neben ihn setzte. Ryan drehte seinen Kopf zur Seite und blinzelte Seth an. „Was ist?“
„Was ist mit Ethan?“, fragte dieser ohne groß auszuschweifen.
Super. Ein weiteres Problem.
Ryan begann, mit den Fingern auf dem Tisch zu trommeln und kaute auf seiner Unterlippe herum. „Was soll mit dem sein?“
„Wann werden wir ihn uns das nächste mal vorknöpfen?“, wollte Seth wissen und beugte sich leicht zu ihm vor, damit nicht jeder aus der Klasse sie hören konnte. Der Lehrer war noch nicht da und alle hielten sich in keinen Gruppen an verschieden Stellen des Raumes auf.
Ryan presste kurz die Lippen zusammen. „Seth, ich denke es reicht für die nächste Zeit. Er hat ohnehin Angst. Wir werden uns etwas später mit ihm beschäftigen, wenn er denk, er wäre wieder in Sicherheit.“
„Ist das dein Ernst?“, fragte Seth und hob die Augenbrauen. Ob aus Erstaunen oder Wut konnte Ryan nicht sagen. „Wir lassen ihn in Ruhe? Einfach so?“
„Nicht für immer“, versicherte Ryan. „Er soll ruhig wissen, dass wir es immer noch auf ihn abgesehen haben – aber momentan habe ich einfach zu viel um die Ohren. Ich habe gerade nicht die Nerven, mich mit diesem Typen zu beschäftigen.“
„Kann es dann nicht Brandy machen? Austin? Tyler oder Daniel? Irgendeiner aus deiner Truppe“, fragte Seth und sah schon wieder so aus, als würde er gleich ausrasten. Er litt unter extremen Wutanfällen, darüber hatten alle schon gehört. Ryan auch. Er wusste, dass er Seth besänftigen musste, bevor dieser noch begann, Tische umzuwerfen.
Ryan wollte gerade etwas sagen, als der Vertretungslehrer den Klassenraum betrat und alle sich sofort auf ihre Plätze setzten. Seth blickte mürrisch drein, stand aber auf und setzte sich auch auf seinen Stuhl in der hintersten Reihe. Ryan saß eher mittig und spürte seine Blicke im Nacken.
Er atmete gestresst aus.
Wie gut, dass er heute noch Training hatte. Er würde sich auf jeden Fall austoben müssen.
Ethan stieß die schwere Tür der Turnhalle auf und fand sich in einem schmalen, unbeleuchteten Gang wieder, der zu den Umkleideräumen führte. Er war allein, hörte aber die Stimmen und Schritte, die aus der Sporthalle kamen.
Es war Freitag, etwa zehn Minuten nach dem Beginn der siebten Stunde. Brooke hatte ihm gesagt, er würde hier den Sportlehrer finden, der die Basketballmannschaft trainierte.
Ethan wusste, dass es verboten war, mit Schuhen die Sporthalle zu betreten und hockte sich hin, um aus seinen alten Chucks schlüpfen zu können. Dabei legte er seinen Rucksack auf dem dreckigen Boden neben sich ab. Da er heute fast nur Nebenfächer gehabt hatte, hatte er nur das Nötigste dabei. Ein paar Bücher, einen Collegeblock, ein paar Stifte und Ryans Handy.
Er hatte beschlossen, dass es zu gefährlich wäre, es einfach zu Hause zu lassen. Seine Mutter könnte es finden und würde ihn am Ende noch darum bitten, es Ryan zurückzubringen. Dieser lebte nämlich gar nicht so weit weg, wie Ethan enttäuscht hatte feststellen müssen.
Zumindest schien er aber fürs Nächste in Sicherheit zu sein. Seit Ryan mit seiner Mutter bei ihm am Dienstag aufgekreuzt war, hatte Ethan weder etwas von ihm, noch von Seth gehört oder gesehen. Sie hatten wohl beschlossen, ihn die nächste Zeit in Ruhe zu lassen.
Die große Frage war nur, wie lange es noch dabei bleiben würde.
Als Ethan die Schuhe ausgezogen hatte, nahm er diese zusammen mit seinem Rucksack in die Hand und ging zum Eingang der Sporthalle. Die Chucks legte er davor ab, die Tasche behielt er bei sich.
Als er die Halle betrat, bemerkte er schnell, dass die Jungs sich gerade aufwärmten, indem sie jeweils eine Runde liefen, am Ende einen Wurf machten und es dann wiederholten. Ein paar von ihnen hatte Ethan schon auf dem Schulhof gesehen, andere waren etwas älter als er und gehörten wohl zu den höheren Klassen.
Die meisten von ihnen sahen danach aus, als würden sie in diesem Sport eine Menge drauf haben. Ethan brannte jetzt schon darauf, sie in Aktion gesehen.
Als er nach rechts blickte, sah er dort einen Mann stehen, der die Jungs beobachtete und unzufrieden etwas vor sich hin murmelte, als würde er überlegen. Das musste der Sportlehrer sein. Ethan hätte gern gelacht. Zwar hatte dieser Mann weder Piercings, noch einen Tunnel am Ohr, dafür aber umso mehr Tattoos an seinem Körper, die unter dem lockeren T-Shirt nur allzu gut zu sehen waren. Er war noch relativ jung, mit braunen Haaren und einem markanten Gesicht.
Seltsam, dass es hier so viele Angestellten mit Tattoos gab. Offenbar wollte diese Schule allen auf dieser Welt verdeutlichen, dass sie nichts von Diskriminierung hielt. Wie armselig.
Unsicher ging Ethan auf den Sportlehrer zu und blieb wenige Schritte von ihm entfernt stehen. Dieser war so auf seine Mannschaft konzentriert, dass er ihn gar nicht wahr nahm. Auch nachdem Ethan sich geräuschvoll räusperte, war seine ganze Aufmerksamkeit auf die Bälle fixiert, die in den Korb geworfen wurden.
„Sind Sie Coach Drand?“, fragte Ethan dann unvermittelt.
Der Mann zuckte nicht zusammen, hob aber überrascht die Augenbrauen, als er Ethans Stimme hörte und sah ihn an. „Ja, wieso?“
„Ich bin Ethan“, sagte dieser. Als der Sportlehrer ihn bloß verwirrt musterte, fügte er hinzu: „Brooke sagte mir, ich solle hierher kommen, um zu fragen, ob ich möglicherweise noch in die Mannschaft aufgenommen werden könnte.“
„Ach so, ja, du bist es“, meinte Coach Drand dann selbstvergessen und warf einem der Jungs einen flüchtigen Blick zu, als würde er ihn beim Faulenzen erwischen wollen, während er nicht hinsah. Dann guckte er wieder Ethan an und musterte diesen. „Ich hab mich dich größer vorgestellt.“
Das kränkte Ethan. Er war nicht klein, seine Größe reichte aber gerade noch für Basketball.
Trotzdem konnte er versprechen, dass das seine Spielfähigkeiten kein bisschen beeinflusste.
„Ich weiß. Aber ich kann Ihnen versichern, dass mich das beim Spielen nicht im Geringsten hindert.“
„Wenn du meinst“, murmelte der Sportlehrer und schielte wieder zu seiner Mannschaft. Ein paar der Jungs hatten das Aufwärmen unterbrochen und sahen interessiert zu Ethan herüber. „Hast du denn schon einmal gespielt?“
„An meiner alten Schule“, antwortete Ethan trocken. „In einem Verein.“
„Hast also schon ein wenig Erfahrung … nun gut. Also, Ethan, ich sag dir was: Wir warten, bis die Stunde vorbei ist. Komm zum Ende noch einmal hierher. Sei nicht sauer, aber ich muss zuerst gucken, was du so alles drauf hast – es steht schon bald ein wichtiges Spiel an und ich weiß nicht, ob du das Training bis dahin ohne genug Spielerfahrung nachholen könntest. Ich werde mir dann mal ansehen, was du so alles kannst … Ist das okay für dich?“
Innerlich seufzte Ethan. Also noch bis zum Ende der Stunde warten. Super. Trotzdem nickte er dankbar. „Klingt gut.“
„Dann sind wir uns ja einig“, sagte der Coach noch, bevor er wieder zu seiner Mannschaft sah. Und wieder schien er Ethan aus seinen Gedanken verdrängt zu haben.
Dieser verstand schnell, dass Coach Drand ihm nicht zuhören würde, bevor diese Stunde vorbei war. In dieser Zeit könnte er sich etwas zu essen holen. Oder Hausaufgaben machen, für die er später keine Zeit hätte.
Ethan drehte sich um und verließ die Sporthalle wieder. Vor dem Eingang zur Turnhalle stand Brooke an eine Wand gelehnt und schien auf ihn zu warten.
„Was machst du denn hier?“, fragte Ethan erstaunt, während er in die Hocke ging und sich wieder seine Schuhe anzog. Er wusste, dass Brooke in der Zwischenzeit längst hätte zu Hause sein müssen, sie hatten heute immerhin nur sechs Stunden gehabt.
„Ich wollte nur vorbei sehen und wissen, wie es gelaufen ist“, sagte Brooke und kam auf ihn zu. In der Hand hielt sie einen Becher von Starbucks, sie trug einen dunkelroten Pullover und eine ausgetragene Jeans. Das war aber nicht das erste, was ihm an ihr auffiel. Sie hatte sich ihre Haare geglättet. Die normalerweise wilden, unzähmbaren Locken lagen nun glatt an ihren Schultern und ihr Kopf schien auf einmal um die Hälfte kleiner geworden zu sein.
Er zuckte die Schultern. „Wie soll es schon gelaufen sein? Er will sich später ansehen, wie ich so spiele. Aber was ist denn eigentlich mit dir passiert?“
Er stand wieder auf und musterte sie genauer. Heute erschienen ihm ihre Augen noch um einiges größer, als sie es ohnehin schon waren. Die Wimpern hatte sie stark geschminkt und durchsichtigen Lipgloss aufgetragen. Das sah ausgesprochen schön aus.
Brooke spitze die Lippen und tat, als wäre sie beleidigt, was kein bisschen überzeugend rüberkam, da sie dabei leicht lächelte. „Du hast ja echt ein Talent für Komplimente. Sieht es denn nicht gut aus?“
„Doch, aber wann hast du die Zeit dazu gefunden?“
„Bin nach der Schule schnell nach Hause, hab mich umgezogen und mir die Haare geglättet. Hatte deswegen nicht einmal Zeit zu essen, hab mir was unterwegs geholt, zusammen mit einem Becher Kaffee. Willst du?“
Sie hielt ihm den Becher entgegen. Ethan schüttelte den Kopf. „Ne, danke. Aber warum hast du dich so schick gemacht? Hast du heute noch was Besonderes vor oder so?“
Brooke nahm noch einen Schluck von ihrem Kaffee und lachte dann. „Nein! Dafür gibt es keinen Anlass, ich hatte einfach Bock darauf. Gefällts dir nicht?“
„Doch, doch, sieht gut aus.“
„Ehrlich?“
„Ja“, meinte er gedehnt und grinste.
„Gut“, murmelte sie. „Wie lange werden wir warten müssen, bis du das Probespiel machen kannst?“
„Bis zum Ende der Stunde“, stöhnte Ethan und legte den Kopf in den Nacken.
Brooke schien es nicht zu stören. Sie nahm bloß einen weiteren Schluck ihres Kaffees und stieß hinterher genussvoll die Luft aus. „Dann können wir bis dahin ja ein wenig zusammen rumhängen.“ Irgendwie hatte sie dabei einen seltsamen Unterton in der Stimme, den Ethan nicht so recht einordnen konnte.
Aber er entschied sich, nicht weiter darüber nachzudenken und hob die Schultern. „Klar.“
„Super“, sagte Brooke und griff nach seinem Arm. Sie zerrte ihn hinter sich her, raus aus der Turnhalle, hinaus auf den Schulhof.
„Sei mal nicht so handgreiflich!“, meinte Ethan und stieß sie weg. Sie stieß ihn – erstaunlich stark – zurück und das Ganze entwickelte sich schnell zu einem ziemlich skrupellosen Rumgeschubse.
Ethan hatte sich lange nicht mehr so gut gefühlt, auch wenn er immer noch hin und wieder darüber nachdachte, was Brookes Styling zu bedeuten hatte. Manche Jungs hätten vielleicht angenommen, sie hätte es wegen ihnen gemacht, aber der Meinung war Ethan nicht.
Immerhin waren er und Brooke bloß Freunde.
„Komm schon Ethan, ich dachte, du wüsstest wie man spielt!“, rief Brooke, die am Rande der Sporthalle saß und ihnen von einer Bank aus zusah.
Als Antwort warf Ethan ihr bloß einen extrem genervten Blick zu und machte eine Bewegung, die stark an das Zeigen eines Mittelfingers erinnerte, hätte er nicht schon im nächsten Moment die Hand ausgestreckt, um nach dem Ball zu greifen, der von Coach Drand in unmenschlicher Geschwindigkeit hin und her gedribbelt wurde.
Ethan hatte angenommen, gegen einen der Jungs spielen zu müssen. Stattdessen trat er nun gegen den Sportlehrer an, welcher – zugegebenermaßen – besser spielte, als erwartet.
Sie spielten gerade mal seit zehn Minuten und Ethan war ganz außer Atem. Er schwitzte, ihm war heiß und er musste sich mit all seinem Können ins Zeug legen, um mit der Geschwindigkeit des Mannes vor ihm überhaupt mithalten zu können.
„Ich hoffe, ich bin nicht zu schnell für dich“, lachte Coach Drand und versuchte, an Ethan vorbeizukommen. Dieser blockierte ihn und griff ein weiteres Mal nach dem Ball. Erneut verfehlte er.
„Nein!“, keuchte Ethan. Das war eine Lüge. In Wirklichkeit war es nämlich so, dass er seit einer relativ langen Zeit nicht mehr gespielt hatte und möglicherweise ein wenig aus der Übung gekommen war. Vielleicht hätte er erst einmal ein bisschen üben müssen, bevor er hierher gekommen war.
Coach Drand machte sich nicht länger die Mühe, an ihm vorbeizukommen. Er zielte kurz, sprang, warf – und traf den Korb perfekt. Ein weiterer Punkt für ihn. So ein Mist.
„So, ich denke, das reicht“, keuchte der Sportlehrer, den das Spiel offenbar auch Energie gekostet hatte. Er ging an Ethan vorbei und hob den Ball auf, der in eine Ecke der Turnhalle gerollt war.
Außer ihm, Ethan und Brooke war niemand mehr da – die siebte Stunde war vorbei und jeder der Jungs aus der Mannschaft war längst gegangen. Ehrlich gesagt, war das Ethan sogar lieber. Es wäre ihm peinlich gewesen, wenn einer von ihnen gesehen hätte, wie er eben gespielt hatte. Er hatte sechs Körbe geworfen, der Coach sieben. So ein schlechtes Ergebnis war das zwar nicht, aber er war überzeugt davon, mehr schaffen zu können.
„Und?“, fragte Brooke, die von der Bank aufgesprungen war und zu Ethan geeilt kam. Sie hatte seine Wasserflasche aus seiner Tasche geholt und reichte sie ihm.
Dankend nahm Ethan sie entgegen und nahm einen großen Schluck davon. Es war das erste Mal seit langer Zeit, dass er bei so einem Spiel dabei gewesen war und er war durstig geworden. In ein paar Zügen leerte er die Flasche aus.
„Er ist nicht schlecht“, sagte Coach Drand, der den Ball aufgehoben hatte und wieder zu ihnen zurück kam. Dabei musterte er Ethan ganz genau, als würde er ihn erst jetzt richtig ernst nehmen. „Könnte sogar für die Mannschaft reichen.“
„Also ist er dabei?“, fragte Brooke, so aufdringlich wie sie war.
Eigentlich war es Ethan sogar ganz recht, dass sie heute mal das Reden für ihn übernahm. Er keuchte immer noch und musste erst einmal zu Atem kommen.
„Ich weiß nicht so recht.“ Der Coach überlegte kurz. „Eigentlich könnten wir ihn problemlos aufnehmen, aber du weißt doch, dass wir schon in einer Woche zu dieser Meisterschaft müssen – und er scheint nicht in bester Form zu sein. Ob er bis dahin wieder fit wird …?“
Ethan wollte gerade sagen, dass er gern auf diese Meisterschaft verzichten könnte, als Brooke sich wieder einmischte. „Dann trainiere ich ihn eben“, sagte sie und ignorierte seinen erstaunten Blick. „Wir werden uns ab jetzt eben jeden Tag treffen und ihn auf diese Meisterschaft vorbereiten. Falls er bis dahin wieder richtig spielen kann, könnten Sie ihn doch aufnehmen.“
Was? War sie eigentlich behindert?
„Warum nicht?“, fragte Coach Drand zu seiner Überraschung und zuckte die Achseln. Er schlug den Ball einmal auf den Boden, bevor er ihn Ethan zupasste. Dieser fing ihn aus Reflex sofort auf. „Dann machen wir es so. Ihr müsst mir aber versprechen, wirklich jeden Tag zu üben.“
„Versprochen!“, rief Brooke und hob die Hände.
Ethan stand nur da und sah mit offenem Mund von einem zum anderen. Das war doch nicht deren Ernst! Hatte eigentlich noch irgendjemand vor, ihn überhaupt zu fragen, ob er zu all dem Lust hatte?
„Dann wäre das ja geklärt“, sagte der Sportlehrer, bevor er sich umdrehte und auf den Geräteraum zuging. „Wir sind für heute fertig. Ich schließe noch alles ab, dann könnt ihr beiden verschwinden.“
„In Ordnung“, sagte Brooke, bevor sie Ethan ansah und ihm freudig zulächelte. „Ist das nicht geil?“
Und obwohl er gern widersprochen hätte, schluckte er seine Worte hinunter und schmunzelte bloß erschöpft. Wenn es ihr wirklich Freude bereitete, musste er es nicht kaputt machen. Er konnte ja zumindest so tun, als würde er sich freuen. „Klar.“
Brooke lag mit geschlossenen Augen auf einer Bank und hatte ihr Gesicht dem Himmel zugewendet. Die Sonne schickte warme Strahlen zu ihr hinab und wärme ihre Haut. Es war der erste, halbwegs warme Tag seit längerer Zeit und sie genoss ihn mit allen Zügen.
Leise seufzend drehte sie sich auf die Seite und öffnete ein Auge. Das, was sie sah, war ein schlecht gelaunter Ethan in Sportklamotten, der vor einem Basketballkorb stand und nichts weiter tat, als immer wieder zu versuchen, diesen mit seinem Ball zu treffen. Er genoss das alles hier nicht ganz so sehr wie sie.
Das amüsierte und enttäuschte sie gleichermaßen.
„Wie lange sollen wir das eigentlich noch machen?“, wollte Ethan wissen, bevor er zu ihr geschlendert kam und sich neben sie auf die Bank setzte. Er schwitzte nicht und schien nicht müde oder erschöpft zu sein, nur gelangweilt. Natürlich. Er konnte nicht einfach nur Körbe werfen. Er musste gegen jemanden spielen, um wieder fit zu werden.
„Wir haben dem Coach versprochen, das jeden Tag zu machen. Allerdings werden wir uns jemanden besorgen müssen, der gegen dich spielt, sonst wird wohl nichts daraus“, meinte Brooke und streckte sich.
Es war Samstag und die beiden hatten sich auf einem Sportplatz in der Nähe der Schule getroffen. Etwas weiter weg spielten kleinere Kinder Fußball und nutzten die heutige Wärme. Alles in Allem war es ein ruhiger Tag.
„Ich will nicht jeden Tag der nächsten Wochen so verbringen. Vielleicht sollte ich einfach warten, bis diese Meisterschaft vorbei ist“, seufzte Ethan und drehte den Ball in seinen Händen.
Brooke spannte sich an. „Nein, nein“, sagte sie schnell. „Davon will ich gar nichts hören. Los, geh wieder zum Korb. Ich habe gesehen, dass du des Öfteren daneben geworfen hast.“
Ethan brummte etwas zur Antwort, gehorchte aber.
Brooke wollte nicht, dass Ethan die Meisterschaft verpasste. Es war nämlich so, dass sie nicht nur Klassensprecherin ihrer Klasse war, sondern auch sonst noch relativ viel in ihrer Schule unternahm. So etwas wie eine Jahrgangs Sprecherin. Deswegen würde sie die Basketballmannschaft zu dieser Meisterschaft begleiten müssen und wenn sie ehrlich war, wäre es ihr lieber, wenn Ethan mitkäme.
Na gut. Vielleicht mochte sie ihn mehr, als sie sich selbst zu Beginn eingeredet hatte. Vielleicht war sie sogar ein wenig in ihn verknallt.
Das erinnerte sie an etwas.
„Was ist eigentlich zwischen dir und Seths Schwester abgelaufen?“, fragte sie unvermittelt und wurde blass, als ihr bewusst wurde, was sie da gerade gefragt hatte.
Ethan wollte gerade einen Wurf machen und verharrte mitten in der Bewegung. Er senkte die Hände und drehte sich mit gefährlicher Langsamkeit zu ihr um. Er sah nicht wütend aus, nur überrascht. „Du hast dich also erkundigt.“
Brooke senkte den Blick und zuckte die Schultern. „Ich habe gestern ein wenig herumgefragt. Eine Freundin hat mir erzählt, du wärst früher mit dieser Rea zusammen und hättest sie dann irgendwie gemobbt, sodass sie und Seth die Stadt wechseln mussten. Mehr weiß ich aber auch nicht.“
„Verstehe“, murmelte er. Dann, als wäre alles okay, drehte er sich wieder weg und begann, weiter Körbe zu werfen. Jedes mal, wenn der Ball sein Ziel verfehlte, prallte er ab und kehrte zu Ethan zurück.
Brooke kaute nervös auf ihrer Unterlippe herum. „Wieso hast du …“
„Sie hat mich betrogen“, sagte er, ohne sie anzusehen.
„Oh.“
Eine unheimliche Stille legte sich über den Platz und nicht einmal das Lachen der Kinder konnte sie vertreiben. Brooke schluckte. So war das also. Seths Schwester hatte Ethan betrogen, woraufhin dieser sie so fertig gemacht hatte, dass sie mit ihrer Familie die Stadt hatte verlassen müssen. Heftig.
„Warst du sehr traurig, als du erfahren hast, dass sie dich betrogen?“, fragte Brooke um die Stimmung zu lockert, bemerkte aber viel zu spät, dass sie damit genau das Gegenteil erreichte.
Sie war sehr dankbar, dass er ihr trotzdem antwortete. „Nicht wirklich. Es war nur eben schade.“
„Um die Beziehung?“
Der Ball prallte ab. Rollte zu seinen Füßen. Ethan hob ihn auf, warf ihn. Und wieder dasselbe. „Nein, nicht um die Beziehung, sondern um die Freundschaft. Weißt du, damals hat es sich echt danach angefühlt, aber inzwischen glaube ich sogar, dass ich nie etwas für sie empfunden habe.“
„Und warum warst du dann mit ihr zusammen?“
Der Ball prallte dieses Mal härter auf. Auch Ethan, der ihn kurz darauf aufhob, wirkte nicht mehr so gelassen. „Ich war damals schon fast sechzehn und hatte noch nie eine Freundin gehabt. Bis dahin war ich auch nie verliebt gewesen, weswegen ich nicht wirklich wusste, wie es sich anfühlt. Später erfuhr ich, dass Rea auf mich stand und ich mochte sie. Wir begannen eine Beziehung, weil sie mir hinterher lief und ich dachte, etwas für sie zu fühlen. Ja, und mehr war da eigentlich auch nicht. Insgeheim habe ich sie eigentlich immer nur als guten Freund betrachtet. Kein Wunder, dass sie irgendwann fremdgegangen ist.“
Er stieß hörbar die Luft aus und lockerte seine Schulter. Brooke beobachtete ihn aufmerksam. Sie hörte ihm an, wie sehr er das alles bereute und bekam Mitleid.
Gern hätte sie ihn umarmt, aber das wäre unangebracht gewesen.
„Vielleicht wollte sie dich ja eifersüchtig machen?“
„Das war ich aber nicht. Ehrlich. Ich war auch nicht enttäuscht oder so. Eigentlich hat es mir keinerlei Schmerzen zugefügt, was mich im Nachhinein am meisten an der Sache schockiert hat.“ Seine Stimme zitterte. Er hatte aufgehört, Körbe zu werfen und hielt den Ball nun mit beiden Händen fest. Brooke hatte er völlig den Rücken zugewandt.
„Aber wenn es dich nicht gestört hat, dass sie dich betrogen hat, warum hast du dann die Sache mit den Gerüchten und dem Mobbing angestiftet?“ Okay, vielleicht hatte Brooke sich etwas besser informiert, als angegeben. Sie hatte sogar einige dieser Gerüchte gehört.
Und einige waren wirklich krass gewesen.
Er zuckte die Achseln. „Ich weiß nicht. Es ist ja nicht komplett an mir vorbeigegangen. Um ehrlich zu sein war ich einfach nur sauer und habe mich gefragt, was andere in meiner Situation gemacht hätten.“
„Und da bist du auf die Idee gekommen, sie zu mobben?“
Die Frage war offenbar zu viel. Ethan wandte sich ihr zu und guckte sie mit leerem Blick an. „Nein … ja … Ich wollte natürlich nicht, dass es so weit kommt. Ich wollte bloß, dass sie eine kleine Strafe bekommt. Aber am Ende war ja doch ich selbst Schuld an allem. Habe, behindert wie ich bin, Freundschaft mit Liebe verwechselt.“ Er lachte. Freudlos.
