Es war eine schwüle Nacht. Der Regen prasselte unablässig auf ihn nieder, strich sanft über sein Gesicht, während ihn sein eigener Schatten wie ein tollwütiger Hund durch die düsteren Straßen verfolgte. Abgesehen von dem Plantschen der Pfützen, durch die er rannte und dem Wispern des Regens, war alles still, als er in eine der vielen Gassen Londons bog. Nur hin und wieder tauchten die Scheinwerfer eines vorbeifahrenden Autos aus der Dunkelheit auf und beleuchteten einige der alten Häuser.
Schnaufend blieb der Mann stehen und lehnte sich gegen die Wand, um zu Atem zu kommen. Er war den ganzen Weg über gelaufen, so schnell er konnte. Seine Stiefel waren feucht und voller Dreck, seine Kleider zerrissen und die blütenweißen Haare klebten nass an seinem Kopf und an seiner Stirn, teilweise vom Regen, teilweise vom Schweiß.
Prüfend hob er den Blick und betrachtete den Himmel. Dieser war mit üppigen, grauen Wolken überseht, die nur hin und wieder den Mond sehen ließen. Die langen, schmalen Krallen des Mannes leuchteten in dessen Licht und reflektierten es, als wären sie ein Spiegel. Bei Nacht mochte er wie ein gewöhnlicher, vielleicht ein wenig geheimnisvoller Mensch wirken, doch bei Tag hätte jeder erkannt, dass mit ihm etwas nicht stimmte. Jeder hätte erraten können, dass er nicht von dieser Welt kam.
Wieder bei Kräften angekommen, blickte sich der Dämon in der engen Seitengasse um. Diese war – bis auf ein paar Mülleimer und einige streunende Katzen – leer.
Er überlegte kurz. Eigentlich hatte er entschieden, sein Vorhaben an einem unauffälligeren Ort in die Tat umzusetzen, aber die Zeit wurde knapp. Seine Verfolger hätten ihn sicher bald eingeholt. Das es welche gab, bezweifelte er nicht. Seitdem er ein paar Morde in der magischen Welt begonnen hatte, ließ ihn der Rat nicht mehr aus den Augen. Wenn nun herauskam, dass er die Welt der Menschen betreten hatte, würde das einen Skandal auslösen. Man würde ihn gefangen nehmen und einsperren. Aber das war ihm gleichgültig.
Wenn es ihm gelang, heute das zu tun, was er sich vorgenommen hatte, könnte er es sich in aller Ruhe leisten, für die nächsten hundert Jahre eingesperrt zu werden. Er hatte Zeit, viel Zeit.
Ohne weiter darüber nachzudenken, ließ er sich auf die Knie sinken und drückte seine Handflächen gegen den Boden, während er sich konzentrierte. Es dauerte erstaunlich lange, bis der Zauber zu wirken begann, doch er fühlte, wie das harte Pflaster unter seinen Krallen gemächlich weicher wurde. Der Zauber, von dem er Gebrauch nahm, verwandelte jede Art der Erde für kurze Zeit in eine treibsandähnliche Masse. Alles, was an dieser Stelle in den Boden gedrückt wurde, würde immer weiter in die Tiefe sinken.
„Und die vom Rat dachten, ich würde ihnen Gehorsam leisten“, lachte er leise, während er den schweren Beutel von seiner Schulter nahm und ihn neben sich auf den Boden fallen ließ. Gedankenverloren tastete er darin herum, bis er endlich fand, wonach er gesucht hatte.
Mit den Spitzen seiner Krallen zog er vorsichtig den weiß schimmernden Kokon heraus, den er aus Silberfäden gesponnen hatte. Dieser war etwa so groß wie die Handfläche des Dämons und pulsierte gezügelt, als könnte das sich darin aufhaltende Wesen nicht erwarten, das Licht der Welt zu erblicken.
Der Dämon setzte den Kokon an seine Lippen und verharrte für einen kurzen Moment. „Gedulde dich“, flüsterte er ihm zu, ganz leise, als dürfte seine Worte niemand hören. „Bald wirst du geboren. Und dann werden wir zusammen für Gerechtigkeit sorgen.“ Ohne ein weiteres Wort drückte er den Kokon behutsam in die treibsandähnliche Masse. Dieser versank darin, bis er nicht mehr zu sehen war. Kurz darauf wurde der Boden wieder fest und das verdreckte Pflaster war wieder zu sehen.
Ein selbstzufriedenes Lächeln stahl sich auf das Gesicht des Dämons, wobei er seine perlenweißen, spitzen Zähne entblößte. Er erhob sich leichtfüßig, schnappte den am Boden liegenden Beutel, warf sich diesen über die Schulter und ging weiter. Den ersten Kokon hatte er erfolgreich vergraben. Gut. Jetzt blieb nur noch der Zweite.
Diesen würde er an einem anderen Ort verstecken. Und sobald er dies getan hatte, musste er nur noch abwarten – so lange, bis es so weit war.
15 Jahre später ...
Mrs. Vivien Alee wachte davon auf, dass das rötliche Licht der Alarmanzeige auf ihr Gesicht fiel und sie ein schwaches Piepen wahrnahm. Sie blinzelte verschlafen und bemerkte erst nach wenigen Sekunden, dass sie mit dem Gesicht auf der harten Tischplatte ihres Schreibtisches lag.
Schläfrig setzte sie sich in ihrem Drehstuhl auf und streckte die tauben Glieder, während sie perplex auf den Monitor ihres Computers starrte. Auf diesem stand in fetten, leuchtenden Buchstaben ein einzelnes Wort, dessen Bedeutung man der Frau nicht erklären musste: ERROR!
Ihr PC war abgestürzt, oder war zumindest gerade dabei. Ihr war nicht danach, sich nach dem Grund zu erkundigen. Dazu hatte sie später Zeit.
Mit einem tiefen und lauten Gähnen rieb sich Mrs. Vivien Alee die Augen, um die sich dunkle Ringe gelegt hatten. Dann strich sie sich das lange, blonde Haar aus dem Gesicht, das momentan vermutlich in alle Himmelsrichtungen von ihrem Kopf abstand. Hoffentlich bekam sie heute mal nicht das Vergnügen, in einen Spiegel blicken zu müssen. Sie hatte das bedrückende Gefühl, schrecklich alt auszusehen. Dabei sah man ihr die sechsunddreißig Jahre eigentlich nicht immer sofort an. Nur wenn sie, so wie heute, die ganze Nacht durchgearbeitet hatte.
Unbeholfen blickte sie sich in ihrem Arbeitszimmer um. Es war klein, aber gemütlich. Darin befand sich nichts weiter als ein großer Schrank mit lauter Papieren, ein Mülleimer voller Papierbälle und ein Tisch, auf dem ihr Rechner platziert war. Außerdem stapelten sich darauf Akten von den neuen Todesopfern.
Es dauerte eine quälend lange Ewigkeit, bis Mrs. Vivien Alee ihre Müdigkeit vergaß und ihr wieder einfiel, weshalb ihr Computer überhaupt angeschaltet gewesen war und welche Folgen sein Absturz mit sich bringen könnte. Die Fotos! Hektisch versuchte sie, ihr Gerät irgendwie zu retten, aber es war zwecklos. Der Computer stürzte ab und der Bildschirm erlosch mit einem Schlag.
„Verdammte Scheiße“, fluchte die Frau, währen sie träge seufzte und sich die pochende Stirn rieb. Ihr Kollege Finley hatte ihr doch die Fotos von der Leiche des Mannes schicken wollen, der gestern Abend tot aufgefunden wurde, damit sie sich die Wunden hätte genauer anschauen können.
Nach kurzer Überlegung griff sie zum Telefon und wählte seine Nummer. Es dauerte ein wenig, bis er ranging. „Hallo?“ Er klang ebenso verschlafen wie sie. Offenbar hatte sie ihn mit ihrem Anruf aus dem Schlaf gerissen.
„Hey, ich bin’s“, murmelte sie leicht verlegen. „Bist du schon wach?“
„Na jetzt schon – Was ist los?“
„Die Fotos. Ich habe sie nicht bekommen. Mein Computer ist abgestürzt.“
„Wieso?“
„Bin ich ein Techniker? Keine Ahnung, jedenfalls wird er vermutlich nicht so schnell wieder funktionieren. Ist nicht das erste Mal, dass das passiert ist. Also, kannst du mir die Bilder vielleicht ausdrucken? Ich komm dann später vorbei und hol sie mir ab, zusammen mit der Akte.“
„Ist gut, komm dann so gegen 3 Uhr“, murrte er in den Hörer. Sie hatte Mühe, ihn zu verstehen. „Glaub mir, es sind dieselben Spuren wie letztes Mal. Diese Verletzungen können nicht von einem Menschen stammen. Ich kenne keine Waffe, die sowas verursachen kann. Es erinnert an die Krallen eines Bären, vielleicht sogar an die eines noch größeren Tieres.“ Seine Stimme war ganz angespannt, fast schon hysterisch.
„Übertreib nicht, Finley“, erwiderte Mrs. Vivien Alee bloß gelassen. „Wäre in der Stadt ein wildes Tier unterwegs, hätte die Polizei es längst geschnappt und eingeschläfert, oder was auch immer ihr damit macht. Wir haben es hier mit etwas Schlimmeren zu tun. Mit einem eiskalten Killer.“
Finley stieß ein raues Lachen aus, als hätte er noch nie etwas so Witziges gehört. „Du musst unbedingt zur Polizei kommen, wir bräuchten Leute wie dich. Die nötige Ausbildung hast du ja.“
„Ich bleibe lieber weiterhin Anwältin“, entgegnete sie lässig, während sie gedankenverloren ihre Fingernägel betrachtete. „Und gebt euch gefälligst mehr Mühe. Ich musste bereits zwei Menschen vertreten, die von euch verdächtigt wurden, der Mörder zu sein, und ich hab beide Prozesse gewonnen. Versucht, dieses Mal den Richtigen zu erwischen.“
Finley stieß ein spöttisches Lachen aus. „Du bist vielleicht witzig. Weißt du, wenn du das nicht machen willst, wieso verteidigst du die Menschen dann?“
„Erstens, weil ich Anwältin bin und zweitens, weil es vollkommen offensichtlich war, dass die Beiden unschuldig gewesen sind!“, meinte sie aufgebracht und hätte ihm eine Standpauke gehalten, hätten die stechenden Kopfschmerzen nicht zugenommen. Genervt massierte sie sich die Schläfe. „Okay, ich komme dann später vorbei. Bis bald.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, legte sie auf.
Wütend warf sie den Hörer auf den Tisch, wobei dieser gegen das Bild ihres Mannes stieß. Leicht erschrocken griff Mrs. Vivien Alee danach und kontrollierte, ob alles heil war. Der Rahmen schien nicht kaputt zu sein und das Glas war nicht zerbrochen. Gott sei Dank. Nachdenklich betrachtete sie das Bild, während sie immer mehr in Gedanken versank.
Auf dem Bild sah ihr Mann so glücklich aus. So unbekümmert. Er lächelte übers ganze Gesicht, die kleine Brille hing wie üblich schief. Das braune Haar war ganz wirr vom Wind und er hatte einen Dreitagebart. Genau so hatte sie ihn in Erinnerung behalten. Auch nachdem sie erfahren hatte, dass er an Krebs litt.
Ihr Blick wanderte von dem Bild in ihren Händen zu den Akten auf dem Tisch. Es machte sie unglaublich wütend, wenn sie sowas sah. Krebs war etwas, was sich nicht bekämpfen ließ, oder zumindest etwas, wogegen man nicht siegen konnte. Ein Killer ließ sich immer aufhalten, egal, wie gut oder kühn er auch war. Und trotzdem verloren so viele Menschen ihr Leben.
Mrs. Vivien Alee seufzte und erhob sich mühevoll von ihrem Drehstuhl. Sie brauchte erstmal einen Kaffee, vorher würde sie nicht richtig aufwachen. Wie eine Betrunkene taumelte die Frau in die Küche. Sie war die Besitzerin einer kleinen Wohnung, die jedoch sehr stillvoll und ordentlich eingerichtet war. Früher hatten sie und ihr Mann hier gewohnt, jetzt war sie allein. Sie musste zugeben, dass ihr, ganze fünf Jahre nach seinem Tod, immer noch etwas fehlte. Es war so ruhig im Haus. Und auch das Zischen des Wasserkochers konnte daran nichts ändern.
Den Rest des Morgens verbrachte die Frau wie sonst auch immer. Sie saß ein wenig an ihrem Küchentisch, sah dabei Fern und nippte an ihrem heißen Kaffee. Die Zeitung las sie nicht, sie wusste ohnehin, was dort stehen würde. Danach ging sie duschen, föhnte sich die Haare, machte sich zurecht und zog sich schließlich etwas Anständiges an.
Mrs. Vivien Alee mochte es nicht, viel Zeit in ihrer Wohnung zu verbringen. Das wahre Leben spielte sich draußen ab. Hier drinnen gab es nichts, außer modriger Einsamkeit.
Aber bevor Mrs. Vivien Alee die Wohnung verließ, blieb sie kurz vor der Tür zum Zimmer ihres Mannes stehen. Diese war einen Spalt breit geöffnet. Ohne einen Blick in das Zimmer zu werfen, schloss die Frau die Tür zu. Sie hatte alles, was ihrem Mann gehört hatte, weggeworfen. Nur das eine Bild von ihm hatte sie behalten.
Das hatte wenig gebracht. Jeden Tag kehrte die schmerzliche Erinnerung an ihn zurück und stach ihr ins Herz. Man sagte ja, Menschen würden in den Erinnerungen anderer weiterleben. Das war nicht wahr. Egal, wie viele Fotos man auch besaß und egal, wie viele Erlebnisse es auch im Leben gab, an die man zurück denken konnte – Tatsache war, dass man die geliebte Person nie wieder sehen würde.
„Nie wieder“, flüsterte Mrs. Vivien Alee in die Stille ihrer Wohnung hinein, während sie diese verließ und ihrem Alltag nachzugehen versuchte.
Der Junge saß vor sich hin schweigend am Tisch eines der vielen Cafés und beobachtete die Menschen, die an ihm vorbei gingen. Es waren so viele. So unendlich viele. Ihre Stimmen drangen von allen Seiten zu ihm durch und mischten sich mit dem Lärm des Verkehrs. Die Sonne war bereits aufgegangen und die Nacht war vorbei. Langsam erwachte die Stadt wieder zum Leben und begann zu atmen.
Soa unterdrückte ein Lächeln, denn sonst hätte man seine spitzen Zähne gesehen. Die Hände hatte er tief in die Taschen der Jacke gesteckt, die er einem der Männer abgenommen hatte, die ihm zum Opfer gefallen waren. Zwar hatte er seine Krallen eingefahren, aber sicher war sicher. Möglicherweise würde doch noch jemand auf seine skurril geformten Hände aufmerksam werden.
Langsam verlor er die Geduld. Es war bereits Wochen her, dass er aus seinem Schlaf erwacht war. Seitdem suchte er Tag für Tag nach seinem Verbündeten, aber ohne Erfolg. Bis jetzt hatte er ihn nicht gefunden. Allerdings musste der junge Dämon gestehen, dass er nicht immer ausschließlich damit beschäftigt gewesen war, nach seinem Gefährten zu suchen. So manche Nacht hatte er damit zugebracht, sich unter den Menschen Opfer zu suchen und sich mit ihnen zu begnügen. Sie schreien zu hören und leiden zu sehen. Sie zum Weinen zu bringen und sie Qualen erleiden zu lassen.
Es war amüsant. Allein die Erinnerung daran löste in ihm ein immenses Glücksgefühl aus.
Unauffällig ließ er seinen Blick zu den beiden Frauen gleiten, die an einem Tisch neben ihm saßen und tuschelnd die Köpfe zusammen gesteckt hatten. Er sah, wie sie schnell wegguckten, als sich ihre Blicke trafen und wie sie abrupt in ihrem Gespräch verstummten. Es störte ihn nicht. Sollten sie ruhig reden. Es stimmte, er sah nicht unbedingt aus, wie ein gewöhnlicher Junge. Seine braunen Haare waren zerflitzt, seine Augen dunkel und von dichten Wimpern eingerahmt und seine Kleider viel zu groß - aber Hauptsache war, dass niemand seine wahre Gestalt erkannte.
Soa wusste nicht, wie alt er war. Er wusste auch nicht, wie lange er in dem Kokon unter der Erde gelegen hatte. Vom Aussehen her schätzte er sich auf etwa fünfzehn Jahre. Nicht älter.
Eigentlich wusste er gar nichts über sich. Nicht einmal seinen Namen. Soa nannte er sich aus einem bestimmten Grund. Am Oberarm, in der Nähe der Schultern, hatte er bei sich eine Art Tattoo entdeckt: S.O.A.
Zuerst war er verwirrt gewesen. Er hatte keine Ahnung gehabt, wer er eigentlich war, was er eigentlich war, was er unter einer Brücke zu suchen gehabt hatte und warum er aus der Erde gekrochen war. Dann hatte er den Brief bemerkt, den jemand um sein Handgelenk gebunden hatte. Später war ihm alles klar geworden; Er musste jemanden suchen. Eine Person, mit der er sich zusammenschließen musste und die ihm und seinem Meister dabei helfen sollte, etwas zu tun. Was genau, hatte sein Herr in dem Brief genauestens beschrieben. Ob sein Gefährte auch über alles Bescheid wusste?
Der Dämon stieß hörbar die Luft aus und lehnte sich zurück. Es war ein kühler Tag. Hätte er nicht die gestohlene Jacke gehabt, wäre er vermutlich erfroren. Trotzdem musste er sich etwas anderes zum Anziehen besorgen. In dieser Jacke konnte er sich kaum bewegen und die viel zu weite Hose hinderte ihn am Laufen. Außerdem brauchte er Handschuhe. Am besten Fingerlose, damit er seine Krallen jederzeit ausfahren konnte.
„Kann ich dir helfen?“
Soa drehte sich mit gelangweiltem Gesicht zu der Frau um, die mit einem Tablett in der Hand hinter ihm stand. Es war eine ältere Frau, mit roten Haaren, lauter Sommersprossen im Gesicht und einer Schürze mit dem Zeichen des Cafés. Mit großer Wahrscheinlichkeit arbeitete sie hier.
„Wie bitte?“, fragte Soa.
„Du sitzt hier schon seit fast zwei Stunden rum und hast noch nichts bestellt.“
„Hab ich auch nicht vor.“
„Dann würde ich mich an deiner Stelle aus dem Staub machen“, sagte die Frau gereizt. Sie schien alles andere als gut gelaunt zu sein. „Diese Tische sind nämlich für unsere zahlenden Gäste, die hier ihre Getränke genießen wollen.“
„Wollen Sie damit andeuten, dass ich störe?“, fragte Soa und sah sich mit einer auffälligen Geste um. Dabei lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und streckte die Beine aus, um der Frau deutlich zu machen, dass es nicht in seiner Absicht lag, zu gehen. „Hier sind noch mindestens drei Tische frei. Und um ehrlich zu sein, waren sie zu keiner Zeit, in der ich hier sitze, alle besetzt. Sieht nicht so aus, als wäre das hier ein beliebter Ort für eine Pause.“ Und als Höhepunkt lächelte er unschuldig. Ein kleines Lächeln, ohne die Zähne zu zeigen.