„Hmm“, machte Brooke, die nicht wusste, was sie zu all dem sagen sollte.
„Aber weißt du was?“, fragte er dann und senkte verschwörerisch die Stimme. Mit einem Mal wirkte er todernst und wie ausgewechselt. Das machte ihr Angst. „Ich habe dazugelernt. Und heute würde ich eine Menge hergeben, um alles zu ändern. Das sage ich nicht, weil Seth jetzt hinter mir her ist, sondern weil es mir wirklich leid tut und ich es an jedem Tag aufs Neue bereue.“
„Wir alle machen Fehler, Ethan“, versicherte Brooke. „Ich zum Beispiel auch.“
Er warf ihr einen kalten Blick zu. „Bestimmt hast du aber auch niemandem das Leben dadurch ruiniert.“
„Wer weiß“, sagte Brooke ausweichend und rieb sich müde die Augen. Das hier nahm einen anderen Verlauf an, als sie es erwartet hatte.
Langsam reichte es. „Weiß du was?“, fragte sie und sah ihn an, als wäre nichts gewesen. „Ich glaube, wir können jetzt nach Hause gehen. Es wird nichts bringen, jetzt noch weiter zu üben. Außerdem glaube ich nicht, dass du noch in der Stimmung dafür bist.“
„Ja“, sagte Ethan und nickte, offenbar erleichtert darüber, das Thema wechseln zu können. „Treffen wir uns dann wieder morgen?“
Brooke schüttelte den Kopf und grinste ihn an. Sie legte die Beine übereinander und lehnte sich auf der Bank zurück. „Nein, morgen werden wir es ausnahmsweise ausfallen lassen. Ich habe eine Überraschung für dich vorbereitet.“
„Eine Überraschung?“, fragte er misstrauisch und runzelte die Stirn. Er war an sie herangetreten und schaute auf sie herab. Genau wie vor einigen Tagen, als die beiden auf der Treppe gestanden und sich unterhalten hatten.
„Ja. Kennst du meine Adresse?“
„Nein.“
„Ich schick sie dir morgen. Du kommst bei mir vorbei und dann werden wir an einen gewissen Ort gehen. Lass dich überraschen.“ Brooke machte sich nicht die Mühe ihn zu fragen, ob er etwas anderes vorhatte. Entweder er kam, oder eben nicht.
„Was hast du vor?“, fragte er immer noch argwöhnisch.
Brooke musste sich ein Lächeln verkneifen. Mit überheblichem Gesichtsausdruck winkte sie ab. „Das ist nicht von Bedeutung. Sei einfach da. Ich glaube, du wirst eine Menge Spaß haben.“
Ethan starrte ein letztes Mal auf den Zettel, auf dem er sich ihre Adresse aufgeschrieben hatte: Brooke Schadon. Swalybitstraße 38. Über ihren Nachnamen würde er noch Ewigkeiten lachen, da „Schadon“ genauso wie „Schaden“ ausgesprochen wurde. Zu geil.
Es war Sonntag, 15:34 Uhr, und er war schon etwas spät dran. Eigentlich wäre er pünktlich bei ihr angekommen, hätte er zunächst nicht seine eigene Schrift falsch gelesen und nach einer Straße gesucht, die gar nicht existierte.
Brooke hatte ihn gestern – mit der ziemlich billigen Entschuldigung „sie hätte vorher keine Zeit gehabt“ – um etwa zwei Uhr morgens angerufen, um ihm zu sagen, wo sie wohnte und wann er zu ihr kommen sollte. In seiner Müdigkeit hatte Ethan bloß ein paar schlampige Zahlen und Buchstaben auf das Blatt gekritzelt, weswegen es ihm hinterher schwergefallen war, seine eigene Schrift zu erkennen.
Er klingelte bei ihr an, während sein Atem in weißen Wölkchen vor ihm hinaufstieg. Heute war es nicht mehr ganz so warm, wie es gestern vielleicht noch gewesen war. Ethan trug eine dick ausgepolsterte Jacke, die er sich letztes Jahr gekauft hatte, einen schwarzen Schal in dem er sein Gesicht vergraben konnte und dazu schwarze Sneakers. Er hatte zunächst angenommen, er würde dumm aussehen, da er in der einen Hosentasche sein eigenes und in der anderen Ryans Handy eingesteckt hatte, doch durch die Jacke sah man es gar nicht.
Als Brooke ihm endlich die Tür öffnete und er in das Treppenhaus eintreten konnte, war er glücklich nicht länger in der Kälte rumstehen zu müssen. Er stampfte die Treppe hoch und blieb vor der Tür stehen, die ihr gehören musste, dann klopfte er an.
„Warte kurz!“, rief jemand von drinnen.
Ethan rieb sich ungeduldig übers Gesicht. Er hatte letzte Nacht nicht besonders gut geschlafen – und das lag nicht nur an Brookes unverschämten Anruf. Nach seinem Gespräch mit ihr beim Training war alles wieder hochgekommen. All die Erinnerungen, all die Schuldgefühle. Er hatte geweint.
Ein wenig. Das war ihm schon lange nicht mehr passiert.
Er blinzelte überrascht, als die Tür geöffnet wurde und Brooke ihn anlächelte – er hätte sie zunächst nämlich überhaupt nicht erkannt. Sie sah genau wie sonst aus, aber … nein. Eben nicht. Sie sah überhaupt nicht so aus wie normalerweise. Die blonden Locken waren nicht einfach nur wild. Jetzt, wo sie auch noch ungekämmt waren, schienen sie ein Eigenleben zu führen.
Erst jetzt realisierte er, dass er sie bisher noch nie ungeschminkt gesehen hatte. Sie sah immer noch gut aus, aber ihre Augen waren auf einmal weniger rund. Sie waren auch nicht mehr dunkel umrandet und die Wimpern erschienen auf einmal ganz kurz.
Brooke trug eine ausgeleierte Jogginghose und ein Top, das ihren Bauch gerade noch verdeckte. An den Füßen hatte sie Pantoffeln und ansonsten sah sie auch nicht gerade danach aus, als wäre sie seit Längerem wach.
„Hey“, sagte sie.
Ethan antwortete nicht, sondern starrte sie perplex an.
„Was?“, fragte sie.
„Du siehst …“, setzte er an, doch sie hielt ihn mit einem Augenverdrehen und einer wegwerfenden Handgeste davon ab.
„Lass es sein. Ich weiß, dass ich momentan nicht perfekt aussehe, aber erstens tut das kein Mädchen, wenn sie gerade erst aufsteht, und zweitens bist du selber Schuld, wenn du so früh kommst.“ Sie sah ihn skeptisch an.
Er riss die Augen auf. „Erstens will ich dir sagen, dass alle normalen Menschen schon seit einigen Stunden wach sind und zweitens muss ich dir leider sagen, dass ich fast pünktlich bin. Du hast gesagt, ich soll um 15:20 Uhr hier sein!“
„Ich sagte 16:20 Uhr. Lerne zuzuhören.“
„Vielleicht hätte ich ja besser gehört, wenn es nicht um zwei Uhr morgens gewesen wäre“, brummte er, während sie nach seinem Arm griff und ihn in die Wohnung zog. Während sie die Tür hinter ihm schloss, sah Ethan sich unauffällig um. Die Wohnung war relativ bunt eingerichtet, mit vielen Holzmöbeln und Bildern an den Wänden.
„Egal, da musst du jetzt durch. Ich brauch noch ein bisschen, um mich fertig zu machen. Zieh deine Schuhe und die Jacke aus, die kannst du da ablegen“, sagte Brooke und zeigte auf eine Kommode.
„Wo genau geht’s denn heute hin?“, fragte Ethan, während er alles ordentlich ablegte.
Brooke grinste ihn an und zwinkerte. „Das bleibt geheim.“
Ethan verdrehte die Augen, schwieg aber.
„Na los komm. Du kannst so lange in meinem Zimmer warten, während ich mich noch anziehe“, sagte Brooke und verschwand in einem Raum am Ende des Flurs. Unsicher folgte Ethan ihr und betrat ihr Zimmer.
Das, was ihn drinnen erwartete, war eine Explosion an Farben. Gelbe Wände, ein roter Tisch, ein grünes Bett (welches sie gerade schnell machte), blaue Vorhänge und lauter Zeug, das in allen Ecken verstreut lag. Es wirkte wie das Zimmer eines Kleinkindes (bis auf die paar BHs, die auf ihrem Stuhl hingen, vielleicht). Auf dem Boden lagen Klamotten. Kuscheltiere. Auf ihrem Tisch waren die Spuren von verschüttetem Nagellack zu sehen. Es war das Chaos.
„Und? Wie gefällt es dir?“, fragte Brooke, die sich aufs Bett geschmissen hatte und sich jetzt ausgiebig streckte.
Ethan schüttelte fassungslos den Kopf. „Ich hätte echt nicht gedacht, dass mich heute noch etwas mehr schocken könnte, als dich ungeschminkt zu sehen“, meinte er und spürte schon im nächsten Moment das Kissen, das sie nach ihm geworfen hatte.
„Sei leise.“
„Du wolltest meine Meinung.“
„Ich wollte ein Kompliment“, entgegnete sie, bevor sie sich müde die Augen rieb. Ihm fiel auf, dass sie genauso müde war, wie er.
„Wie lange warst du gestern eigentlich auf? Was kann man so spät in der Nacht eigentlich noch machen?“, wollte er wissen und erinnerte sich an den späten Anruf.
Sie hörte auf sich die Augen zu reiben und sah ihn zwischen ihren Locken hervor spöttisch an. „Wer bist du, meine Mutter?“
„Wo wir gerade davon reden … wo sind deine Eltern?“
„Mit Freunden weg“, erklärte sie und betrachtete ihre Fingernägel. „Hatte keine Lust, mitzukommen. Außerdem wissen sie, dass ich was vorhabe.“ Sie lächelte wissend. Ein Versuch, ihn neugierig zu machen.
„Wenn du vorhast, mich in irgendwas einzuwickeln, sage ich es lieber schon mal gleich: Ich werde keine Drogen nehmen“, warnte er sie.
Brooke lachte ausgelassen und klopfte neben sich auf das Bett. Er setzte sich hin und lehnte sich zurück. „Nein, wir werden heute nicht mit Drogen dealen. Das was wir machen, wird noch um einiges krimineller.“
„Brooke …“
„Spaß. Ich werde dir nicht sagen, was ich vorhabe, aber ich garantiere dir, dass es Spaß machen wird. Kann allerdings gut sein, dass du heute etwas später nach Hause kommen musst. Geht das für dich klar?“ Sie setzte sich auf und sah ihn an.
Ethan zuckte die Achseln. „Passt schon. Meine Mutter ist dann sowieso ausnahmsweise zu Hause und zieht nicht durch irgendwelche Bars. Sie meinte zwar, sie würde den Tag gerne mit mir verbringen, aber ich hab schon gesehen, wie fertig sie wegen der Arbeit gewesen war. Es würde ihr glaube ich gut tun, die Wohnung einen Tag für sich zu haben.“
„Dann ist es ja gut.“ Brooke stand auf und ging zu ihrem Schrank. Sie öffnete ihn so, dass Ethan kaum sehen konnte, wie es darin aussah. Vermutlich befand sich dort sowieso das gleiche Durcheinander, wie auch in ihrem Zimmer. „Warte hier, ich brauch nicht lange“, sagte sie, bevor sie sich ein paar Sachen rausholte und aus dem Zimmer ging, um sich umzuziehen.
Ethan seufzte und schloss kurz die Augen, bevor er nach einigen Minuten der Stille die Vibration des Handys in seiner Hosentasche spürte. Er zog es heraus und musste leider feststellen, dass es nicht seins, sondern Ryans war. Dieser hatte eine Nachricht erhalten. Ethan schluckte.
Sollte er … oder lieber nicht?
Nach kurzem Zögern und einem sehr schlechten Gefühl im Magen öffnete Ethan die Nachricht und las den darin enthaltenen Text: Hast du heute noch Training?? Oder fährst du doch nicht zu dieser Meisterschaft? – Brandy.
Training? Meisterschaft?
Vielleicht hätte Ethan den Sinn dieses Textes verstanden, wenn er etwas länger darüber nachgedacht und Brooke das Zimmer erst einen Augenblick später betreten hätte.
„Was machst du da?“, wollte sie wissen, während sie sich die Haare kämmte, dabei verursachte die Bürste solch kräftige Geräusche, als würde sie versuchen, sich durch tausend Knoten zu kämpfen. Brooke trug eine schwarze Jogginghose mit einem grauen, bauchfreien Top, über dem sie noch eine schwarze Sportjacke hatte. Sie legte die Bürste auf dem Tisch ab und griff nach einer grauen Cap mit roter Schrift, die bis eben noch auf dem Boden gelegen hatte.
„Ich guck nur schnell meine Nachrichten“, sagte Ethan ausweichend und ließ das Handy wieder in seiner Hosentasche verschwinden, bevor er sie musterte. Ihm fiel auf, dass Brooke wirklich nur selten Jeans trug. Eigentlich zog sie nur dann keine Jogginghose an, wenn es sich irgendwie vermeiden ließ. „Und so willst du raus gehen?“
„Halts Maul, das sieht gut aus. Außerdem müssen wir dort, wo wir hingehen, ohnehin nicht besonders gut angezogen sein.“ Wieder lächelte sie.
Ethan würde ihr jedoch nicht mehr den Gefallen tun und weiter nachfragen. Er würde es sowieso bald erfahren. „Also können wir los?“, fragte er, als es für ihn den Eindruck machte, als wäre sie fertig.
„Jap.“, sagte sie, bevor sie nach einem Rucksack griff, der auf der Klinke der Tür gehangen hatte und sich ihn über die Schulter warf. „Es ist eh besser, wenn wir dort etwas früher auftauchen, als geplant. Dann habe ich zumindest genug Zeit, um mich aufzuwärmen.“
„Weißt du eigentlich, dass du echt das aller Letzte bist?“, fragte Ethan aufgebracht, als sie den Ausgang des Clubs erreichten und auf die kalte Straße hinaustraten. Hier draußen war es bereits dunkel, höllisch kalt und still. Das Dröhnen der lauten Musik schlug immer noch gegen seine Ohren und er musste sich zuerst an die plötzliche Veränderung seiner Umgebung gewöhnen.
„Ach komm, das war lustig“, lachte Brooke, die hinter ihm daher gerannt kam. Sie stieß ihm provokant den Ellbogen gegen die Rippen. „Ich fand dich ziemlich gut.“
„Gar nichts war da lustig! Ich sah aus wie ein kompletter Vollidiot!“, fauchte Ethan und ging weiter.
„Du bist aber nicht ernsthaft wütend.“
„Sei ruhig.“ Ethan spürte noch, dass seine Wangen brannten. Das eben war echt peinlich gewesen.
Brooke hatte ihn in einen Club mitgenommen, in dem sie heute einen Auftritt gehabt hätte, um die Leute zu unterhalten. Sie hatte mehrere Stunden durch getanzt und war nur hin und wieder von anderen Tänzern abgelöst worden. Ethan hatte es gefallen, ihr zuzusehen – bis dieser eine Moment gekommen war.
„Tut mir Leid meine Lieben, es ist Schluss für heute!“, hatte sie in die Menge gerufen. „Allerdings schenke ich euch einen letzten Tanz, den ich mit meinem Partner durchführen werde!“ Dann war sie von der kleinen Bühne gesprungen und war zu seinem Schreck direkt auf ihn zugekommen.
„Vergiss es“, hatte er gesagt, war von ihr aber auch schon wenige Sekunden später auf die winzige Bühne gezerrt worden. Mann konnte sagen, was man wollte, aber Brooke war durch ihre ganze Tanzerei echt stark.
Die ganzen Leute in dem Club hatten gejubelt und er hatte währenddessen einfach dagestanden und Brooke giftige Blicke zugeworfen. Diese hatte in der Zwischenzeit begonnen, um ihn herum zu tanzen und hatte die Menge unterhalten.
Ethans einziges Glück war, dass die meisten von den Leuten ohnehin zu betrunken waren, um sich später noch an diese Blamage zu erinnern.
„Du musst aber zugeben, dass es dir Spaß gemacht hat … also, bevor ich es vielleicht ein wenig übertrieben habe“, sagte Brooke, als sie ihn eingeholt hatte. Ihre Haare waren verfilzt und ihre Klamotten schweißgetränkt. Sie schien jedoch kein bisschen erschöpft zu sein, was ihn überraschte.
„Es war okay“, brummte Ethan.
„Ich hab genau gesehen, wie du gelächelt hast.“
„Wer, ich? Das musst du dir eingebildet haben.“
Die beiden bogen in eine schmale Seitengasse ein, wo es ein bisschen weniger Menschen gab. Es wunderte Ethan, dass heute so viele Leute aus waren. Immerhin war es Sonntag. Hatten sie alle morgen weder Arbeit noch Schule?
„Und wohin jetzt?“, wollte er wissen.
„Nach Hause. Die Party ist für heute vorbei“, antwortete Brooke und zuckte mit den Schultern. Mit einem Grinsen fügte sie hinzu: „Das sollten wir öfter zusammen machen.“
„Ja, genau“, sagte er gedehnt und sah sie sarkastisch an.
„Ich mein ja nur. Begleitest du mich noch nach Hause?“
„Klar. Muss sowieso dort vorbei.“
„Dann ist ja gut“, meinte Brooke, bevor die beiden die Richtung einschlugen, in der sie wohnte. Auf ihrem Weg waren sie eher still, da Ethan generell nicht so viel redete und Brooke doch etwas erschöpft von ihrem Auftritt zu sein schien. Sie schwankte ein wenig beim Gehen und prallte ziemlich oft gegen ihn. Manchmal geriet sie sogar ins Stolpern und er musste sie festhalten.
„Ich glaube, ich werde heute Nacht sehr tief schlafen“, murmelte sie, als sie ihr Haus erreichten. Brooke wohnte in einer ziemlich abgelegenen Gegend. An ihrer Stelle hätte Ethan als Mädchen mehr Angst gehabt, sich hier nachts alleine rumzutreiben.
„Das müsstest du doch eigentlich schon längst gewöhnt sein“, erwiderte Ethan und blieb stehen.
Brooke antwortete mit einem Schnauben.
„Wir sehen uns dann morgen“, sagte Ethan.
Sie nickte träge. „Dann bis morgen“, sagte sie und machte dann etwas Seltsames. Sie umarmte ihn zum Abschied. Nicht lang, nicht fest, aber erstaunlich sanft.
Ethan lächelte und fuhr ihr mit der Hand durch die blonden Haare, bevor sie sich umdrehte und zu der Eingangstür ihres Hauses schlenderte. Er wartete nicht, bis sie drinnen war, sondern ging direkt los, da er so schnell wie möglich wieder zu Hause sein wollte. Oder besser gesagt nicht mehr auf der Straße.
Der Weg zu seiner Wohnung war noch relativ lang und obwohl er wusste, dass Seth irgendwo in seiner Nähe wohnte und sich eigentlich gar nicht in diesem Viertel aufhalten sollte, erwischte Ethan sich immer wieder dabei, wie er einen Blick über die Schulter warf um sicher zu gehen, dass sich niemand von hinten an ihn ran schlich.
Es wird alles gut, redete er sich ein, das Gesicht tief in dem Schal vergraben und die Hände in den Taschen seiner Jacke. Es wird alles gut.
Und es verlief eigentlich auch alles reibungslos – bis er an dieser einen Straßenecke in der Nähe einer Kreuzung vorbeikam. Denn dort standen ein paar betrunkene Männer, die laut vor sich hin lallten, sich unterhielten und zu heftig lachten. Ethan glaubte sogar, Erbrochenes neben ihnen auf der Straße zu sehen.
Er versuchte, so viel Abstand zu ihnen zu halten wie nur irgendwie möglich und verhielt sich unauffällig, als er an ihnen vorbeikam. Vergebens.
„He … Du da!“, rief einer von diesen Idioten in seine Richtung, als er sie fast schon hinter sich gelassen hatte. Es war ein stämmiger Kerl mit Bart und Lederjacke, die ihm eindeutig zu klein war. Bloß nicht umdrehen, redete Ethan sich ein und ging noch etwas schneller.
„Bleib ma stehen!“
Er beeilte sich ein wenig mehr.
„Hörste mich nicht?“ Jetzt nahm er Schritte wahr. Das war gar nicht gut. Das waren um die sechs ausgewachsene Typen hinter ihm. Das würde er niemals überleben und der Weg nach Hause war noch viel zu lang. Er hätte irgendwo hingehen können, wo es sicher gewesen wäre, aber dafür kannte er sich in dieser Gegend zu wenig aus.
Ethan atmete tief ein, bevor er mit voller Geschwindigkeit losrannte.
Leider war das ein Fehler, denn er konnte hören, dass sie ihn nicht in Ruhe lassen wollten und ihm jetzt sogar hinterherliefen.
„Eh, bleib stehen!“
„Willste abhauen oder was?“
Sie klangen ziemlich wütend. Ethans einziger Vorteil war, dass sie wegen dem Alkohol nur halb so schnell waren, wie er. Allerdings ließen sie sich nicht abhängen, ganz egal, wie sehr er es auch versuchte. Und auch er selbst spürte irgendwann, dass er nicht mehr lange durchhalten würde.
Auf seiner Flucht begegneten ihm nicht mal Menschen, die ihm hätten helfen können. Vermutlich hätte er sowieso nur eine Massenprügelei ausgelöst, in der er sich verletzt hätte.
„Wir bringen dich um!“, schrie einer von denen.
Ethan geriet langsam in Panik. Er suchte in Gedanken nach einem Ausweg, irgendwas, was ihm hätte aus dieser Situation raus helfen können. Und tatsächlich kam ihm ein Gedanke, der vielleicht die Lösung hätte sein können.
Bisher war Ethan in die Richtung gerannt, in der er selbst wohnte, doch jetzt bog er schnell um eine Ecke und suchte nach dem entsprechenden Haus. Wenn er sich nicht irrte, befand er sich in der richtigen Straße. Er durfte sich nicht irren.
Erleichterung überkam ihn, als er die richtige Hausnummer sah und an der Tür des Hauses ankam. Er klingelte mehrmals an und warf gehetzte Blicke über die Schulter, aber diese Pfosten waren zu weit weg. Sie würden ihn nicht einholen, wenn die Tür rechtzeitig geöffnet wurde.
Es klickte und Ethan sprang förmlich ins Treppenhaus, bevor er die Tür hinter sich zuschlug. Er hätte lachen und weinen können vor Freude und lehnte sich für einen kurzen Moment gegen die Wand. Er war in Sicherheit.
„Fresst das, ihr Hunde“, murmelte er triumphierend, bevor er kräftig Luft holte und die Treppe hinauf zu kriechen begann. Er wusste nicht, wie lange er gerannt war, aber es waren mindestens zehn Minuten gewesen. Vielleicht war es ihm aber auch nur so vorgekommen. Jedenfalls schmerzten seine Beine und seine Lungen brannten.
Jede Stufe dieser verkackten Treppe war wie eine Qual.
Als er das richtige Stockwerk erreicht hatte, stand Jenny bereits an der offenen Tür und musterte ihn verständnislos. „Hallo, Ethan. Was machst du denn hier? Und warum atmest du so schwer“, wollte sie wissen. Sie hatte einen weißen Bademantel an und ein Handtuch um ihren Kopf gewickelt.
Ethan versuchte, ein freundliches Lächeln aufzusetzen und halbwegs überzeugend zu lügen. Wenn seine Mutter hiervon erfuhr, würde sie ihn im Leben nicht mehr raus lassen. Er durfte sich jetzt nur nicht versprechen. „Ich bin nur ein wenig aus der Puste. War hier in der Gegend und wollte bei Gelegenheit Ryan sein Handy zurück bringen, das hat er neulich bei uns in der Wohnung vergessen. Ist er gerade da?“
„Also wann genau wirst du kommen?“, fragte Jenny Ethans Mutter am Telefon, während sie am Tisch lehnte und gedankenverloren ihre Fingernägel betrachtete. Sie hatte das Handtuch, das sie sich um den Kopf gewickelt hatte, längst abgenommen und nun hingen ihre sonst so glatten Haare in wilden nassen Locken von ihren Schultern herab. „Ich etwa zehn Minuten sagst du? In Ordnung, klingel dann einfach an und er kommt runter. Okay … ja, bis gleich.“
Mit einem Seufzer legte Jenny auf und drehte sich müde lächelnd zu ihm um. „Deine Mutter kommt dich gleich abholen, damit du bei dieser Dunkelheit nicht selbst nach Hause laufen musst. Sobald es schält, weißt du, dass sie da ist. Und danke nochmal dafür, dass du extra hierher gekommen bist, um Ryan sein Handy vorbeizubringen.“
„Das war kein Problem. Wie gesagt, ich war sowieso gerade in der Nähe.“ Ethan saß am Tisch der Küche und versuchte, das Beben seiner Finger unter Kontrolle zu bringen. Er hatte Ryan sein Handy zurückgegeben und Jenny dann gebeten, seine Mutter anzurufen, damit sie ihn abholen konnte, da er befürchtete, dass diese Penner immer noch vor der Tür auf ihn warten könnten.
Unauffällig sah er sich um. Das hier war jetzt schon die zweite fremde Wohnung an diesem Tag, die er betrat. Im Gegensatz zu Brookes Wohnung, die mit jeder Farbe gefüllt gewesen war, die er nur kannte, fand man bei Ryan zu Hause kaum etwas anderes als schwarz, grau, braun und beige. Es war gemütlich, aber irgendwie … schlicht.