Die Frau starrte ihn für einen Moment wie versteinert an. Dann schoss ihr das Blut ins Gesicht und sie presste die bebenden Lippen aufeinander. Vermutlich hätte sie ihn angeschrien, hätte nicht eine der beiden Tratschtanten von nebenan schüchtern die Hand gehoben und ‚ich würde gerne noch was bestellen‘ gesagt. Die Kellnerin warf Soa einen letzten, verärgerten Blick zu, bevor sie sich zu den beiden Frauen begab.
Soa lachte in sich hinein. Dummes Menschenpack.
Der Dämon blieb (trotz weiterer Ermahnungen der Kellnerin) auf seinem Platz sitzen und suchte mit den Augen in der Menschenmenge nach der Person, die für ihn bestimmt war. Er suchte nach dem verschollenen Engel.
Erde. Dunkelheit. Überall war diese Finsternis, die sie von allen Seiten zu umhüllen schien. Die Luft war stickig und schmutzig, ständig verschluckte sie versehentlich Erdklumpen. Sie röchelte und konnte nicht atmen, grub sich aber instinktiv nach oben. Mit den Händen schob sie die Erde beiseite, versuchte sie sich aus dem Weg zu schaffen. Für einen Moment glaubte sie, dieser Dunkelheit niemals entkommen zu können, als ihre Hand plötzlich ins Leere griff.
Sie verharrte. Hatte sie es geschafft? Eilig tastete sie mit den Händen nach dem Loch, das sie erschaffen hatte. Tatsächlich. Sie war an der Oberfläche! Angespannt grub sie die Finger in die Erde, stützte sich mit den Ellenbögen, stieß sich mit den Füßen ab – und drang durch das Loch.
Mrs. Vivien Alee schlenderte durch die Stadt und ließ ihren Blick über die Läden schweifen. Heute waren erstaunlich wenig Menschen unterwegs. Dafür war aber der Verkehr umso aktiver. Die Fahrzeuge schossen mit voller Geschwindigkeit die Straßen entlang und verschluckten in ihrem Lärm die Stimmen der Menschen, die sich unterhielten oder sich aus größerer Entfernung etwas zuriefen.
Die Frau bewegte sich eher am Rande der Menschenmasse entlang und versuchte sich, vom Gedrängel fernzuhalten. Die Tasche, die sie bei sich trug, wog schwer und der Gurt drückte fest gegen ihre Schulter. Darin befand sich alles, was sie gebrauchen könnte: Eine kleine Kamera, ein Notizblock, ihr Handy, ihr Portemonnaie, Taschentücher und eine Flasche Wasser.
Mrs. Vivien Alee erwischte sich dabei, wie sie immer wieder auf ihre Uhr blickte. Finley erwartete sie erst in ganzen vier Stunden. So lange konnte sie nicht hier herumstreunen. Aber in die Wohnung zurückkehren, wollte sie auch nicht.
Nach einer Weile des Überlegens entschied sie sich, sich erst mal ein Café zu suchen, in dem sie richtig frühstücken konnte. Ein Mensch konnte sich schließlich nicht nur von Kaffee ernähren. Zu ihrem Glück gab es hier einen Ort, an dem man für einen guten Preis ein Stück Kuchen mit heißem Getränk bekam. Bei dem Gedanken lief ihr bereits das Wasser im Mund zusammen und ihr Magen verzog sich vor Hunger, also machte sie sich auf den Weg. Es dauerte fast zehn Minuten, bis sie ihr Ziel erreichte.
Es war ein winziges Café mit davorstehenden kleinen Tischen, die für die Gäste bereit standen. Hier war alles relativ billig und köstlich. Es war ein guter Ort, um sich nach einem anstrengenden Tag zu erholen. Mrs. Vivien Alee verstand überhaupt nicht, warum hier immer so wenig los war.
„Hallo Beatrice“, begrüßte sie die Kellnerin, die gedankenverloren hinter dem Tresen stand und mit einer ihrer roten Haarsträhnen spielte.
„Guten Tag“, sagte diese und setzte sofort ihr nettes Lächeln auf. Man konnte nicht behaupten, dass Mrs. Vivien Alee dieses Café selten aufsuchte. Sie kannte alle Angestellten. „Mal wieder nicht gefrühstückt?“
„Du kennst mich“, lachte die Anwältin und kramte in ihrer Tasche nach ihrem Geldbeutel. „Mach mir bitte einen Tee und gib mir ein Stück Schockokuchen. Wie üblich.“
„Kommt gleich“, rief Beatrice, während sie den Wasserkocher anknipste und nach einem Messer griff, um das Stück Kuchen abzuschneiden. „Hast du schon wieder die ganze Nacht gearbeitet? Du musst dringend was gegen deine Augenringe unternehmen.“
„Erinnere mich nicht dran“, jammerte Mrs. Vivien Alee und rieb sich die müden Augen. Sie hätte doch etwas Schminke auftragen sollen. „Die Polizei legt sich ins Zeug, ich arbeite rund um die Uhr und komme diesem Mistkerl aber einfach nicht näher.“ Als sie bemerkte, dass sie immer mehr in Frust versank, versuchte sie, schnell das Thema zu wechseln. „Und wie geht es dir in letzter Zeit so?“
Beatrice zuckte lässig die Schultern, während sie den Tee zubereitete. „Kann mich nicht beklagen, bis auf ein kleines Problem“, murmelte sie, während sie die Tasse zusammen mit dem Teller auf einem Tablett zu ihr trug.
„Was für ein Problem?“, wollte Mrs. Vivien Alee wissen, als sie der Kellnerin das Geld in die Hand drückte.
„Der Junge da“, knurrte Beatrice und nickte mit dem Kopf in die Richtung einer der Tische. Mrs. Vivien Alee sah unauffällig rüber. An dem Tisch saß ein Junge, etwa fünfzehn Jahre alt und mit Klamotten, die ihm definitiv zu groß waren. Die Jacke war dreckig und die Hosen würden kaum an seinem Körper halten, hätte er sie nicht mit einem Gürtel befestigt. Unbeteiligt lehnte er in einem der Stühle und ließ seinen Blick über die Gesichter der Menschen schweifen. „Er sitzt schon den ganzen Tag hier rum“, fuhr Beatrice im Flüsterton fort. „Ich habe ihm schon mehrmals gesagt, dass er weggehen soll, aber er will einfach nicht hören.“
„Wieso willst du ihn denn vertreiben?“
„Sieh ihn dir an! Er sieht aus wie ein Obdachloser und macht meine Kundinnen nervös. Außerdem hat er so wenig Anstand in sich, dass man meinen könnte, er wäre ein Straßenkind.“
Also da übertrieb sie, wie Mrs. Vivien Alee fand. Ihrer Meinung nach, war er ein sehr hübscher Junge, wenn man von seinen Kleidern mal absah.
„Kannst du ihn nicht einfach vertreiben?“
„Wie denn? Ich habe ihn schon mehrmals gebeten zu gehen, aber er will einfach nicht. Und vertreiben darf ich ihn nicht, er tut ja nichts Verbotenes.“
„Irgendwann wird er schon weggehen“, versicherte Mrs. Vivien Alee, während sie nach dem Tablett griff. Es wog erstaunlich schwer in ihren Händen und aus der Tasse stieg ihr ein süßer Duft entgegen. Sie wollte sich gerade an einem der leeren Tische niederlassen, als sie etwas davon abhielt. Mitten in der Bewegung änderte sie die Richtung und marschierte direkt zu dem Tisch, an dem der Junge saß. Es war noch ein Stuhl frei.
Er musterte sie mit spöttisch hochgezogener Augenbraue, als sie ihr Tablett auf der Tischplatte abstellte und sich auf den Stuhl fallen ließ. „Es sind noch andere Tische frei“, erinnerte er sie, wobei er Beatrice einen flüchtigen Seitenblick zuwarf.
„Ich weiß“, erwiderte Mrs. Vivien Alee, während sie mit der Gabel ein kleines Stück von ihrem Kuchen abtrennte und es sich in den Mund schob. Es schmeckte ein wenig bitter, war aber schmackhaft.
„Ich habe gesehen, wie Sie mit der Kellnerin gesprochen haben“, sagte der Junge, während er den Blick abwand und wieder zu der Menschenmenge rüber blickte. Er beobachtete die Leute mit solcher Aufmerksamkeit, als würde er auf jemanden warten. Seine Eltern vielleicht? „Falls Sie mich überreden sollen zu gehen, können Sie das gleich wieder vergessen.“
„Das hatte ich gar nicht vor.“ Mrs. Vivien Alee spülte das Gebäck mit einem Schluck von dem Tee runter. Die warme Flüssigkeit hinterließ einen intensiven Nachgeschmack in ihrem Mund. Eine Zeit lang saßen die beiden schweigend da und Mrs. Vivien Alee ließ sich Zeit damit, ihr Stück Kuchen zu essen. Hin und wieder sah sie aus dem Augenwinkel zu dem Jungen, der still und reglos auf seinem Platz saß.
Er hatte braune, wirre Haare, die auf ihre ganz eigene Art und Weise zu wachsen schienen. Seine Augenfarbe konnte die Frau nicht erkennen. Auf den ersten Blick schienen seine Augen fast schwarz und von dunklen, dichten Wimpern umgeben, fast so lang wie die eines Mädchens. Die schmalen Lippen waren ungewöhnlich rot und fein, wie Mrs. Vivien Alee es nur selten gesehen hatte.
„Wo sind deine Eltern?“, fragte sie, bevor sie die Tasse erneut an ihren Mund setzte und daran vorsichtig zu nippen begann. An solch kalten Tagen war Tee genau das Richtige. Und nach einer anstrengenden Nacht konnte er die Laune erheblich verbessern.
„Geht Sie nichts an.“
„Ich mein ja nur. Weißt du, es ist gefährlich, alleine durch die Stadt zu wandern. Hast du nicht von den Todesfällen gehört?“
Erstaunlicherweise ließ ihn diese Aussage völlig kalt. Ein Schmunzeln bildete sich auf seinem Gesicht und Mrs. Vivien Alee erhaschte einen kurzen Blick auf seine perlenweißen Zähne. Sie waren spitz und ein wenig verschoben. Der Junge sollte sich eine Zahnspange besorgen. Obwohl – wenn sich Mrs. Vivien Alee seine Kleider so ansah, fragte sie sich, ob er sich sowas überhaupt leisten konnte oder ob ihn sein Äußeres überhaupt das Geringste interessierte.
„Ich kann auf mich selbst aufpassen“, versicherte er und fuhr sich mit einer Hand durch das Haar. Mrs. Vivien Alee hatte bislang gar nicht bemerkt, dass er seine Hände die ganze Zeit über in die Taschen gesteckt hatte. Fror er?
„Wie du meinst. Ist nicht mein Problem. Sag mal, wie heißt du?“
„Soa.“
„Soa? Ist das die Abkürzung für irgendwas?“
„Nein.“
Ihr Handy piepte. Mrs. Vivien Alee kramte in ihrer Tasche danach, bis sie es endlich fand. Sie hatte eine Nachricht von Finley erhalten: Ich kann nicht um 3 Uhr. Komm bitte früher vorbei, am besten gleich. CU.
Das trifft sich ja hervorragend!, dachte sie grimmig und warf ihr Handy wieder in ihre Tasche. Finley wohnte nicht gerade in der Nähe. Hätte sie gewusst, dass sie früher kommen sollte, hätte sie sich gleich auf den Weg gemacht.
„Na dann“, seufzte sie, während sie das Tablett zusammen mit dem Besteck und dem Geschirr zu dem Tresen trug. Da Beatrice gerade eine Bestellung von einer älteren Dame aufnahm, stellte Mrs. Vivien Alee es einfach ab und begab sich zum Gehen.
„Auf Wiedersehen“, säuselte Soa mit bedrohlicher Freundlichkeit, als sie an ihm vorbeiging. „Und nehmen Sie sich in Acht vor dem Killer.“
Fast eine ganze Stunde später befand sich Mrs. Vivien Alee auf dem Weg zu Finley. Sie hatte zwei Mal den Bus nehmen und später ein Stück laufen müssen. Hoffentlich würde sie bei ihrem Kollegen ankommen, bevor ein Gewitter ausbrach. Der Himmel schien immer düsterer zu werden, während bereits die ersten Gewitterwolken aufzogen. Sie hatte keinen Regenschirm, dabei sollte man zu dieser Zeit immer einen zur Hand haben.
Mrs. Vivien Alee knöpfte ihre Jacke zu. Ihr war kalt und sie bereute, nicht ihren Mantel angezogen zu haben.
Auf der Straße spielten ein paar Kinder und eins der Mädchen wäre beinahe in die Frau hinein gerannt. Schüchtern entschuldigte es sich und lief dann weiter, zurück zu ihren Freunden.
Mrs. Vivien Alee kümmerte sich nicht darum. Es bereitete ihr Freude, Kinder so herzhaft rumtoben zu sehen. Dennoch entschied sie sich, eine Abkürzung zu Finleys Wohnung zu nehmen, anstatt sich durch die Menschenmassen zu kämpfen. Langsam entfernte sie sich von der offenen Straße und nährte sich immer mehr der Gasse, die direkt zu Finleys Wohnung führte. Würde sie den gewöhnlichen Weg nehmen, würde sie noch etwa zwanzig Minuten brauchen.
Nicht viele Leute trauten sich, solche Umwege zu nehmen. Sie fürchteten sich vor Überfällen und vor Verbrechern. Mrs. Vivien Alee tat dies nicht. Sie wusste, von welchen Orten man sich fernhalten sollte und wo man sich ungestört aufhalten konnte.
Mrs. Vivien Alee bog in eine Seitengasse, in der es nur spärlich Licht gab. Man konnte zunächst kaum etwas erkennen und konnte sich erst richtig fortbewegen, wenn sich die Augen ein wenig an die Dunkelheit gewöhnt hatten.
Vorsichtig tastete sich Mrs. Vivien Alee voran. Hier war das Pflaster zwar eben und ordentlich angelegt, aber es gab auch viele Stellen, über die man stolpern konnte. Einmal hatte sie den Fehler begannen, mit hochhackigen Schuhen durch diese Gasse zu gehen. Sie hatte sich damals den Arm verstaucht. Dieses Mal waren ihre Schuhe glücklicherweise flach und man konnte schon deutlich mehr erkennen.
Als Mrs. Vivien Alee nach vorne blickte, war sie zunächst verwirrt. Am Ende der Gasse schien auf dem Boden eine Gestalt zu liegen. Direkt neben der Gestalt klaffte ein Loch in der Erde, als wäre das Pflaster zersprungen.
Die Anwältin verharrte. Ihr Gesicht wurde blass. „Hallo?“, rief sie und wartete auf die Reaktion der Gestalt.
Diese regte sich nicht.
„Oh nein“, brach sie mit erstickter Stimme heraus und stürmte los. Ihr Herz pochte ihr bis zum Hals und sie wurde von einer Angst gepackt, die ihren ganzen Körper zittern ließ. Nicht schon wieder. Ohne ihr Tempo zu drosseln, ging sie neben der Gestalt in die Knie und legte ihre Tasche beiseite.
Es war ein Mädchen, mit verdreckten, blonden Haaren. Sie hatte die Augen geschlossen und sich zusammengekrümmt. Ihre Haut war blass, nur die Wangen und die Nase gerötet von der Kälte. Sie trug nichts weiter als ein weißes Kleid, das mit Dreck, Staub und Rissen übersät war. Es war kaum lang genug, um ihre Knie zu verdecken.
Mrs. Vivien Alee tastete nach dem Hals des Mädchens. Gott sei Dank. Ihr Puls schlug noch.
„He, Kleine, wach auf.“ Die Frau schlug mit der flachen Hand sanft gegen die Wange des Mädchens. Sie wusste nicht mehr, wie es dazu kam, aber aus irgendeinem Grund fiel ihr Blick auf die Schulter des Mädchens. Auf dieser waren drei kleine Buchstaben tätowiert: V.I.A
Bevor sich Mrs. Vivien Alee weiter Gedanken darüber machen konnte, begann das Mädchen plötzlich zu husten. Dann – unendlich langsam – öffnete sie die Augen und blinzelte die Anwältin an. Es waren dunkle, fast schwarze Augen, die jedoch hell in ihrem verschmutzten Gesicht zu strahlen schienen.
Erleichterung machte sich in Mrs. Vivien Alee breit. „Oh Gott“, flüsterte sie, während sie sich aufrichtete. „Na los, steh auf! Sonst fängst du dir noch etwas ein“, sagte sie, während sie dem Mädchen die Hand reichte.
Diese starrte zunächst sie, dann ihre Hand, an. Nur zögernd griff sie danach und ließ sich hochziehen. Als sie auf den Beinen stand, taumelte sie ein wenig und schlang die Arme um sich. Verwirrt blickte sie sich in der Gasse um.
„Du hast mir vielleicht einen Schrecken eingejagt“, sagte Mrs. Vivien Alee und hob ihre Tasche auf. Erst jetzt nach sie das Loch in der Erde wieder richtig war. Was hatte es hier zu suchen? „Sag mal, bist du da etwa reingefallen?“
Das Mädchen guckte zum Loch und schüttelte energisch den Kopf. Ihre langen Haare flogen ihr um den Kopf. „Nein. Da komm ich her, glaube ich.“
„Wie?“ Mrs. Vivien Alee hob die Augenbrauen. „Willst du mir etwa erzählen, dass du aus dem Loch da gekrochen bist?“
Das Kind runzelte die Stirn und nickte unsicher. „Ich denke schon.“
Die Frau wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Natürlich war das, was das Mädchen ihr erzählte, völliger Unsinn. „Kleine, wo sind deine Eltern?“, fragte sie.
„Meine was?“
Das wurde ja immer besser. Noch so ein streunendes Kind. Mrs. Vivien Alee trat einen Schritt vor und legte dem Mädchen die Hände auf die Schultern. „Geh nach Hause.“
Das Mädchen sah sie mit großen Augen an. Es war ein schönes Ding, wenn man von dem ganzen Schmutz absah, von dem sie bedeckt war. Mrs. Vivien Alee wollte gerade weiter gehen, als das Mädchen plötzlich nach ihrem Handgelenk griff. „Wollen Sie etwa gehen?“
„Geh nach Hause“, wiederholte Mrs. Vivien Alee ermüdet und strich sich mit der freien Hand das Haar aus dem Gesicht.