Aus dem Wohnzimmer hörte man die Gespräche der Leute im Fernseher und aus dem Bad ertönte das Brummen der Wachmaschine.
Ryan stand im Türrahmen und war mit seinem Handy beschäftigt. Offenbar ging er gerade alle Nachrichten durch, die er in den letzten Tagen verpasst hatte. Dabei wirkte er so konzentriert, als ginge es um sein Leben. Ethan war froh, nur eine davon aufgemacht zu haben. Sonst wäre er jetzt vermutlich nicht mehr am Leben.
Ryan war sichtlich überrascht gewesen, als seine Mutter ihn gerufen hatte. Er hatte wohl nicht damit gerechnet, sein Handy jemals wieder zu sehen. Auch schien er zu dieser Zeit keinen Besuch mehr erwartet zu haben. Die schwarzen Haare waren wirre, er trug eine graue Jogginghose und ein schwarzes, ärmelloses T-Shirt. Ethan musterte ihn ganz genau, unfähig wegzusehen.
Eigentlich hatte er erwartet, dass Ryan, nachdem er sein Handy zurückbekommen hatte, wieder in seinem Zimmer verschwinden würde. Dieser blieb jedoch hier und schien auf etwas zu warten. Ethan hoffte, dass seine Mutter bald kommen würde.
„Willst du vielleicht irgendwas?“, fragte Jenny und riss ihn ruckartig aus seinen Gedanken. Sie spielte mit einer ihrer schwarzen, feuchten Strähnen und ließ sie immer wieder zwischen ihren Fingern hindurch gleiten. „Tee oder Wasser?“
„Nein, danke“, murmelte Ethan, obwohl seine Kehle staubtrocken war.
Jenny zuckte die Schultern, bevor sie auf die Uhr sah, die über der Tür hing. „Wie du meinst. Falls du doch noch etwas willst, kannst du Ryan fragen. Ich geh mir jetzt erst einmal die Haare föhnen“, sagte Jenny, bevor sie sich an ihrem Sohn aus der Küche vorbei schob.
Ethan musste sich beherrschen, um den Kopf nicht gegen die Tischplatte zu schmettern.
Ryan sah zum ersten Mal von seinem Handy auf und wartete, bis seine Mutter nicht mehr in Sicht und im Badezimmer verschwunden war, bevor er misstrauisch zu Ethan rüber guckte. „Na du hast vielleicht Eier hier aufzutauchen“, sagte er kopfschüttelnd, während er auf ihn zukam.
Ethan antwortete nicht, sondern starrte stur auf den Salzstreuer auf dem Tisch.
Zu seinem Pech schob Ryan den Stuhl ihm gegenüber zurück und setzte sich mit einem selbstgefälligen Grinsen darauf. Er fixierte Ethan abwesend und schien nachzudenken. „Freiwillig bist du sicher nicht hierher gekommen“, sprach er seine Gedanken laut aus. Vermutlich wunderte er sich, warum Ethan überhaupt hier aufgetaucht war. „Sag schon, was ist passiert? Wieso hast du dich getraut, hier herzukommen?“
„Mich haben ein paar betrunkene Typen verfolgt und ich hatte zufällig dein Handy dabei“, presste Ethan durch zusammen gebissene Zähne heraus.
Ryan legte die Stirn in Falten. „Und wieso hast du das nicht einfach gesagt?“
„Meine Mutter sollte davon nichts erfahren“, erklärte Ethan, der immer noch den Augenkontakt mied. Er sah überallhin, nur nicht zu Ryan. Dadurch fühlte er sich sicherer. „Ich hab ohnehin schon genug Ärger verursacht.“
Obwohl er die Wahrheit sagte, schien Ryan ihm nicht zu glauben. „Und wo warst du so spät noch unterwegs?“
„Geht dich nichts an.“
„Du warst also wieder mit dieser Kleinen weg …“
Jetzt sah Ethan doch mit gerunzelter Stirn zu Ryan und entdeckte dessen hinterhältiges Grinsen und das matte Glänzen in seinen Augen, als er sich zufrieden zurück lehnte.
Wieso konnte er ihn nicht einfach in Ruhe lassen?
„Was willst du eigentlich von mir?“, fragte Ethan, dem das alles langsam ein wenig zu viel wurde. Er wollte sich nicht mit Ryan anlegen. Wirklich nicht. Er hatte doch gerade erst seine Ruhe vor ihm bekommen. Wieso musste alles wieder von neu beginnen?
Das Lächeln verschwand von Ryans Gesicht und er wirkte auf einmal völlig ernst. Erstaunlicherweise machte er Ethan so weniger Angst, als wenn er lachte. „Momentan? Nicht viel“, meinte er schulterzuckend, bevor er sich bedrohlich zu Ethan vorlehnte. Erst jetzt bemerkte dieser, dass Ryan ein Hustenbonbon im Mund hatte, an dem er die ganze Zeit über gekaut hatte. „Ich will nur wissen, ob ich mir Sorgen machen muss – Schließlich hattest du mein Handy eine ziemlich lange Zeit. Und es gibt darauf ein paar Informationen, die lieber geheim bleiben sollten.“ Er kniff misstrauisch die grauen Augen zusammen.
Ethan schluckte. „Ich habe nichts“
„Mir ist egal, was du gelesen hast und was nicht“, zischte Ryan und unterbrach ihn. „Mich interessiert etwas völlig anderes. Wem hast du es alles gezeigt? Wer außer dir weiß über den Inhalt der Nachrichten bescheid?“
„Niemand.“
„Wenn du mich anlügst …“
„Es weiß wirklich niemand“, versicherte Ethan und sah erleichtert dabei zu, wie Ryan sich augenblicklich entspannte. Der ältere Junge lockerte seine Schultern, streckte die Beine aus und stieß langsam die Luft heraus. „Okay.“
Für ein paar Sekunden herrschte Stille, in der beide einfach in unbestimmte Richtungen sahen. Man konnte die kribbelnde Stimmung förmlich auf der Haut fühlen.
Ethan rang lange mit sich, bevor er letztendlich die Frage stellte, die ihm durch den Kopf ging – er hatte ja sowieso nichts mehr zu verlieren: „Was genau habt ihr jetzt eigentlich vor?“
Desinteressiert sah Ryan auf und blinzelte ihn an. „Was meinst du?“
„Mit mir, meine ich. Es war in den letzten Tagen erstaunlich ruhig. Werdet ihr es jetzt endlich sein lassen? Oder wartet ihr auf etwas Bestimmtes?“
Ryan schloss die Augen und lachte müde, bevor er sich mit der Hand durch die dunklen Haare fuhr. „Das wüsstest du wohl gerne“, sagte er lächelnd, legte dann aber die Stirn in Falten und blickte Ethan nachdenklich an, als würde er nicht zum ersten Mal über diese Frage nachdenken. „Ich nämlich auch. Um ehrlich zu sein, weiß ich selbst nicht einmal, wie es jetzt weiter gehen soll.“
„Wie meinst du das?“
„Als ich Seth gesagt habe, ich würde mich um dich kümmern, wusste ich noch nicht, dass unsere Mütter …“ Er hielt inne. „Du weißt schon. Ich habe keine Lust auf Stress. Am liebsten würde ich das alles einfach sein lassen. Allerdings wird dir das nicht viel bringen, da Seth dann selbst dafür sorgen wird, dass es dir scheiße geht. Und wenn ich die Wahrheit sagen soll, wäre mir das sogar recht. Du hättest es sowas von verdient.“ Er verzog den Mund.
„Das heißt, du wirst ihm nicht mehr helfen?“ Ethan hörte den flehenden Ton in seiner Stimme und hasste sich dafür. Gleichzeitig erinnerte er sich an die Wucht des Schlages, die Ryan ihm mit dem Schläger verpasst hatte und musste tief einatmen.
Ryans Gesicht verdunkelte sich. „An deiner Stelle würde ich mich jetzt nicht zu sicher fühlen. Ich werde mich zwar nicht mehr so oft in deine Nähe wagen können, aber sollten wir uns mal zufällig irgendwo ohne unsere Eltern begegnen“ – er machte eine kurze Pause, bevor er leicht lächelte – „dann bist du dran.“
„Wieso?“, platzte es Ethan heraus.
„Was, wieso?“
„Wieso hilfst du diesem Penner?“, fragte Ethan, obwohl er wusste, dass er denselben Antworten bekommen würde, die er auch schon letztes Mal von Ryan erhalten hatte.
„Weil du für das, was du Rea angetan hast, auf jeden Fall bestraft werden solltest. Es interessiert mich auch nicht im Geringsten, ob es dir wirklich, so wie du sagst leid tut oder nicht. Wichtig ist nur, dass es passiert ist.“ Ryan lehnte sich in seinem Stuhl zurück und schien Ethan zu beobachten.
Ethan geriet ins Schwitzen. Als er mit Ryan das letzte Mal über Rea geredet hatte, hatte es so gewirkt, als hätte dieser ihm geglaubt, dass ihm die ganze Sache leid täte. Er hatte sogar ein wenig unsicher gewirkt, ob er ihn wirklich weiterhin verprügeln sollte oder nicht. Inzwischen war von dieser Unentschlossenheit nichts mehr zu erkennen.
„Warum so still?“, fragte Ryan, als Ethan eine gewisse Zeit lang nichts sagte. Er zog eine Augenbraue hoch und musterte ihn. „Nichts mehr zu sagen?“
Genervt seufzte Ethan. „Nein. Ich habe keine Lust mehr, mich ständig rechtfertigen zu müssen. Ich habe einen Fehler gemacht, ich gebe es zu. Das ist das, was du und alle anderen hören wollt, ja? Dass ich mir eingestehe, dass ich etwas falsch gemacht habe. Aber das, was ich wirklich noch dazu zu sagen habe, interessiert keinen.“
„Oh, so würde ich es nicht sagen“, meinte Ryan und machte eine herausfordernde Handbewegung, bevor er sarkastisch hinzufügte: „Ich würde nur zu gerne wissen, was du dazu noch sagen könntest.“
Ethan hielt sich mit einer Hand an der Tischkante fest, um nicht umzukippen. Seine Stimme zitterte, als er redete und er bemühte sich, Ryan die ganze Zeit über in die Augen zu sehen. „Ich habe einen Fehler gemacht, einen schlimmen. Aber das tun alle. Ich wusste nicht, was ich sonst hätte noch machen können, weil … weil es einfach so neu für mich war, jemanden in meiner Nähe zu haben. Ich hätte nur eine Frage an dich und ich will, dass du sie mir ehrlich beantwortest: Warst du dir jemals in deinen Gefühlen einer Person gegenüber unsicher oder verwirrt?“
Es war nur kurz, kaum sichtbar, aber Ethan bemerkte doch, wie Ryan bei seinen Worten leicht zusammenzuckte und ausweichend auf den Boden sah. Ethan hatte wohl einen seiner Schwachpunkte erwischt. Er durfte sich jetzt bloß nicht Versprechen.
„Siehst du. Du müsstest mich doch eigentlich verstehen, verdammt. Denkst du, mir macht es Spaß ständig Vorwürfe für etwas zu bekommen, wofür ich eigentlich gar nichts kann? Ich mein …es ist doch von Jedermann die eigene Sache, wie man fühlt und wie man dabei handelt … oder nicht?“
Ryan lief rot an – ob vor Wut oder vor Scham, konnte Ethan nicht sagen – und wollte gerade den Mund aufmachen um ihm eine Antwort hinzu schmettern, als es an der Tür klingelte.
Beide verharrten.
„Ethan, das ist vermutlich deine Mutter!“, rief Jenny aus dem Bad.
„Ich weiß!“, antwortete Ethan, sprang von seinem Stuhl auf und beeilte sich, aus der Küche in den Flur zu gelangen – und das ohne Ryan auch nur einen weiteren Blick zuzuwerfen. Erstaunlicherweise blieb dieser in der Küche, als Ethan sich die Schuhe und seine Jacke anzog. Auch als er die Wohnung verließ und die Tür hinter sich schloss, war Ryan nicht zu sehen.
„Du hättest ruhig ein wenig früher anrufen können“, brummte seine Mutter, als er zu ihr in den Wagen stieg. Zuvor hatte Ethan sich argwöhnisch umgeguckt, doch von diesen Pennern war nichts zu sehen gewesen. „Nur weil ich dir erlaube, so spät noch draußen unterwegs zu sein, heißt das nicht, dass du es gleich übertreiben musst.“
„Sorry“, murmelte Ethan. Er atmete schwer und wollte bloß so schnell wie möglich nach Hause, in sein Bett. Morgen war Schule und er wollte ausgeschlafen sein.
„Und, wo warst du denn noch so spät?“, fragte seine Mutter, während sie den Motor startete. Sie hatte einen unordentlichen Dutt und große, goldene Ohrringe, die ihr beinahe zu den Schultern reichten. Sie wirkte ein wenig wie ein Hippy.
„Erzähl ich dir später“, antwortete Ethan trocken, bevor er sich an seinen Sitz drückte. Er schloss die Augen und versuchte sich zu entspannen, wurde aber das Gefühl nicht los, von jemandem beobachtet zu werden.
Hätte er sich nicht zu sehr darauf konzentriert, nach den betrunkenen Männern Ausschau zu halten, während er zum Wagen seiner Mutter gelaufen war, hätte er vielleicht den schwarzhaarigen Jungen bemerkt, der die ganze Zeit am Fenster gestanden und ihn mit leeren Augen beobachtet hatte.
„Ich glaube, mein Schädel platzt gleich“, murmelte Ethan schlaftrunken und lehnte seinen Kopf gegen das kühle Fenster des Busses. Dessen Brummen lullte ihn immer mehr in den Schlaf, linderte seine Kopfschmerzen aber überhaupt nicht.
„Psst. Willst du etwa, dass Coach Drand glaubt, du wärst krank? Dann darfst du sicher nicht mitspielen“, zischte Brooke ihm zu, während sie ihre Sporttasche zwischen ihren Füßen postierte und sich neben ihn setzte.
„Ich hätte eine Kopfschmerztablette nehmen sollen, oder am besten sogar gleich zu Hause bleiben“, schnaubte Ethan und schloss die Augen.
„Du kannst ja noch ein wenig schlafen, während wir fahren. Die Meisterschaft findet außerhalb von Sedred statt, also dauert die Fahrt etwas länger. Wenn es dir bis dahin immer noch schlecht geht, werden wir Coach Drand Bescheid sagen.“
„Mir geht es nicht schlecht, ich habe bloß Kopfschmerzen“, versicherte er ihr.
„Das spielt keine Rolle. So wirst du jedenfalls nicht spielen können. Versuch ein bisschen zu schlafen.“
„Klar“, flüsterte Ethan und lehnte sich zurück.
Sie saßen gerade in dem Reisebus, den die Schule gemietet hatte, um die Basketballmannschaft zu dieser Meisterschaft zu bringen.
Es war nun eine ganze Woche her, seit Ethan bei Ryan zu Hause gewesen war. Seitdem hatte er weder etwas von ihm, noch von Seth gehört oder gesehen. Deshalb hatte Ethan seine ganze Zeit darauf verwendet, seine Basketballfähigkeiten aufzufrischen. Er war inzwischen sogar wieder so gut, dass Coach Drand ihm doch noch erlaubt hatte, zu der Meisterschaft mitzukommen.
Sein einziges Problem waren diese stechenden Kopfschmerzen, die er schon seit dem gestrigen Abend hatte. Hoffentlich würden sie bald weggehen.
„Wir fahren jetzt los“, flüsterte Brooke ihm zu und im nächsten Moment spürte Ethan, wie der Bus sich in Bewegung zu setzen begann.
Der Bus war nicht einmal zur Hälfte gefüllt. Da waren immerhin nur der Coach, die Mannschaft und – als einziges Mädchen – Brooke, die wegen ihrer Stellung als Jahrgangssprecherin mitkommen durfte. Sollte Ethan recht sein. Jetzt wusste er zumindest, an wen er sich wenden würde, sollte ihm wirklich schlecht werden.
„Bist du nervös?“, fragte Brooke ihn.
„Nicht wirklich“, antwortete Ethan, ohne die Augen zu öffnen.
„Gut. Ich hör jetzt Musik, falls du was brauchst musst du mich also an tippen. Wasser und was zu essen hab ich mitgenommen, liegt alles in meiner Tasche. Bedien dich, wenn du willst.“
„Danke, mach ich“, sagte Ethan, bevor er schließlich wegdämmerte.
Das letzte, woran er sich erinnerte war, dass ihn jemand sanft an der Schulter berührte. Dann war alles schwarz.
„Ethan“, hörte er jemanden seinen Namen sagen.
Er runzelte die Stirn, machte aber nichts.
„Ethan“, wiederholte die Person und begann, vorsichtig an seiner Schulter zu rütteln. „Wir sind da.“
„Hmm?“, machte er und schlug zögernd die Augen auf. Das erste, was er sah, waren Brookes blonde Locken, die ihm ins Gesicht fielen. Sie beugte sich über ihn. Aber warum?
„Ethan, bist du wach?“, fragte sie.
Erst jetzt begriff er, dass sein Kopf auf ihrem Schoß lag. Was zum ..?
Abrupt setzte er sich auf und blinzelte sie perplex an. „Du hast mich auf deinen Schoß gelegt?“
„Nö.“ Sie blinzelte unschuldig zurück.
„Doch, klar!“
„Nein, hab ich nicht.“
„Man, ich hab’s doch gefühlt!“
„Du halluzinierst. Das waren deine Kopfschmerzen. Ich hab gar nichts gemacht.“
Er hätte gerne noch etwas länger darüber diskutiert, wurde aber von Coach Drands ungeduldiger Stimme unterbrochen: „Hey, kommt ihr beiden? Alle anderen sind schon längst auf dem Weg zu den Umkleiden.“
„Wir kommen schon!“, rief Brooke zurück und griff nach ihrer Tasche. Dann sah sie Ethan aufdringlich an. „Na los, beeil dich.“
„Chill mal“, murmelte dieser und versuchte, aufzustehen. Er folgte Brooke taumelnd aus dem Bus und war froh, wieder aussteigen zu können. Sein Kopf pochte immer noch ein wenig und seine Beine waren eingeschlafen.
Er dachte aber nicht daran sich bei dem Coach zu beschweren.
Der Bus hatte vor einem großen Gebäude gehalten, in dem sich wohl die Halle befinden musste, in der das Spiel stattfinden würde. Ethan sah sich um, konnte aber niemanden aus seiner eigenen Mannschaft entdecken.
„Die anderen sind schon bei den Umkleiden“, sagte Coach Drand, als ob er seine Gedanken gelesen hätte. Dann klopfte er Ethan freundschaftlich auf die Schulter. „Du hast einen festen Schlaf, Junge.“
Ethan wusste keine andere Antwort, als bloß verlegen das Gesicht abzuwenden.
„Brooke zeigt dir, wo du hingehen musst. Ich hab noch was zu erledigen.“
„Wir sollten uns beeilen, damit du rechtzeitig umgezogen bist“, sagte Brooke und packte ihn – wie sonst auch immer – am Arm, um ihn hinter sich her zu ziehen. Sie führte ihn in das Gebäude und dann in einen langen, grauen Gang.
„Geht es dir besser?“, fragte sie irgendwann, während sie um eine Ecke bogen.
„Es geht“, sagte er, während er seinen Sportbeutel hinter sich her schleifte.
„Das Spiel fängt in etwa einer halben Stunde an. Du solltest trotzdem Hinne machen.“
„Ich will nicht wissen, was du später mal für eine Mutter sein wirst.“
„Ich werde eine fabelhafte Mutter sein“, erwiderte Brooke bloß, als sie vor einer blauen Tür anhielten. Sie nickte in ihre Richtung und seufzte. „Da rein.“
„Wie soll ich gleich den Weg in die Halle finden?“, wollte Ethan wissen.
„Ich werde hier auf dich warten. Geh jetzt.“ Ungeduldig stieß sie ihn durch die Tür.
Das lustige war, dass Ethan später in seinem Leben immer, wenn er an den damaligen Tag zurückdachte, plötzlich schmunzeln musste, weil alles hätte völlig anders kommen können, hätte er dem Coach von seinen Kopfschmerzen erzählt. Dann wäre ihm ein wirklich, wirklich wichtiges Ereignis entgangen, dass im Grunde genommen seine ganze Zukunft bestimmt hatte. Denn damals hatte er gedacht, sein Leben hätte sich schon allein dadurch gewaltig verändert, dass er mit seiner Mutter nach Sedred umgezogen war. Die wahrhaftig große Veränderung hatte aber an diesem einen Tag stattgefunden – dem Tag, an dem seine ganze bisherige Welt in sich zusammengebrochen war.
Seth hat nach dir gefragt, weil du heute nicht in der Schule warst. Er scheint ungeduldig zu werden. Was soll ich ihm sagen? – Brandy.
Ryan musste träge seufzen, als er diese Nachricht zum wiederholten Mal vor sich hin las.
Seth nervte ihn in letzter Zeit immer öfter und schien nicht mehr lange geduldig bleiben zu können. Jeden Tag kam er zu Ryan und wollte von ihm wissen, wann sie Ethan das nächste Mal verprügeln würden.
Das ging ihm auf die Nerven.
Die Wahrheit war, dass Ryan nach Ethans behinderter Rede über seine scheiß Gefühle gar nicht mehr so große Lust darauf hatte, ihn zu verhauen. Er würde ihm immer noch gerne einen kräftigen Schlag ins Gesicht verpassen, mehr aber auch nicht.
„Hey, Ryan, kommst du langsam?“, fragte Ben, der sein Trikot bereits angezogen hatte und gerade in seine Sportschuhe schlüpfte. Die beiden waren die einzigen aus ihrer Mannschaft, die sich noch in den Umkleideräumen befanden. Alle anderen waren schon fertig angezogen und vermutlich in die Halle gegangen.
„Was? Äh, nein, warte, ich brauch noch ein bisschen“, murmelte Ryan. Er hatte gerade mal seine Hose umgezogen und war immer noch an seinem Handy. Schnell tippte er eine Antwort: Ich kümmere mich selbst darum, wenn ich von der Meisterschaft zurückkomme. Sag ihm einfach, dass er gegen fünf Uhr bei mir vorbeikommen soll.
Als er fertig war, sendete er die Nachricht und ließ das Handy dann wieder in seiner Tasche verschwinden. Seit er es zurückbekommen hatte, achtete er mehr darauf, wo er es hinlegte. Außerdem hatte er alle gefährlichen Chattverläufe gelöscht. So bestand kein Risiko.
Ryan setzte sich neben Ben auf eine der Bänke und zog seine Sportschuhe an. Außer ihnen waren noch ein paar Typen in den Umkleideräumen, allerdings aus einer anderen Mannschaft. Sobald er das beurteilen konnte, waren diese Jungs auch aus Sedred. Mehr wusste Ryan aber auch nicht über sie.
„Ich geh schon mal los“, flüsterte Ben ihm zu, bevor er seine Tasche in einem der Schränke einschloss und dann hinter der Ausgangstür verschwand.
Ryan beeilte sich nicht besonders. Sie hatten noch jede Menge Zeit bis Spielbeginn und da er ohnehin nicht viel Zeit zum Aufwärmen brauchte, konnte er sich in aller Ruhe umziehen.
Er schnürte seine Schuhe nur langsam zu und beendete es erst, als die ganzen anderen Typen verschwunden waren. Als er sicher war, dass sich niemand mehr hier aufhielt, lehnte er sich kurz auf der Bank zurück und stieß gemächlich die Luft aus.
Die letzten Tage waren unglaublich stressig gewesen.
Seine Eltern hatten sich gestritten, mal wieder. Seth jammerte ihm im Unterricht die Ohren voll. Er hatte gleich zwei Arbeiten geschrieben und beide mächtig verschissen. Ethans dumme Rede war ihm die ganze Zeit über nicht aus dem Kopf gegangen und heute hatte er auch noch zu dieser Meisterschaft fahren müssen.
Zurzeit lief alles ein bisschen scheiße.
Er biss frustriert die Zähne zusammen und setzte sich gerade hin, bevor er hier noch wegdämmerte. Er hatte auch nicht besonders gut geschlafen. Vielleicht würde es ihm ja doch gut tun, sich vor dem Spiel aufzuwärmen.
Ryan stand auf und zog sein T-Shirt aus, bevor er begann, in seiner Sporttasche nach seinem Trikot zu sehen. Er trug immer ziemlich viel bei sich – ein Handtuch, zwei verschiedene Hosen und ein paar T-Shirts – weswegen es immer ein wenig dauerte, bis er das fand, was er suchte.
„Wo ist es bloß?“, murmelte er und hoffte, dass er es nicht vergessen hatte.
In diesem Moment hörte er irgendwo außerhalb eine weibliche Stimme, die ihm seltsam vertraut vorkam. Als nächstes wurde die Tür zu den Umkleideräumen aufgemacht und jemand trat ein.
Als er sich gelangweilt umdrehte, um zu sehen, wer es war, erlitt er einen kurzen Schreck, der einige Sekunden dauerte und ihn gepackt hielt. Dann lachte er über diesen dämlichen Zufall und grinste Ethan an. „Was ne Überraschung.“
„Du verarschst mich“, brach Ethan heraus, der mit einem Sportbeutel in den Händen vor ihm stand und Ryan fassungslos ansah. Er glotzte Ryan so verständnislos an, als könnte er sich um Gottes Willen nicht erklären, was dieser hier wollte.
Ryan lachte in sich hinein.