„Aber …“ Das Mädchen räusperte sich, „ich weiß nicht, wohin ich gehen soll.“
„Das kann ich dir leider auch nicht sagen. Wo wohnst du denn?“
„Na da.“ Wieder wies sie auf das Loch.
Für einen Moment geriet Mrs. Vivien Alee völlig aus der Fassung. Verdutzt blickte sie das Mädchen an, bis ihr schließlich ein kurzer Gedanke kam. „Wie heißt du?“, fragte sie. Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
Das Mädchen überlegte fieberhaft.
„Ich weiß nicht“, lautete ihre Antwort.
Wusste ich es doch, dachte Mrs. Vivien Alee im Stillen. Sie muss an einem Gedächtnisverlust leiden. Vermutlich ist hier etwas passiert, was ihre Erinnerungen ausgelöscht hat.
Das konnte sie gerade überhaupt nicht gebrauchen. Sie hatte ohnehin schon viel zu tun und konnte sich nicht noch dazu mit diesem Kind rumschlagen. Wie alt war das Mädchen überhaupt? Vierzehn? Fünfzehn? Nicht älter.
„Okay, hör zu“, begann Mrs. Vivien Alee. „Ich bin auf dem Weg zu einem Freund. Er ist Polizist, weißt du? Ich werde ihn bitten, für mich deine Familie zu suchen, dann kannst du nach Hause. In Ordnung?“
Sie nickte bloß. Ein gefasstes Nicken.
„Gut“, meinte Mrs. Vivien Alee. „Na los, komm, wir müssen uns beeilen, bevor du hier noch erfrierst. Seine Wohnung liegt hier ganz in der Nähe.“ Sie wollte gerade losgehen, als ihr etwas einfiel. „Ach ja, bevor ich es vergesse – Ich kenne deinen Namen nicht. Und da du ihn scheinbar zurzeit auch nicht kennst, werde ich dich vorläufig Via nennen. Ist das in Ordnung?“ Natürlich dachte die Frau dabei an die drei Buchstaben, an der Schulter des Mädchens.
„Via“, wiederholte diese, bevor sie ein weiteres Mal nickte. „Okay.“
„Auf geht’s“, sagte Mrs. Vivien Alee und nahm Via bei der Hand. „Wir müssen los.“
Der Junge schrie wie am Spieß, als Soa ihn grob gegen den Zaun drückte und seine scharfen Krallen in seine Schultern grub. „Lass mich in Ruhe!“, brüllte der Junge und versuchte Soa wegzustoßen, dieser blieb jedoch stehen, wo er war.
Der Dämon lachte, zog die Krallen seiner linken Hand ein und drückte sie dem Jungen auf den Mund, damit dieser aufhörte zu schreien. Dessen Gesicht war von Tränen überströmt und zu einer schmerzverzerrten Grimasse verzogen.
„Du bist vielleicht laut“, seufzte Soa, während er den Jungen voller Zufriedenheit musterte. Mit einem fast wohlwollenden Gesichtsausdruck lehnte er sich vor. „Ich hoffe für dich, dass sich das ändern lässt“, raunte er dem Jungen zu. „Denn wenn du jetzt nicht ganz schnell den Mund hältst, werde ich wohl selbst dafür sorgen müssen, dass du still bist. Also, wenn ich dich gleich loslasse, hältst du deine Klappe und bleibst hier stehen. Wenn du auch nur an eine Flucht denkst, werde ich dich auf der Stelle erledigen.“ Der Dämon stellte sich wieder gerade hin und zwinkerte dem Jungen zu, als wären sie alte Freunde. „Haben wir uns verstanden?“
Der Junge blickte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Er war vielleicht ein wenig älter als Soa, größer und kräftiger, konnte aber nichts gegen die ungeheure Kraft des Dämons tun.
„Ich hab gefragt, ob wir uns verstanden haben“, zischte Soa und rammte ihm sein Knie in den Bauch.
Der Junge stöhnte, beugte sich nach vorne und begann kurz darauf, hektisch zu nicken. Es flossen immer mehr Tränen über sein Gesicht.
„Gut“, schnurrte Soa und trat einen Schritt zurück. Er ließ das Gesicht des Jungen los und zog seine Krallen aus dessen Haut. Und tatsächlich, der Junge ächzte bloß kurz auf und griff sich an die verletzte Schulter, sagte aber nichts mehr. Mit gesenktem Blick guckte er auf die Erde zwischen seinen Schuhen. Er wagte es kaum, dem Dämon in die Augen zu sehen.
Soa gefiel das.
Diese Stadt hatte einen Vorteil: Es gab eine Menge Gassen und Straßen, in denen nichts los war. In denen man in aller Ruhe auf sein nächstes Opfer warten konnte und in denen dich niemand bei deinen Verbrächen stören würde. Die beiden befanden sich auf einem kleinen Gehweg, der vom Parkplatz eines Geschäftes zu einer nahe liegenden Straße führte. Soa kannte den Grund dafür nicht, aber hier kamen nur selten Menschen vorbei und man wurde wegen den ganzen Bäumen nicht so leicht entdeckt.
„Hör auf zu flennen“, höhnte Soa und betrachtete den Menschen mit Abneigung in den Augen. Sie waren solche Schwächlinge. „Du wirst doch wohl ein paar kleine Narben einstecken können.“
„Es tut irre weh.“
„Gut!“, rief Soa und stieß den Jungen erneut gegen den Zaun, als dieser sich gerade hinstellen wollte. Dahinter befand sich nichts weiter als Büsche.
„Was willst du?“, schluchzte der Junge und fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. Er hatte aufgehört zu weinen und blickte Soa nun direkt an. Die Angst stand ihm ins Gesicht geschrieben, auch wenn dieses beinahe ausdruckslos war.
„Ich brauche etwas von dir“, erklärte Soa, während er das Blut von seinen Krallen an der viel zu weiten Hose abwischte.
„Ich hab kein Geld.“
„Oh, ich will dein Geld nicht“, erwiderte Soa und grinste boshaft, während er spielerisch den Kopf schief legte. „Ich brauche deine Klamotten.“
Soa erwischte den Jungen dabei, wie er nach links und rechts blickte, wahrscheinlich in der Hoffnung, auf Hilfe zu treffen. „Du gehst nirgendwohin“, sagte der Dämon drohend, „bevor ich nicht das bekommen habe, was ich von dir verlange.“
„Okay, okay“, stotterte der Junge eilig. „Ich gebe dir meine Klamotten und dann lässt du mich gehen.“ Er klang flehend, fast verzweifelnd.
Soa stieß ein tiefes Lachen aus. „Natürlich“, sagte er, während er wieder die Krallen ausfuhr und mit einem Finger über die Kehle des Jungen strich. Er tat es ganz langsam, ohne in die Haut zu schneiden und ließ sie seinen Hals entlang wandern. „Wenn du jetzt schön artig bist.“
Selbstverständlich hatte der Dämon nicht vor, den Jungen laufen zu lassen. Er hatte seine Krallen gesehen. Er wusste, dass Soa nicht normal war. Und da die Menschen nichts für sich behalten konnten, würde er den Dämon sofort verraten. Das war Soa klar. Also wartete er geduldig, bis er sein Ziel erreicht hatte, während der Junge gerade seine schwarze Jacke und seine Schuhe ablegte.
Ich werde mal sehen, was sich da machen lässt“, sagte Finley, während er Mrs. Vivien Alee die Mappe mit den Fotos reichte. Sie stand bereits in der Tür und stopfte die Mappe vorsichtig in ihre Tasche.
„Danke“, sagte sie. „Was denkst du, wie lange wird es dauern?“
„Keine Ahnung“, seufzte Finley. Er war ein kleiner Mann, hager und mit einem grauen Ziegenbart. Sein Gesicht war rund und er hatte große, nahe beieinander liegende grüne Augen. Er sah nicht aus, wie ein Polizist, eher wie ein Lehrer oder ein Schriftsteller. „Ich habe gleich Schicht und werde mich mal erkundigen, aber soweit ich weiß, vermisst niemand ein Mädchen. Ich werde mich nochmal informieren. Sobald ich was gefunden habe, ruf ich dich an.“
Mrs. Vivien Alee hatte ihm erzählt, was ihr auf dem Weg zu ihm passiert war. Die beiden hatten eine Weile darüber nachgedacht, bis Mrs. Vivien Alee vorgeschlagen hatte, dass Mädchen für ein paar Tage bei sich zu behalten. So lange, bis Finley ihre Familie gefunden hätte oder bis Via ihr Gedächtnis wiedererlangt hatte. So lange konnte das ja nicht dauern.
„Wieso bringst du sie nicht in ein Krankenhaus?“, fragte er, während er an ihr vorbei zu dem seltsamen und verdreckten Mädchen sah. Via saß im Treppenhaus auf einer Stufe und betrachtete schweigend ihre Hände. Sie trug eine Jacke, die Finley ihr zusammen mit den ausgenutzten Turnschuhen überlassen hatte. Immerhin brauchte das Mädchen etwas, worin Mrs. Vivien Alee sie nach Hause bringen konnte.
„Auf den Gedanken bin ich auch schon gekommen“, sagte die Anwältin leise, als sie die Arme verschränkte und sich an den Türrahmen lehnte. „Aber sie weigert sich. Sie sagt die ganze Zeit, dass sie auf keinen Fall in ein Krankenhaus will, dass sie es nicht nötig hätte. Bitte versuch, ihre Eltern zu finden, ich kann mich nicht ewig um sie kümmern.“
„Keine Angst“, versicherte Finley und klopfte ihr freundschaftlich auf die Schulter. „Ich werd das schon machen. Allerdings ist es möglich, dass sie noch gar nicht vermisst wird. Ich meine, es muss ja nicht lange her sein, dass sie diesen Unfall gehabt hat, durch den sie ihr Gedächtnis verloren hat. Kann gut sein, dass ihre Familie noch gar nicht nach ihr sucht.“
„Ja“, gab ihm Mrs. Vivien Alee abwesend recht. „Aber es gibt einfach viele Dinge, die mir seltsam erscheinen. Wieso trägt sie nichts weiter als dieses Kleid? Außerdem kann ich mir nicht erklären, warum sie so verdreckt ist und warum sie in der Gasse zusammen gebrochen ist. Sie scheint auch kein Handy oder sonstige Wertsachen zu besitzen, die man normalerweise immer dabei hat. Und dieses merkwürdige Loch erst …“
„Welches Loch?“
„Ach, hab ich das noch gar nicht erwähnt? Als ich sie gefunden habe, war da so ein Loch im Boden, ziemlich tief.“
„Ich lass die Stelle mal untersuchen.“ Finley gähnte. Er hatte oft Nachtschicht und kam erst früh morgens nach Hause. Genau zu der Zeit, wenn seine Frau arbeiten ging. Die beiden hatten kaum Zeit für sich, aber Mrs. Vivien Alee beneidete ihn trotzdem.
„Wie war noch mal ihr Name? Via, richtig?“
„Nein.“ Mrs. Vivien Alee schüttelte den Kopf. „Ich kenne ihren Namen nicht. Den habe ich ihr vorläufig gegen, damit sie sich nicht wie ein streunender Hund fühlt. Übrigens, das liegt an den drei Buchstaben, die sich an ihrer Schulter befinden. V – I – A.“
„Sie hat ein Tattoo?“ Finley hob entrüstet die Augenbrauen.
„Ja. Bringt dir das irgendwas?“
„Ein Mädchen mit weißem Kleid, blonden Haaren und einem Tattoo an der Schulter. Ja, ich glaube, die Eltern werden sich angesprochen fühlen.“ Er kratzte sich am Kopf. „Na dann, ich muss dann weg und mich für die nächste Schicht fertig machen.“
„Kein Problem“, sagte die Anwältin. „Komm Via“, sagte sie, während sie die Treppe hinunter ging. Hinter sich hörte sie, wie Finleys Tür ins Schloss fiel.
Das Mädchen sprang auf und lief der Frau hinterher. „Wohin gehen wir?“, wollte sie wissen.
„Zu mir nach Hause“, sagte Mrs. Vivien Alee. „Dort kannst du erst einmal vernünftig essen und ein Bad nehmen. Dann gebe ich dir auch Kleidung, in der du dich wohlfühlst. Ich glaube, ich müsste ein paar Hosen in deiner Größe haben.“
„Wer war der Mann?“, fragte Via, während sie das Haus verließen. Finley wohnte in einer schönen Gegend. Hier gab es viele Kinder, eine Menge Grün und so gut wie keinen Lärm.
„Ein Freund“, antwortete die Frau. „Ich habe ihn gebeten, deine Eltern zu suchen.“
„Da kann er lange suchen“, murmelte Via leise, während sie versuchte, in den viel zu großen Schuhen nicht zu stolpern.
„Was hast du gesagt?“
„Nichts.“
Den Rest des Weges verbrachten sie eher schweigsam. Mrs. Vivien Alee fiel auf, dass Via, obwohl sie nicht besonders gesprächig war, ein sehr aktives Kind zu sein schien. Vor allem bei der Busfahrt zeigte sich das. Während sich die beiden im Fahrzeug befanden, sah Via mit wachsender Begeisterung aus dem Fenster und versuchte hin und wieder, auf der Stelle zu stehen, ohne sich irgendwo festzuhalten. Dabei schien sie aus diesem Alter längst raus gewachsen zu sein. Mrs. Vivien Alee kam es so vor, als wäre das Mädchen noch nie in ihrem Leben Bus gefahren.
„Was ist das denn gewesen?“, fragte die Anwältin lachend, als die beiden ausstiegen.
„Was?“
„Dein Verhalten im Bus! Bist du mit sowas noch nie gefahren, oder was?“
„Nein.“
„Noch nie?“
„Noch nie.“
„Das ist ja echt unglaublich“, schmunzelte Mrs. Vivien Alee und schüttelte ungläubig den Kopf. Die beiden gingen gerade durch eine Straße voller Menschen und sie bemerkte, wie immer mehr Leute zu ihnen rüber sahen. Via zog durch ihre Kleidung die Aufmerksamkeit aller Vorbeigehenden auf sich, ohne es zu bemerken. Normalerweise würde sich ein Mädchen in ihrem Alter niemals auf diese Weise der Öffentlichkeit zeigen.
Sie war in jeder Hinsicht ein besonderer Mensch.
„Ist dir kalt?“, fragte Mrs. Vivien Alee das Mädchen.
Die Jacke und die Schuhe hatten zwar geholfen, aber eine Hose wäre auch nicht schlecht gewesen. Das weiße Kleid rutschte beim Laufen immer wieder hoch und war nicht besonders dick.
„Ein wenig.“ Wenn sie wirklich fror, ließ sie es sich nicht anmerken. Mit einem entzückten Lächeln betrachtete Via die Dinge um sie herum. Die Leute, die Autos, selbst die Häuser waren für sie interessant. Aber vor allem die Vögel am Himmel zogen ihre Blicke auf sich. Jedes Mal, wenn einer vorbeiflog, reckte das Mädchen den Hals und legte den Kopf in den Nacken.
„Meine Wohnung ist nicht mehr weit“, versicherte Mrs. Vivien Alee. In diesem Moment gingen die beiden an dem Café vorbei, in dem Mrs. Vivien Alee heute gefrühstückt hatte. Die Anwältin sah zu dem Tisch, an dem Soa heute gesessen hatte.
Der Junge war weg.
Soa fiel das Laufen in den Kleidern des Jungen viel leichter. In der dunklen Jeans konnte er sich frei bewegen und das schwarze T-Shirt passte ihm wie angegossen. Die Ärmel der dunkelgrünen Jacke hatte er zwar ein wenig hochkrempeln müssen, aber ansonsten war alles gut.
Dem Jungen hatte er die Kehle durchgeschnitten, noch bevor dieser hatte schreien können, ihm seine eigenen Klamotten übergezogen und schließlich einfach über den Zaun in das Gebüsch geworfen. Dort würde ihn niemand so schnell entdecken. Hoffentlich.
Mit der Zeit wurde es immer kälter, dunkler und die Menge aus Menschen löste sich gemächlich auf. Soa knöpfte die Jacke zu und vergrub das Gesicht in dem Kragen. Verflucht sei diese Kälte.
Der Dämon schlenderte betont langsam durch die Straßen, den Blick stur auf den Boden gerichtet und die Leute um ihn herum vollkommen ignorierend. In seinem Hals hatte sich ein dicker Klos gebildet und seine Haut schien am ganzen Körper zu kribbeln, aber an den Kleidern schien es nicht zu liegen. Es war mehr ein inneres Feuer, das ihm dieses beklemmende Gefühl verlieh.
Was war los? Er blieb stehen und strich sich mit der Hand über die Stirn. Plötzlich spürte er ein Brennen an seiner Schulter. Es war stark und erinnerte an ein Stechen. Mit verzogenem Gesicht schob Soa die Jacke beiseite um seine Schulter betrachten zu können. Die drei Buchstaben, die in seine Haut tätowiert waren, leuchteten. Nicht hell, nicht intensiv, aber sie leuchteten.
Was bedeutet das?, fragte sich Soa, während er die Jacke wieder zurecht zupfte und einen kurzen Blick über die Schulter warf. Hinter ihm stand niemand und offenbar war er keinem der Menschen um ihn herum aufgefallen.
Etwas in ihm flüsterte Soa zu, dass er geradeaus laufen musste. Es war wie ein Instinkt, dem der Dämon nur zu gern folgte. Er ging los, wobei sich das Stechen an seiner Schulter immer mehr in ein warmes Kribbeln verwandelte. Es war klar, dass ihn dieses Gefühl leiten wollte. Und Soa bildete sich für einen Moment sogar ein, zu wissen, wohin.
„Warte es ab, Engel“, pfiff er gut gelaunt vor sich hin, während er voller Optimismus voranlief. „Lange kannst du mir nicht mehr entkommen.“
Mrs. Vivien Alee wurden mit einem Schlag zwei Dinge schmerzlich bewusst, als sie die Tür ihres Kühlschrankes öffnete: Erstens – Sie hatte nichts, womit man ein Kind ernähren konnte und zweitens – Sie hatte absolute keine Ahnung, womit sie ein Kind überhaupt ernähren sollte. Im Kühlschrank befand sich nichts weiter als Salat, ein Hackbraten und ein wenig Obst. Es war schon so lange her, dass die Frau zu Hause richtig gegessen hatte. Meist kaufte sie sich etwas, wenn sie unterwegs war, ob im Supermarkt oder im Café’.
„Via!“, rief sie, während sie ermüdet die Hände in die Hüften stemmte. „Wir haben ein kleines Problem. Ich glaube, ich müsste kurz in ein Geschäft verschwinden.“
Stille.