„Wieso so überrascht? Du wusstest doch, dass ich auch Basketball spiele“, sagte Ryan, der immer noch in der Hocke saß und in seiner Tasche nach seinem Trikot suchte.
„Ja, aber … ach, weißt du was? Vergiss es einfach“, stieß Ethan aus, während er zum anderen Ende der Umkleidekabine schlenderte und sich schnell umzuziehen begann. Es hatte es auf einmal sehr eilig, wobei er sich so weit wie möglich von Ryan entfernte.
Das kam diesem gerade recht.
Er hörte auf seine Tasche zu durchwühlen und stand langsam auf. „Wann seid ihr mit eurem Spiel dran?“, fragte er beinahe beiläufig.
„Jetzt gleich“, antwortete Ethan kleinlaut ohne ihn anzusehen. Er zog seine Hosen um und schlüpfte dann in seine weißen, abgetragenen Sportschuhe, wobei er Ryan hin und wieder einen nervösen Blick zuwarf. Es gefiel ihm sichtlich nicht, von ihm beobachtet zu werden, was Ryan jedoch gerade recht kam.
„Übrigens solltest du vielleicht wissen, dass Seth nicht mehr lange warten wird“, sagte Ryan in die Stille hinein, während er abwesend seine Fingernägel betrachtete. „Du solltest aufpassen, dass du ihm nicht über den Weg läufst.“
Ethan schnaubte. „Sonst was? Ich hab keinen Bock mehr, mich vor diesem Arsch zu verstecken. Früher oder später kriegt er mich ja sowieso“, brummte er. Er klang so aggressiv, dass Ryan erstaunt aufsah.
„Kein Grund so auszurasten.“
„Und du musst mir auch nicht ständig über den Weg laufen“, fuhr Ethan fort, als hätte er Ryan nicht gehört. „Außer unseren Müttern verbindet uns momentan nichts, gar nichts. Du hast doch dein dummes Handy wieder, also könntest du mich auch endlich in Ruhe lassen.“
Das alles sagte er, ohne auch nur einmal aufzusehen.
Ryan konnte darauf nichts erwidern. Er war nicht wütend, traurig, glücklich oder sonst was, sondern einfach nur … verdutzt. Verwirrt sah er Ethan an und runzelte die Stirn.
Dieser klang ziemlich angepisst und schien nicht bei bester Laune zu sein. Er wirkte übermüdet, oder vielleicht gestresst.
Trotzdem war das kein Grund, hier so eine Szene zu machen.
„Ich hab dich nur gewarnt“, zischte Ryan. „Und was ist heute mit dir überhaupt los? Schlecht geschlafen oder was?“
„Geht dich nichts an“, murmelte Ethan, nachdem er sich zu Ende umgezogen hatte. Er hob seinen Sportbeutel auf und versuchte, diesen in eines der Schließfächer zu quetschen.
Ryan beobachtete ihn irritiert dabei.
Ethan ging ihm auf die Nerven, sogar ziemlich stark. Allerdings wäre es nicht richtig, ihn zu verprügeln. Er bräuchte eine andere Strafe, am besten eine, bei der er keinen Schmerz ertragen musste, sondern sich einfach nur schrecklich unwohl fühlte.
Und zufälligerweise kannte Ryan sogar eine gute Methode, um Jungs mächtig in Verlegenheit zu bringen.
„Ganz schön mutig heute“, sagte er fast anerkennend, während er auf Ethan zuging und etwa zwei Schritte von ihm entfernt stehen blieb.
Ethan hatte es geschafft, seinen Sportbeutel im Schließfach zu verstauen, schloss dieses dann zu und steckte den Schlüssel in die Tasche, bevor er sich umdrehte. „Lass mich durch“, murmelte er und versuchte sich an Ryan vorbei zuschieben, aber dieser packte ihn plötzlich an den Schultern und drückte ihn zurück gegen die Schränke.
Das hatte er schon einmal gemacht, damals, als er zum ersten Mal bei Ethan zu Hause gewesen war. Ryan war immer noch stärker als er und wusste daher, dass er sich nicht zu sorgen brauchte, Ethan könnte sich besonders hart wehren.
„Sei nicht so frech“, lachte Ryan leise, während er sich gegen Ethan lehnte und den leeren Platz zwischen ihnen somit schloss. Mit gesenkter Stimme flüsterte er: „sonst wirst du es noch bereuen.“
Ethan war immer noch gelassen und schien das alles nicht ernst zu nehmen. Genervt verdrehte er die Augen und seufzte schwer. „Ryan, lass den Scheiß“, sagte er und versuchte, wegzukommen.
Erfolglos.
„Was denn?“, fragte Ryan unschuldig und legte seine Stirn auf Ethans Schulter, während seine linke Hand dessen Hüfte umschloss. Ryan drückte ihn noch etwas fester an sich, bevor er sein Knie leicht nach vorne gleiten ließ, direkt zwischen Ethans Beine.
Das wirkte ziemlich gut.
„Ryan, ich meine es ernst …“ Jetzt spürte Ryan doch, wie Ethans Herzschlag sich beschleunigte. Er atmete flacher. Das sollte aber noch nicht alles sein.
„Ich auch“, murmelte Ryan, während er seine Hand unter Ethans Trikot gleiten ließ und gleichzeitig vorsichtig dessen Hals zu küssen begann. Währenddessen wanderte seine Hand immer weiter Ethans Rücken hinauf.
Jetzt, jetzt schien dieser endlich begriffen zu haben was hier abging und spannte sich augenblicklich an, bevor er seine Hände gegen Ryans nackte Brust stieß. „Ryan, hör auf“, sagte er mit heiserer Stimme, die leicht mit Panik gefüllt war. Er sah sich hilfesuchend um, aber wer hätte ihm denn bitte helfen können? „Das Spiel fängt gleich an … Es könnte jemand reinkommen und das alles missverstehen …“
„Und wenn schon“, sagte Ryan und schob nun beide Hände unter Ethans Trikot. Als nächstes fuhr er mit seiner Zungenspitze dessen Hals entlang, so langsam wie er nur konnte.
Dass Ethan dabei schauderte, entging ihm nicht.
„Ryan, ich hab’s begriffen … Junge, das ist kein Spaß mehr!“, versuchte Ethan sich noch irgendwie zu retten.
Vor sich hin grinsend verharrte Ryan. Ethan hatte wohl genug. Allerdings musste er noch etwas machen, bevor er ihn so einfach wieder gehen ließ.
Eine wichtige Sache.
„Es war nie Spaß“, hauchte Ryan lächelnd, bevor er von Ethans Hals abließ, sein Gesicht grob zwischen die Hände nahm und ihn ohne zu zögern auf die Lippen küsste. Das machte er so schnell, dass Ethan im ersten Moment gar nicht zu wissen schien, wie ihm geschah.
Er stand nur da, die Augen weit aufgerissen und still vor lauter Schock.
Es fühlte sich gar nicht so schlecht an und vielleicht hätte Ryan ihm sogar die Zunge in den Hals gesteckt, hätte Ethan ihn nicht mit energischem Schwung von sich weggestoßen.
„Du …“, keucht er, während er sich die Hand vor den Mund schlug und Ryan mit weit geöffneten Augen anstarrte. Offenbar hatte er sich immer noch nicht ganz aus seiner Starre gelöst. Er lief rot an und zitterte am ganzen Körper. Auch wirkte es so, als würde er etwas sagen wollen, schien aber keine Worte zu finden, die das zurzeit in ihm herrschende Gefühl hätten beschreiben können.
Ryan lachte ausgelassen und grinste ihn an. „Ich hoffe, dir hat’s gefallen.“
Das Einzige, wozu Ethan noch fähig war, war es, an Ryan vorbeizulaufen und aus der Umkleidekabine zu stürzen. Ryan sah ihm schmunzelnd hinterher, bevor er zu seiner Tasche zurück hastete. Er zog sich sein eigenes Trikot über und griff schnell nach seinem Handy, bevor er eine Nachricht an Brandy tippte.
Sag Seth, er kann sich entspannen. Ich habe einen Weg gefunden, Ethan fertig zu machen, der dich umhauen wird. Details später. Spiel fängt gleich an. Ich freue mich schon drauf.
Brooke lehnte gerade gedankenverloren an der Wand des Flures, als Ethan mit hochrotem Kopf und rasendem Blick aus den Umkleidekabinen stürmte. Seine Schultern hoben und senkten sich hektisch und er machte einen verstörten Eindruck, als hätte er sich gerade zu Tode erschrocken.
Besorgt blinzelte sie ihn an. „Ist alles okay?“, fragte sie, während sie auf ihn zulief. „Ist dir doch schlecht geworden?“
„Mir geht es gut“, keuchte er. Er warf der Tür einen nervösen Schulterblick zu und schüttelte dann heftig den Kopf. „Ich will nur hier weg.“
„Was ist denn passiert?“, wollte Brooke immer noch besorgt wissen und trat an ihn heran, da sie das Gefühl hatte, er müsste sich gleich übergeben. „Was war da drinnen los?“
„Nichts“, murmelte er und lehnte sich gegen sie, als sie an ihn heran trat. Er zitterte, stark. Außerdem knickte er fast ein, obwohl es nicht so schien, als wäre er verletzt. „Ich will nur schnell abhauen.“
„Das Spiel fängt gleich …“, begann sie, verstummte aber, als die Tür ein erneutes Mal aufflog und ein anderer Junge herauskam.
Brooke erstarrte.
Es war dieser eine Kerl, der dieser Schlägertruppe angehörte. Ryan hieß er, glaubte sie sich zu erinnern. Er hatte doch damals Ethan niedergeschlagen … Scheiße.
Ryan trug genau wie Ethan Sportklamotten und lächelte selbstzufrieden bei dessen Anblick – als er aber Brooke bemerkte, erfror sein Lächeln zu Eis.
Brooke schluckte. „Du bist also auch hier?“, fragte sie warf ihm einen bösen Blick zu.
„Wie man sieht“, meinte Ryan und zuckte gleichgültig die Achseln.
„Was hast du mit ihm gemacht?“, fauchte Brooke und funkelte ihn finster an. Ihr fiel nicht auf, dass Ethan den Augenkontakt ihm meldete und immer noch rot im Gesicht war.
Ryan grinste wieder. „Oh, das. Tja, weißt du …“
„Gar nichts hat er gemacht!“, unterbrach Ethan ihn abrupt mit hohler Stimme. „Gar nichts.“
„Natürlich muss er was angestellt haben! Sieh dich an, du kippst gleich um! Ich werde …“
„Lass es sein Brooke“, sagte Ethan immer noch aufgeregt, dieses mal aber wesentlich ruhiger. Er schien sich zu entspannen und legte ihr die Hand auf die Schulter, um sie davon zu überzeugen, dass alles okay war. „Lass es einfach sein.“
Sie sah ihn verständnislos an, entschied sich dann aber, auf ihn zu hören. Wenn er sagte, ihm ginge es gut, konnte sie wohl nichts dagegen machen. Zumindest hatte er sich wieder beruhigt, wenn auch nur um sie davon abzuhalten, auf Ryan loszugehen.
Dieser schien übrigens mit einem Schlag seine gute Laune verloren zu haben. Brooke fiel auf, dass er mit dunkler Miene Ethans Hand fixierte, die immer noch auf ihrer Schulter lag.
Wieso ..?
„Das Spiel fängt jeden Moment an“, brummte Ryan und schlenderte an ihnen vorbei, dabei stieß er beim Vorbeigehen Brooke hart mit seiner Schulter weg.
Ihr entglitt ein kurzes Ächzen, ansonsten beherrschte sie sich aber.
„Ihr solltet euch auch lieber beeilen“, rief Ryan ihnen über die Schulter zu, als würde er sie antreiben wollen. Dann war er am Ende des Ganges verschwunden.
Brooke sah Ethan an. „Ist wirklich alles okay? Was ist eigentlich passiert?“
Er antwortete nicht sofort. Mit glasigen Augen sah er Ryan nach und schien weit, weit weg zu sein. Dann, als seine Gesichtsfarbe irgendwann in einen viel blasseren Ton überging, schüttelte er gemächlich den Kopf. „Das würdest du mir nicht glauben.“
Frustriert warf sich Ryan auf sein Bett, starrte an die Decke und stieß zischend die Luft zwischen den Zähnen aus. Den ganzen Tag nagte nun schon etwas an ihm und er konnte sich nicht erklären, woher seine schlechte Laune eigentlich kam.
Die Niederlage gegen Ethans Mannschaft bei der Meisterschaft machte es auch nicht besser.
Sie hatten gleich im ersten Spiel verloren! Das war ihm noch nie passiert. Vielleicht hatte es daran gelegen, dass er während dem Spiel abgelenkt gewesen war, weil er andauernd zu dieser Schlampe hatte rüber sehen müssen, die am Rand des Spielfeldes gesessen und ihren Freund angefeuert hatte.
Er konnte Brooke nicht ab.
„Schatz, willst du noch was essen?“, fragte seine Mutter, die mit einem Fuß in sein Zimmer getreten war und ihn interessiert ansah.
„Ich will nichts essen“, brummte Ryan und drehte sich auf die Seite, während er die Beine leicht anzog und die Augen schloss. Er war sehr müde, weil er erst vor wenigen Stunden von der Meisterschaft nach Hause gekommen war und noch nicht einmal Zeit gefunden hatte, um zu duschen.
„Wie du willst. Wir fahren mit deinem Vater schnell rüber zu deiner Tante, sie hat schon wieder Schwierigkeiten mit ihren Nachbarn. Falls du doch Hunger kriegst, weißt du ja, dass im Kühlschrank noch was ist.“
„Ja“, murmelte Ryan bloß. Er fühlte sich völlig ausgelaugt. Und das schien seltsamerweise nicht nur an dem anstrengenden Spiel zu legen.
Er wollte nur noch schlafen. Und vielleicht ein wenig fernsehen.
Ryan war so benommen, dass ihm zunächst gar nicht auffiel, dass seine Mutter seinen Namen gesagt hatte. Schläfrig drehte er sich zu Jenny um, die mit leicht bedrückter Miene im Türrahmen lehnte und ihn beobachtete.
„Was ist?“, wollte er wissen.
„Sag mal … ist alles in Ordnung bei dir?“, fragte sie zögernd, während sie an ihrem Ärmel herum zupfte. Das tat sie immer, wenn er besorgt war.
Schwerfällig setzte Ryan sich auf und zuckte die Schultern. „Was soll schon sein?“
„Du siehst so fertig aus. Hast du Schwierigkeiten in der Schule? Oder liegt es vielleicht an einem Mädchen?“
Kaum merklich zuckte Ryan bei den Worten seiner Mutter zusammen. Ach ja, das. Sie wusste ja noch gar nichts, ahnte nicht mal was von seiner Vorliebe für Jungs. Das sollte lieber auch so bleiben.
„Ich bin bloß müde“, versicherte er ihr und lockerte die Schultern. „Das Spiel ist sowieso nicht so gut gelaufen. Ich will mich ein wenig ausruhen …“
„Verstehe“, murmelte Jenny, auch wenn sie nicht sehr überzeugt klang.
Es breitete sich eine kurze, aber sehr bedrückende Stille aus, die nur von dem gleichmäßigen Ticken der Uhr zerrissen wurde.
„Übrigens kannst du übermorgen ein paar Freunde zu dir einladen, damit du nicht so allein bist“, sagte seine Mutter nach einer gewissen Zeit. „Dein Vater und ich werden für zwei Tage verreisen, Steve wird heiraten und hat uns zu seiner Hochzeit eingeladen. Erinnerst du dich noch an ihn? Er hat uns oft besucht, als du noch klein warst.“
„Ja, glaub schon“, meinte Ryan und rieb sich die Augen.
„Wie auch immer, ich geh dann jetzt, dein Vater wartet sicher schon im Auto. Kann sein, dass wir etwas später zurück kommen. Hab dich lieb“, sagte Jenny, bevor sie aus seinem Zimmer ging. Er wartete noch ein paar Sekunden, dann hörte Ryan wie die Haustür zugeknallt wurde.
Stöhnend rieb er sich das Gesicht. Was war nur los mit ihm? Irgendwie war die ganze Sache mit Ethan nicht ganz so verlaufen, wie er es sich vorgestellt hatte. Er hatte ihn mit dem Kuss bloß ein wenig erschrecken wollen … Stattdessen schien er sich selbst in ihn verliebt zu haben oder so.
Das hatte er zumindest angenommen, als sich heute dieses schlechte Gefühl in seinem Magen ausgebreitet hatte, nachdem er aus der Kabine gekommen war und dieses Miststück an ihm dranhängen gesehen hatte. Sie hatte ihn zum Spiel begleitet. Das regte ihn mehr auf, als er es je hätte erwarten können.
Noch mehr störte ihn aber, dass er offenbar nicht nur etwas für Ethan empfand, sondern auch noch eifersüchtig war! Ryan war noch nie eifersüchtig gewesen, jedenfalls nicht auf diese Weise. Es störte ihn plötzlich, wenn er Ethan zusammen mit Brooke sah. Gleichzeitig verspürte er sogar sowas wie Reue dafür, dass er Ethan so hart verprügelt hatte.
Na ja, aber das spielte ohnehin keine Rolle. Ethan war hetero und hatte seine kleine Bitch bei sich.
Der Gedanke ätzte und Ryan musste reflexartig mit den Zähnen knirschen.
Auf einmal hörte er, wie sein Handy in seiner Hosentasche vibrierte. Er holte es raus und warf einen Blick auf den Bildschirm. Es war eine SMS von Brandy.
Hab Seth gesagt, dass er nicht bei dir vorbeizukommen braucht. Was hast du denn mit diesem Ethan gemacht?? Und wie is das Spiel ausgegangen? Antworte mal. – Brandy
Ohne zu antworten steckte Ryan das Handy wieder weg und taumelte ins Wohnzimmer. Seine Eltern hatten wie üblich vergessen, den Fernseher auszuschalten. Es liefen gerade die Simpsons.
Ryan legte sich auf die Couch und sah sich die Serie eine gute Stunde an, bevor er irgendwann doch in einen unruhigen Schlaf wegdämmerte. Sein letzter Gedanke war noch, dass er lieber Brandy hätte zurückschreiben sollen. Aber dafür war er zu faul.
Schade, denn hätte er sein Vorhaben in die Tat umgesetzt, hätte er Ethan eine Menge Ärger ersparen können, wie er später noch herausfinden sollte.
Ethan atmete schwer aus, als er vor den ein wenig beschlagenen Spiegel im Bad trat und sich in diesem betrachtete. Bis auf seine leicht vor Hitze geröteten Wangen war er blass wie die Wand. Seine braunen Haare klebten feucht an seinem Kopf und an seinem Gesicht liefen immer noch Wasserperlen hinab.
„Ethan, brauchst du noch lange? Ich muss auch noch schnell duschen, ich geh morgen schließlich zur Arbeit“, sagte seine Mutter durch die Tür.
„Ich komm gleich“, antwortete er und fuhr sich ein letztes Mal durch die nassen Haare. Sein T-Shirt klebte an seinem Oberkörper und die Sporthose fühlte sich schrecklich heiß an. Er war erst vor kurzen nach Hause gekommen und hatte gerade richtig heiß geduscht. Nach etwa drei Spielen hatte sein Team verloren, auch wenn sie relativ weit gekommen waren.
Abwesend öffnete Ethan die Tür und trat aus dem Bad. Im Flur war es wesentlich kälter, als in dem angeheizten Raum. „Du kannst jetzt rein“, rief er seiner Mutter zu, die sich inzwischen längst wieder in die Küche verzogen hatte. Er ging durch den Flur, bis er sein Zimmer erreichte und schloss die Tür hinter sich, damit seine Mutter nicht hörte, wie er sich langsam auf die Knie sinken ließ. Nicht vor Erschöpfung, sondern vor Stress.
Er hielt inne und versuchte, seine Gedanken zu ordnen.
Die Geschehnisse des heutigen Tages kreisten nach wie vor in seinem Kopf herum und ließen ihn nicht mehr los.
Ryan hatte ihn geküsst. Auf den Mund. Hatte sogar versucht, ihm die Zunge in den Hals zu stecken.
Und Ethan hatte ihn weggestoßen.
Das war echt … krank. Ein anderes Wort fiel Ethan dafür nicht ein. Er wusste einfach nicht, was er von all dem halten sollte. Zunächst – als Ryan sich bloß an ihn gedrückt hatte – hatte er das alles für Spaß gehalten. Dass Ryan bloß ein wenig auf schwul tat. Aber das, was danach gekommen war, war einfach … boah.
Mit der Zungenspitze fuhr sich Ethan kurz über die trockenen Lippen.
Das alles war schrecklich verwirrend. Was ihm aber am meisten zusetzte, war etwas ganz anderes, als die Tatsache, dass Ryan ihn geküsst hatte. Nämlich, dass Ethan, kurz nachdem dies passiert war, etwas gespürt hatte. Eine Art Regung in seiner Hose.
Das war sehr, sehr schlecht.
Ethan schüttelte den Kopf, um die Erinnerung zu verdrängen.
Er musste sich irgendwie ablenken, denn es war noch relativ früh, deswegen würde er erst in ein paar Stunden schlafen gehen. Bis dahin musste er irgendwie die Zeit tot schlagen.
Ethan ging zu seinem Bett und wollte eigentlich nach der Fernbedienung greifen, als er sein Handy auf dem Bett liegen sah. Er überlegte, zögerte, griff aber letztendlich danach und suchte nach Brookes Nummer. Schnell tippte er eine Nachricht:
Hast du morgen Zeit?? Wenn ja, lass treffen.
Er wartete, bis der Text verschickt wurde, bevor er das Handy beiseite legte und sein Gesicht in den Händen vergrub.
Wenn alles in sich zusammen brach, brauchte man jemanden, der einem beistehen konnte. Normalerweise wäre diese Person vermutlich Ethans Mutter. Er hatte sie aber ein paar Mal zu oft genervt, auch wenn sie es nicht zugab. Also konnte er sich momentan nur an Brooke wenden.
Er war froh, sie als Freund zu haben.
Brooke stand aufgeregt an einer ruhigen Straßenecke und wartete ungeduldig auf Ethan, während sie vor Freude von einem Bein auf das andere hinkte. Sie konnte ein Lächeln nicht unterdrücken und hielt die ganze Zeit Ausschau nach ihm.
Gestern hatte er ihr nach der Meisterschaft eine Nachricht geschickt und sie gefragt, ob sie heute Zeit hätte, um sich mit ihm zu treffen. Einen bestimmten Grund hatte er dafür aber nicht genannt. Trotzdem hatte sie ohne zu überlegen zugestimmt. Es freute sie, dass ausnahmsweise er es war, der mit ihr etwas unternehmen wollte. Das gab ihr ein angenehmes Gefühl.
Auch heute war es kalt auf den Straßen und sie knöpfte ihre Jacke etwas fester zu, bevor sie die Arme um sich schlang. Sie konnte es kaum erwarten, bis es wieder wärmer wurde. Dann könnte sie wieder T-Shirts und Hotpants tragen. Das wäre toll.
„Hey“, hörte sie jemanden hinter sich sagen und drehte sich lächelnd zu Ethan um. Er kam auf sie zu und sah auf sein Handy. „Sorry, ich bin spät dran. Wartest du schon lange?“
„Bin auch gerade erst gekommen“, sagte Brooke, obwohl sie wahrscheinlich seit geschlagenen zehn Minuten an dieser Ecke stand.
Sie betrachtete Ethan genauer, als er vor ihr stehen blieb. Er sah müde aus – wie immer häufiger in den letzten Tagen, wie ihr auffiel. Und abwesend.
„Und? Was genau hat dich dazu bewegt, mir zu schreiben?“, fragte Brooke, die nicht das Gefühl hatte, dass Ethan aus Spaß hier war. Dafür kannte sie ihn inzwischen gut genug.
Wie aufs Stichwort legte er besorgt die Stirn in Falten und sah sich um – als hätte er Angst, belauscht zu werden. „Sag mal … Können wir über was bestimmtes reden?“, fragte er leise und sie glaubte, ein schwaches Zittern in seiner Stimme wahrzunehmen.
„Klar“, meinte sie. „Was ist los?“
„Nicht hier“, sagte er schnell. „Irgendwo anders.“
„Es gibt hier in der Nähe eine Döner Bude“, schlug sie vor. Jetzt freute sie sich irgendwie nicht mehr so sehr. Ethan schien nicht einfach bloß nervös zu sein. Er machte sich ehrlich Sorgen.
Den Gedanken, er könnte sie heute nach einer Beziehung fragen, konnte sie wohl vergessen.
„Dann lass uns gehen“, murmelte er und rang sich ein winziges Lächeln ab. „Ich bezahle.“
„Wieso antwortet der Penner nicht?“, fragte Brandy und sah zum wiederholten Mal auf sein Handy.
Er saß auf einem der Müllcontainer in der Seitenstraße, in der er zusammen mit Ryan und den anderen öfter mal abhing und langweilte sich zu Tode. Hier war übrigens auch der Ort, an dem Seth ihn, Ryan und Austin damals aufgesucht hatte, um sie um Hilfe mit diesem Ethan zu bieten.
Das war gar nicht mal so lange her.
„Vielleicht ist er immer noch müde nach der Meisterschaft“, meinte Austin, der neben ihm hockte und selbstvergessen einen Kaugummi kaute. Er, Brandy und Daniel hatten sich hier getroffen, weil keiner von ihnen an einem Samstag etwas Besseres zu tun hatte und sie alle nicht besonders gern zu Hause herumsaßen.