„Via?“, fragte Mrs. Vivien Alee und verließ die Küche. Als sie das Wohnzimmer betrat, sah sie, wie Via vor dem Fernseher hockte, so nahe, dass sie fast mit der Nase gegen den Bildschirm stieß. Sie war fasziniert von den winzigen Menschen, die in dieser Kiste gefangen zu sein schienen. Hatte sie so etwas noch nie zuvor gesehen? Wenn Mrs. Vivien Alee genauer darüber nachdachte, war dem Mädchen alles Alltägliche für die Menschen völlig fremd. Fahrzeuge, Fernsehen, ordentliche Kleidung …
„Via“, wiederholte Mrs. Vivien mit einem Lächeln auf den Lippen. Dieses Mal sah das Mädchen auf und blickte die Anwältin mit großen Augen an. „Ich muss im den Supermarkt und etwas zu Essen besorgen. Kommst du mit?“
„Wie funktioniert das?“, fragte Via und klopfte mit der Faust sacht gegen den Bildschirm des Fernsehers, als würde sie die Aufmerksamkeit der sich darin befindenden Schauspieler auf sich ziehen wollen.
„Erklär ich dir später. Na gut, dann bleibst du eben so lange hier. Ich bin nicht lange weg. Wahrscheinlich bin ich in einer halben Stunde wieder da. Benehm dich, verstanden?“
„In Ordnung“, sagte Via und nickte energisch. Mrs. Vivien Alee hatte ihr ein paar ihrer alten Kleidungsstücke übergeben, die ihr nicht mehr gepasst hatten. Eine weiße Bluse, eine helle Jeans und schwarze Chucks. Die blonden Haare hatte Mrs. Vivien Alee ihr gekämmt und das Mädchen hatte sich unter der Dusche gewaschen. So zurecht gemacht war sie ein äußerst hübsches Ding. Ihr Gesicht hätte einem Bild entsprungen sein können. Sie hatte etwas Besonderes, etwas, was sie anders erscheinen ließ.
„Übrigens“, sagte Mrs. Vivien Alee, während sie sich die Schuhe anzog. „Mit der Fernbedienung – dem schwarzen Ding da, neben dir – kannst du dir verschiedene Programme ansehen. Guck einfach mal, was dir so gefällt, vielleicht findest du was Interessantes.“ Die Anwältin zog sich die Jacke drüber und schulterte ihre Tasche. Sie ging sicher, dass sie alles dabei hatte. Handy, Schlüssel, Geldbeutel … Alles da.
„Willst du etwas Bestimmtes?“, fragte die Frau, bevor sie die Wohnung verließ.
„Hmm?“
„Ich habe gefragt, ob du etwas Bestimmtes willst.“
„Nicht wirklich.“
„Wie wärs mit Schokolade oder Kaugummi?“
„Was ist das?“
„Ich bringe dir einfach mal etwas mit.“ Mrs. Vivien Alee öffnete die Tür und trat ins Treppenhaus hinaus. Sie lockerte die Schultern und dachte kurz darüber nach, was heute alles geschehen war. Eins war klar: Dieses Kind war nicht normal. Und trotzdem musste die Frau sich eingestehen, dass das Mädchen mit ihrer besonderen Art nach nur kurzer Zeit einen Platz in ihrem Herzen ergattert hatte.
Via hörte es kaum, als sich die Tür hinter Mrs. Vivien Alee schloss. Ihre gesamte Aufmerksamkeit galt den Bildern, die sich in dem Fernseher bewegten. Inzwischen lief dort etwas, was sich „Nachrichten“ nannte.
Man sah einen Mann, der bewusstlos zwischen zwei ineinander gefahrenen Autos lag. Zwei andere Menschen in roten Uniformen versuchten gerade ihn auf eine Trage zu legen, die sich neben einem Krankenwagen befand. Überall war Rauch und alle schrien sich etwas zu.
Via bekam eine Gänsehaut.
Plötzlich knurrte ihr Magen und sie begriff erst in dem Moment, dass sie Hunger hatte. Außerdem schmerzten ihre Knie, denn sie hockte bereits seit einer längeren Zeit vor dem Fernseher auf dem harten und laminierten Boden. Als sie aufstand, musste sie sich kurz strecken, um ihre Glieder zu lockern.
Mrs. Vivien Alee war einkaufen gegangen. Das hieß, dass Via jetzt vermutlich nichts zu essen finden würde. Trotzdem konnte es nicht schaden, sich in der Wohnung ein wenig umzusehen.
Via ließ sich Zeit damit, den Lebensraum der Anwältin zu erforschen. Sie spielte eine Weile mit der Klospüllung, mit der Mikrowelle, mit dem Lichtschalter und ein wenig mit dem Staubsauger, den sie in der Besenkammer gefunden hatte. Diese Welt hatte so viele interessante Dinge. Das Mädchen konnte ihre Neugier kaum stillen.
Ganz besonders interessiert war sie an der Tür, die zu einem Zimmer führte, das bis jetzt die ganze Zeit über verschlossen gewesen war. Mrs. Vivien Alee hatte sie kein einziges Mal betreten, in der Zeit, die Via bei ihr zu Hause verbracht hatte. Das Mädchen wüsste gern, was sich darin befand.
Mit einer Mischung aus einem schlechten Gewissen und einer brennenden Wissbegierde öffnete sie die Tür und steckte den Kopf durch den Spalt. Sie musste zugeben, dass sie ein wenig enttäuscht war. Sie hätte mehr erwartet, als ein gewöhnliches Schlafzimmer. Außer einem Bett, einem Schreibtisch und einer Kommode hätte sie sich mehr gewünscht. Via betrat den Raum und ignorierte das mulmige Gefühl, das sich in ihrer Magengegend ausbreitete.
Via war ein positiver Mensch. Sie konnte es sich selbst nicht erklären, aber seit ihrem Erwachen in der dunklen Gasse hatte sie nicht ein einziges Mal etwas wie Furcht verspürt. Es war mehr so, als hätte sie für die Dinge, die ihr fremd erschienen und vor denen sie hätte Angst haben müssen, eher eine Art Faszination entwickelt.
Sie genoss jeden freien Atemzug, den sie machen konnte. Unter der Erde war es deprimierend gewesen. Nichts als bedrückende Stille, Schweigen und das Geräusch ihres viel zu schnellen Herzschlages. Überall war Staub gewesen, Dreck der sich in deine Lungen kämpfte.
Das Mädchen unterdrückte ein Würgen. Allein die Erinnerung erweckte in ihr das Verlangen, sich zu übergeben.
Via trat an den Schreibtisch und betrachtete die Dinge, die sich darauf befanden. Viel war es nicht. Ein geöffnetes Kästchen mit Briefen und ein Bilderrahmen. Auf dem Foto sah man Mrs. Vivien Alee, zusammen mit einem Mann. Die Haare der Frau waren länger und sie hatte ein paar Sorgenfalten weniger im Gesicht, aber es war hundertprozentig sie. Den Mann hatte Via schon einmal gesehen, auf einem weiteren Bild, das sich in dem Büro der Anwältin befand.
Ob das ihr Mann war? Wenn das stimmte, war dies hier mit großer Wahrscheinlichkeit sein Schlafzimmer. Allerdings schien er bereits seit einer Weile nicht mehr hier gewesen zu sein, denn alles, was Via zu sehen bekam, war völlig verstaubt und veraltet.
Via bemerkte ein kleinen Schlüssel, der in dem Schloss einer Schublade steckte. Sie drehte ihn einmal und öffnete die Schublade. Darin befand sich lauter Zeug, mit dem sie nichts anzufangen wusste. Papiere, Stifte, Notizbücher … und ein Taschenmesser.
Ein kleines, dünnes Taschenmesser mit einem in schwarzes Leder gebundenen Griff, der leicht und fein in der Hand lag. Via ließ das Messer aufschnappen und strich mit dem Finger über die Klinge. Scharf und gefährlich war sie, und – wenn man mit ihr umgehen konnte – sogar tödlich.
Nachdem das Mädchen das Messer eine Weile mit einem entzückten Lächeln betrachtet hatte, ließ sie es wieder einschnappen, steckte es sich in die Tasche ihrer Hose und schloss die Kommode wieder. Ohne weiter darüber nachzudenken, verließ sie das Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Dann kehrte sie ins Wohnzimmer zurück und setzte sich auf das Sofa, anstatt sich wieder direkt vor den Fernseher zu hocken. Dort lief gerade Werbung.
Das Mädchen konnte es kaum noch erwarten, bis Mrs. Vivien Alee wieder zurückkehrte. Nicht nur, weil sie Hunger hatte, sondern weil sie es genoss, mit der Anwältin Zeit zu verbringen. Die Frau war ein netter, freundlicher aber auch zurückhaltender Mensch. Via mochte sie.
Mit gerunzelter Stirn zog sie den Ärmel ihrer Bluse etwas hoch und betrachtete die drei Buchstaben, die sich in der Nähe ihrer Schulter befanden. Sie brannten. Außerdem leuchteten sie in einem schwachen, kaum merklichen gelb Ton. Via rieb sich den Oberarm, dadurch wurde es aber nicht besser. Die Buchstaben brannten nur noch stärker. Es war kein starker Schmerz, eher ein unangenehmes Zwicken.
Was hat das zu bedeuten?, fragte sich Via, als sie ein Geräusch wahrnahm. Es ähnelte einem Kratzen und kam aus der Richtung der Haustür. Das Herz des Mädchens machte einen Freudensprung und sie vergaß das Tattoo für einen Augenblick. Mrs. Vivien Alee war wieder da.
„Warum hat es denn so lange gedauert?“, fragte sie und konnte nicht verhindern, dass sich ein dickes Grinsen auf ihrem Gesicht ausbreitete. Sie hörte, wie die Tür aufschwang und gelassene Schritte den Flur entlang kamen.
Leider war es nicht Mrs. Vivien Alee, die das Wohnzimmer betrat. Es war ein Junge, groß, schlank und mit braunen Haaren, die wirre von seinem Kopf abstanden. Seine dunklen Augen glänzten belustigt und seine schmalen Lippen hatten sich zu einem zufriedenen Lächeln verzogen. Seine linke Hand war menschlich, aus der rechten ragten lange und glänzende Krallen, mit denen man jedes Schloss geknackt hätte.
Als er sie direkt ansah, musste er ein Lachen ausstoßen. „Na, sieh mal einer an“, grinste er und legte den Kopf schief. „Ein Weibchen.“
Via fand ihn hübsch. Und obwohl sie trotz seiner Krallen keine Angst vor ihm hatte, sagte etwas in ihrem Unterbewusstsein, dass sie vorsichtig sein musste. Sein abruptes Auftauchen überraschte sie. Was machte er hier? Verständnislos blinzelte sie ihn an. „Wer bist du?“
Er überhörte ihre Frage. „Hab ich dich endlich“, schnurrte der Junge und ließ seinen Blick an ihr entlang gleiten. Er stand lässig da und trat an sie heran. Via musterte ihn mit demselben, forschenden Blick, den der Junge ihr auch schenkte. „Endlich habe ich dich gefunden“, flüsterte er mit heißerer Stimme und griff nach ihrer Hand. Sein Griff war fest und zerquetschte Via fast das Handgelenk. „Ich hab dich gefunden, du verschollener Engel.“
Als Liu wieder zu Bewusstsein kam, schlug ihr ein ekelerregender Gestank entgegen. Sie verzog angewidert das Gesicht und versuchte festzustellen, wo sie sich eigentlich befand. Sie war von modriger Dunkelheit umgeben und alles, was sie berührte war feucht. Sie lag auf dem Rücken und stieß mit dem Ellenbogen gegen eine kühle Wand.
„Ein Müllcontainer“, flüsterte sie mürrisch, während sie sich aufrichtete und den Deckel aufstieß. Er war schwer und sie stand auf wackeligen Beinen, deshalb kostete es sie viel Kraft, aber es gelang ihr dennoch. Liu musste sich erst an das Licht gewöhnen, bevor sie sich umsehen konnte. Der kalte Wind peitschte ihr ins Gesicht und ließ sie zusammen zucken.
Als sie halbwegs gut sehen konnte, sprang sie mit einem Satz aus dem Müllcontainer und atmete die frische Luft ein. Sie schüttelte sich kurz, um die Erinnerung an den widerlichen Aufenthalt in dem Container zu vergessen.
Das war mal wieder typisch. Von allen Orten, an denen sie hatte in der Menschenwelt unbemerkt auftauchen können, musste es ein Müllcontainer sein. War doch von Anfang an klar gewesen, dass sich die Leute vom Rat diesen Spaß mit ihr erlauben würden.
Liu sah sich um. Sie befand sich in einer ruhigen, nah an einem Spielplatz gelegenen Straße, in der sich eine Menge Bäume wiederfinden ließen. Hier war es ruhig und still, wenn auch ein wenig schwül. Es dunkelte bereits, weswegen sie sich lieber beeilen sollte.
Der weibliche Engel strich sich die roten Locken aus dem Gesicht. Sie hasste ihre Haare. Sie waren der Grund, warum sie oft verspottet und verhöhnt wurde. Normalerweise hatten Engel blonde Haare und dunkle Augen, schwarz und gnädig. Ihre Augen waren grau, schon beinahe silbern mit weißen Sprenkeln. Sie unterschied sich von allen ihren Artgenossen und musste sich oft eine Menge gefallen lassen.
Das hier war ihre Chance, dem ein Ende zu setzen.
Die Leute vom Rat hatten ihr aufgetragen, den Engel Via und den Dämon Soa zu suchen. Sollte sie die beiden finden, würde man in der magischen Welt vielleicht beginnen, sie trotz ihres Aussehens zu respektieren. Ein schöner Gedanke.
Liu strich ihr Kleid glatt und rieb mit der Hand an den drei Buchstaben an ihrem Oberarm:
Sofort trat das vertraute Leuchten auf, gefolgt von einem stechenden Brennen. Auf diese Weise konnten Engel und Dämon Artgenossen in der Menschenwelt ausfündig machen. So würde Liu die beiden schnell finden.
Ihre Aufgabe war nicht nur wichtig für den Rat. Auch den Menschen würde es nicht gut ergehen, wenn Soa und Via weiterhin frei herumliefen. Dies war nicht ihre Welt. Dämonen waren von Natur aus gewaltbereit und blutdurstig. Engel waren da wesentlich ruhiger, konnten sich aber in wenigen Sekunden in brutale Kampfmaschinen verwandeln. Es kam nur darauf an, in welcher Lage sie sich befanden.
Liu sprach da aus Erfahrung.
Sie würde keinen Kampf scheuen, sollten die beiden nicht freiwillig mit ihr mitkommen. Den Dämon würde sie erbarmungslos umbringen, den Engel mit Gewalt in die magische Welt zurückbringen. In etwa so sah ihr Plan aus. Nicht sehr durchdacht oder detailliert, aber mehr brauchte sie auch gar nicht.
Mrs. Vivien Alee konnte nicht stillstehen. Ständig blickte sie nervös auf ihre Uhr, hinkte von einem Bein auf das andere und stieß immer wieder einen entnervten Seufzer aus.
Eine der Kassen im Supermarkt war kaputt, für die andere fand man gerade keine Besetzung – und so schien sich die Schlange, an der die Frau anstand, unendlich in die Länge zu ziehen.
Sie hatte ein ungutes Gefühl und war in Eile. Es missfiel ihr, Via allein bei sich zu Hause zu lassen. Etwas in ihr flüsterte ihr zu, dass in ihrer Wohnung etwas Schlechtes vor sich ging.
Leider hatten die Verkäufer nur wenig Verständnis dafür und ließen sich alle Zeit der Welt bei ihrer Arbeit. Zu allem Überfluss war der Einkaufswagen der Frau, die sich vor ihr angestellt hatte bis an den Rand gefüllt.
Die Anwältin selbst hatte nicht viel besorgt. In ihren Händen hatte sie eine Packung Spaghetti, ein paar Zwiebeln mit Tomaten und Olivenöl. Es war zwar schon eine Ewigkeit her, seit sie etwas gekocht hatte, aber sie erinnerte sich noch ungefähr wie man Spaghetti Bolognese zubereitete. Außerdem hatte sie für Via eine Tafel Schokolade mitgenommen.
Mrs. Vivien Alee hatte sehr spät geheiratet und nie Kinder bekommen. Sie hatte auch nie welche gewollt. Aber jetzt, wo plötzlich Via bei ihr aufgetaucht war, musste sie sich eingestehen, dass das Mädchen etwas wie mütterliche Instinkte in ihr wachgerufen hatte. Seit dem Verlust ihres Mannes fehlte etwas in ihrem Leben. Es war wie eine Lücke.
Und egal, wie sehr sie sich auch wünschte, unabhängig zu bleiben, musste sie einsehen, dass sie jemanden brauchte, der diese Lücke schließen konnte. Dieser jemand könnte Via sein. Aber …
Nein. Die Anwältin schmunzelte über ihre eigenen, lächerlichen Gedanken. Via würde nicht bei ihr bleiben. Sie würde zu ihren Eltern zurückkehren, irgendwann mal ihr Gedächtnis wiedererlangen und ihr altes Leben weiterführen. Genau wie Mrs. Vivien Alee.
„Ja, flüsterte sie, während es in der Schlange allmählich voranging. „So wird es enden. Und nicht anders.“
Nachdem sie bezahlt hatte, machte sich die Frau auf dem schnellsten Weg nach Hause. Zwar war die Nacht noch fern, aber es wurde bereits dunkel, was sie nur noch mehr beunruhigte. Es wurden immer weniger Menschen auf den Straßen, die Leute suchten Schutz vor dem Biest, das durch die Straßen irrte und die Menschen killte.
Mrs. Vivien Alee fürchtete sich nicht. Jedenfalls nicht davor. Sie hatte in ihrem Beruf als Anwältin bereits von den skurrilsten Dingen gehört und war es mittlerweile gewohnt, mit eigenartigen Geschehnissen konfrontiert zu werden.
Was sie aber wirklich zum Zittert brachte, war der Anblick, der sich ihr bot, als sie das Treppenhaus betrat und die Treppe zu ihrer Etage nahm; Ihre Haustür stand offen und das Schloss wirkte, als hätte jemand mit einem Hammer oder einem Schraubenschlüssel darauf eingedroschen. Das massive Holz war völlig zerkratzt und demoliert. Die Spuren wirkten wie Kratzspuren von Krallen.
Die Menschen. Die umgebrachten Menschen.
Von wilder Panik gefasst ließ Mrs. Vivien Alee ihre Einkaufstüte fallen und rannte zu der Tür, bevor sie in ihre Wohnung stürmte. „Via!“, rief sie, während sie ins Wohnzimmer lief. Hektisch blickte sie sich um. Es sah nicht nach einem Einbruch aus. Alle Möbel standen, wo sie hingehörten, Wertsachen wurden nicht entwendet.
Aber Via war weg.
„Seuche. Parasiten. So nennen sie uns, die eingebildeten und selbstverliebten Leute vom Rat. Verstehst du jetzt, weshalb wir das alles hier tun?“ Soa zerrte Via durch eine leere Straße, deren Geschäfte sich gerade schlossen. Es war bereits dunkel und es gab nicht mehr sonderlich viele Menschen. Die meisten verschwanden in ihren Häusern und zogen sich zurück. Diejenigen, die noch draußen waren, warfen Via unsichere Blicke zu, als vermuteten sie, Soa würde gegen ihren Willen etwas Unanständiges mit ihr anstellen.
„Das ist nicht nett. Was habt ihr denn getan, dass sie euch so beschimpfen?“, fragte Via auf ihre friedliche, naive Art, während sie ihm folgte.
Soa hatte lange gebraucht, Via davon zu überzeugen, mit ihm zu kommen. Er musste sich gut mit ihr verstehen, deshalb hatte er zunächst auf Gewalt verzichtet und nur mit Freundlichkeit versucht, sie zum Gehen zu überreden. Allerdings war es ihm im Laufe des Gesprächs immer schwerer gefallen, seine steigende Wut zu unterdrücken.
Dieses Mädchen war einfach so … dumm. Ein besseres Wort fiel ihm in dem Moment leider nicht ein.
Sie wollte den Ernst der Lage einfach nicht begreifen. Zuerst hatte sie gar nicht mit ihm kommen wollen und erwidert, sie müsste auf eine gewisse Mrs. Vivien Alee warten. Auch nachdem Soa ihr erzählt hatte, weshalb sie ihn begleiten sollte, hatte sie sich gesträubt.
Wäre sie nach einer gewissen Zeit nicht doch noch weich geworden, hätte Soa mit großer Wahrscheinlichkeit die Nerven verloren. Mittlerweile hatte er sich wieder beruhigt, war allerdings nach wie vor ein wenig genervt.
„Nichts. Nichts haben wir ihnen angetan! Der Rat hasst Dämonen mehr als die Pest und wenn wir nicht bald etwas unternehmen, werden sie unsere Art komplett ausrotten.“ Soa sprach nur leise, damit ihn niemand außer dem weiblichen Engel hörte. Zwar befanden sich kaum noch Leute auf den Straßen, aber es gab genug offene Fenster.
Er mied es, sich zu Via umzudrehen und sie anzublicken. Eigentlich hatte er erwartet, mit einem männlichen Engel zusammenarbeiten zu müssen. Es hatte ihn zuerst überrascht, dass es ein Mädchen gewesen war.
„Was genau ist denn der Rat?“, fragte Via, die bereits ins Keuchen geriet. Sie gingen relativ schnell. Vielleicht ein wenig zu schnell für sie.
„Der Rat ist nichts weiter, als ein Haufen aufgeblasener Vollidioten, die in der magischen Welt das Sagen haben“, erklärte Soa großspurig, während er um eine Ecke bog. Er erinnerte sich nicht mehr so recht an den richtigen Weg zu der Brücke, an der er aus der Erde gekrochen war, glaubte aber, ihn wiederfinden zu können. „Und leider ist es so, dass sie Dämonen nicht besonders mögen. Sie verachten uns und würden alle von uns am liebsten loswerden. Kann sein, dass genau das bald passieren wird; Alle meiner Art werden sterben. Getötet auf Befehl vom Rat.“ Ein Hauch von Bitterkeit schwang in seiner Stimme mit, gemischt mit spitzem Spott.
„Sie wollen euch umbringen, weil sie euch nicht mögen? Das verstehe ich nicht“, meinte Via verwirrt, womit sie ihn wieder wütend machte.
Sie sprach so kindlich über diese ganzen Dinge. Als wäre das alles nur ein dämliches Spiel. Als hätte sie keine Ahnung, was in der magischen Welt vor sich ging. In gewisser Weise stimmt das auch, dachte Soa im Stillen, während er seinen Schritt um einiges beschleunigte. Sie ist erst heute zur Welt gekommen. Sie hat noch keine einzige von den Grausamkeiten kennen gelernt, die das Leben zu bieten hat.
Soa hingegen hatte bereits in den ersten paar Stunden, die er über der Erdoberfläche verbracht hatte begriffen, dass die Welt voller Gefahren war. Nicht nur durch den Brief, den er von seinem Herren bekommen hatte, sondern auch durch Beobachtung der Menschen. Er war durch die Straßen gelaufen, hatte um Geld bettelnde Penner und betrunkene Männer gesehen, Schlägertypen die in Gangs zusammen rumhingen. Er hatte alles wahrgenommen.
„Nein, nein. Es liegt nicht nur daran, dass sie uns nicht mögen. Sie glauben, wir würden den Engeln schaden. Es ist so, dass ihr vom Rat besonders geliebt werdet, wegen eurem … Äußeren. Und weil sie meinen, wir könnten euch etwas tun, wollen sie uns eben beseitigen.“
„Und was können wir bitte dagegen tun?“, wollte Via wissen.
„Ganz einfach“, sagte Soa. „Unser Herr – der übrigens auch ein Dämon ist – wollte mit unserer Hilfe etwas beweisen. Angeblich ist es so, dass Engel und Dämonen nicht in Frieden miteinander leben können, weshalb sich der Rat auch zwischen einer der beiden Arten entscheiden muss. Unser Herr wollte mit unserer Hilfe zeigen, dass wir unter bestimmten Bedingungen zusammen leben könnten, ohne Krieg zu führen. Falls uns das gelingen sollte, könnten wir das Aussterben der Dämonen verhindern.“
Ein toller Gedanke.
„Wir beide müssen also lernen, miteinander auszukommen?“, fragte Via, die verzweifelt versuchte, mit ihm mitzuhalten.
„Ja.“
„Könntest du dann bitte aufhören, mein Handgelenk so zu drücken? Du zerquetschst es noch.“
Er blieb abrupt stehen und verharrte. Dann drehte er sich mit versteinertem Gesicht zu ihr um und musterte sie kurz. Sie war schön, aber das war nichts Besonderes. Engel waren nun mal hübsch. Allerdings war der Ausdruck in ihren Augen seiner Meinung nach sehr merkwürdig; Wann immer Soa es sich vorstellte, einem Engel gegenüber zu stehen, war dessen Blick abweisend. Kalt. Abfällig.
Vias Blick hingegen war sanft.
„Natürlich“, sagte er missmutig und ließ ihr Handgelenk los.
„Danke“, sagte sie und lächelte ihn zu seinem Erstaunen sogar an. Ein warmes, glückliches Lächeln. Ihm fiel auf, dass sie ein wenig zitterte. Seltsamerweise schien sie aber keine Angst zu haben.
„Ist dir kalt?“, fragte er, während er einen kurzen Blick auf ihre Kleider warf. Sie trug eine weiße, dünne Bluse. Die Sonne war längst untergegangen und es wehte ein kühler Wind. Ihm selbst war das kalte Wetter mit der Jacke des Jungen und seiner tobenden Aufregung kaum aufgefallen.
Sie zuckte die Achseln. „Ein bisschen.“
Erstaunlich, dachte Soa sarkastisch. Ein Engel der sich nicht über Kälte beklagt, sondern diese wie ein Dämon über sich ergehen lässt. Soa hätte bei dem Gedanken fast gelacht.
„Willst du meine Jacke?“, fragte er unsicher, denn er wusste nicht so recht, was er sonst hätte tun sollen. Wohl oder übel würde er mit Via klarkommen müssen.
„Wenn es dir nichts ausmacht.“
Er schlüpfte aus der dunkelgrünen Jacke und reichte sie ihr. Sie war ihr viel zu groß und hing schlaf herab, war aber besser als nichts. Via krempelte die Ärmel ein wenig hoch, knöpfte die Jacke zu und begann zu grinsen, während sie das Gesicht im Kragen vergrub, um sich zu wärmen. „Danke.“
„Du hättest auch früher was sagen können. Los, wir müssen weiter“, sagte er und hätte aus Gewohnheit fast wieder nach ihrer Hand gegriffen. Stattdessen erstarrte er mitten in der Bewegung, trat einen Schritt zurück und ging dann einfach los. Sie folgte ihm, ohne dass er sie hinter sich herziehen musste.
Das war doch zumindest mal ein Anfang.
Die beiden liefen durch eine Baustelle, an der gerade eine Reihe neuer Häuser gebaut wurde. Soa wollte nicht, dass die Leute auf der Straße auf die beiden aufmerksam wurden, deshalb bevorzugte er es, diese kleine Abkürzung zu nehmen. Außerdem hatte er die leise Befürchtung, irgendwelchen brutalen Typen aus Kneipen begegnen zu können, worauf er gerade keine große Lust hatte. Er wäre zwar leicht mit ihnen fertig geworden, von Via konnte er nicht dasselbe behaupten.
Engel konnten sich, wenn nötig, in brutale Kampfmaschinen verwandeln, das war ihm bewusst. Allerdings konnte er sich dies bei Via nur schwer vorstellen. Sie war so unbekümmert, so naiv … Würde sie es wirklich über sich bringen, jemanden zu verletzen?
„Ich hätte noch eine Frage“, sagte Via nach einer Weile des Schweigens und riss ihn aus seinen Gedanken. „Wohin gehen wir nun eigentlich?“
Bevor Soa den Mund aufmachen konnte, um ihr zu antworten, zerriss eine andere Stimme die Stille: „Ihr beiden geht nirgendwo mehr hin.“
Soa blieb stehen und sah sich suchend um, nur leider konnte er bei der Dunkelheit wenig erkennen. Via stand dicht hinter ihm, auch sie suchte nach der Person, die die beiden angesprochen hatte.
„Hier bin ich!“ Erst jetzt bemerkte Soa das Mädchen, das gelassen auf dem Dach eines Bulldozers saß und sie anstarrte. Sie war ungefähr in ihrem Alter, vielleicht ein bisschen älter und hatte rote Locken. In ihrer Hand hielt sie eine Pistole, ihre Augen glänzten angriffslustig im Mondlicht.
Soa ahnte Schlimmes.
„Na, ihr zwei Süßen? Wo wollt ihr denn hin?“, fragte sie, während sie sich erhob und mit einem Satz von dem Bulldozer sprang. Sie landete auf den Füßen, als sei die Höhe ihres Sprungs kaum von Bedeutung.
Instinktiv stellte sich Soa vor Via. Ihr durfte unter keinen Umständen etwas zustoßen. Auf keinen Fall.
Das Mädchen schnurrte amüsiert. „Du musst sie vor mir nicht beschützen. Jedenfalls nicht, so lange ihr nichts tut, was mir missfallen könnte.“ Wie zur Unterstreichung ihrer Worte entsicherte sie die Waffe in ihrer Hand.
Soa musterte sie eindringlich. Er konnte nicht verstehen, was sie war. Ein Mensch bestimmt nicht. Für einen Dämon waren ihre Züge zu sanft, für einen Engel war sie nicht hübsch genug. Ihre roten Haare waren viel zu wild und ihre Augen hatten eine seltsame Farbe. Es erinnerte ihn an Silber.
„Wer bist du?“, fragte er, während er die Krallen ausfuhr. Er hatte das Gefühl, dass sich ein Kampf nicht vermeiden lassen würde.
Das Mädchen verzog den Mund, als sie ihn ansah, als wäre er es nicht wert, dass sie mit ihm sprach. „Mein Name ist Liu. Ich wurde vom Rat geschickt, um euch zu holen.“ Ja. Genauso hatte sich Soa Engel immer vorgestellt. Herablassend und hochmütig. Zwar mit blonden Haaren und dunklen Augen, aber das hatte nicht viel zu bedeuten. Die Persönlichkeit blieb dieselbe.
„Tut mir Leid, dann hast du Pech“, entgegnete Soa. Er hörte Via hinter sich ängstlich atmen. „Wir werden nicht mit dir mitkommen.“
„Ach, wirklich nicht?“ Liu zog spöttisch eine Augenbraue hoch und trat einen Schritt näher. „Glaub mir, mein Lieber, du brauchst auch gar nicht mitkommen. Dich erledige ich jetzt und hier, falls du nicht tust, was ich dir sage. Ich will nur sie.“ Sie deutete mit dem Lauf der Knarre auf Via.
Diese schüttelte heftig den Kopf und klammerte sich an Soas Arm. „Nein!“, sagte sie bestimmt, jedoch nach wie vor auf ihre nette, freundliche Art und Weise. „Ich will nicht.“
„Du hast keine Wahl.“
„Das lass ich nicht zu.“ Soa trat nun ebenfalls einen Schritt vor, um Liu zu zeigen, dass er sich von ihrer Waffe nicht einschüchtern ließ. Selbst wenn ihn eine Kugel treffen sollte, würde er es kaum merken. Das war eine Besonderheit der Dämonen. Sie konnten jeden Schmerz ertragen, egal, wie schlimm er auch war.
Liu lachte hysterisch auf und schüttelte den Kopf, als hätte er gerade die größte Dummheit begonnen, die sie je erlebt hatte. „Du denkst, du hättest eine Chance gegen mich? Kleiner, wie lange bist du auf der Welt? Ein paar Wochen? Was kannst du denn, außer ein wenig mit deinen Krallen zu kratzen? Beißen? Ich, im Gegensatz zu dir, wurde von den besten Kämpfern ausgebildet, die die magische Welt zu bieten hat. Ich bin berüchtigt, für meine Kampfkunst und zwar bei allen: Bei den Engeln, den Dämonen, den Kobolden, den Feen und allen anderen auch! Na los, du tapferer Held, versuch mich zu besiegen!“
Mrs. Vivien Alee war in ihrer Panik gar nicht auf den schlauen Gedanken gekommen, die Polizei zu rufen, sondern war sofort aus der Wohnung gestürmt. Da sie nicht wusste, in welche Richtung sie gehen sollte und wo Via nun sein könnte, musste sie sich von ihrem Gefühl leiten lassen. Und so rannte sie blindlings durch die leeren Straßen, rief immer wieder nach Via und fragte gelegentlich Leute, ob sie etwas gesehen hatten.
Natürlich erinnerte sich niemand. Die Leute erinnerten sich nie an irgendwas.
Ich war doch gar nicht so lange weg, dachte sie, während sie an einer Reihe Häuser vorbeirannte. Sie können nicht weit sein. Leider bestand nach wie vor die Gefahr für sie, dass sie in die falsche Richtung lief.
An einer Kreuzung die von einer leicht flackernden Straßenlaterne beleuchtet wurde hielt die Anwältin keuchend an. Sie hatte Seitenstechen und musste sich einen Moment Ruhe gönnen, um zu Atem zu kommen. Rot im Gesicht und am Ende ihrer Kräfte blieb sie stehen und überlegte kurz; Was auch immer Via entführt hatte, es würde sicher nicht über die offene Straße streunen.
Via musste jetzt gerade an einem Ort sein, an dem sich zu dieser Zeit kein Mensch aufhalten würde. Es gab hier in der Nähe einen Friedhof, eine Baustelle, einen kleinen Fußballplatz und eine Kirche. Die Kirche und den Fußballplatz konnte Mrs. Vivien Alee von ihrer Liste streichen, denn dort konnte man leicht entdeckt werden.
Bei dem Friedhof und der Baustelle war es da etwas schwerer …
Sie atmete ein letztes Mal tief ein, bevor sie nach rechts bog und wieder zu rennen begann. Okay, dachte sie im Stillen, zuerst der Friedhof und dann die Baustelle. Wenn ich sie dann immer noch nicht gefunden habe, kehre ich nach Hause zurück und rufe die Polizei.
Soa konnte sich nicht bewegen, vor seinen Augen tanzten Sterne. Er war gerade noch bei Bewusstsein, lag aber wie betäubt auf dem Boden und stöhnte vor Schmerz.
Er konnte sich kaum noch an den Kampf erinnern. Das Einzige, was ihm nicht entfallen war, war das Bild von Liu, die auf ihn zugelaufen war und dabei ihre Pistole auf ihn gerichtet hatte. Er erinnerte sich schwach an das laute Knallen des Schusses, an das Kribbeln in seiner Schulter und den Schlag der Faust, die ihn mitten ins Gesicht getroffen hatte. Er hatte versucht, sie mit seinen Krallen abzuwehren, aber der Engel hatte lachend nach seinen Handgelenken gegriffen und diese verdreht, als wäre Soa nicht stärker als ein Neugeborenes.
„Wie gefällt dir das?“, hatte Liu höhnisch gerufen, während sie ihm ein ums andere Mal das Knie in den Bauch gerammt hatte. Dann hatte Soa Schläge von allen Seiten einstecken müssen, so stark und schnell, dass er sie hatte nicht einmal kommen sehen können.
Es war ein Wunder, dass Liu ihn nicht vollständig in Stücke gerissen hatte, denn Soa bezweifelte inzwischen nicht, dass der Engel dazu in der Lage gewesen wäre. Vermutlich hatte sie gedacht, er wäre tot, oder zumindest ohnmächtig.
Liu war verschwunden. Zusammen mit Via.
Soa versuchte sich zu erheben, als aber sein Arm unter ihm einknickte, schrie er vor Schmerz auf und fiel mit dem Gesicht voran wieder auf den harten und sandigen Boden der Baustelle.
Er wusste nicht, wie lang er schon so da lag. Es kam ihm vor, wie langsam verstreichende Stunden, in denen er hin und wieder ein Krächzen ausstieß und versuchte, in eine unbestimmte Richtung zu robben. Bald würde es hell werden und die Arbeiter von der Baustelle würden ihn finden, sollte es ihm nicht gelingen, hier wegzukommen. Er hatte nicht einmal die Kraft, seine Krallen einzufahren. Sie würden erkennen, wer er war. Was er war.
Für einen Moment wurde er von wilder Panik ergriffen. So durfte es nicht enden. Auf keinen Fall.
Er erstarrte, als er irgendwo in der Nähe eilige Schritte hörte. Er befürchtete, Liu könnte zurück gekommen sein, um sicherzugehen, dass er wirklich tot war, aber es war nicht ihre Stimme, die ihn rief: „Soa?“ Er spürte, wie jemand dicht vor ihm anhielt.
Soa vergaß das Atmen. Er lag bewegungslos da und dachte fieberhaft nach, wie er sich aus dieser Situation noch retten könnte.
„Wie siehst du denn aus?“, fragte die Frau fassungslos, die sich nun neben ihm hinkniete und seine Wunden abtastete. „Und was ist denn mit deinen Händen los? Sind das … Sind das Krallen?!“
Soa erkannte sie. Es war die Frau, die ihn heute morgen in dem Café’ angesprochen hatte. Nicht die stinkige Kellnerin, sondern die neugierige Blonde mit den müden Augen. Die, die ihn vor dem Killer gewarnt hatte. Shit.
Sie wurde ruhig und sagte nichts mehr. Natürlich, sie musste nachdenken. Sicher hatte sie die Fotos von den Todesopfern in den Zeitungen gesehen und würde erkennen, dass Soa diese Krallen nicht zufällig an seinen Fingern hatte. Sie würde nur eins und eins zusammen zählen müssen. Und dann wäre er dran.
„Du musst versorgt werden“, sagte sie schließlich tonlos. Er fühlte, wie sie ihn wieder auf den Rücken drehte und ihm die Hände unter die Achseln schob.