„Trotzdem könnte er mindestens mal auf meine Nachrichten antworten“, brummte Brandy, da er es nicht besonders mochte, so ignoriert zu werden. Er hatte Ryan gestern mindestens fünf Mal angeschrieben und keine einzige Antwort erhalten. Dabei wollte er immer noch unbedingt wissen, was Ryans Methode war, um diesen Ethan fertig zu machen.
„Du kennst ihn doch. Er lässt sich bei sowas immer Zeit“, murmelte Daniel, der als Einziger stand und immer wieder einen Fußball gegen die Mauer des Hauses kickte, an dem sie sich befanden.
Daniel war groß, blond und relativ kräftig. Wer ihn sah, bemerkte sofort, dass er ein Schläger war. Brandy mochte ihn nicht besonders. Eigentlich gab es nur zwei Gründe, aus denen er Zeit mit ihm verbrachte: Weil Ryan und Austin mit ihm befreundet waren und ihm somit nichts anderes übrig blieb, als Daniel immer wieder über den Weg zu laufen und weil man mit ihm ziemlich viel Scheiße bauen konnte.
Und das schätzte Brandy immer ganz besonders an Menschen.
Aber das spielte keine besonders große Rolle. Am Ende waren Ryan, Austin und Brandy doch die besten Kumpel. Daniel und Tyler gehörten bloß zu dieser „Gang“, die von der ganzen Stadt gefürchtet wurde und die ziemlich viele Opfer hatte. Ansonsten machten sie nicht viel miteinander.
„Mir reicht es jetzt. Entweder er bewegt seinen Arsch nach draußen, oder ich hol ihn selbst aus seiner scheiß Wohnung“, sagte Brandy entschlossen und tippte eine sechste SMS an Ryan: Komm in spätestens einer Stunde zum Schulhof, sonst gibt’s Schläge. Du weißt, ich mein es ernst, Schwuchtel.
Er wartete, bis die Nachricht verschickt wurde, bevor er das Handy wieder wegsteckte.
„War er’s?“, fragte Daniel plötzlich, der aufgehört hatte den Ball gegen die Wand zu kicken und Austin ansah. Er wirkte verwundert, als hätte er etwas gesehen, was er unter keinen Umständen erwartet hätte.
„Wer? Was?“, fragte Brandy verwirrt, der offenbar etwas verpasst hatte.
„Ich glaub schon“, antwortete Austin, der schnell vom Müllcontainer runtersprang und zum Ende der Gasse blickte. „Und das Mädel war auch da.“
„Wovon redet ihr?“, fragte Brandy genervt und sah von einem zum anderen. Er verstand gar nichts und sah ebenfalls ans Ende der Gasse, in der Hoffnung, dadurch etwas erfahren zu können, aber da war niemand.
„Da war dieser Ethan“, antwortete Austin und drehte sich zu ihm um.
Brandy hob die Augenbrauen. „Seths kleiner Freund?“
„Ja, der“, bestätigte Daniel und lächelte. „Ist grad an uns vorbeigelaufen.“
„Aha.“ Brandy zog das Wort in die Länge, während sich in seinem Kopf alles drehte. Er war nicht dabei gewesen, als Ryan Ethan das letzte Mal verprügelt hatte. Daniel und Austin schon. Vielleicht war das hier ja die Gelegenheit ..?
„Wisst ihr was?“, fragte Brandy und lächelte, bevor er genau wie Austin vorhin von dem Container sprang. Er landete leichtfüßig und grinste beiden zu. Mehr musste er nicht tun.
„Das ist keine gute Idee“, warf Austin sofort ein, als hätte er Brandys Gedanken gelesen. Ein beunruhigtes Stirnrunzeln legte sich über seine Stirn und er spannte sich unter seiner Jacke sichtlich an.
„Ach komm schon“, meinte Brandy und klopfte ihm auf die Schulter. „Das wird Spaß machen. Und Ryan wird sich sicher auch freuen, wenn er erfährt, dass wir ihn erwischt haben.“
„Ich hätte nichts dagegen“, murmelte Daniel. „Besser als hier rumzuhängen.“
„Nicht wahr?“, fragte Brandy hoffend und sah zu Austin, der immer noch nicht überzeugt schien. Allerdings hatte er diesen Gesichtsausdruck. Brandy wusste, was das bedeutete. Er würde mitmachen, egal, ob er es wollte oder nicht.
„Dann wäre das ja geklärt“, sagte Brandy und zückte ein weiteres Mal sein Handy hervor. Er schickte eine weitere Nachricht an Ryan: Bring Seth mit. Wir haben Neuigkeiten, die ihn freuen werden.
„Kannst du mir nicht einfach sagen, was so wichtig ist, dass du nicht einmal am Telefon mit mir darüber reden kannst?“, fragte Brooke nun wahrscheinlich schon zum dritten mal, während sie zu der Döner Bude schlenderten. Die Straße, durch die sie gingen, war relativ leer. Es gab nur eine Frau, die mit ihrem Hund einen Spaziergang machte und einen schnaufenden Jogger, der schon kurze Zeit später um eine Ecke verschwunden war.
Das gefiel Ethan nicht. Er wollte so schnell wie möglich irgendwohin, wo es möglichst viele Zeugen gab, falls etwas geschah – gleichzeitig musste er sich von anderen Leuten entfernen, um mit Brooke zu sprechen, damit sie niemand hören konnte.
„Das ist nicht so leicht, wie du denkst“, antwortete Ethan, dessen Kehle ganz trocken war.
„Komm schon“, sagte Brooke und stieß ihn freundschaftlich in die Seite.
Ethan sah auf sie herab und schluckte schwer, dabei betrachtete er Brooke ganz genau. Er musterte ihre blonden Locken und die großen Augen, ihre überdimensional geschminkten Wimpern und fragte sich, ob sie wohl in der Lage wäre, das Gefühlschaos, das in ihm herrschte, zu erklären. Denn er war es nicht.
Tatsächlich war ihm nur eine einzige Erklärung für das Gefühl eingefallen, warum er ständig an die Sache mit Ryan dachte … sogar warum es damals mit Rea nicht geklappt und er Freundschaft mit Liebe verwechselt hatte … aber diese Erklärung war in seinen Augen so … unvorstellbar, dass er Angst hatte, sie laut auszusprechen. Angst davor, dass danach nichts mehr wäre wie früher.
„Neulich“, begann er heißer und sah wieder nach vorne, um sie nicht ansehen zu müssen, „als ich mich bei der Meisterschaft in den Umkleidekabinen umgezogen habe. Da ist was passiert. Was komisches.“
„Was war los? Hat Ryan doch etwas gemacht?!“, fragte Brooke und kniff augenblicklich verärgert die Augen zusammen. „Ethan, wir hätten dem Trainer was sagen sollen! Das hätte sicher …“
„Nein, nein, er hat nichts Schlimmes gemacht. Nichts wirklich Schlimmes.“
„Was war denn nun los?“, drängte sie und sah ihn fragend an. Das war echt nicht leicht.
Ethan atmete tief durch, um die Stimme nicht zu verlieren. „Eigentlich war es etwas ganz Harmloses. Ich mein, ich sollte es nicht so ernst nehmen, da es ohnehin bloß ein kleiner Spaß von ihm war. Allerdings war das Gefühl, das ich danach hatte …“ er brach ab.
„Ethan, drück dich klar aus“, sagte Brooke und lief etwas langsamer, während sie zu ihm aufsah. „Also – er hat sich einen Scherz mit dir erlaubt. Und was genau ist so schlimm daran?“
„Ich habe etwas gespürt“, brach er hervor und biss sich auf die Zunge, als er begriff, wie lächerlich das, was er gerade sagen wollte eigentlich klang. Er kam sich so dämlich vor.
Brooke runzelte die Stirn und wollte ihn offenbar noch etwas fragen, aber dann wanderte ihr Blick hinter ihn und sie riss die Augen auf, während sich ihr Mund zu einem Schrei formte: „Pass auf!“
Es war wie ein Déjà-vu. Das war Ethan schon mal passiert, als Ryan ihn damals mit seiner Gang verprügelt hatte. Damals war es aber Justin gewesen, der ihm eine Warnung zugerufen hatte.
Obwohl er ahnte, was nun kommen würde, kam Ethans Reaktion auch dieses mal zu spät. Er spürte nur, wie ihn jemand von hinten grob am Kragen packte und heftig zurück riss, sodass er stolperte und hart auf dem Boden landete. Er wäre aufgesprungen, hätte er den Tritt kommen sehen, der ihn im nächsten Moment mitten im Gesicht traf.
Ethan stöhnte auf und griff sich ins Gesicht. Er blutete aus der Nase und spürte einen solchen Schmerz durch seinen Kopf schießen, dass er zu zerbrechen drohte. Sein Kiefer war taub und seine Haut brannte.
„Seit ihr eigentlich völlig bescheuert?!“, hörte er Brooke schreien. Sie kreischte aus vollem Halse und klang total aufgewühlt. Das alles bekam Ethan nur Bruchstückweise mit.
„Halt’s Maul!“, hörte er jemanden fauchen, der sich offenbar an Brooke gewandt hatte.
„Scheiße, er blutet ganz schön heftig. Aber mindestens ist er noch bei Bewusstsein. Fuck, Brandy, wieso müssen du und Ryan immer so übertreiben?“ Die Stimme kam ihm bekannt vor. Der Kerl war letztes Mal auf jeden Fall dabei gewesen. Sein Name war Austin, falls Ethan sich richtig erinnerte.
Er versuchte, die Augen zu öffnen, um nach Ryan zu suchen und nach Brooke zu sehen, die seltsam still geworden war, aber seine Lieder gehorchten ihm nicht.
„Chill, hier ist eh keiner. Außerdem siehst du doch, dass er sich bewegt. Ich hab nicht fest zu getreten.“ Die Stimme war neu. Ethan vermutete, dass sie diesem Brandy gehörte. Von Ryan war nichts zu hören.
„Was zur ..?“, presste Ethan heraus und schaffte es endlich die Augen zu öffnen. Zunächst war das Bild verschwommen. Er hatte Tränen in den Augen. Dann klärte sich aber seine Sicht und er sah zwei Typen über sich stehen. Austin, der letztes Mal schon dabei gewesen war und einen neuen, diesen Brandy.
„Hallo, Prinzessin“, schnurrte Brandy und stieß Ethans Wange vorsichtig mit seiner Schuhspitze an. „Wir hatten noch nicht das Vergnügen.“
„Was soll der Scheiß?“, ächzte Ethan und versuchte sich aufzusetzen. Brandy setzte aber seinen Fuß auf Ethans Brust und ließ es nicht zu. Er verlagerte nicht sein ganzes Gewicht darauf, sodass Ethan noch schmerzlich atmen konnte, aber das hätte sich jeden Moment ändern können.
„Wollte dich nur willkommen heißen. Musste letztes Mal leider wegbleiben, während Ryan und die anderen sich mit dir amüsiert haben“, erklärte Brandy lächelnd und beugte sich vor. Ohne jede Vorwarnung schlug er Ethan mit der Faust, dieses Mal aber glücklicherweise nur von der Seite.
Ethan spuckte etwas aus –, ob Blut oder einfach nur Spucke, wusste er selbst nicht – und verzog den Mund vor Schmerz.
Wie aus Reflex sah er durch eng zusammengekniffene Augen zu dem dritten Typen und Brooke. Sie hatte Tränen in den Augen, hielt sich eine Hand vors Gesicht und hatte eine feuerrote Wange. Der Kerl hatte sie doch nicht etwa geohrfeigt?!
Seltsamerweise gab dieser Gedanke Ethan lange genug Kraft, um sich ruckartig aufsetzen und Brandy von sich stoßen zu können. Dieser geriet ins Stolpern, flog aber nicht hin, sondern trat nur einen Schritt zurück.
„Daniel, ich glaub es stört ihn, dass du seiner Freundin eine verpasst hast!“, lachte Brandy und drehte sich zu dem dritten Kerl um. „Mach es noch mal.“
„Hör auf, das geht jetzt echt zu weit“, warf Austin ein, aber eigentlich hätte er sich die Mühe sparen können. Daniel hatte nämlich schon längst ausgeholt und Brooke eine weitere, schellende Ohrfeige verpasst.
Sie stolperte einen Schritt zurück und atmete etwas schwerer, machte aber sonst nichts. Ethan guckte sie an und sah nichts anderes als Angst in ihren Zügen.
Daniel holte ein drittes mal aus und Ethan wollte aufspringen um sich auf ihn zu stürzen, aber Austin kam ihm zuvor. „Lass es endlich sein!“, fauchte er, während er grob nach Daniels Arm griff. „Sie ist immer noch ein Mädchen.“
„Aber auch eine sehr gute Methode, um ihn so richtig ans Ende seiner Nerven zu bringen“, grinste Brandy und wies mit einem Kopfnicken in Ethans Richtung. „Vielleicht sollte Ryan ja entscheiden, ob wir sie in Seths Rachepläne einbauen wollen.“
„Lass sie in Ruhe“, brach Ethan mühsam heraus, während er sich wackelig aufrichtete. Er konnte nur schwer sprechen.
Brandy sah ihn gelangweilt an. „Sonst was?“
„Wir treffen uns doch sowieso gleich mit Ryan“, sagte Daniel plötzlich. „Wie wär’s, wenn wir sie einfach mitnehmen?“
Als Brooke das hörte, riss sie erschrocken die Augen auf und wollte wegrennen, aber Daniel griff nach ihrem Handgelenk und hielt sie fest, bevor es soweit kommen konnte. „Du bleibst hier!“, zischte er sie an.
„Gar keine schlechte Idee“, sagte Brandy langsam und musterte die Sorge, die sich in Ethans Augen ausbreitete. „Wirklich.“
„Ihr werdet sie nirgendwohin mitnehmen“, stieß Ethan hervor und sah zu Brooke.
Diese wehrte sich gegen Daniels Griff, aber der verdrehte ihr nur den Arm. So fest, dass es fast danach aussah, als würde er ihn brechen wollen. Brooke schrie auf und begann, leise zu weinen.
Und das war der Zünder.
In bloßem Hass stürzte Ethan auf Daniel los und vergaß dabei ganz seinen eigenen Schmerz, er wollte ihn bloß schlagen, treten, ihn zum Schreien bringen, aber Brandy hielt ihn auf. Mit einem gezielten Schlag ins Gesicht setzte er Ethan erneut außer Gefecht.
Stöhnend ging Ethan in die Knie und versuchte, nicht das Bewusstsein zu verlieren. Es kam immer mehr Blut aus seiner Nase und er schien sich die Lippen aufgerissen zu haben, schon wieder.
„Bis irgendwann mal!“, hörte er Brandy rufen, bevor er sich entfernende Schritte wahrnahm.
Es kam Ethan wie eine endlos lange Ewigkeit vor, in der er dort so gesessen und gelitten hatte. Erst, als der Schmerz so sehr nachgelassen hatte, dass er erträglich wurde, hob er vorsichtig den Kopf und sah sich um. Die Jungs waren weg.
Und Brooke mit ihnen.
„Klatsch mich tot, bin ich vielleicht müde“, murmelte Ryan, während er sich das Gesicht rieb. Er hatte letzte Nacht sehr viel und sehr tief geschlafen. Ausgeruht war er seltsamerweise trotzdem nicht. Er wusste auch, dass er, nachdem er gestern auf dem Sofa weg gedämmert war, etwas geträumt hatte, das ihn im Schlaf hatte ständig zusammenfahren lassen.
Er wusste nur nicht mehr, was.
„Hat Brandy vielleicht noch etwas geschrieben?“, wollte Seth wissen, der im Schneidersitz auf einer der Tischtennisplatten auf dem Hof von Ryans Schule saß. Er trug eine ausgeleierte schwarze Hose, einen dreckigen grauen Pulli (der früher mal weiß gewesen sein musste) und eine verkehrt herum aufgesetzte Cap, unter der seine blonden Haare hervorragten. Er sah aus wie ein Junkie.
Das lag vielleicht aber auch nur daran, dass Ryan ihn mitten in einem Drogendeal mit ein paar Russen unterbrochen hatte, um ihn herzubringen.
In Sedred waren Drogen relativ gänglich. Ryan nahm keine, jedenfalls nicht häufig. Und sobald er wusste, hatte Seth auch keine genommen, bevor er hierher gezogen war. Nun war er in so kurzer Zeit noch tiefer in die kriminellen Geschehnisse hier eingetaucht, als dass Ryan es für möglich gehalten hatte.
Armer Seth. Armer, dummer Seth.
„Nein, hat er nicht. Er meinte bloß, ich sollte hier antanzen und dich mitbringen. Keine Ahnung, was er will. Meinte nur, er hätte Neuigkeiten für uns … was stinkt hier eigentlich so? Ich hoffe echt für dich, dass du das Zeug, das du gerade eben noch geraucht hast, nicht noch bei dir trägst.“ Angewidert rümpfte Ryan die Nase und sah an Seth entlang.
„Dieser Sascha hat den Rauch ständig in meine Richtung ausgestoßen“, meinte Seth bloß. „Ich habe gar nichts geraucht. Hatte diese Woche nicht einmal einen Joint.“
„Wenn man dich erwischt, bist du dran“, warf Ryan etwas desinteressiert ein und lehnte sich neben Seth an die Kante der Tischtennisplatte.
Seth zuckte die Schultern. „Und wenn schon. Dein Freund Austin raucht auf gern hin und wieder ne Runde, egal, für wie vernünftig du ihn auch hältst. Und was ist eigentlich mit dir? Dich hab ich auch schon einige male an einer Zigarre ziehen sehen.“
„Es waren bloß Zigaretten“, erwiderte Ryan kalt. „Ich habe ein paar Stück meinem Vater geklaut, die restlichen hat Brandy für mich aufgetrieben. Von Gras und Shisha lasse ich die Finger – im Gegensatz zu anderen“, fügte er düster hinzu.
Statt zu antworten, lächelte Seth ihn schräg an. Erst jetzt fiel Ryan auf, dass seine Augenränder leicht gerötet waren. Von wegen, noch keinen Joint in dieser Woche.
„Hey, Seth … Bist du gerade high oder was?“
„Da ist er ja!“ Brandy tauchte mit einem fetten Grinsen im Gesicht vor dem Eingang zum Schulhof auf, bevor Seth antwortete. Er winkte Ryan zu. „Ich dachte schon, du würdest doch nicht kommen! Hey, Jungs, er ist hier! Beeilt euch mal!“, rief er an den Rest gewandt zu, der noch hinterherkam.
„Ich hoffe bloß, dass es sich gelohnt hat, hierher zu kommen“, brummte Seth und stieß direkt danach ein raues Husten aus. Er hatte auf jeden Fall etwas genommen, da konnte er Ryan so viel vorlügen wie er wollte. „Übrigens hast du mir noch nicht erzählt, wie du Ethan jetzt fertig machen willst. Brandy hat irgendwas von einer bestimmten Methode geschwafelt.“
„Das erzähl ich dir später“, murmelte Ryan, der jetzt keine Lust hatte, darüber zu sprechen. Vielleicht sollte er die ganze Schwulen-Nummer sein lassen. Er war nicht ganz klar im Kopf und sich Ethan jetzt erneut zu nähren wäre da nicht besonders passend.
„Na, wie geht’s euch so?“, fragte Brandy übertrieben freundlich, als er auf die beiden zukam.
„Beschissen“, zischte Ryan mit verschränken Händen.
„Dachte ich mir. Gleich wird es dir aber sehr viel besser gehen, glaub mir.“ Brandy strahlte, was bei ihm eigentlich nichts Gutes heißen konnte. Vielleicht hatte er eine Tasche voll mit Kokain gefunden, vielleicht wurde jemand den er nicht ausstehen konnte verhaftet. Es konnte wirklich alles sein.
Ryan schnaubte. „Das will ich hoffen, sonst wäre ich umsonst gekommen. Dass du mich Schwuchtel genannt hast, hab ich übrigens nicht vergessen.“
„War ja nur Spaß, nur Spaß“, versuchte Brandy ihn zu beschwichtigen.
„Was war denn jetzt so dringend?“, fragte Seth ungeduldig, der Brandy misstrauisch beobachtete.
„Wir haben grad in einer der Gassen rumgehangen, als uns jemand begegnet ist … Jemand, den vor allem du, Seth, sehr gut kennen müsstest“, erzählte Brandy und lächelte ihm zu.
Dieser blinzelte verwirrt.
Genau in diesem Moment erreichten auch Austin und Daniel den Eingang des Schulhofs, ein Mädchen wie einen Hund an den Haaren hinter sich herziehend. Es dauerte nicht lange, bis Ryan erkannte, dass es Brooke war. Sie wehrte sich nicht und schrie auch nicht rum, sondern weinte stumm vor sich hin, wie er es erkennen konnte.
Überrascht hob er die Augenbrauen. „Ihr habt sie verschleppt?“
„Und Ethan haben wir auch noch zusammengeschlagen“, ergänzte Daniel, als er mit Brooke im Schlepptau vor Ryan stehen blieb. „Liegt jetzt höchstwahrscheinlich noch irgendwo auf dem Bürgersteig, falls ihm keiner geholfen hat. Mann, wird der vielleicht Augen machen, wenn er wieder zu sich kommt und merkt, dass seine Freundin weg ist.“ Wie zur Verdeutlichung zog er noch einmal an Brookes Haaren.
Sie saß auf den Knien und hatte den Kopf weggedreht, damit man ihr Gesicht nicht sehen konnte. Das hektische Auf und Abgehen ihrer Schultern verriet aber, dass sie weinte. Ryan konnte sich gut vorstellen, dass Daniel sie vorher kräftig geschlagen hatte und sie vorläufig unter Schock stand.
Er schluckte und starrte sie an. Es war nicht das erste mal, dass seine Jungs irgendwelche Leute verschleppten – bisher war es aber noch nie ein Mädchen gewesen. Er war sich nicht sicher, ob ihm das Ganze so gefiel.
Andererseits sah er sie an und spürte in sich das Verlangen aufwallen, ihr so richtig eine rein zudrücken. Schließlich würde sich auch Ethan dadurch ärgern, würde seiner kleinen Schlampe hinterher trauern und sich Sorgen machen.
Bei diesem Gedanken hätte er eigentlich Freude empfinden sollen, doch er spannte sich nur unwillkürlich an – und das Verlangen, sie fertig zu machen wurde größer.
„Oh man, Brooke, bist du das? FLENNST du etwa? Ich kann’s ja gar nicht glauben! Das wird ja immer besser!“, rief Seth und sprang von der Tischtennisplatte. Er trat an das schluchzende Mädchen und ging in die Hocke, um mit ihr auf einer Augenhöhe zu sein. Er lächelte, und zusammen mit den leicht geröteten Augen hatte dieser Gesichtsausdruck etwas Wahnsinniges an sich.
„Kennst du sie?“, fragte Daniel verwirrt.
„Kennen? Das ist kein Ausdruck!“, fauchte Seth, stand auf und trat Brooke in die Seite. Ryan sah, wie Austin das Ganze argwöhnisch und mit sichtlich unzufriedener Miene beobachtete. „Wenn du wüsstest, wie oft sie mich schon bei Lehrern und meinen Eltern verpfiffen hat! Ist Vorsitzende ihres Jahrgangs, oder etwas in der Art. Keine Ahnung. Macht jedenfalls ne Menge Stress und steht auf meiner Liste nicht sehr weit hinter Ethan.“ Das Glitzern, das dabei in seine geschwollenen Augen trat, war gar nicht gut. Er betrachtete Brooke mit sehr viel Abscheu, was nichts Gutes heißen konnte.
Und trotzdem unternahm Ryan nichts.
„Was sollen wir eurer Meinung nach jetzt mit ihr machen?“, fragte Austin plötzlich, der sich mit verschränkten Armen neben Ryan stellte. „Wir werden wegen ihr noch eine Menge Ärger bekommen und es wird uns nicht einmal bei der Sache mit Ethan helfen. Mir gefällt das alles nicht“, fügte er leise und an Ryan gewandt hinzu.
„Vielleicht doch“, meine Seth und warf Ryan einen bedeutungsvollen Blick zu. Er klang auf einmal ganz leise, ganz gespannt. „Der einzige Grund, warum ich Ethan nicht mal so richtig vermöbeln kann ist, dass mich hier jeder kennt. Jeder würde es sehen und man könnte mich auf der Stelle an die Erwachsenen verraten, ohne das ich erfahren würde, wer es war … aber wenn ich Brooke wegbringen würde, an einen Ort, wo niemand ist … und er mir folgt …“
„Du willst sie entführen?“, fragte Ryan ungläubig.
„Warum nicht?“, entgegnete Seth und zuckte die Schultern.
„Es gibt doch diese verlassenen Häuser außerhalb der Stadt, die bald abgerissen werden müssen“, warf Brandy nachdenklich ein. Offenbar machte er sich wirklich Gedanken darüber. „Ja, warum eigentlich nicht? Wir lassen sie dort mit Seth, der dann endlich Ethan verhauen kann, sobald der dort ankommt und es wird nie einer beweisen können, weil Ethan uns garantiert nicht alle bei der Polizei melden kann und das Mädchen sich gar nicht erst trauen wird, die Fresse aufzureißen.“ Brandy versetzte ihr einen leichten Tritt und sah sie an. „Nicht wahr?“
Brooke antwortete nicht. Sie zitterte nur und hielt sich den schmerzenden Kopf. Daniel hatte immer noch ihre Haare in der Hand und schien sie auch nicht loslassen zu wollen.