„Was machen Sie da?“, lallte er, während seine Augenlieder immer schwerer zu werden schienen.
„Einen Fehler begehen. Ich bringe dich hier weg“, antwortete sie mit einem Unterton in der Stimme, den er nicht so recht einordnen konnte. „Und dann reden wir ein Wörtchen miteinander.“ Sie begann, ihn über den Boden zu schleppen. Langsam und geduldig.
Soa wollte sich wehren, aber sein Körper ließ es nicht zu. Er schloss die Augen, entspannte sich unbewusst und verfiel gemächlich in die Dunkelheit die ihn umgab, bis er komplett weggetreten war.
Als Soa wieder zu sich kam, lag er nicht länger auf dem kalten, sandigen Boden der Baustelle, sondern saß auf einem Stuhl, mit hinter dem Rücken gefesselten Händen. Er blinzelte. Das Licht der angeschalteten Glühbirne über ihm blendete den Dämon. Er musste sich erst daran gewöhnen.
Schlafgetrunken schwang er den Kopf hin und her, während sein benebelter Verstand zu verstehen versuchte, wo er sich eigentlich befand. Er war in einer Wohnung. In der Wohnung. Hier hatte er Via gefunden. Sie hatte auf dem Sofa gesessen, das sich zu seiner Linken befand. Vor dem Fernseher, der auf stumm gestellt war. Von hier aus konnte Soa sogar genau die von ihm aufgebrochene und kaputte Haustür erkennen, die zwar geschlossen war, aber trotzdem wegen der ganzen Kratzspuren nicht sonderlich stabil wirkte.
Er stieß einen leisen Klagelaut aus und streckte die Beine. Aus irgendeinem Grund konnte er nicht klar denken. Ihm war schwindelig, er hatte Kopfschmerzen und das dringende Bedürfnis wieder die Augen zu schließen und einfach weiter zu schlummern.
Erst sehr viel später holte ihn die Erinnerung an seinen Kampf mit Liu wieder ein.
Er hatte sich besiegen lassen. Von einem Engel. Und obwohl er sich einredete, dass diese Wesen mehr drauf hatten, als die meisten dachten, war der Gedanke abstoßend. Demütigend.
Der Dämon wollte aufstehen, aber seine gefesselten Hände ließen es nicht zu. Als er die Krallen ausfahren wollte, um das schlichte Seil zu zerschneiden, gelang es ihm seltsamerweise nicht. Es war, als würde ihm sein Körper nicht mehr gehorchen. Auch den bitteren Geschmack in seinem Mund wurde er nicht los, egal, wie lange er sich mit der Zunge auch über die Lippen fuhr.
„Du bist wach.“
Es erschreckte ihn nicht, als plötzlich aus einem der restlichen Zimmern eine Frau trat. Es war die blonde Frau aus dem Café’, die ihn gefunden und verschleppt hatte. Auch daran erinnerte er sich langsam.
„Wo bin ich?“, lallte er und blickte sie argwöhnisch an. Es fiel ihm schwer, deutlich zu sprechen. Möglicherweise hatte Liu ihm in ihrem Kampf den Kiffer gebrochen? Das bezweifelte er. Es hätte ihm sehr viel mehr Schmerzen zugefügt.
„Bei mir zu Hause“, antwortete die Frau neutral, während sie sich auf dem Sofa niederließ, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Ihr Blick war hart. Nicht mehr so freundlich wie heute Morgen. Im Allgemeinen wirkte sie stark verändert. Ihre Miene war mürrisch und unter ihren Augen hatten sich dunkle Ringe gebildet, als hätte sie seit längerem nicht geschlafen.
Er war also bei ihr zu Hause. Via hatte zu ihm gesagt, sie müsste auf eine gewisse Mrs. Vivien Alee warten, bevor sie mit ihm kam. Vivien. Hmm … So war also ihr Name. Soa nahm sich nicht die Zeit, sie sich genauer anzusehen. Dazu war er viel zu erschöpft.
„Was mach ich hier?“, stotterte er und versuchte erneut, sich von dem Stuhl loszureißen. Erfolglos. „Und wieso kann ich mich nit bewegen?“ Seine Zunge fühlte sich geschwollen an. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis es ihm gelang, den Satz richtig auszusprechen.
Mrs. Vivien Alee seufzte. Dass sie eine Tasse Tee in der Hand hielt, fiel ihm erst auf, als sie diese auf dem winzigen Tisch zwischen dem Sofa und dem Fernseher abstellte. Süß riechender Dampf stieg aus der Tasse zur Decke und erfüllte das gemütlich eingerichtete Wohnzimmer. „Du musst wissen, ich lebe allein. Ich bin keine von diesen Frauen, die von anderen abhängig sind und ihr Leben alleine nicht in den Griff kriegen – aber manchmal, in gewissen Nächten, fühlt man sich doch beim Schlafen irgendwie unsicher. So schutzlos.“ Sie senkte die Stimme, als würde sie ihm ein Geheimnis anvertrauen und zog ein Päckchen aus ihrer Hosentasche. „Und deswegen habe ich stets ein wenig davon ihm Haus.“ Die Frau lächelte ihm leicht zu.
„Was’s das?“, lallte Soa und runzelte die Stirn. Sein Kopf kippte ständig nach vorne und er hatte Mühe daran, gerade zu sitzen.
„Das ist etwas, was du unartigen Jungs ins Wasser mischen kannst, damit sie sich benehmen und ihre Krallen nicht ausfahren“, antwortete sie und schob das Päckchen wieder in ihre Hosentasche. Soa brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass es eine Tablettenpackung gewesen war.
Was zur Hölle hatte sie ihm verabreicht?!
Soa lehnte sich zurück und funkelte sie böse an, was in seinem betrunken ähnlichen Zustand aber relativ lächerlich aussehen musste. Vermutlich zog er gerade ein sehr, sehr dummes Gesicht.
Das Schmunzeln auf ihren Lippen bestätigte seine Vermutung. Offenbar hatte sich ihre schlechte Stimmung ein wenig gelockert.
„Was will’su?“, murmelte er und kniff die Augen zusammen. Er hatte keine Angst vor ihr, sie allerdings auch nicht vor ihm. Er wusste nicht so recht, ob dies ein Problem darstellen würde.
Mrs. Vivien Alee musterte ihn mit schief gelegenem Kopf und ließ sich Zeit mit ihrer Antwort. Ihr Blick war misstrauisch, durchdringend. Soa wandt die Augen ab und guckte unsicher in eine der staubigen Ecken der schlichten Wohnung.
„Ich will wissen, wer du bist. Was du bist. Und wie viele es von deiner Sorte sonst noch gibt.“
„Welcher Sorte?“, fragte er und hob eine Augenbraue. Als er sie ansah, setzte er das unschuldigste Gesicht auf, das er in diesem Zustand nur erreichen konnte.
Mrs. Vivien Alee verdrehte die Augen und legte die Beine übereinander, als müsste sie einem kleinen Kind etwas erklären. „Ich bin nicht dumm, Soa“, sagte sie mit fester Stimme. Er zuckte zusammen, als sie seinen Namen sagte. „Und ich bin mir sicher, dass du es auch nicht bist. Was sind das für Krallen an deinen Händen? Woher kommen sie? Und wie viele Menschen gibt es sonst noch, die sie besitzen?“
Er stieß ein verächtliches Schnauben aus, während er auf den Boden zwischen seinen Füßen starrte. „Von uns gibt es hunderte. Tausende. So viele, dass man uns gar nicht zählen könnte. Na ja, noch jedenfalls.“ Den letzten Satz murmelte er mit einem bitteren Grinsen auf dem Gesicht.
Mrs. Vivien Alee hob die Augenbrauen und sah ihn überrascht an. „Wie darf ich das verstehen?“
„Am besten gar nicht“, gab er knirschend von sich. Er merkte, wie die Kraft richtig zu sprechen in ihm zurückkehrte. Vielleicht würde es ihm nun auch gelingen, seine Krallen auszufahren? Er scheiterte jedoch, als er es erneut versuchte. In einem Anflug von Frustration trat er mit dem Fuß auf den Boden und versuchte sich mit Gewalt vom Stuhl loszureißen, erreichte damit jedoch nichts weiter, als diesen zum Wanken zu bringen. Soa schrie kurz auf, als der Stuhl nach hinten kippte und den daran gefesselten Dämon mit sich riss.
Beim Aufprall landete Soa schräg auf dem Boden und biss sich in die Zunge. Auch das noch. Er schmeckte das Blut und fühlte das Brennen, das sich in seinem Mund ausbreitete. Er fluchte leise, zog und zerrte an seinen Fesseln, trat mit den Füßen nach den Stuhlbeinen und ließ es schließlich mit einem schweren Seufzer einfach sein.
„Zwing mich nicht, dir noch mehr von der Droge zu verabreichen“, warnte ihn die Frau und trat zu ihm. Anstatt ihm zu helfen und den Stuhl wieder gerade hinzustellen, ging sie in die Hocke und lächelte von oben auf ihn herab.
Soa knurrte nur zur Antwort.
„Also, was ist nun? Erzählst du mir, was es mit deinen Krallen auf sich hat?“
„Gern, wenn Sie mich dafür laufen lassen“, meinte Soa achselzuckend, eine Bewegung, die ihm in seiner Position nur schwer gelang. Ein flüchtiges Lächeln huschte über sein Gesicht. Er war sich sicher, dass sie ihn laufen lassen würde. Die Neugier der Alten war einfach zu groß. Und dann, wenn sie seine Fesseln gelöst hätte und er seine Krallen wieder benutzen könnte, würde er ihr die Kehle aufschlitzen und ihrem Leben ein Ende bereiten. Er konnte es sich bereits bildlich vorstellen: Ein kurzer Stich und sie würde blutend auf dem Boden liegen.
Haha.
Mrs. Vivien Alees Miene verdunkelte sich abrupt und ein kalter Glanz huschte über ihre Augen. Soa wusste nicht warum, aber aus irgendeinem Grund bereitete ihm ihr Blick eine Gänsehaut. Für einen Moment vergaß er sogar das Atmen und erwiderte stumm und fast ehrfürchtig ihren Blick.
„Ich weiß, dass du es warst, der meine Tür aufgebrochen hat“, sagte sie düster. „Ich weiß auch, dass du es warst, der die Morde begangen hat. Beweisen kann ich es bis jetzt noch nicht, aber das schlechte Gefühl in meinem Magen ist Grund genug, dich vorerst hier zu behalten. Und solltest es doch nicht du gewesen sein, dann war es bestimmt einer deiner sogenannten Artgenossen, der seit Wochen die Stadt unsicher macht.“ Sie hielt kurz inne, zögerte, fügte dann aber doch noch flüsternd hinzu: „Denkst du wirklich, ich wäre nicht bereit, die Polizei zu rufen? Denn ob du wirklich unschuldig bist, das würden die Jungs schnell feststellen.“
Soa gefror förmlich das Blut in den Adern. Und zum ersten Mal glaubte er, wahrhaftig etwas wie Furcht zu spüren. Nicht die sonstige Nervosität, die er vernahm, wenn er in Gefahr schwebte, sondern blanke Angst. Der Dämon schluckte.
Das war nicht gut. Sollte die Polizei ihn gefangen nehmen, würden sie bemerken, dass er kein Mensch war. Sie würden ihn einsperren. Und dann wäre seine Chance, Via wiederzufinden für immer hin. Die Dämonen in der magischen Welt …
„Schon gut … Ich … ich erzähle Ihnen alles“, brach er widerwillig heraus, während er beobachtete, wie sie sich mit einem selbstzufriedenen Lächeln wieder aufrappelte. „Aber richten Sie den Stuhl bitte wieder auf. Ich glaube, meine Rippen sind gebrochen.“
Seit geschlagenen zehn Minuten schwieg Mrs. Vivien Alee und überflog mit den Augen die Notizen, die sie sich in einem Blog gemacht hatte. Mithilfe von Pfeilen versuchte sie, die Zusammenhänge zwischen den Wörtern „Soa“, „Via“, „Dämonen“, „Engel“, „Liu“, „Rat“, „Herr“ und „magische Welt“ zu verdeutlichen. Mit gerunzelter Stirn kaute sie am Deckel ihres Kugelschreibers herum und überlegte.
„Dein sogenannter Herr … Du sagst, er hätte dir einen Brief hinterlassen?“, fragte sie Soa, der seltsam still geworden war. Er nickte träge, während er mit leerem Gesichtsausdruck vor sich hin starrte.
Während er ihr seine Geschichte erzählt hatte, war er hin und wieder verstummt, um einen erneuten Angriff auf die Fesseln zu starrten, war jedoch jedes Mal gescheitert. Er wollte einfach nicht aufgeben. Offenbar hatte er den Gedanken an eine schnelle Flucht immer noch nicht verworfen.
„Kann ich den Brief vielleicht mal sehen?“, fragte Mrs. Vivien Alee.
Sie war eine vernünftige Frau. Normalerweise hätte sie über eine Geschichte wie diese nur gelacht und etwas erwidert wie: „An Engel und Dämon glauben nur Irre oder besonders abergläubische Menschen.“ Allerdings musste sie an Soas Krallen denken, an das Loch, neben dem sie Via gefunden hatte und an all die Mordfälle, die in der letzten Zeit geschehen waren. Außerdem passte in Soas Geschichte alles perfekt zusammen. Selbst Via hatte er miteinbezogen. Er konnte sie nicht frei erfunden haben, nicht auf die Schnelle, nicht in seinem Zustand.
„Ja … Nein … Ich … Der Brief ist in meiner anderen Hose“, stotterte Soa und rutschte auf dem Stuhl unruhig hin und her.
Mrs. Vivien Alee hob fragend eine Augenbraue. Ihr war gar nicht aufgefallen, dass sich der Junge umgezogen hatte. „Und wo sind deine anderen Hosen, wenn ich fragen darf?“
„Oh, das“, grinste Soa. Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, das müde und hämisch zugleich war. „Die trägt gerade die arme Leiche eines Jungen, der derweil verloren im Gebüsch hinter einem hohen Zaun liegt. Falls ihn noch niemand gefunden hat“, fügte er hinzu.
Die Anwältin verzog keine Miene. Sie war sich nicht sicher, ob der Dämon die Wahrheit sagte, oder ihr nur Angst einjagen wollte. So oder so, den Brief würde sie auf diese Weise nicht bekommen.
„Lass mich das alles noch einmal kurz zusammenfassen“, murmelte sie, während sie nachdenklich mit den Zähnen knirschte. Die Frau versuchte, so ernst wie möglich zu klingen, während sie diese … fantasievolle Zusammenfassung aussprach: „Der Rat, welcher über die magische Welt herrscht, liebt die Engel. Weil sich die Engel in einem Kampf gegen die Dämonen befinden, will der Rat diese vernichten. Dein Herr, der beweisen will, dass Engel und Dämon zusammen in Frieden leben können, schickt dich und Via auf die Erde, um seine Theorie zu beweisen. Bis hierhin alles richtig?“
Er nickte, während er düster etwas vor sich hin murmelte.
Mrs. Vivien Alee seufzte. „Dann mal weiter im Programm: Du und Via werdet sozusagen geboren. Ihr trefft euch und sucht nach einem Weg zurück in die magische Welt, um dem Rat zu zeigen, dass ihr friedlich miteinander umgeht. Auf dem Weg dorthin trefft ihr auf den Engel Liu, der vom Rat geschickt wurde, um euch zurückzuholen. Es beginnt ein Kampf. Liu schlägt dich nieder und nimmt Via mit. Später wirst du von mir gefunden. Und ungefähr hier kommen wir am Ende der Geschichte an. Stimmt’s?“
Soa schnaubte verächtlich. „Das hier ist noch lange nicht das Ende.“
Die Anwältin verdrehte die Augen. „Schon klar. Ich meine bloß, dass es sonst nichts gibt, was ich wissen müsste. Keine besonderen Zwischenfälle, keine Ereignisse. Oder?“
Er zuckte mit den Schultern. „Nicht, dass ich wüsste.“
Sie klappte den Blog in ihrem Schoß zu, so schnell und laut, dass der Dämon neben ihr zusammen zuckte. Sie hatte viele der Schürfwunden, die Soa bei seinem Kampf davongetragen hatte verarztet. Der Junge saß mit lauter Bandagen und Pflastern an den Stuhl gekettet.
Mrs. Vivien Alee erhob sich von ihrem Stuhl, verschwand in ihrem Arbeitszimmer und kam nach ein paar Minuten mit einer Spritze in der Hand zurück.
Soas Augen weiteten sich, als er sah, was die Anwältin da eigentlich mitgebracht hatte. „Was soll denn das werden, wenn’s fertig ist?“, fragte er mit schriller Stimme, als sie an ihn heran trat. „Halten Sie dieses Ding von mir fern!“
„Das muss sein. Mein Lieber, ich bin nicht lebensmüde. Ich muss dich betäuben, bevor ich deine Fesseln löse und dafür sorgen, dass du keine Gefahr für mich darstellst. Mit gefesselten Händen wirst du wohl kaum essen können.“
Soa rutschte mitsamt dem Stuhl einen Satz zurück, als sie einen Schritt auf ihn zumachte. „Vergessen Sie es!“, schrie er histerisch. „Da mach ich nicht mit!“
„Sag bloß, jemand, der anderen Leuten die Kehle aufschlitzt und ohne zu zögern Menschen tötet, fürchtet sich vor einer Spritze?“ Sie schmunzelte spöttisch.
„Das ist nicht witzig!“
„Meiner Meinung nach schon.“
Soa lief rot an und fixierte sie. „Legen. Sie. Die. Spritze. Weg!“, brach er Wort für Wort heraus.
Sie musterte ihn für einen kurzen Moment, zuckte dann gleichgültig mit den Schultern und legte die Spritze auf dem Tisch ab, der vor der Couch stand. Dann ging sie in die Küche und holte den bereitgestellten Teller Spaghetti Bolognese, die sie gekocht hatte, während Soa noch ohnmächtig gewesen war. Bevor sie sich auf die Suche nach Via gemacht hatte, hatte sie zuvor noch ihre Einkäufe aufgesammelt, die sie ja im Hausflur hatte liegen lassen und in ihre Wohnung gebracht.
Sie holte die Tablettenpackung aus ihrer Hosentasche, zerbrach eine davon, zerstampfte sie mit einem Löffel zu feinem Pulver und mischte sie dann in die Soße. Sie wusste nicht, ob die Tablette unter diesen Zuständen noch wirken würde, aber einen Versuch war es wert. Sie nahm noch eine Gabel aus einer der Küchenschubladen und kehrte dann ins Wohnzimmer zurück, wo Soa sie bereits mit einem argwöhnischen Blick auf dem Gesicht erwartete.
Wortlos stellte Mrs. Vivien Alee den Teller auf dem Tisch ab, trat von hinten an Soas Stuhl und schob ihn näher heran. Dann ging sie zurück zu ihrem Platz auf dem Sofa, setzte sich gelassen hin, schaltete den Fernseher ein und beobachtete das folgende Szenario aus dem Augenwinkel, während sie sagte: „Iss.“
Der verwirrte und verdutzte Ausdruck auf Soas Gesicht war köstlich. Er starrte auf den Teller vor sich und hätte vermutlich längst nach der Gabel gegriffen, wären seine Hände nicht gefesselt. Der Dämon blinzelte die Frau an. „Wollen Sie mich verarschen?“
Die Frau sah ihn mit unschuldigen Hundeaugen an. „Entweder ich betäube dich mit der Spritze, oder du musst eben mit gefesselten Händen essen.“
„Wie soll ich das denn anstellen?!“
„Versuch es doch mal wie ein Hund.“
Soa schloss genervt die Augen und atmete ein paar Mal tief ein und aus. Mrs. Vivien Alee beobachtete ihn dabei mit einem amüsierten Glanz in den Augen.
Er würde nachgeben. Nicht nur, weil er wahrscheinlich seit Ewigkeiten nicht anständiges gegessen hatte, sondern weil er schlicht und einfach bloß ein Kind war. Wenn auch ein echt brutales Kind.
Nach einigen Minuten des eisigen Schweigens öffnete Soa wieder die Augen und knurrte. Das tat er nur, um von der widerwilligen Unterwürfigkeit auf seinem Gesicht abzulenken. „Na schön“, murrte er. „Aber seinen Sie vorsichtig.“
Nein, weißt du, ich stech sie dir einfach ohne jede Rücksicht zu zeigen in deine Haut, dachte Mrs. Vivien Alee im Stillen, sprach ihre Gedanken aber nicht laut aus. Sie nahm die Spritze und ging an Soa heran. Währenddessen hörte sie ihn leise etwas vor sich hin murmeln, das sich nach einem mürrischen „hoffentlich geht das auch gut“ anhörte.
Sie nahm eine seiner gefesselten Hände, zielte und drückte die Nadel schließlich vorsichtig in den Handrücken. Der Dämon zuckte zusammen, machte ansonsten aber keinen Unfug.
Nachdem sie ihm etwas von dem Mittel verabreicht hatte, zog sie die Nadel wieder heraus und drückte sie in den anderen Handrücken. Auch dieses Mal blieb Soa still.
„So“, sagte sie, als sie die Spritze ein erneutes Mal auf dem Tisch ablegte. „Das war doch nicht so schlimm, oder?“
Sie sah, wie er versuchte, seine Krallen auszufahren. Und sie sah, dass es ihm nicht gelang. Als sie sich sicher war, dass er ihr nichts antun könnte, löste sie seine Fesseln und reichte ihm die Gabel. Er hatte kaum genug Kontrolle über seine Finger, um sie richtig festhalten zu können, konnte aber trotzdem essen. Zwar traf er nicht immer seinen Mund und es landete relativ viel von der Soße auf Tisch und Boden, aber immerhin schien es ihm zu schmecken.
Mrs. Vivien Alee ließ ihn nicht aus den Augen. So lange, bis es irgendwann so weit war und er seinen Kopf auf dem Tisch bettete, direkt neben dem nach wie vor halbvollen Teller. Die Schlaftabletten hatten offenbar gewirkt. Oder der Junge war einfach komplett am Ende seiner Nerven.
Die Frau prüfte, ob er tatsächlich schlief und wischte sein Gesicht mit einem feuchten Tuch ab. Er schlief friedlich und atmete ruhig. Sie nahm sich ein paar Minuten, um ihn zu betrachten. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er wirklich so viel Böses getan hatte …
Na ja, aus seiner Sicht war es ja für einen guten Zweck, falls man das so nennen konnte.
Trotzdem war es falsch.
Erschöpft ging Mrs. Vivien Alee in ihr Zimmer und suchte in ihrer Tasche nach ihrem Handy. Schnell tippte sie eine SMS an Finley ein. Sie zögerte kurz, bevor sie die Nachricht abschickte, aber nachdem sie auf „Senden“ gedrückt hatte und es kein Zurück mehr gab, seufzte sie bloß.
Wie so oft in letzter Zeit schlief sie nicht in ihrem Bett, sondern auf dem Stuhl ihres Arbeitsplatzes ein, nachdem sie sich mal wieder durch die Mappen von verschiedenen Mordopfern und entflohenen Verbrechern durchgearbeitet hatte.
Genau wie der Dämon in ihrem Wohnzimmer lag sie am Ende mit dem Gesicht auf der Tischplatte, während sie vom Schlaf überfallen wurde und die Erinnerung an den Inhalt der SMS langsam aus ihrem Gedächtnis verblasste.
In der Nachricht hatte gestanden: Hättest du noch ein paar Handschellen für mich übrig??
Via hatte lange nichts mehr gesagt. Weder, als Liu sie mit ihrer Pistole durch die Straßen von London gejagt hatte, noch als sie die Welt der Menschen verlassen und die magische Welt betreten hatten. Das Mädchen hatte furchtbare Angst. Vor ihrem inneren Auge sah sie nach wie vor das Bild von Soa, der blutend und vor Schmerz wimmernd auf dem Boden der Baustelle lag.
Vermutlich war er längst tot. Via hatte versucht ihm zu helfen, hatte laut seinen Namen gerufen und war Liu sogar für einen Moment in den Arm gefallen, aber das hatte nichts gebracht. Liu hatte sie weggeschoben, als wäre sie nichts. Als wäre sie kaum mehr, als eine lästige Mücke.
Via hatte Soa nicht besonders lange gekannt, besonders freundlich war er die ganze Zeit über auch nicht gewesen, aber das hatte er nicht verdient.
Keiner hätte das verdient, was Liu mit ihm angestellt hatte.
Die beiden liefen über ein unebenes, weites Feld, deren Ende nicht in Sicht war. Der Himmel hatte sich rötlich verfärbt und jagte eine Wolke hinter der anderen über den Horizont. Wäre sie nicht in so einer dummen Lage, hätte Via den Sonnenuntergang vielleicht als schön wahrgenommen.
Die magische Welt unterschied sich kaum von der der Menschen, jedenfalls nicht der Teil, den Via bis jetzt zu Gesicht bekommen hatte. Natürlich, hier gab es mehr Grün, mehr Bäume, mehr Felder und keine so großen Häuser mit Straßen, aber … mehr Unterschiede gab es nicht wirklich.
„Beeil dich“, kommandierte Liu, die dicht hinter ihr ging. Sie trieb Via ungeduldig vor sich her und legte ihre Pistole nicht aus der Hand. Via wusste nicht, wie lange sie schon unterwegs waren. Pausen hatten sie keine gemacht. Die Füße des Engels schmerzten und sie war am Ende ihrer Kräfte. Außerdem hatte sie Hunger und Durst. Bei dem Gedanken musste sie sich mit der Zunge über die trockenen Lippen fahren. Solchen Durst …
„Hast du Wasser?“, fragte sie und riskierte einen Blick über die Schulter.
„Trinken kannst du, wenn wir den Rat erreicht haben“, erwiderte Liu kühl.
„Aber ich hab großen Durst.“
Liu seufzte genervt. Via versuchte, die junge Frau nicht allzu sehr zu provozieren. Zwar war sie nach ihrem Sieg über Soa voller Triumphgefühl gewesen, aber jetzt war nichts mehr davon übrig. Sie war genau wie Via müde und schlecht gelaunt.
„Na gut. Hier in der Nähe gibt es ein Dorf, da müssen wir sowieso vorbei. Dort wirst du Wasser bekommen.“
Via erlaubte sich ein kurzes, winziges Lächeln.
Es vergingen weitere zehn Minuten, in denen die beiden schwiegen und einfach voran gingen. Irgendwann sah man die ersten Konturen in der Ferne – Die Konturen kleiner Häuser.
„Ist das das Dorf?“, fragte Via hoffnungsvoll.
„Ja.“ Liu klang nicht so glücklich. In Kürze sollte ich Via erfahren, warum.
Als sich die beiden dem kleinen Dorf nährten, das auf dem riesigen Feld lag, blinzelte Via verdutzt. Sie kniff die Augen zusammen, starrte angestrengt in die Ferne und stellte fest, dass die ersten Häuser, die sie sahen, irgendwie kaputt wirkten. Manchen fehlte bloß ein Dach, andere sahen aus, als hätte eine Bombe in ihnen eingeschlagen.
Via blieb abrupt stehen, ihre Augen weiteten sich. „Was ist das für ein Dorf?“, fragte sie mit zitternder Stimme.
Liu stieß sie grob voran, bevor sie ihr antwortete. „Ein totes.“
„Ein totes Dorf?“, wiederholte Via, nicht mehr ganz so froh darüber, an Wasser gelangen zu können, wie vorher. Sie wurde noch unsicherer, als sie es ohnehin schon war. Der Aufenthalt an diesem Ort würde bestimmt alles andere als schön sein, egal, wie kurz sie dort auch bleiben würden.
Mit dieser Vermutung hatte Via recht behalten.
Das Dorf erinnerte an ein Schlachtfeld. Überall befanden sich Ruinen, wo einst vermutlich mal kleine Häuser gestanden hatten und es lag lauter Geröll über den Boden verteilt. Das Gras – sofern es welches gab – war nicht saftig grün, sondern gelb, stachelig und ausgetrocknet. Die Bäume hatten ihre Blätter verloren und die scheinbar verbrannte Rinde blätterte ab, als wäre sie alte Farbe. Die Türen und Fenster der Häuser waren eingeschlagen, die Zäune die die kleinen Gärten umgaben waren umgeworfen und zerschlagen worden.
Alles in Allem war es ein trauriger Ort.
Via stolperte weiter und kickte beim Laufen mit dem Fuß kleinere Steine aus dem Weg. Einer davon rollte klappernd über den Boden und landete in einem Gebüsch aus vertrockneten Dornen. Pflanzen wuchsen hier auch schon lange nicht mehr, das war Via bewusst. Der Engel fragte sich, wie es hier wohl früher mal ausgesehen und wer hier gelebt hatte.
„Endlich gefunden“, stieß Liu mit einem erschöpften Lächeln aus, als sie sich einem Brunnen nährten. Dieser sah nicht gerade danach aus, als wäre sein Wasser etwas, was man in den Mund nehmen sollte, aber wenn Via nicht bald etwas zu trinken bekam, würde sie noch den Verstand verlieren. „Hoffen wir mal, dass er nicht ausgetrocknet ist.“
Und zum ersten Mal sah Via, wie Liu ihre Pistole aus der Hand legte. Sie platzierte die Waffe neben sich auf dem Boden und warf Via dabei einen schnellen Blick zu. Die Knarre war ihr nah genug, um danach greifen zu können, sollte der Engel irgendwelchen Unfug anstellen.
Via ignorierte diese Geste. Etwas anderes hatte ihre Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. Während Liu damit beschäftigt war, den rostigen Eimer des Brunnens mit Wasser zu füllen, schlenderte Via unbehaglich zu einem der zerstörtem Häuser.
„Bleib da, wo ich dich sehen kann!“, bellte Liu bedrohlich. „Und mach keinen Blödsinn, sonst kriegst du einen Schuss in die Birne, von dem du dich nicht so schnell erholen wirst!“
Via zuckte zusammen. Die Drohung war ernst gemeint und das wusste sie.
Nichtsdestotrotz musste sie sich diesen dunklen Fleck ansehen, der sich auf der staubigen Mauer ausgebreitet hatte. Via ahnte, was das für ein Fleck war. Als sie sich vorbeugte und daran roch, erkannte sie den Gestank sofort, obwohl sie ihm vorher niemals begegnet war: Blut.
Mit zitternder Hand streckte Via die Finger aus und strich über den dunklen Fleck. Ihr fiel auf, dass dies nicht die einzige Mauer war, die von Blut bedeckt war. Die nun beinahe schwarze Flüssigkeit war im ganzen Dorf verteilt, auf dem Boden, an den Fenstern, Türen und Häusern.
Was auch immer hier geschehen war, war nichts Gutes.
„Du bist dran.“
Via drehte sich um und sah, dass Liu ihr den Eimer hinhielt, in dessen Inneren leises Wasserplantschen zu hören war. Liu verzog das Gesicht zu einer angewiderten Grimasse und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Die Pistole hatte sie längst wieder aufgehoben und hielt sie nun wieder zum Angriff bereit.
Das Wasser schmeckte scheußlich. Hätte Via es nicht rechtzeitig geschluckt, hätte sie es vermutlich aus Reflex ausgespuckt. Sie nahm einen einzigen Schluck – mehr wollte sie nicht. Wenige Sekunden später setzte der Nachgeschmack ein. Via musste würgen. Sie warf den Eimer wieder in den Brunnen, wo er mit grellem Echo aufschlug.
„Jetzt müssen wir weiter“, sagte Liu und drehte sich gerade um, um weiterzugehen, als Via sich räusperte.
Der Engel musste seinen ganzen Mut sammeln, um die Frage, die ihn so bedrückte, laut auszusprechen: „Was genau ist hier passiert?“
Mit gelangweiltem Blick sah Liu sie an. Ihre Augen waren so hell und grau, dass Via sich fast in ihnen verlor. Die Frau war hübsch, auch wenn ihre wilden, roten Locken etwas gewöhnungsbedürftig waren. „Das hier“, erklärte Liu unbekümmert, als ginge sie das alles rein gar nichts an, „war mal ein Dorf von Halbblütern.“
„Von wem?“, fragte Via verwirrt.
„Halbblütern. Du weißt schon. Missbildungen, die sowohl einen Engel als auch einen Dämon als Elternteil hatten. Dieses Dorf hat ihnen mal gehört, vor langer Zeit.“
Via spürte, wie ihr etwas die Lunge zudrückte. Ihre Stimme war nun nicht mehr als ein Wispern. „Und was ist hier passiert?“
„Oh“, machte Liu und lächelte. „Wir haben sie vertrieben. Weißt du, Engel sind heilige Geschöpfe, im Gegensatz zu Dämonen. Dämonen sind wie Tiere; dumm, dreckig und zu nichts zu gebrachen. Es ist schlimm genug, dass es Wesen wie sie überhaupt gibt, aber noch schlimmer ist es, dass sie unsere Art mit ihrem Blut verpesten! Ein Engel, der zusammen mit einem Dämon ein Kind bekommt … Widerlich.“ Sie spuckte das Wort aus, als wäre es Gift.
Halbblüter. Via wurde blass. „Soa hat es mir erzählt“, brach sie heißer hervor. „Er hat mir erzählt, dass der Rat die Dämonen ausrotten will. Aber wieso werden die Halbblüter ebenfalls von den Engeln vernichtet? Ich meine, es sind immer noch in gewisser Weise unsere Artgenossen!“ Jetzt schrie sie fast.
Das alles machte sie so wütend.
Liu ließ das völlig kalt. „Das war nicht der einzige Grund, weshalb wir sie vernichten mussten“, erklärte sie schulterzuckend. „Seit langer Zeit wollen die Engel die Dämonen vernichten und endlich haben wir den Rat vollkommen auf unserer Seite. Es wird Krieg geben. Es könnte sein, dass sich die Halbblüter auf die Seite unserer Feinde schlagen, wenn es soweit ist. Wir mussten sie beseitigen. Anders ging es nicht.“
„Das glaub ich nicht!“, schrie Via, während sie spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss.
„Glaub es lieber“, erwiderte Liu unbeeindruckt. „Du verstehst das alles nicht. Dieser Dämon hat dich manipuliert, um seiner dreckigen Art zu helfen. Das ist alles.“
„Das ist nicht wahr!“
Liu lachte wieder auf. Dieses mal eher verächtlich, als amüsiert. „Woher willst gerade du das denn bitte wissen?“, fragte sie mit hochgezogener Augenbraue. „Du weißt gar nichts von dieser Welt oder ihren Problemen. Das Einzige, was du bis jetzt getan hast, war, dich mit einem Dämon herumzutreiben und dich schön in der Menschenwelt zu verstecken. Wie alt bist du eigentlich? Ein paar Tage?“
Via überlegte kurz. Sie runzelte die Stirn und dachte zurück, an alles was bis jetzt geschehen war. „Ich glaube .. Ich glaube, ich bin gestern geboren worden.“
„Wieso überrascht mich das nicht?“, fragte Liu spöttisch. Sie musterte Via irritiert, nickte dann mit dem Kopf in die Richtung, in die sie eigentlich wollte und machte eine Geste, um Via dazu aufzufordern, ihr zu folgen. „Genug geredet. Komm.“
„Nein.“
Liu verharrte so abrupt, als hätte sie jemand geschlagen. Ungläubig blickte sie Via an. „Was?“
„Ich sagte Nein!“, rief Via, die Hände zu Fäusten geballt. Ihr ganzer Körper bebte. Sie konnte das Gefühl, das gerade in ihr vorging, nicht in Worte fassen. Es war, als würde sich eine bissige, bedrückende Kälte in ihrem Körper ausbreiten. Und Schwärze. Sie spürte viel, viel Schwärze in sich. „Hier mach ich nicht mit. Die Dämonen haben es verdient zu leben, genauso wie die Halbblüter und die Engel! Es liegt nicht am Rat, um über das Leben anderer zu entscheiden. Ich …“ Via wusste nicht, was sie sagen sollte, als eine Zornesträne über ihre Wange kullerte. Sie wischte sie weg. „Ich werde Soa finden und beweisen, dass es keinen Krieg geben muss!“
„Der ist längst tot“, entgegnete Liu mit einem kurzen, hämischen Grinsen.
Via schüttelte trotzig den Kopf. „Ist er nicht. Und selbst wenn, dann macht das nichts. Es gibt andere Dämonen. Bestimmt wird es unter ihnen welche geben, die ebenfalls Frieden wollen. Richtig?“
Stille kehrte ein.
„Richtig?“
Via bekam immer noch keine Antwort. Liu schien zunächst erstaun, doch dann nahm sie wieder diesen genervten, gelangweilten Gesichtsausdruck an. „Hör zu“, knurrte sie. Sie schien um Fassung ringen zu müssen. „Der Rat hat gesagt, dass ich die Wahl habe, ob ich dich und Soa am Leben lasse. Ich wollte dich verschonen, weil du ein Engel bist … Aber wenn du mir noch einmal wiedersprichst, werde ich dich mit Gewalt mitnehmen müssen.“
„Ich werde nicht mitkommen“, stellte Via ein letztes Mal klar und war selbst überrascht, wie fest ihre Stimme klang. „Du wirst mich wohl entweder zwingen oder umbringen müssen.“
„Ich habe eine bessere Idee“, schnurrte Liu bedrohlich, während ihr rechtes Auge seltsam zuckte. Es schien, als würde sie den Verstand verlieren. Via wich einen Schritt zurück. „Ich stelle dir eine Frage und wenn du sie richtig beantwortest, werde ich dich zum Rat bringen. Gibst du mir die falsche Antwort, werde ich dich hier und jetzt umlegen.“ Wie zur Bekräftigung ihrer Worte entsicherte sie mit einem Klick! die Pistole.