„Ryan, das ist eine schlechte Idee, eine ganz schlechte!“, raunte Austin ihm zu und schüttelte ihn am Arm. „Du weißt genauso gut wie ich, dass Seth Grenzen überschreiten wird. Er könnte Ethan nicht nur umbringen, sondern Brooke auch noch dazu. Was ist, wenn er sie in der Zeit vergewaltigt? Nur so aus Spaß, damit Ethan sich aufregt?“
Natürlich hätte das alles sein können, das wusste Ryan selbst. Vor allem, weil ihm immer noch nicht ganz klar war, was Seth eigentlich geraucht hatte. In seinem Zustand könnte er alles machen. Ryan traute ihm sogar zu, Ethan so zu entstellen, dass es nicht mehr lustig war.
Und wenn nur sie verschwindet?, flüsterte etwas in ihm. Was ist, wenn Ethan nicht erfährt, wo sie ist?
„Komm schon!“, versuchte Brandy ihn zu überzeugen.
„Leute, wir sollten das echt sein lassen!“, erwiderte Austin.
Wie Engel und Teufel kamen die beiden Ryan vor, zwei völlig verschiedene Seiten für die man sich entscheiden musste. Und wahrscheinlich hätte sich für gewöhnlich in solchen Momenten sogar Ryans gute Seite in ihm durchgerungen, aber da war immer noch dieses Gefühl in ihm, dass ihn einfach nur aggressiv werden ließ.
Eifersucht, möglicherweise. Quatsch.
Er merkte, dass alle ruhig wurden und ihn gespannt ansahen. Daniel, Seth, Brandy, Austin – und selbst Brooke hatte sich zusammengerissen und sah ihn zwischen ihren blonden Strähnen und aus tränenden Augen von unten an. Ryan erwiderte ihren Blick einige Sekunden ausdruckslos, bevor er sie zaghaft anlächelte und die Schultern zuckte. „Seth hat recht. Warum nicht?“
Ethans Finger zitterten, als er die Nummer seiner Mutter in seinem Handy wählte. Es lag auf dem Tisch eines Cafés und nicht so wie üblich in seiner Hand, denn er war momentan nicht in der Lage, es festzuhalten.
Aus dem Augenwinkel nahm er wahr, dass einige der restlichen Gäste und die rothaarige Kellnerin ihn komisch musterten, aber er scherte sich nicht darum. Sein Herz und sein Kopf pochten immer noch vor Angst und Adrenalin, seine Nase hatte endlich aufgehört zu bluten, tat jedoch immer noch unglaublich weh. Er konnte sich vorstellen, wie er im Moment aussah.
Als es Ethan irgendwann gelungen war, alleine aufzustehen, war er zu dem ersten Cafe gehumpelt, das ihm über den Weg gekommen war. Hier hatte er sich auf dem Klo das Gesicht gewaschen und sich dann hinter einen der freien Tische gesetzt.
Weiter hinten hatte er ein paar Mädchen aus seiner Schule entdeckt, die ihn fast schon entgeistert angestarrt hatten, als er zerschlagen herein gestolpert war. Super. Am Montag würde Justin ihn ordentlich ausfragen, nachdem die halbe Schule über ihn gesprochen hätte.
„Endlich“, flüsterte er, als er die Nummer seiner Mutter fand.
„Kann ich dir helfen?“
Ethan sah erschrocken auf, als er merkte, dass die Kellnerin zu seinem Tisch getreten war und ihm schüchtern zulächelte. Sie hatte wie schon gesagt rote Haare und einige Sommersprossen im Gesicht, war aber nicht viel älter als er. Vielleicht achtzehn, neunzehn Jahre. Wahrscheinlich Studentin die einen Nebenjob machte.
„Braucht du vielleicht etwas?“, fragte sie, als er nichts antwortete. „Ein Taschentuch, etwas zu trinken möglicherweise?“
„Nein, danke“, sagte er und wollte sich abwenden, bevor ihm etwas einfiel. „Kann ich hier sitzen bleiben, ohne etwas zu bestellen? Hab mein Geld vergessen, werde gleich wieder abhauen, versprochen.“
„Bleib ruhig sitzen, ich klär das schon“, sagte sie, bevor sie sich umdrehte und wieder zur Theke ging. So wie er gerade aussah würde sie ihn wohl kaum wieder auf die Straße setzen. Da hatte er wohl Glück gehabt.
„Hallo? Schatz, ich bin bei der Arbeit“, hörte er seine Mutter am anderen Ende flüstern, als sie abhob. „Was willst du denn, Süßer?“
„Schick mir Ryans Nummer“, war Ethans schwache Antwort. „Du hast sie doch sicher. Oder lass sie dir schnell von Jenny geben, falls nicht.“ Nach kurzer Überlegung fügte er hinzu: „Es ist dringend.“
„Ryans Nummer? Wieso brauchst“
Aber da hatte er schon aufgelegt.
Mit knirschenden Zähnen trommelte Ethan mit den Fingern auf der Tischplatte herum und wartete ungeduldig. Fast zehn Minuten vergingen, bevor seine Mutter ihm endlich Ryans Handynummer schickte. Ethan war leider zu dumm gewesen, sie sich aufzuschreiben, bevor er ihm das Handy zurückgegeben hatte.
Er musste sich beeilen. Ihm war schon sowieso viel zu viel Zeit abhanden gekommen. Er hatte mindestens eine halbe Stunde benommen auf dem Bürgersteig herumgesessen, bevor er nach weiteren fünfzehn Minuten in diesem Cafe gelandet war. Fünf Minuten hatte er gebraucht um sich zu waschen und jetzt hatte er noch auf seine Mutter warten müssen. Die Kerle konnten schon Gott wusste wo sein …
Ethan hätte sein Handy an die Wand schmeißen können, als Ryan zum zweiten Mal nicht ran ging. Jedes mal wurde sein Anruf ignoriert. Vermutlich hatte er auf stumm gestellt oder so.
Ethan versuchte es ein drittes Mal. Er schloss die Augen und hoffte. Hoffte auf irgendwas, was ihm hätte helfen können. Hoffte darauf, dass alles wieder gut wurde. Hoffte darauf, dass Brooke nichts passierte. Ihr durfte nichts passieren.
„Ja?“
Er hielt den Atem an, als er am anderen Ende Ryans leicht genervte Stimme hörte. Sein Herz pochte so laut, dass er glatt vergaß, zu sprechen.
„Wer ist da?“
Ethan war immer noch unfähig zu antworten.
„Clary, wenn das wieder einer deiner kindischen Handystreiche ist, leg ich auf und beschwere mich bei deiner Mutter, du kleine Nervensäge!“
„Nein! Nein, ich bin’s, Ethan“, sagte dieser schnell.
Kurz herrschte Schweigen. Dann meinte Ryan unbeteiligt: „Ach, du. Was willst du?“
„Wo ist Brooke?“, fragte Ethan heiser. Seine Kehle war trocken wie sonst was.
„Woher soll ich das wissen? Ruf doch lieber sie an und frag sie selbst“, sagte Ryan im Plauderton.
Er tat also so, als wüsste er von nichts. Das glaubte Ethan nicht. Selbstverständlich hatten ihm Brandy und Austin von allem erzählt, ob übers Telefon oder bei einem Treffen. Das würden sie sich nicht entgehen lassen.
„Hör auf. Ich weiß, dass Brandy dir alles erzählt hat“, zischte Ethan und bemühte sich, leise zu sprechen, damit er nicht von allen gehört wurde. „Ich will wissen, wo sie steckt und ob es ihr gut geht.“
„Keine Ahnung, wovon du redest.“
„Brandy, Austin und so ein Kerl namens Daniel haben mich verprügelt und Brooke dann verschleppt. Ich muss wissen, wo sie sie hingebracht haben und ich bin mir sicher, dass du es weißt.“ Ethan gab sich Mühe, ruhig zu bleiben.
Er hörte, wie Ryan einen angepissten Seufzer ausstieß. „Okay, erwischt. Die beiden haben mir erzählt, was passiert ist, ist grad mal ne halbe Stunde her. Allerdings wirst du nicht erfahren, wo deine Freundin steckt, jedenfalls nicht von mir.“
„Warum nicht?“, fauchte Ethan. Seine Finger klammerten sich um das Handy. Wieso machte Ryan diesen ganzen Scheiß, anstatt ihm zu helfen? Verstand er nicht, dass Brooke mit der ganzen Sache gar nichts zu tun hatte? Wieso wollte er sie unbedingt fertig machen?
„Ist besser für dich. Glaub mir, dir wird nicht gefallen, wenn du erfährst, wo sie steckt. Außerdem wirst du ihr sowieso nicht helfen können, weil du dich gar nicht trauen würdest, ihr zur Hilfe zu kommen.“
„Ach ja? Und warum denkst du so? Ich bin schon mehrmals verprügelt worden, ein weiteres mal wäre kein Problem.“ Ihm wurde heiß um den Hals und er machte seine Jacke auf.
Ryan antwortete einige Sekunden lang nicht und schien zu überlegen, ob er Ethan die Wahrheit sagen sollte oder nicht. Dann sagte er doch etwas – und behielt recht: Die Antwort gefiel Ethan nämlich ganz und gar nicht. „Sie ist bei Seth.“
Etwas schien Ethans Rücken hinunter zu kriechen. Er schluckte. Fing sich dann aber wieder. „Wieso denn das?!“
„Weil er auf dich wartet.“
„Wo steckt er? Ich muss auf der Stelle dorthin.“
Ryan lachte. „Bist du behindert? Er bringt dich um!“
„Dann kommst du eben mit“, entgegnete Ethan.
„Ja, klar. Nein, das mach ich nicht. Wieso sollte ich?“, meinte Ryan gelangweilt.
„Um mir zu helfen?“
„Und wieso sollte ich das wollen?“
„Weil ich dir nicht egal bin“, versuchte Ethan sich raus zureden. „Sonst hättest du mich neulich in der Umkleidekabine nicht vor Seth gewarnt. Sonst hättest du nicht aufgehört, mich zu verfolgen.“
„Ich helfe dir nicht dabei, deine kleine Schlampe zu retten“, stellte Ryan in einem kühnen Ton klar. Offenbar zog er hier den Schlussstrich.
„Komm schon“, bat Ethan und stieß langsam und gepresst die Luft aus. Er erinnerte sich an den Tag, an dem er bei Ryan zu Hause gewesen war und mit diesem geredet hatte. Seit dem damaligen Gespräch hatte Ryan aufgehört, ihn zu verfolgen. Vielleicht würde Ethan dieses Mal sogar noch mehr damit bewirken können … „Sie ist nicht meine Freundin, aber ich will trotzdem, dass es ihr gut geht und ihr nichts passiert. Sie bedeutet mir viel. Und wenn einem eine Person viel bedeutet, will man, dass sie glücklich ist. Kannst du das verstehen?“
Er schluckte und wartete auf eine Antwort, die nicht zu kommen schien.
„Ryan?“
„Wenn du sagst, sie bedeutet dir viel“, fing dieser plötzlich unglaublich gefasst und sachlich an, „was genau meinst du dann damit?“
„Ryan, das ist jetzt nicht-“
„Was genau meinst du damit?“
Ethan atmete tief durch. „Dass ich es mir nicht verzeihen würde, wenn ihr wegen mir was zustößt und dass ich glücklich wäre, wenn ich wüsste, dass sie wieder sicher zu Hause ankommt.“ Aber nicht, dass ich sie liebe, fügte er in Gedanken hinzu, sprach es aber nicht aus.
Als er schon befürchtete, Ryan würde ihn einfach wegdrücken, sagte dieser plötzlich in einer seltsam emotionsloser Stimme: „Komm in fünfzehn Minuten zu mir. Wenn du zu spät kommst, bist du selber Schuld, denn länger warte ich nicht auf dich.“ Und damit legte er auf.
Als Ethan bei Ryan ankam, stand dieser bereits an einem Motorrad lehnend vor seinem Haus und wartete auf ihn. Ryan zog sich gerade Handschuhe über und blickte ihn mit zusammengekniffenen Augen an, als er Ethan kommen sah. „Du kleiner Bastard hättest schon vor fünf Minuten da sein sollen“, knurrte er.
„Und du … hast gesagt … du würdest nicht … warten“, keuchte Ethan, als er vor ihm stehen blieb und sich kurz vorbeugte, um nach Luft zu schnappen. Bis hierher war es ein weiter Weg gewesen, den er hatte rennen müssen, um Zeit zu sparen. Die Schmerzen waren zwar ein Problem, aber kein Hindernis gewesen, um halbwegs pünktlich hierher zu kommen.
„Eigentlich weiß ich gar nicht, warum ich das alles mache“, sagte Ryan, während er den immer noch nach Atem ringenden Ethan mit verschränkten Armen fixierte. Er trug eine graue, lockere Hose, braune Sneakers, ein graues T-Shirt und eine schwarze Lederjacke, die einiges durchgemacht zu haben schien. Außerdem hatte er wieder seine Sonnenbrille und die dunkel rote Mütze aufgesetzt, die er schon getragen hatte, als sie sich kennengelernt hatten.
Der Geruch von Hustenbonbons lag in der Luft.
„Danke, dass du das machst“, flüsterte Ethan, als er wieder normal atmen konnte.
„Sei leise.“
„Ist das deins?“, fragte Ethan erstaunt, als er das Motorrad sah. Es war keins von diesen neuen, bunten Modellen, sondern eher eins von den älteren, die, die beinahe ausschließlich aus schwerem Metall bestanden und ziemlich viel Gewicht auf die Wage brachten. Außerdem konnten darauf zwei Menschen mitfahren, sobald Ethan es beurteilen konnte.
„Ja. Wie findest du’s?“, fragte Ryan grinsend, während er sich auf das Gefährt schwang.
„Darfst du damit überhaupt rumfahren?“, murrte Ethan misstrauisch.
„Keine Angst, ich hab meinen Führerschein. Werde in einem Monat schon neunzehn, vergiss das nicht.“
„In einem Monat“, wiederholte Ethan abwesend. Er musterte Ryan genauer.
„Also? Setzt du dich jetzt hin oder willst du deine Freundin doch nicht mehr retten?“, fragte Ryan verdächtig beiläufig, als er sich zu ihm umdrehte.
Ethan trat an das Motorrad und setzte sich hinter Ryan auf den zweiten Sitz. Er setzte seine Füße auf die dazu angebrachten Pedale, mit den Händen suchte er nach etwas, woran er sich hätte festhalten können.
„Lass das. Das Ding hier hat eine hohe Geschwindigkeit. Wenn du dich nicht richtig festhältst, fliegst du definitiv runter, halt dich also lieber an mir fest“, erklärte Ryan, ohne sich umzudrehen. Er setzte gerade den Motor in Betrieb.
„Ach so“, murmelte Ethan und überlegte. Er wusste nicht, ob er sich an Ryans Seiten oder an seinen Schultern festhalten sollte. Besser an den Schultern, das war weniger unangenehm. Als Ethan seine Finger in Ryans Lederjacke grub, musste er unwillkürlich an den Kuss denken.
Er räusperte sich. „Übrigens, Ryan … Was ich dich noch fragen wollte … also, bei der Meisterschaft in der Umkleide …“
„Vergiss es am besten wieder“, unterbrach Ryan ihn und spannte sich dabei seltsam an. Er warf Ethan einen raschen Schulterblick zu, konzentrierte sich dann aber wieder auf sein Fahrzeug. „War bloß ein schlecht durchdachter Witz. Sorry für den Schock.“
„Kein Ding“, flüsterte Ethan, während er Ryans Hinterkopf anstarrte. Obwohl er die ganze Zeit gewusst hatte, dass der Kuss nichts zu bedeuten gehabt hatte, war es merkwürdig für ihn, das von Ryan zu hören. Er war nicht traurig oder enttäuscht darüber – warum auch? –, fühlte sich aber irgendwie … merkwürdig.
Und komischerweise blieben die Worte die ganze Fahrt über in seinem Gedächtnis hängen.
War bloß ein schlecht durchdachter Witz.
Ein schlecht durchdachter Witz.
Sie rasten über die Autobahn und spürten beide den frischen Wind, der ihnen entgegen schlug. Ryan kniff trotz der Sonnenbrille die Augen zusammen, um beim Fahren besser sehen zu können.
Er kannte den Weg zu den verlassenen Häusern, zu denen Seth gegangen war, ganz genau. Vor einigen Jahren hatten dort öfter die Geschäfte vieler Drogendealer stattgefunden, bevor die Polizei alles abgeriegelt hatte. Trotzdem gingen viele von ihnen hin und wieder dorthin, weil man da einfach unter sich war.
„Wo genau fahren wir jetzt eigentlich hin?!“, rief Ethan ihm ins Ohr, nachdem sie nun schon fünf Minuten fuhren.
„Das wirst du schon sehen, wenn wir dort sind!“, antwortete Ryan über die Schulter hinweg. Ein zufriedenes Lächeln stahl sich auf sein Gesicht, als Ethan die Arme noch fester um seinen Bauch schlang. Er fuhr mittlerweile zu schnell, um sich bloß an den Schultern festzuhalten.
„Wir sind ziemlich schnell unterwegs! Kann es nicht sein, dass wir noch vor den beiden dort ankommen?“, wollte Ethan wissen. Er musste schreien, da ihm der Wind die Worte förmlich aus dem Mund riss.
Ryan schüttelte den Kopf. „Keine Chance! Seth hat mehr als eine halbe Stunde Vorsprung und er hat auch ein eigenes Auto! Vermutlich bereitet er schon alles zur deiner Ankunft vor!“
Darauf antwortete Ethan nicht. Er sagte nichts mehr. Den ganzen, restlichen Weg über.
„Was … ist das?“, fragte Ethan mit weit aufgerissenen Augen, als er von Ryans Motorrad stieg. Dieser hatte direkt vor den verlassenen Häusern geparkt, die ihre Schatten auf den Boden warfen und alles andere als einladend aussahen. Die Fenster waren eingeschlagen, die verdreckte Farbe bröckelte und fiel wie getrocknetes Laub herab, manche Türen fehlten, manche hingen auch nur noch halb in den Angeln und drinnen wartete Dunkelheit. Hinter den drei oder vier Häusern lauerte der Wald, davor eine einsame Straße, die sie die letzten fünf Minuten entlang gefahren waren.
Es war kein guter Ort.
„Seth müsste in dem größten Gebäude da vorne sein“, sagte Ryan und wies auf das gemeinte Haus. „Da musst du rein.“
Ethan drehte sich zu ihm um. „Du kommst nicht mit?!“
„Davon war nie die Rede“, erwiderte Ryan kühl. Er zupfte seine Handschuhe zurecht. „Ich werde jetzt abhauen.“
„Ist das dein Ernst?!“, fragte Ethan, immer noch erstaunt. Offenbar hatte er von Ryan erwartet, dass dieser ihm mit Seth helfen würde. Ryan lachte in sich hinein.
„Ich habe dir gleich gesagt, dass ich dir nicht helfen werde, Brooke da rauszuholen“, sagte er und startete wieder sein Motorrad. Es war laut und er sah, wie Ethan bei dem grellen Geräusch zusammenzuckte. Vermutlich würde sogar Seth, der in einem der Gebäude steckte, den Krach hören und war somit gewarnt. Das war nicht so gut.
„Und wie soll ich später mit Brooke zurückkommen?“
„Sind ja nur fünfzehn bis zwanzig Minuten. Das schafft ihr sicherlich zu Fuß, falls er dich nicht zu schlimm hinrichtet.“ Ryan wollte losfahren, hielt aber noch kurz inne. „Ach ja, Ethan, was ich dir noch sagen wollte …“ Er sah ihm in die Augen. „…Ich will, dass du dich ab jetzt von mir fernhältst. Und zwar nicht die meiste Zeit über, sondern immer.“ Nach kurzem Schweigen fügte er hinzu: „Ich will nichts mehr mit dir zu tun haben.“
„Was? Wieso das?“ Ethan legte die Stirn in Falten und sah ihn verständnislos an.
„Das ist nicht wichtig. Tatsache ist, dass ich nichts mehr von dir hören will.“ Und mit diesen Worten startete Ryan sein Motorrad und fuhr ohne noch einmal zurück zusehen davon, den verdutzten Ethan ließ er einfach stehen.
Als er sich so weit von den Gebäuden entfernt hatte, dass Ethan ihn sicher nicht mehr sehen würde, biss er sich auf die Unterlippe und beschleunigte das Gefährt so sehr, wie es auf dieser Straße noch erlaubt war.
Er hatte es ernst gemeint, er wollte Ethan nicht mehr sehen.
Dieser würde ohnehin selbst nicht mehr viel mit Ryan zu tun haben wollen, sobald er erfuhr, dass es Ryan gewesen war, der Seth erlaubt hatte, Brooke zu verschleppen – und das ohne wirklichen Grund. Na ja, jedenfalls keinen Grund, den Ryan jemals laut aussprechen würde.
Er hatte dieses Mal ordentlich Mist gebaut.
Hoffentlich würde alles noch gut gehen.
Ethan spürte, wie seine Knie nachgaben, als er Ryan hinterher schaute. Dieser fuhr die Straße, auf der sie hierher gekommen waren, wieder zurück und sah nicht einmal zurück.
Was war das denn eben gewesen? Wieso wollte er nichts mehr mit Ethan zu tun haben? Die beiden hatten eh nicht viel Zeit miteinander verbracht und waren keine Freunde gewesen, aber … seltsam war es schon. Irgendwie war es sogar traurig.
Ethan schüttelte den Kopf, um die Gedanken zu vertreiben und sah wieder zu den vier Gebäuden. Zwei davon, die kleineren, sahen aus wie Turnhallen. Sie waren beide mit Schlössern versiegelt, auch wenn die Türen nicht mehr so aussahen, als würden sie noch lange durchhalten. Um die Turnhallen herum lag zerbrochenes Glas, das früher mal zu den Fenstern gehört haben musste.
Es gab ein noch kleineres Gebäude – eher ein Schuppen – das kaum noch stand. Eine der Wände war eingestürzt und das Dach war eingebrochen. Es war unmöglich zu sagen, was das früher mal gewesen war.
Das ganz große Gebäude musste wohl eine Schule sein. Ethan musterte jedes eingeschlagene Fenster einzeln, suchte nach einer Bewegung oder einem Gesicht, irgendwas, was ihm hätte sagen können, wo Seth steckte.
Er fand leider nichts.
Missmutig machte Ethan einige Schritte auf die verlassene Schule zu. Die Türen standen zwar offen, aber er konnte sich nicht vorstellen, dass es erlaubt war, hierher zu kommen.
Hoffentlich hatte Ryan ihn nicht bloß verarscht und Seth war tatsächlich dort drinnen. Sonst könnte Ethan eine Menge Ärger bekommen.
Er ging rein und fand sich in einem langen Flur mit lauter Türen wieder. Die meisten von ihnen vermittelten den Eindruck, als wären sie schon seit langer Zeit nicht mehr aufgemacht worden. Es war dunkel und nur das von draußen herein fallende Licht beleuchtete den schmutzigen Boden.
Mit einem schlechten Gefühl im Magen begann Ethan, in jedem einzelnen Raum nachzusehen. Es waren Klassenräume, mit umgeworfenen oder verschobenen Tischen und Stühlen und vollgekritzelten Tafeln. In manchen Räumen lagen Pistolenkugeln auf dem Boden, in anderen Päckchen mit verdächtigem Pulver darin.
Nach etwa zehn Minuten hatte Ethan das Erdgeschoss komplett durchsucht und nichts gefunden. Weder Seth, noch Brooke. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als nach oben zu gehen. Während er die Treppe hinauf stampfte, strich er beim Vorbeigehen mit dem Finger über die staubigen und schief hängenden Bilder, die von Schülern gemalt worden waren, als man hier noch unterrichtet hatte. Es war eine Grundschule, wie er feststellte.
Ethan verhielt sich leise, während er die restlichen Klassenräume durchsuchte und warf immer wieder nervöse Blicke über die Schulter, aus Angst, Seth könnte sich von hinten an ihn ran schleichen.
Er musste sich beeilen, wenn er hier raus wollte, bevor es dunkel wurde.
„Wo bleibt er denn so lange?“ Diesen Satz wiederholte Seth nun schon, seit er die Motorradgeräusche von draußen gehört hatte. Er lehnte neben der Tür des Kellers und fuhr ständig prüfend mit dem Daumen über die blanke Klinge seines Taschenmessers.
Das war aber nicht die einzige Waffe, die er dabei hatte. Ansonsten hatte Brooke noch gesehen, wie er ein Metallrohr neben sich abgelegt hatte. Das war gefährlich. Ein Schlag mit einem Baseballschläger konnte Schmerzen verursachen, ein Schlag mit dem Rohr da vorne konnte schlimmer enden.
Sie versuchte sich zu entspannen, aber es gelang ihr nicht.
An einen Stuhl gefesselt und geknebelt saß sie da und konnte keinen Ton raus bringen. Seth hatte ihr anfangs auch noch die Augen verbinden wollen, es sich dann aber anders überlegt. Vermutlich wollte er, dass sie zusah, wie er Ethan verdrosch, dieses Schwein.
Er hatte sie in seinem Wagen hierher gebracht, in den Keller einer verlassenen Grundschule. Hier gab es keinen Strom, also auch kein Licht, und es war schrecklich dunkel. Mittlerweile hatten sich Brookes verweinte Augen aber an die Finsternis gewöhnt und Seth hatte glücklicherweise eine kleine Taschenlampe dabei gehabt, die er auf dem Tisch abgestellt hatte.
Brooke war sich nicht sicher, in was für einem Raum sie sich eigentlich befanden. In der Dunkelheit konnte sie so etwas wie Stromkästen neben sich ausmachen, ansonsten waren da bloß noch der Tisch und der Stuhl, auf dem sie saß.
„Wo bleibt er so lange?“, hörte sie Seth wieder schimpfen. Er wurde jede Minute ungeduldiger. „Durchsucht er alle Klassenräume oder wie?“
Brooke machte den Fehler, bei seinen Worten die Augen zu verdrehen. Seth sah es und fixierte sie nachdenklich.
„Wenn er dich weinen hören würde, würde er uns schnell finden“, sprach er seine Gedanken laut aus, und Brooke spürte wie ihr die Farbe aus dem Gesicht wich. Seth konnte ihr wehtun, das wusste sie. Auf dem Weg hierher hatte er sie einige male geohrfeigt, manchmal sogar getreten. Außerdem hatte er sie an den Haaren gezogen, wie es dieser Daniel gemacht hatte.
Diese Schmerzen würde Brooke lange nicht vergessen.
„Mal sehen, wo er bleibt“, sagte Seth plötzlich und ließ das Messer einschnappen. Er legte es in seine Tasche und hob das Metallrohr auf. Mit einem letzten, prüfenden Blick in Brookes Richtung verschwand er aus der Tür und ließ sie allein. Sie hörte noch, wie sich seine Schritte entfernten, bevor alles ruhig wurde.
Brooke versuchte, ihre Handgelenke zu bewegen. Seth hatte sie mit einem Metalldraht gefesselt, was hieß, dass wenn sie sich zu ruckartig bewegte, er ihr in die Haut schnitt. Er hatte sich das gut überlegt. Unwillkürlich fragte sich Brooke, ob es das erste Mal war, dass er Menschen fesselte.
Das Tuch, mit dem er sie geknebelt hatte, schmeckte und roch scheußlich. Vermutlich war es ein alter Tafellappen oder etwas Ähnliches. Brooke verzog das Gesicht.
Sie erstarrte, als sie wieder Schritte hörte. Eilige, gehetzte Schritte. Ihr Herz begann vor Angst schneller zu schlagen, aber es war nicht Seth, der in der Tür auftauchte, sondern Ethan.
Erleichtert atmete sie auf.
„Brooke?“, fragte er, während er besorgt auf sie zulief. Er kniete sich vor ihr hin und entfernte das Tuch von ihrem Gesicht.
Brooke würgte, den widerlichen Geschmack noch auf der Zunge, hustete und sah ihn dann mit glänzenden Augen an. „Endlich bist du hier!“
„Wie geht es dir?“, wollte Ethan wissen, während er sich hinter ihr niederließ und begann, ihre Fesseln zu lösen. Das machte er vorsichtig, um sie nicht zu verletzen.
„Es geht. Wir müssen schnell abhauen. Wie bist du überhaupt hierher gekommen?“
„Ryan hat mich hierher gebracht“, erklärte Ethan, mit den Gedanken bei den Fesseln.
„Ryan war das?“ Brooke hob die Augenbrauen und versuchte, sich zu ihm umzudrehen.
„Ja, warum?“
„Weil er es war, der Seth überhaupt erst erlaubt hat, mich hierher zu verschleppen!“ Sie musste sich beherrschen, um nicht zu schreien, konnte aber spüren, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss.
Für einen Moment sah Ethan sprachlos aus, was sie selbst in dieser Dunkelheit erkennen konnte, dann hatte er sich wieder gefasst. „Das klär ich mit ihm später.“
Brooke fragte nicht, warum ihn das so verblüffte.
„Wo ist Seth?“, wollte Ethan wissen, als er die Fesseln fast gelöst hatte. Brooke spürte, wie sie immer lockerer wurden. Inzwischen konnte sie ihre Hände bewegen, ohne befürchten zu müssen, sich zu verletzen.
„Er ist dich suchen gegangen“, antwortete sie.
„Und hat dich auch endlich gefunden.“
Beide fuhren zusammen, als sie plötzlich Seths Stimme hörten, nicht weit von ihnen entfernt. Er lehnte im Türrahmen und ließ das Metallrohr bedrohlich hin und her schwingen, dabei versuchte er so gelassen wie möglich rüberzukommen. In seinen Augen sah Brooke aber dieses Glitzern, diese Freude über Ethans Erscheinen. Und noch etwas sah sie in seinem Gesicht: Blutdurst.
„Du bist wirklich zur falschen Zeit aufgetaucht. Eigentlich wollte ich dir einen Schlag auf den Hinterkopf verpassen, wenn du hier reinkommst und nur auf deine gefesselte Freundin achtest, damit ich mich nicht weiter mit dir rumschlagen muss. Es war ein Fehler, dich suchen zu gehen.“ Seth lächelte, das schwache Licht der Taschenlampe auf dem Tisch ließ scharfe Schatten in seinen Gesichtszügen entstehen.
Brooke hörte, wie sich Ethan hinter ihr langsam aufrichtete. „Ja, ich bin nicht auf die Idee gekommen, zuerst zu dem Teil der Schule zu gehen, an dem es am düstersten ist … hab ganz vergessen, wie sehr du Horrorfilme magst.“ Er klang gefasst, hatte aber Angst. Das merkte sie schnell.
Seth lachte, hob dann seinen Arm und wies mit dem Metallrohr drohend auf ihn. „Komm her.“
„Ich will mich nicht mit dir prügeln“, sagte Ethan und trat hinter dem Stuhl hervor. Er bewegte sich seltsam steif: Brooke begriff erst wenige Sekunden später, dass er in die Richtung des Tisches wanderte, dort, wo die Taschenlampe stand. Wenige Schritte davon entfernt blieb er stehen.
„Das ist nicht mein Problem“, entgegnete Seth und machte einen Schritt auf ihn zu. Dann, mit einem schnellen Satz nach vorne, sprang er an Ethan heran und holte mit dem Rohr aus, um dessen Kopf zu treffen.
„Nein!“, schrie Brooke, aber das war nicht nötig. Ethan sah es kommen.
Im selben Augenblick ging er in die Hocke und wich dem an seinem Kopf vorbei sausenden Rohr aus, während seine Hand zu der Taschenlampe auf dem Tisch neben ihm schoss. Brooke sah noch, wie er dem überraschten Seth mit der Taschenlampe zwischen die Beine schlug und sich auf ihn stürzte, um ihn von den Beinen zu werfen, bevor das Licht völlig erlosch. Die beiden Jungs schlugen im Dunkeln aufeinander ein und rollten über den staubigen Boden, schnaufend und keuchend wie Wildkatzen.
Ein Klirren erklang. Ethan war es irgendwie gelungen, das Metallrohr weg zu kicken.
Brooke rüttelte an ihren Fesseln und wollte sich befreien. Als sie es schaffte, loszukommen, ließ sie sich vom Stuhl fallen und begann, wild über den Boden zu tasten. Das Metallrohr, wo war das verfluchte Metallrohr? Sie sah gar nichts.
„Ich bring dich um!“, hörte sie Seth hysterisch schreien. Seine Stimme war ganz in der Nähe. Brooke musste aufpassen, nicht in die Schlägerei hineinzugeraten.
Sie kroch weiter über den Boden und tastete in allen Ecken nach dem Rohr. Als sie bereits dachte, sie würde es nicht mehr finden, stießen ihre Finger gegen etwas Kaltes. Sie atmete auf.
Noch in derselben Sekunde hörte sie Ethan schmerzvoll aufschreien. Noch einige Augenblicke verstrichen, dann leuchtete das matte Licht der Taschenlampe wieder auf. Ethan saß an die Wand gelehnt da und hielt sich den blutenden Arm. Vor ihm stand Seth vor Wut kochend, in der einen Hand die Taschenlampe, in der anderen das Taschenmesser, das er mitgebracht hatte.
„Du kleines Arschloch!“, zischte er, während er sich mit dem Ärmel über die blutende Lippe fuhr. Ethan sah nicht gut aus, aber Seth hatte auch einiges davontragen müssen. Seine Schultern hoben und senkten sich verkrampft, er hustete. „Ich stech dich ab!“
Noch bevor er das Messer heben konnte, schlossen sich Brookes zitternden Finger um das Rohr und sie hob es hoch. Es war viel zu schwer für sie, aber mit dem nötigen Schwung konnte sie es zumindest anheben. Sie holte aus, ohne zu zielen und schlug mit Tränen in den Augen zu – und traf genau seinen Kopf.
Seth stolperte nach vorne und drehte sich noch kurz zu ihr um, die Augen glasig und unheimlich verdreht, bevor er mit einem leisen Stöhnen zusammensackte. Er landete direkt neben Ethan mit einem harten Aufprall auf dem Boden, der ihn unsanft von sich stieß. Dann nahm er Seth das Messer aus der Hand und warf es in eine Ecke des Raumes.
„Oh Gott“, flüsterte Brooke und hielt sich die Hand vor den Mund, während sie den bewusstlosen Seth anstarrte. „Oh Gott.“
„Es ist alles okay“, flüsterte Ethan, während er sich aufrappelte. Er hielt immer noch seinen blutenden Arm, als er auf sie zukam. Die Wunde war glücklicherweise nicht so stark, wie Brooke es zuerst angenommen hatte.
„Er ist tot“, flüsterte sie.
„Nein, ist er nicht. Er atmet noch. Du hast ihn bloß vorübergehend außer Gefecht gesetzt. Siehst du, er blutet nicht einmal am Kopf.“
„Vielleicht hat er eine Gehirnerschütterung“, schluchzte sie.
Ethan legte ihr den Arm und die Schulter und drückte sie an sich. „Er wird’s überleben. Versprochen.“
Brooke entschied sich, ihm vorerst zu glauben. Sie ließ das Metallrohr fallen und hob stattdessen die Taschenlampe auf, die Seth immer noch umklammert hielt. Damit leuchtete sie Ethan an. „Dein Arm.“
„Es ist nichts Schlimmes“, sagte er schnell. „Ich hab mich nur erschrocken, als er zugestochen hat.“
„Was machen wir jetzt mit ihm?“
„Wir müssen ihn ins Krankenhaus bringen. Kannst du fahren?“
„Ja. Du nicht?“
„Bin noch nicht volljährig. Erst in einem Monat.“
„Oh.“
„Na los. Wir müssen ihn in seinen Wagen bringen. Hoffentlich hat er seine Schlüssel noch bei sich.“
„In Ordnung.“
Zusammen schafften sie es irgendwie, Seth hochzuheben und ihn aus dem Keller zu schleppen. Das war leicht, selbst bei der Treppe (er war ja nicht sonderlich schwer). Ein größeres Problem war, ihn in seinen Wagen zu kriegen. Sie brauchen fünf Minuten, ihn auf den Rücksitz zu legen und es so aussehen zu lassen, als ob er schlief.
„Und was machen wir, wenn er jemandem erzählt, was hier vorgefallen ist?“, fragte Brooke, als sie sich auf dem Fahrersitz niederließ. Seths Auto war nicht besonders groß und auch nicht sehr sauber, aber zumindest schien es ordentlich zu funktionieren. „Dann werden wir doch auch Ärger mit der Polizei bekommen, weil wir ihn beinahe umgebracht hätten.“
„Wird er nicht“, versicherte Ethan, der auf dem Beifahrersitz saß. „Glaub mir. Die kennen ihn, ganz bestimmt. Er wird sich nicht trauen, zur Polizei zu gehen, weil das ihre Aufmerksamkeit auf ihn lenken würde.“
„Und was sagen wir den Leuten im Krankenhaus? Zum Beispiel wenn sie fragen, was eigentlich passiert ist?“
Ethan zuckte die Schultern. „Wir waren auf dem Sportplatz, er ist gestolpert, gefallen und hat sich den Kopf gestoßen. Dreckig genug sehen wir aus, dass sie uns das glauben.“ Er lächelte.
Jetzt, wo er das sagte, fiel Brooke auf, dass er ziemlich mitgenommen aussah. Sein ganzes Gesicht war voller Staub, er war dreckig und zerschlagen. An seiner Jacke klebte Blut von der Verletzung, die Seth ihm zugefügt hatte.
„Wir sollten jetzt losfahren“, sagte Ethan plötzlich, wobei sein Blick zu dem Fenster wanderte und er scheinbar in weite Ferne zu sehen schien. „Ich habe hiernach noch etwas zu erledigen.“
„Hier steht meine Handynummer, meine Telefonnummer und die Nummer des Büros meiner Mutter“, sagte Ethan und zeigte dem jungen Arzt die jeweiligen Zahlen. Er hatte sie auf ein zerknülltes Blatt gekritzelt und hoffte, dass er sie richtig aufgeschrieben und sich nicht irgendwo vertan hatte. „Ich bin also immer erreichbar.“
„In Ordnung. Dein Name war Ethan, richtig?“, fragte der Mann, während er den Zettel in seine Tasche steckte und mit konzentrierter Miene ein Formular ausfüllte. Er saß hinter einem Tisch in einem kleinen Raum voller Schränke mit Papieren und einem PC, zu dem offenbar nicht viele Menschen Zugang hatten. Hier drinnen war es stickig und es roch nach Desinfektionsmittel.
„Ja“, bestätigte Ethan müde.
Er hielt sich in dem Krankenhaus, das in seiner Gegend lag auf und sprach gerade mit einem der Ärzte. Er und Brooke waren mit Seths Auto hierher gefahren und hatten ihn hier abgegeben. Das war inzwischen eine Stunde her und er war immer noch nicht aufgewacht. Die Angestellten hatten Ethan nicht gehen lassen, sie hatten ihn ausgefragt und ihn lauter Papiere ausfüllen lassen, in denen er den „Unfall“ hatte beschreiben müssen.
Brooke saß währenddessen in Seths Wagen und wartete auf ihn.
„Kann ich jetzt gehen?“, wollte Ethan wissen, als der Arzt das Formular vollständig ausgefüllt hatte und nach einem Stempel griff.
Er zuckte die Schultern. Sein Kittel hing etwas schief und die Brille an seiner Nase war verrutscht, seine schwarzen Haare waren zerzaust und er gähnte hin und wieder. Der Mann schien ziemlich fertig zu sein, woran auch immer das lag. „Ich denke schon. Es kann jedoch gut sein, dass wir Sie kontaktieren müssen, falls bei uns weitere Fragen entstehen sollten …“
„Okay.“ Ethan trat unsicher einen Schritt zurück. Er trug eine alte, viel zu große Jacke die er in Seths Kofferraum gefunden hatte, damit man die Wunde an seinem Arm nicht sah. Er hatte sie zunächst für harmlos gehalten. Inzwischen hatte sich das Blut aber durch seinen Pullover gefressen und es tat höllisch weh.
Er wollte aber nichts sagen, sonst würden sie ihn aufhalten, würden seine Mutter benachrichtigen … Dafür hatte er keine Zeit. Er musste noch etwas erledigen.
„Sie sagten, Sie hätten die Eltern des Jungen kontaktiert?“, fragte der Mann Ethan, als dieser bereits in der Tür des Arbeitszimmers stand und im Begriff war, zu gehen.
„Seine Mutter müsste bald kommen“, antwortete Ethan, bevor er rausging. Bevor er Seth ins Krankenhaus geschleppt hatte, hatte er dessen Handy genommen und zwei Nachrichten verfasst.
Die erste war an Seths Mutter gerichtet und lautete ungefähr so: Hab ein wenig Scheiße gebaut, liege im Krankenhaus. Nichts Ernstes, bloß eine kleine Wunde am Kopf. Kannst du bitte kommen? Es ist das Krankenhaus in unserer Nähe.
Die andere Nachricht hatte Ethan an Rea geschickt – glücklicherweise hatte Seth ihre Nummer eingespeichert: Hey, Rea, ich bin’s, Ethan. Ich habe Seth getroffen und schreibe von seinem Handy aus. Ich hoffe, dir geht es gut. Mir ist aufgefallen, dass ich nie die Gelegenheit hatte, mich wirklich bei dir zu entschuldigen, deswegen wollte ich dir sagen, dass es mir leid tut. Ich denke oft daran, was ich dir angetan habe und bereue es jeden Tag auf’s Neue. Ich wünsche dir noch ein schönes Leben und dass es dir mittlerweile besser geht. Möglicherweise kannst du mir irgendwann verzeihen. – Ethan.
Das war ihm erstaunlich schwer gefallen. Unendlich lange hatte er auf den Text gestarrt, bevor er ihn schließlich verschickt hatte, unendlich oft hatte er ihn sich durchgelesen. Er konnte sich auch sehr gut vorstellen, dass ihr diese lahme Entschuldigung nicht reichen würde, aber mehr konnte er nicht tun. Er konnte weder die Zeit zurück drehen, noch alles ungeschehen machen. Er konnte nur bereuen.
Als Ethan das Krankenhaus verließ, schlug ihm draußen die kalte Nachtluft entgegen und er zog Seths Jacke etwas enger um seine Schultern. Er verzog das Gesicht, als ein stechender Schmerz wieder durch seinen Oberarm schoss. Langsam schlenderte er in die Richtung, in der er und Brooke Seths Wagen geparkt hatten.
Dann entdeckte er sie, wie sie an dem Auto lehnte und mit um sich geschlungenen Armen an dem Auto lehnte. Sie wartete auf ihn und er sah, wie sich ein zahmes Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitete, als sie ihn kommen sah. „Hey. Und?“ Ein leichter Hauch von Nervosität schwang in ihrer Stimme mit.
„Er wird schon wieder“, sagte Ethan bloß. Er öffnete den Kofferraum und wechselte Seths Jacke wieder gegen seine eigene. Sie sah schlecht aus, war dreckig und zerrissen. Getrocknetes Blut klebte an der Stelle, an der Seth ihn mit dem Messer erwischt hatte.
Ethan schauderte bei der Erinnerung.
„Er hätte uns vermutlich umgebracht, wenn ich ihn nicht zu Boden geschlagen hätte, oder?“, fragte Brooke plötzlich, während sie zum Himmel aufsah. Es war zwar noch nicht besonders spät, aber relativ dunkel. Oben tauchten die ersten Sterne auf und im Mondlicht konnte Ethan die winzigen Tränen erkennen, die sich in ihren großen Augen sammelten.
„Soll ich ehrlich sein? Ich habe keine Ahnung. Es hätte gut sein können. Wir können also nur froh sein, dass wir davongekommen sind.“ Erschöpft schloss Ethan wieder den Kofferraum und zog sich seine Jacke über, dabei achtete er besonders auf seinen Oberarm. So würde er sicher nicht mehr Basketball spielen können.
„Ethan?“
„Hmm?“
„Danke. Dass du mich da raus geholt hast, meine ich.“
„Ehrensache“, lächelte er. „Hätte ich dich einfach da lassen sollen?“
„Ich fand es trotzdem sehr mutig von dir.“ Zögernd trat sie auf ihn zu. Verwirrt sah Ethan sie an. Brooke mied seinen Blick, hob dann aber doch die Augen und blickte ihn an. „Danke.“
Er sah noch, wie sie sich auf die Zehenspitzen stellte und sich schnell zu ihm vorbeugte – schneller war aber Ethans Finger, der sich zwischen ihre Lippen drängte, bevor diese sich berühren konnten.
Für einen Moment verharrten sie so, unmittelbar von einander entfernt.
„Was wird das?“, flüsterte er, als sie sich erschrocken von ihm löste und verdutzt einen Schritt zurücktrat. Er begriff gar nichts mehr und ließ die Hand langsam sinken.
„T-Tut mir irre leid“, stotterte Brooke und drehte ihr Gesicht weg. Ihr schoss das Blut ins Gesicht und sie schlug sich die Hand vor den Mund, ihr Blick sprang von einem Punkt zum anderen. Er hatte sie selten so fassungslos erlebt. „Ich dachte …“
„Brooke“, sagte Ethan leise und mit leicht geweiteten Augen, als er verstand, was hier eigentlich los war.
Sie hatte ihn küssen wollen. Also mochte sie ihn, mochte ihn wirklich.
Er sie aber nicht, wie ihm bewusst wurde. Sie war eine Freundin und wenn er sie jetzt geküsst hätte, hätte das kein gutes Ende genommen.
Freundschaft mit Liebe verwechseln, diesen Fehler hatte er schon einmal gemacht. Vor langer Zeit.
„Das ist mir echt peinlich“, murmelte sie, das Gesicht immer noch abgewandt. Auf einmal tat sie ihm schrecklich leid. Sie hatte an diesem Tag so viel durchgemacht und jetzt auch noch das. Das war wohl echt zu viel.
Er wollte es ihr erklären. „Hör zu …“
„Nein, das ist nicht schlimm oder so“, unterbrach sie ihn stotternd. Ihre Stimme zitterte. „Wenn du mich nicht willst, dann …“
„Das ist nicht so wie du denkst.“
„Ist schon okay. Ich würde nur gern …“ Sie brach ab und schüttelte den Kopf. Das alles war ihr sichtlich unangenehm. „Können wir das alles vergessen? Bitte, lass uns einfach nicht mehr darüber reden. Ich meine“
„Ich bin schwul“, unterbrach Ethan sie und fühlte sich, als würde ihm ein großer Stein vom Herzen fallen. Ein gewaltiger Felsbrocken, um genau zu sein.
Überrascht sah sie ihn an. Sie schluckte, musterte ihn mit Verblüffung und legte den Kopf schief. Die Röte wich gemächlich wieder aus ihren Wangen. „Was?“
„Ich bin schwul“, wiederholte er mit bebenden Schultern und dehnte jedes Wort. Es hörte sich eher danach an, als würde er mit sich selbst sprechen, als mit ihr. Kein Wunder, schließlich war es das erste Mal, dass er seine Befürchtung laut aussprach.
„Du … Wirklich?“ Brooke blinzelte, schien sich aber wieder gefasst zu haben. Ein bedrückendes Schweigen entstand zwischen ihnen.
„Ich glaube schon“, murmelte Ethan missmutig nach einer Weile.
„Seit wann?“, fragte sie.
„Schon immer, glaube ich. Gemerkt habe ich es aber … nach einem kleinen Zwischenfall, von dem ich dir lieber später erzählen werde“, brach er erstickt hervor und lächelte, in dem Versuch, die Stimmung dadurch zu lockern.
Es brachte nichts. Misstrauisch musterte sie ihn. „Und Rea?“
Ethan hob hilflos die Schultern. „Wie gesagt – die Beziehung war ein schwerer Fehler.“
„Oh.“ Sie schien sich nicht sicher zu sein, ob sie ihm glauben sollte, bis sie letztendlich geschlagen seufzte und sein Lächeln erwiderte. Es wirkte immer noch ein wenig fremd und zurückhaltend, aber es war immer noch besser, als sie so traurig zu sehen. „Ich schätze, das lässt sich nicht ändern. Damit wird ich leben müssen.“
„Und für dich ist das okay?“, fragte Ethan behutsam. Er hatte selten Mädchen zurückweisen müssen und er tat das nur sehr ungern. Er fühlte sich immer, als hätte er ihnen damit sehr wehgetan.
„Es geht. Ist nur ein bisschen peinlich“, gestand Brooke.
„Wie lange … magst du mich eigentlich schon?“, traute er sich seine Frage zu stellen. Eigentlich hätte er merken müssen, dass sie in ihn verliebt war. Dass sie sich immer hübsch gemacht hatte, wenn sie zusammen was unternommen hatten, dass sie ihn im Bus auf ihren Schoss gelegt hatte.
Ihm wurde schmerzlich bewusst, was für ein Vollidiot er eigentlich war.
Brooke zuckte die Achseln. „Schon länger. Anfangs fand ich dich nur süß. Das hat sich mit der Zeit verändert.“ Ihre Mundwinkel zuckten.
„Verstehe“, flüsterte er und sah betreten auf den Asphalt. Er schämte sich in dem Moment in Grund und Boden.
„Kannst du mir einen Gefallen tun?“, fragte Brooke plötzlich in einer normalen Stimme, so als sei nichts gewesen. „Lass uns das alles vergessen. Alles, was in den letzten Minuten hier abgelaufen ist.“ Sie schmunzelte leicht und er spürte, wie sich seine Anspannung löste.
Er hatte sie also nicht verloren.
„Wenn du mir hingegen auch einen Gefallen tust“, erwiderte Ethan.
„Was denn?“
„Brooke, ich weiß, dass der Tag lang war. Dass du Angst hattest und dass du … eben noch was einstecken musstest, aber ich kann nicht fahren. Ich muss noch wohin und ich wäre dir für immer dankbar, wenn du mich dorthin bringen könntest. Es ist dringend.“
„In Ordnung“, antwortete sie und musterte ihn. Kurz herrschte Schweigen, bevor sie wieder zu ihm trat und ihn umarmte. Nicht wie eine Person die man liebte, sondern bloß wie eine Person die man um keinen Preis verlieren wollte und auch wenn viele Menschen das nicht glaubten, aber zwischen diesen beiden Dingen bestand ein großer Unterschied.
Ethan erwiderte die Umarmung und seufzte.
Er hatte dieses Mädchen wirklich gern und wollte nicht, dass ihr was zustieß. Heute war sie davongekommen, aber würde das weiterhin so bleiben? Er musste mit Ryan sprechen, egal, ob dieser noch was von ihm hören wollte oder nicht.
Er musste ihm klar machen, dass die Sache zwischen Ethan, Ryan und Seth nur die drei etwas anging und Brooke dort außen-vor bleiben musste.
„Wo genau sind wir?“, fragte Brooke, als sie an einer Ecke zum Stehen kamen. Sie konnten nicht direkt vor Ryans Haus anhalten und mussten deswegen um die Ecke parken. Sollte Ethan recht sein. Er wollte ohnehin nicht, dass Ryan sah, wer zu ihm kam. Möglicherweise würde er noch die Tür verriegeln.
„Ich bin gleich wieder da“, sagte Ethan und stieg aus dem Wagen. Sie hatten etwa zehn Minuten vom Krankenhaus hierher gebraucht.
„Warte, wo willst du denn“, setzte Brooke an, aber da schlug er auch schon die Autotür hinter sich zu.
Während Ethan auf den Eingang zum Haus zuging, musterte er Ryans Fenster. Das Licht brannte. Jemand war also bei ihm zu Hause. Falls seine Eltern da waren, würde er nicht drum herum kommen, Ethan die Tür zu öffnen. Super.
Mit zusammengekniffenen Augen suchte Ethan in der Dunkelheit nach Ryans Namensschild, bevor er anschalte. Nach wenigen Sekunden folgte ein Surren und die Tür wurde geöffnet. Ethan lächelte. In seinem Innersten hatte er das nicht erwartet.
Erschöpft stampfte er die Treppe hoch, bis er den Stock erreichte, in dem Ryan lebte. Die Wohnungstür war immer noch geschlossen, erst als Ethan davor stehen blieb ging sie knarrend auf.
„Was denn?“, knurrte Ryan, während er sich müde die Augen rieb. Seine schwarzen Haare standen wild von seinem Kopf ab und er trug ein lockeres, schwarzes T-Shirt mit einer blau karierten Boxersthorts. Als er aufsah und bemerkte, wer vor ihm stand, wich mit einem mal die Farbe aus seinem Gesicht.
„So machst du Menschen die Tür auf?“, fragte Ethan schmunzelnd und musterte ihn von oben bis unten.
Unsicher trat Ryan einen Schritt zurück. „Ich dachte es wären wieder die Nachbarskinder“, murmelte er, während er versuchte, sich ein wenig hinter seiner halbgeöffneten Tür zu verstecken. Genervt richtete er die Augen wieder auf Ethan. „Was willst du?“
„Mit dir reden. Ist mir egal, ob du gesagt hast, dass du nichts mehr von mir wissen willst, ich“
„Du blutest“, unterbrach Ryan ihn trocken und starrte auf die Wunde an Ethans Arm. Sie sah gar nicht mehr gut aus. Der Stoff drum herum hatte sich inzwischen fast schwarz verfärbt.
„Das ist nichts. Viel wichtiger ist, dass …“
„Bist du behindert? Du Vollidiot verblutest noch!“ Ryan machte die Tür widerwillig ganz auf. „Na los, komm rein.“
„Brooke wartet unten in Seths Auto“, erwähnte Ethan, während er die Wohnung betrat und die Schuhe abstreifte. Er zog seine Jacke aus und als er sich umdrehte, stellte er fest, dass Ryan ihn skeptisch beobachtete.
„Du hast sie also zurückgeholt?“
„Ja.“
„Und was ist mit Seth?“
„Der liegt jetzt im Krankenhaus, wir haben ihn ausschalten müssen, damit er uns nicht umbringt. Wir sind mit seinem Auto zurück gefahren und …“
„Was denn? Ihr wart im Krankenhaus und du Pfosten hast dich nicht verarzten lassen?“, fragte Ryan ein wenig aufgebracht, während er Ethan am Handgelenk packte und ihn in die Küche zerrte. Dort suchte er in einigen Fächern Verbandszeug heraus.
„Das hätte mich aufgehalten“, erklärte Ethan und lehnte sich gegen den Tisch. „Und ich wollte zuvor mit dir reden.“
„Ich dachte, ich hätte dir gesagt, dass du dich von mir fernhalten sollst!“, zischte Ryan und legte das Verbandszeug auf dem Tisch ab. „Worüber denn überhaupt, wenn schon?“
„Wieso hast du zugelassen, dass Seth Brooke verschleppt?“
Für einen Moment biss Ryan sich auf die Unterlippe und sah Ethan in die Augen. Dann schnaubte er, griff nach einem Fläschchen mit einer stark riechenden Flüssigkeit und zog den Ärmel von Ethans Pulli hoch. „Ist das wichtig?“
„Ryan, Brooke hat mit all dem nichts zu tun. Seth will sich an mir rächen, okay. Ich hab immerhin ihm und seiner Schwester das Leben ruiniert. Du willst ihm dabei helfen? Kein Ding, du scheinst mich ja nicht besonders zu mögen und schlägst gerne. Aber wenn ihr anfangt, ein völlig unschuldiges Mädchen in die Sache mit einzubeziehen, geht das zu weit …“
Er verzog das Gesicht, als Ryan ein Tuch mit der Flüssigkeit tränkte und begann, die Wunde zu desinfizieren. „Ich hab nichts gegen dich“, murmelte er dabei kleinlaut und ohne Ethan anzusehen.
„Aber warum machst du dann diese ganze Scheiße?“
Ryan fing an, einen Verband um die Wunde zu binden. „Ich … Ich weiß nicht“ Er seufzte. „Ich glaube, du könntest das gar nicht begreifen.“
Die beiden schwiegen eine Weile, in der Ryan damit beschäftigt war, den Verband säuberlich anzubringen. Er war ziemlich gut darin. Irgendwann sah Ethan sich um und bemerkte, dass im Wohnzimmer zwar der Fernseher lief, sonst aber von niemandem was zu hören war. „Sag mal, sind deine Eltern nicht zu Hause?“
„Sind übers Wochenende weg“, antwortete Ryan, als er mit dem Verband fertig war.
„Verstehe.“ Ethan nickte und räusperte sich. Missmutig legte er die Stirn in Falten. „Ryan?“
„Hmm?“
„Kann ich mich darauf verlassen, dass du … Brooke in Zukunft in Ruhe lässt? Bitte. Dann werde ich dir auch nie wieder auf die Nerven gehen.“
Mit knirschenden Zähnen machte sich Ryan wieder daran, das Verbandszeug in die jeweiligen Schränke zurück zupacken. Er hatte seine Arbeit beendet. „Klar. Wenn du willst lass ich die kleine Schlampe in Frieden.“
„Nenn sie bitte nicht so.“
„Wie auch immer. Und? Das war’s? Mehr hattest du mir nicht zu sagen?“ Gereizt drehte sich Ryan zu ihm um und fixierte ihn.
Leicht überrascht hob Ethan die Augenbrauen. „Na ja, eigentlich nicht.“
„Dann kannst du dich jetzt wieder zu deiner Freundin verpissen, sie wartet schließlich auf dich.“ Ryan nickte mit dem Kopf zur Tür.
Ethan rührte sich nicht von der Stelle und musterte ihn.
„Was ist?“, fauchte Ryan, der – aus welchem Grund auch immer – sehr schlechte Laune bekommen hatte.
Ethan verzog keine Miene. „Ryan, könntest du mal herkommen?“
„Wieso?“
„Weil ich mich dir gern nähren würde, aber wegen meinem verletzten Arm lieber hier stehen bleibe, statt selbst zu dir zu kommen.“
Mit gerunzelter Stirn und argwöhnisch zusammengekniffenen Augen machte Ryan einen Schritt auf ihn zu, dann noch einen, bis er unmittelbar vor ihm stand. „Und was sollte das jetzt?“
„Ich habe neulich eine kleine … nennen wir es Theorie aufgestellt. Nur bin ich mir nicht sicher, ob sie tatsächlich stimmt.“ Ethan leckte sich über die trockenen Lippen. Er fühlte, wie ein Kloß in seinem Hals entstand.
„Und weiter?“
„Ich bräuchte jemanden, der mir hilft, sie zu beweisen.“
„Aha. Und was willst du von mir?“, zischte Ryan und gab ihm den finstersten Blick, den man mit so hellen Augen nur hinbekommen konnte.
Ethan zuckte nicht mal zusammen, sondern sprach ruhig weiter. „Ich meine bloß, dass ich, da du ohnehin nie wieder etwas mit mir zu tun haben willst und wir uns in Zukunft kaum sehen werden, dich dabei um Hilfe bitten könnte.“
Ryan wollte gerade eine abfällige Bemerkung abgeben, als Ethan sein Gesicht behutsam zwischen die Hände nahm und ihn zu sich ran zog um ihn zu küssen.
Sein Herz setzte kurz aus, bevor es daraufhin begann, nur noch schneller gegen seine Brust zu hämmern.
Ethan sah, wie Ryan entsetzt die Augen aufriss und sich anspannte. Er legte die Hände auf Ethans Schultern und schien zu verwirrt zu sein, um etwas zu unternehmen. Gleich tut er es aber, dachte Ethan im Stillen, gleich schiebt er mich weg. Doch das geschah nicht.
Stattdessen lockerten sich Ryans Muskeln und er begann den Kuss zu erwidern. Seine Lippen formten sich zu einem Lächeln und er zog Ethan an den Schultern näher an sich heran. Sie schlossen beide die Augen.
Ethan schauderte, als Ryan mit einer Hand durch sein Haar fuhr, mit der anderen krallte er sich in den Kragen von Ethans Pullover. Ethan ließ währenddessen Ryans Gesicht los und schlang ihm die Arme um den Hals.
Er war sich nicht sicher, was hier gerade geschah, warum es geschah – immerhin war das alles doch bloß ein Witz gewesen – aber er wusste, dass es ihm gefiel, auch wenn es sich komisch anfühlte. Und er wollte nicht, dass es aufhörte.
Sie küssten sich eine Zeit lang und irgendwann spürte er Ryans Zungenspitze gegen seine Lippen stoßen. Ethan öffnete sie nur ein wenig, aber mehr brauchte Ryan nicht. Geschickt schob er seine Zunge in den Kuss und ließ Ethan zusammenzucken. Er schmeckte nach etwas Frischem, etwas Scharfem … Hustenbonbons?
Ethan stieß einen verlegenen Laut aus, mit dem er Ryan signalisierte, dass es genug war. Vorerst.
„Na? Theorie bestätigt?“, fragte Ryan lächelnd, als er sich von ihm löste. Sie standen dicht voreinander und Ethan spürte seinen warmen Atem auf den Wangen. Sie keuchten beide ein bisschen und hatten leicht gerötete Gesichter. Auf Ryans Stirn hatten sich Schweißperlen gebildet.
„Ja“, hauchte Ethan leise.
Unsicher räusperte sich Ryan. Er sah Ethan aus glasigen Augen an. „Was genau wolltest du hiermit beweisen?“
Und das war die Frage, der Ethan am liebsten ausgewichen wäre. Na ja, jetzt konnte er es sowieso nicht leugnen.
„Ich glaube, ich hab mich in dich verliebt“, brach er erstickt hervor und fühlte, wie seine Unterlippe zu zittern begann. Es war ungewohnt, sowas auszusprechen. Bisher hatte Ethan noch nie jemandem seine Gefühle gestanden – schließlich hatte er bisher nicht einmal für jemanden Gefühle gehabt. Nicht einmal für Rea.
Ryan schnaubte und verdrehte die Augen.
Ethan sah ihn ein wenig verletzt und erstaunt an. Das kam unerwartet. „Was denn?“
„Ich hab mich in dich verliebt“, äffte Ryan ihn nach und sah ihn dann herausfordernd an. „Du bist so ein Weib.“
„Schon klar.“
„Wir sollten aufpassen. Nicht, dass ich Kondome brauche, wenn ich mit dir schlafen will.“
„Halt’s Maul“, murmelte Ethan und drehte sein Gesicht weg. Das Blut schoss ihm in die Wangen und er hoffte, dass Ryan es nicht bemerkte.
Leider entging diesem gar nichts. Er lachte ungläubig auf. „Was denn? Sag bloß, du bist noch Jungfrau.“
„Lass mich!“, entgegnete Ethan und wollte einen Schritt zur Seite machen, als Ryan ihn behutsam an der Hüfte packte und zu sich zurückzog. Er drückte Ethan wieder gegen den Tisch und legte seinen Kopf an seine Schulter. Ryan war größer als Ethan, durchtrainierter. Bisher hatte er das immer nur ausgenutzt, wenn er Ethan hatte festhalten wollen, um ihn zu verprügeln. Ethan hätte nie geglaubt, dass Ryan ihn hätte mal so sacht halten können wie jetzt.
„Also ja“, schnurrte der neckisch. „Aber das werden wir bald ändern.“
Ethan atmete erschrocken auf, als Ryan ihn auf den Tisch drückte und sich über ihn beugte. Es war ein komisches Gefühl, so etwas mit einem Jungen zu erleben – vor allem, weil Ryan momentan nur seine Boxersthorts trug – aber irgendwie fühlte es sich auch richtig an.
„Was machst du da?“, fragte Ethan mit einem Anflug von Panik und wollte sich aufsetzen, aber Ryan drückte ihn nach unten.
„Sch-sch“, machte er und küsste sanft Ethans Hals. Dieser konnte sich nicht bewegen und atmete flach. Er erstarrte, als Ryan seine Lippen etwas tiefer zu seiner Schulter wandern ließ.
Das alles war angenehm, aber er durfte nicht die Zeit vergessen. Heute war so viel passiert und er brauchte Zeit, um sich Gedanken zu machen. Ethan gepresst stieß die Luft aus.
„Brooke wartet unten“, sagte er und schob Ryan sacht weg, da er das Gefühl hatte, dass dieser sonst nicht aufzuhalten wäre.
Ryan sah ihn mit ausdruckslosen Augen und zusammengepressten Lippen an. Man sah ihm an, dass er mehr als angepisst war. Dann seufzte er aber geschlagen und trat einen Schritt vom Tisch zurück, sodass Ethan sich aufsetzen konnte.
„Du warst eifersüchtig, hab ich recht?“, traute sich Ethan dann doch zu fragen.
„Hmm?“
„Deshalb hast du Brooke weggeschickt.“ Ethan beobachtete ihn ganz genau. Er hatte Ryan seine Liebe gestanden, von diesem war aber noch nichts zu hören gewesen. Zumindest bewies sein Verhalten, dass er dasselbe empfand. Dann konnten seine Gefühle ruhig unausgesprochen bleiben.
Ryan wich seinem Blick aus. „Ich dachte, du und sie …“
„Das hat sie auch gedacht, wie ich eben erfahren habe“, sagte Ethan trocken.
Abwartend hob Ryan die Augenbrauen. „Und?“
„Ich musste sie abservieren.“
Ryans Mundwinkel zuckten. „Ist ja schade.“
„Hör auf. Ich muss jetzt wirklich los.“
„Und weiß sie schon, dass du mich …?“
„Nein.“
Jetzt lächelte Ryan offen und ehrlich. „Ist ja noch besser.“
Ethan verdrehte die Augen, während er zur Tür ging. „Ich werde es ihr noch sagen. Vielleicht nicht heute, aber in den nächsten Tagen.“ Er zog seine Schuhe und seine Jacke wieder an.
Als er fertig war, griff er nach der Türklinke, machte sie aber noch nicht auf. Er sah Ryan an. „Könnten wir … morgen weiter reden?“
„Klar.“ Ryan gähnte und lächelte müde. Er hatte ein seltsam freudiges Glitzern in den Augen, während er Ethan ansah. Warm und angenehm.
Dieser räusperte sich. Bevor er ging, kam er ein letztes Mal auf Ryan zu und drückte ihm einen leichten Kuss auf die Wange. „Bis morgen“, flüsterte er danach.
„Bis morgen“, antwortete Ryan und wuschelte ihm durch die Haare. Dann fügte er mit einem Grinsen hinzu: „Ich freue mich schon auf dich, Kleiner.“
„Nicht schon wieder!“, jammerte Brooke und schlug sich leicht mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Wie kann man so behindert sein?“
„Das ist bei Horrorfilmen Standard“, sagte Ryan gelangweilt und gähnte ausgelassen. „Die sind nie schlau genug abzuhauen, sondern folgen immer den seltsamen Geräuschen, die aus irgendeinem dunklen Zimmer oder einem düsteren Flur kommen. Dass genau dort der Mörder lauern könnte, begreifen die nicht.“
„Ethan, hast du jetzt einen neuen Stift gefunden oder nicht?“, fragte Brooke und sah zu ihm rüber. Sie lag in eine Decke gehüllt und an ein Kissen gelehnt auf Ethans Bett und hatte die Beine auf Ryans Schoß gelegt, der neben ihr saß und den Block in den Händen hielt, auf dem sie ihre Listen führten.
„Ja, ich hab einen“, sagte Ethan, nachdem er ganze fünf Minuten lang die unordentlichen Schubladen seines Schreibtisches durchwühlt und endlich einen Stift gefunden hatte, der nicht ausgetrocknet oder leer war.
„Mach einen Strich bei dumme Protagonisten“, sagte Brooke zu Ryan, als Ethan sich neben ihn auf das Bett setzte und ihre Füße wegschob, um Platz zu finden.
Sie saßen seit mehreren Stunden hier und schauten sich Filme aller Art an. Zu Beginn hatte jeder einfach nur entspannt dagesessen, jetzt gammelten die drei vor sich hin. Brooke hatte sich hingelegt, ihre Beine ruhten auf Ryan und ihre Füße auf Ethan. Ryan saß einfach nur im Schneidersitz und Ethan lehnte müde an seiner Schulter.
Ein gellender Schrei erfüllte das Zimmer, als der Killer aus der Dunkelheit sprang und unaufhörlich auf die Schwester der Hauptfigur einstach.
„Das hat jetzt wirklich keiner kommen sehen“, kommentierte Brooke sarkastisch.
„Sei du mal leise, du hast dir den Film immerhin ausgesucht“, sagte Ryan und rieb sich verschlafen die Augen. Es war 5 Uhr morgens, aber keiner von ihnen dachte auch nur daran, zuerst einzuschlafen.
Brooke verzog den Mund. „Die Kurzbeschreibung im Internet hat vielversprechend geklungen. Ich hätte nicht gedacht, dass das so ein Reinfall wird.“
Sie sprachen normal miteinander, ohne Abneigung oder Feindseligkeit. Drei Monate hatte es gedauert, diese „Freundschaft“ aufzubauen.
„Zumindest hilft der Film uns, die Listen zu füllen“, murmelte Ethan und drückte sich näher an Ryan.
Sie hatten eine Tabelle mit fünf Spalten erstellt: Dumme Protagonisten, bekannte Sätze (Wie; „Wir sollten uns aufteilen“, oder „Ich habe das Gefühl, dass ich irgendwas wichtiges vergessen habe.“ Ethan mochte auch „Ich wäre damit durchgekommen, wenn diese Kinder nicht gewesen wären!“), nervige Hintergrundmusik, unrealistische Liebe (Zwei Studenten laufen ineinander, ihre Bücher fallen runter, sie greifen im selben Moment danach, ihre Hände berühren sich, sie sehen sich in die Augen und so weiter …) und lebensechte Actionszenen (Mädchen springt drei Meter in die Höhe, macht einen Rückwärtssalto vorwärts, schießt noch im Flug auf einen in Zeitlupe fliegenden Vogel …).
Jedes mal, wenn ein Film etwas zeigte, was auf eine der Spalten zutraf, machte Ryan einen Strich. Mittlerweile wirkte das Blatt ziemlich voll.
„Ich hasse diese Schauspielerin“, sagte Brooke, als die Polizei die gefundene Leiche untersuchte und die Hauptfigur per Telefon über den Tod ihrer Schwester informierte. „Sie kommt so gestellt rüber.“
„Ich find sie okay“, sagte Ethan.
Ryan legte den Arm um ihn und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn.
Etwa zehn Minuten später, in denen die halbe Familie abgestochen worden war, vibrierte Ryans Handy. Leicht desinteressiert sah er auf den Bildschirm und las die Nachricht, bevor er sich mit der Zunge über die Lippen leckte.
„Schon wieder Brandy?“, murrte Ethan zerknirscht. Er wusste inzwischen, was die Gesten seines Freundes zu bedeuten hatten und war von dieser hier nicht begeistert.
Ryan sah ihn mit einem schiefen Lächeln an. „Wieso reagierst du immer so scheiße auf ihn? Er hat sich doch bei dir entschuldigt.“
„Ich werde die Schläge trotzdem nicht vergessen“, schnaubte Ethan und versuchte, sich wieder auf den Film zu konzentrieren. Natürlich hatte er Ryans Freunde kennengelernt, mit denen er in letzter Zeit leider immer öfter zu tun bekam. Tyler und Austin waren okay. Mit Daniel und Brandy kam er noch nicht so gut klar, auch wenn Ryan immer behauptete, sie wären korrekt, wenn man sie besser kannte.
„Reg dich ab. Ich hab mich für dich schließlich auch mit dem da angefreundet“, sagte Ryan betont und wies mit einem Kopfnicken in Brookes Richtung. Sie schlug ihn unsanft auf den Oberarm.
Ethan verdrehte die Augen. „Wie auch immer. Was schreibt er?“
„Er sagt, dass Seth in einigen Wochen aus der Nervenheilanstalt entlassen wird. Er macht Fortschritte, meinen die Ärzte.“
„So?“, murmelte Brooke, die kaum noch die Augen offen halten würde.
Inzwischen war es drei Monate her, dass Seth Brooke zu der alten Schule verschleppt hatte. Man hatte ihn direkt nach seinem Aufenthalt im Krankenhaus in eine Nervenheilanstalt gesteckt, da die Polizei schließlich doch herausgefunden hatte, was an dem damaligen Tag passiert war. Ethan und Brooke waren befragt worden, ihre Eltern auch. Es hatte eine Menge Stress gegeben, aber das Schlimmste war jetzt überstanden.
Zumindest hatten die drei jetzt genug Freizeit, um sich um nichts einen Kopf machen zu müssen.
Die Schüler in Sedred hatten Ferien und da Ethans Mutter jetzt auch Nachtschichten übernahm, lebten Ryan und Brooke förmlich bei ihm, damit er nicht so allein war. Jeden Abend chillten sie auf seinem Bett und sahen sich Filme an, jeden Abend versuchte jeder von ihnen am längsten durchzuhalten und nicht zuerst einzuschlafen.
„Ich frag mich, ob er wieder zur Schule gehen wird, wenn er erst mal wieder draußen ist“, murmelte Ryan und seufzte.
„Hast du eigentlich vor, eine Klage gegen ihn zu erheben, Brooke?“, fragte Ethan. Er selbst hatte diesen Vorschlag von einigen Verwandten bekommen, war sich aber nicht ganz sicher. Schließlich trug er selbst auch einiges zu dieser Geschichte bei.
Er erhielt keine Antwort.
„Brooke?“
Es kam ein leises Schnarchen.
„Die Süße hat verloren“, grinste Ryan und schob ihre Beine vorsichtig von seinem Schoß. „Ist mal wieder als erste eingeschlafen.“
„Was machst du da?“, fragte Ethan begriffsstutzig. 5 Uhr morgens war nicht seine Zeit.
„Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber mir wird das hier auf Dauer ein wenig zu eng“, erklärte Ryan, während er aufstand. Ethan verstand sofort, wovon er redete.
Manchmal schlief einer der drei auf dem Boden und zwei auf dem Bett, manchmal dämmerten sie zu dritt darauf weg, manchmal schlief einer auf der Couch im Wohnzimmer. Bequem war es nie wirklich.
„Was willst du jetzt tun?“
„Komm mit“, sagte Ryan und nahm Ethans Handgelenk.
Er wollte ihn aus dem Zimmer ziehen, aber Ethan wehrte sich. „Warte“, flüsterte er. Er trat an das Bett und deckte Brooke zu, bevor er ihr Kissen so zurechtrückte, dass sie halbwegs bequem lag. Ethan strich ihr eine blonde Strähne aus dem Gesicht und nahm dann die Fernbedienung in die Hand, um den Fernseher auszuschalten. Dann folgte er Ryan ins Wohnzimmer.
„So, heute soll es also wieder die Couch sein?“, fragte Ethan, als Ryan sich auf das Sofa legte und sich streckte. Es war dunkel, aber Ethan konnte auch bei dem schwachen Licht erkennen, dass er ihn ansah. „Brooke soll also allein im Zimmer pennen?“
„Weißt du was? Ich sollte mich mit ihr anfreunden und sie ist mir nach dem ganzen Ärger dabei ohne irgendwelche Vorurteile entgegen gekommen, was echt liebenswert ist. Sie hängt ständig bei dir rum und beansprucht immer noch die meiste deiner Zeit. Kein Problem, ist auch okay. Aber nachts“ – Ryan rückte zur Seite, um Platz zu machen – „gehörst du mir.“
Schmunzelnd legte sich Ethan neben ihn und schlang die Arme um seinen Oberkörper, während er seinen Kopf auf Ryans ausgestreckten Arm legte. Sie hatten keine Decke, aber das machte nichts. Ryan schlief ohnehin meist ohne und Ethan ließ sich lieber von seinem Freund wärmen.
„Ich bin echt froh, dass du dich mit Brooke verstehst“, murmelte Ethan und vergrub das Gesicht in Ryans Schulter. Dieser strich ihm sanft über den Rücken.
„Kein Ding.“
„Nein, wirklich. Ihr bedeutet mir beide viel. Es wäre schlimm gewesen, mich zwischen einem von euch entscheiden zu müssen.“
„Das weiß ich doch“, flüsterte Ryan.
Ethan schloss die Augen und glitt langsam in den Schlaf ab.
Die letzten Monate waren hart gewesen. Seit seinem Ankommen in Sedred war er nur Problemen begegnet – aber jetzt, wo er neben seinem neuen Freund und in derselben Wohnung wie seine beste Freundin schlief, musste er sich nicht einmal fragen, ob sich das alles gelohnt hatte: denn die Antwort war ein klares Ja.
Ende
Tag der Veröffentlichung: 30.10.2013
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