Via blieb keine Zeit darüber nachzudenken, denn Liu stellte bereits die Frage. „Für was“, sagte sie gedehnt, während die Spannung in ihren Augen immer weiter wuchs, - „hieltst du mich, als du mich das erste Mal gesehen hast?“
Das brachte sie aus dem Konzept. „Was?“, fragte Via.
„Du hast mich verstanden. Für was für ein Wesen hast du mich gehalten, als du mich das erste Mal gesehen hast?“
Die beiden standen sich gegenüber und starrten sich an. Zwischen ihnen waren etwa zehn Schritte, nicht mehr. Und trotzdem glaubte Via zu spüren, wie schnell Lius Herz in diesem Augenblick schlug.
Die Frau war schön. Allerdings fehlte ihr diese Perfektion, die Engel normalerweise hatten. Sie hatte keine langen, glatten und blonden Haare, wie Via. Auch ihre Augen hatten die falsche Farbe. Sie waren nicht blau, sondern silbern-grau. Außerdem hatte sie eine skurrile Ausstrahlung. Etwas Bedrohliches lauerte in ihr … etwas Angsteinflößendes.
Via zögerte, schob dann das Kinn vor und sagte: „Ein Dämon. Ich dachte, du wärst ein Dämon.“ Und plötzlich schien es, als wäre eine Grenze überschritten worden.
Liu starrte Via für einen Moment wortlos an. Dann blitzte in ihren Augen kalte Wut auf, gefolgt von unterdrückter Trauer. „Falsche Antwort“, sagte sie mit zusammengebissenen Zähnen, währen sie mit der Pistole zielte. „Am falschen Ort“ – sie wies mit der Hand um sich, um auf die menschenleere Straße hinzuweisen, in der sie sich befanden, bevor sie die Knarre direkt auf Vias Kopf richtete – „und zur falschen Zeit.“
Der Schuss war ohrenbetäubend.
Trotzdem war Via nicht zusammengezuckt. Sie war nicht weg gewichen und hatte auch sonst nichts unternommen. Sie hatte bloß ihren Kopf ein paar Zentimeter zur Seite gelehnt und ihn leicht verdreht. Offenbar hatte das gereicht.
„Was zur ..?“, schrie Liu, ganz außer sich, während sie Via mit offenem Mund angaffte. „Daneben?!“
Via spürte einen starken und intensiven Schmerz an ihrem Hals. Die Kugel hatte sie nicht getroffen, jedoch leicht gestreift. Mit dem Finger strich Via über den blutigen Striemen, betrachtete das Blut und leckte es schließlich von ihrem Daumen ab. Dann, wie zur Provokation, lächelte sie freundlich. „Ja, erraten. Daneben.“
Sie wusste nicht, was sie dazu veranlasst hatte, den Kopf zu bewegen. Es war einfach wie ein Instinkt gewesen. Sie konnte nur hoffen, dass ihr so ein Wunder erneut wiederfahren würde, denn es sah nicht gerade danach aus, als würde Liu es bei einem einzigen Schuss belassen.
Das Gesicht der Frau verzerrte sich vor Wut. Sie streckte die Arme aus, zielte, drückte ab und schrie aus vollem Halse: „Stirb!“
Der zweite Schuss folgte, dieses Mal direkt auf Vias Brust. Blitzschnell wanderte die Hand des Mädchens zu ihrer Tasche und griff nach dem schweren und metallischen Gegensatz, der sich darin befand. Sie machte eine flüssige Bewegung mit der Hand, es folgte ein Klirren, das direkt vor Vias Nase ertönte – Dann war es vorbei.
Die Kugel, die Liu abgefeuert hatte, lag einen Meter von Via entfernt im gelben Gras und hatte ihr Ziel weit verfehlt. Währenddessen stand Via mit dem Messer, das sie bei Mrs. Vivien Alee in der Wohnung gefunden hatte in der Hand da und schützte mit dem Messerblatt genau die Stelle ihres Körpers, die eigentlich hätte getroffen werden sollen.
Zeig dich, du kleines Miststück!“, rief Liu aufgebracht, während sie durch das tote Dorf lief. Sie bewegte sich geduckt voran und versteckte sich gelegentlich hinter dem herumliegenden Geröll, wissend, dass Via jeder Zeit aus ihrem Versteck kommen und auf sie losgehen konnte.
Das Mädchen war stärker, als Liu es erwartet hatte. Sie war der ersten Kugel nicht nur problemlos ausgewichen, sondern hatte die zweite auch noch erfolgreich abgewehrt. Irgendwie hatte sie es geschafft, die Pistolenkugel im richtigen Moment, im richtigen Winkel mit dem Messerblatt zu treffen und sie zur Seite zu schleudern.
Via wurde gefährlich. Diese Aktion hatte Liu gezeigt, dass ihre Engelinstinkte wach wurden. Das Mädchen war gerade mal seit zwei Tagen auf der Welt, entwickelte sich aber in unfassbarer Geschwindigkeit. Vermutlich wäre sie schon in einer Woche nicht mehr aufzuhalten und hätte ihre kindliche Naivität längst verloren. Liu musste sie noch vorher erledigen.
„Komm raus, komm raus!“, rief sie mit provozierender Stimme, während sie sich flach an die verfallene Wand eines Hauses drückte und vorsichtig um die Ecke blickte. Die Pistole hielt sie fest in beiden Händen, den Finger zitternd am Abzug.
Nachdem sie das zweite Mal auf Via geschossen hatte, war das Magazin leer gewesen. Liu hatte es schnell wechseln müssen, womit sie Via eine Chance zur Flucht geboten hatte. Ein böser Fehler. Das Mädchen war zwischen den Ruinen der alten Häuser verschwunden und hielt sich seit dem versteckt, während Liu vor Wut raste.
Sie war einer der berüchtigtsten Dämonenjäger der gesamten magischen Welt. Sie hatte weitaus besseres zu tun, als hinter einem dämlichen, zwei Tage alten Engel herzulaufen!
„Ich finde dich, Süße“, zischte Liu, während sie über eine am Boden liegende Tür trat und sich mit einer Hand über den Oberarm strich, wo sich die drei Buchstaben befanden, die ihren Namen verrieten. Diese begannen zu leuchten und Liu spürte die Präsenz eines anderen Engel, hier in der Nähe. Sie spürte, dass der Engel sich immer weiter entfernte. Via rannte davon.
„Daraus wird nichts“, flüsterte Liu und rannte ebenfalls los, immer dem Gefühl nach, das ihr die Richtung wies. Für einen Moment überkam sie eine furchtbare Angst: Was war, wenn es ihr nicht gelang, Via zu finden, bevor sich deren Kämpferinstinkte vervollständigt hätten? Würde es dann zu einem großen Kampf kommen, an dessen Ende sie sogar verlieren könnte?
Sie streifte den Gedanken beiseite, während sie über die losen Fensterrahmen unter ihren Füßen hinwegsprang und weiter durch das tote Dorf rannte. Das würde sie nicht zulassen. Niemals. Sie musste Via erwischen, denn dann würde der Rat ihr endlich den Respekt zuweisen, den sie verdiente. Ja.
Via rannte so schnell, wie sie nur konnte. Sie hatte das tote Dorf längst verlassen und lief über das weite Feld, welches sie zusammen mit Liu eben noch überquert hatte. Die Müdigkeit, die sie vor wenigen Minuten noch verspürt hatte, war wie weggeblasen.
Stattdessen schoss Adrenalin durch ihren ganzen Körper, das Blut in ihrem Kopf pochte und sie atmete schwer. Mit den Fingern umschloss sie das Messer, mit dessen Hilfe sie die Kugel abgewehrt hatte. Via verstand selbst nicht, wie es ihr gelungen war. Aber das war ihr auch egal.
Sie glaubte, sich an den Weg in die Welt der Menschen zu erinnern. Sie musste versuchen, zurückzukehren und Soa zu helfen. Und falls der Dämon tot war … Via schluckte. Dann würde sie eben Hilfe bei Mrs. Vivien Alee suchen.
Das, was sie in dem Dorf gesehen hatte, hatte in ihr einen Schock ausgelöst. Sie wollte nicht, dass es einen Krieg zwischen Engel und Dämonen gab. Es sollten keine weiteren magischen Wesen sterben. Es sollten keine weiteren Arten ausgelöscht werden, so wie die Halbblüter.
Obwohl sie schon eine beeindruckende Zeit lang gelaufen war, spürte sie keine Müdigkeit mehr. Sie war nicht länger erschöpft. Das hohe Gras, durch das sie lief, hinderte sie nicht, sondern schien sich mit ihr zu bewegen. Vias blonde Haare versperrten ihr die Sicht, aber sie machte sich nicht die Mühe, sie sich aus dem Gesicht zu streichen, denn sie spürte, wie Liu die Verfolgung aufnahm und ihr hinterherkam.
Die drei Buchstaben an Vias Oberarm prickelten unangenehm. Das letzte Mal, als das geschehen war, war Soa aufgetaucht und hatte sie entführt. Via hatte längst begriffen, dass das Kribbeln etwas mit der Präsenz von anderen magischen Wesen zu tun haben musste.
Vielleicht würde sie auf diese Art und Weise einen Weg zu Soa finden. Sie musste sich beeilen.
Eine angenehme Welle von Licht blendete Soa, als er blinzelnd die Augen aufschlug. Ihm war warm und er spürte einen pulverartigen Geschmack auf der Zunge. Benommen gähnte er, während er sich ausgiebig streckte. Erst jetzt bemerke er, dass er in einem Bett lag. Jemand hatte ihm die Schuhe ausgezogen und ihn zugedeckt.
Zunächst wusste er nicht, wo er sich befand und was er hier suchte, bis er sich das Haar aus dem Gesicht streichen wollte. Denn als er die Hand zu heben versuchte, stellte er fest, dass ihn jemand mit Handschellen an die Heizung neben dem Bett gefesselt hatte.
Da dämmerte ihm, dass er sich nach wie vor in der Wohnung von Mrs. Vivien Alee befand.
„Shit!“, fluchte er und setzte sich hurtig auf. Er zog und zerrte an den Handschellen, mit denen einer seiner Arme behindert war, und wollte sich befreien. Als es nicht funktionierte versuchte er, seine Krallen auszufahren, doch seine Finger waren wie betäubt: Mit großer Wahrscheinlichkeit hatte sie ihm während er geschlafen hatte weitere Spritzen verpasst.
Der Gedanke jagte ihm einen Schauer über den Rücken.
Ein gelber Zettel auf seinem Kissen lenkte Soas Aufmerksamkeit auf sich. Der Dämon nahm ihn in die Hand und überflog die winzigen Buchstaben, die in einer sorgfältigen Schrift hingeschrieben worden waren. Er hatte niemals gelernt zu lesen. Diese Fähigkeit hatte er von Geburt an, genauso wie das Sprechen und das Kämpfen. Allerdings bereitete es ihm Mühe, die Buchstaben zu entziffern. Es dauerte Minuten, bis er endlich verstanden hatte, was auf dem Zettel geschrieben stand:
Ich musste zur Arbeit und werde wahrscheinlich noch eine Weile weg sein. Die Handschellen sind bloß dazu da, dass du nicht wegläufst. Versuch lieber nicht, deine Krallen zu verwenden, ich habe nämlich genug Medikamente im Haus und hab schon mal vorgesorgt, dass du während meiner Abwesenheit schön brav bleibst. Unter dem Bett steht eine Dose Cola, falls du Durst bekommst. Sobald ich zurück bin, kriegst du auch was zu essen. Benimm dich bis dahin. Ich habe noch ein paar Fragen. – Mrs. Vivien Alee.
Am Ende hatte sie noch einen Smiley hin gemalt, der ihm mit tiefen Grübchen die Zunge ausstreckte.
Soa schnaubte und warf den Zettel durch den Raum. Er wusste nicht, in welchem Zimmer er sich befand. Es ähnelte einem Schlafzimmer, denn hier gab es nur ein Bett, einen Schreibtisch und eine Kommode. Die Möbel waren alle verstaubt, als wäre hier schon seit Ewigkeiten niemand mehr gewesen.
„Ich bleibe sicherlich nicht hier“, knurrte Soa, während er sich mit der Zunge über die trockenen Lippen leckte. „Das hätte sie wohl gern.“
Eins hatte die Frau nämlich übersehen. Seine Krallen konnte er vielleicht nicht einsetzen, doch seine Zähne waren ihm noch geblieben.
Soa stieß ein raues Knurren aus, bevor er die Zähne bleckte und in das harte Metall biss. Es würde nicht leicht werden, die Handschellen zu durchbeißen, doch spätestens in einer Stunde hätte er es geschafft. Dann würde er sich auf die Suche nach Via machen. Und Mrs. Vivien Alee, dieser dumme Mensch, würde bloß eine leere Wohnung vorfinden. Schon wieder.
Soa lächelte, während er das Metall durchkaute. Es war das erste Mal seit Längerem, dass er sich wieder richtig gut fühlte.
Komm schon“, flüsterte Mrs. Vivien Alee, während sie mit der Eingangstür zu ihrem Haus kämpfte. Das Schloss klemmte und sosehr sie den Schlüssel auch drehte, es gelang ihr einfach nicht, die Tür zu öffnen.
Sie hatte arbeiten müssen und hatte sich zur einer Absprache mit Finley getroffen. Er hatte sie von zu Hause abgeholt und ihr dabei seine alten Handschellen vorbei gebracht. Glücklicherweise hatte er nicht nach dem Grund gefragt, weswegen sie diese überhaupt gewollt hatte. Er war wirklich ein guter Freund.
Zusammen waren die beiden alle Akten der Verdächtigen durchgegangen, die als der Serienmörder hätten in Frage kommen können. Mrs. Vivien Alee hatte ihrem Kollegen verschwiegen, dass sie wusste, wer der Killer war und vor allem, dass er bewusstlos in ihrer Wohnung lag. Gefesselt.
Im Grunde genommen hatte sie den heutigen Tag völlig verschwendet, nur um zu verschweigen, dass sie sich nicht auf die Polizei verließ, sondern allein handelte. Was hätte sie ihnen auch erzählen sollen? Dass ein Dämon durch die Stadt streifte und die Menschen umbrachte, während er nach einem Engel suchte? Nein.
Sie musste alleine dafür sorgen, dass Soa nicht länger die Stadt in Angst versetzte.
Ihr einziges Problem war, dass Finley Via nicht vergessen hatte. „Wie geht es eigentlich dem Mädchen, das du aufgenommen hast?“, hatte er sie gefragt.
Mrs. Vivien Alee war seinem Blick ausgewichen. „Gut. Ihre Eltern haben sich bei mir gemeldet und … äh … sie abgeholt. Sie ist jetzt zu Hause.“
„Und was ist mit ihrem Gedächtnisverlust? Wäre es nicht besser gewesen, sie in ein Krankenhaus zu bringen?“, hatte er sich gewundert.
„Doch, klar. Das haben sie ja auch gemacht, die Eltern. Sie sind mit ihr in ein Krankenhaus gefahren.“
„Und mehr nicht? Haben sie nicht noch irgendwas gesagt?“
„Sie haben mir erzählt, wie glücklich sie gewesen sind, weil sie ihre Tochter wiedergefunden hatten und dass sie mir dankbar waren, weil ich mich um sie gekümmert habe. Mehr aber eigentlich auch nicht.“
„Wie haben sie ihre Tochter denn gefunden?“
„Hast du Lust auf eine Pizza?“
Finley hatte noch ein wenig nachgehackt, aber irgendwann war es ihr gelungen, das Thema zu wechseln, was jedoch dazu geführt hatte, dass sie in den Supermarkt in der Nähe hatte gehen und eine gefrier Pizza kaufen müssen. Eine davon hatten sie zusammen bei ihm zu Hause gegessen, die andere hatte sie für Soa mitgenommen.
Als sich die Tür endlich öffnete, warf Mrs. Vivien Alee triumphierend die Hände in die Luft und stieß einen leisen Freudenschrei aus. „Ja!“, rief sie, während sie wieder den Schlüssel einsteckte und über die Treppe zu laufen begann.
Ihre Freude verschwand, als sie in ihrem Stockwerk ankam und die leere Dose Cola sah, die vor der Haustür lag, die sie hatte von einem Handwerker reparieren lassen. An dem Türgriff hing mit Klebeband angeklebt der gelbe Zettel, den Mrs. Vivien Alee Soa hinterlassen hatte. Mit einer bösen Vorahnung griff Mrs. Vivien Alee danach.
Auf der Rückseite der Karte, da wo noch nichts geschrieben stand, war in einer kaum lesbaren Schrift ein kleiner Text verfasst. Es sah aus, als hätte ihn ein Erstklässler geschrieben.
Sie sind nicht die einzige, die ein paar Tricks auf Lager hat. Ich bin weg und befinde mich auf der Suche nach Via. Sorry für die kaputten Handschellen, aber das hätten sie sich lieber früher überlegen müssen. Danke für die Cola und viel Spaß auf der Suche nach ihrem Killer. Vielleicht werden sie ihm ja bald begegnen, oder? Mal sehen. – Soa
Am Ende hatte er, genau wie sie, einen Smiley gemalt. Seiner streckte ihr aber nicht die Zunge raus, sondern lächelte übers ganze Gesicht, während scharfe spitze Zähne aus seinem Mund hervorragten.
Es war nicht schwer gewesen, den richtigen Baum zu finden. Er war viel höher als die restlichen und seine Blätter hatten ein dunkleres, intensiveres Grün. Die Wurzeln des Baumes reichten weit und der dicke Stamm war aus hellem Holz, dessen Rinde nicht zu altern schien.
Via betrachtete den Baum voller Erleichterung, während sie nach dem Tunnel suchte, der sich darunter befand. Sie hatte sich den Weg, auf dem Liu sie zum Rat hatte bringen wollen, genau gemerkt.
Nachdem sie das weite Feld überquert hatte, war Via in den Wald gerannt. Dort hatte sie voller Eile nach diesem Baum gesucht, angstvoll, dass Liu sie einholen könnte, bevor Via Soa finden konnte.
Hier war es unglaublich still. Die tiefhängenden Äste und Blätter bewegten sich leise scharrend im Wind und es huschte hin und wieder eine Mause oder ein Eichhörnchen durchs Unterholz. Via nutzte die Stille, um sich zu beruhigen und nahm einen tiefen Atemzug.
Sie war lange gelaufen und obwohl die Aufregung nach der Auseinandersetzung mit Liu ihr Kraft gegeben hatte, fühlten sich ihre Glieder inzwischen taub und schwer an. Via hätte sich gern ausgeruht, aber ihr war klar, dass dies nicht ging. Das Kribbeln an ihrem Oberarm wurde immer stärker, was wohl hieß, dass Liu immer näher kam.
Via war es einmal gelungen, Liu mithilfe des Messers zu entkommen. Sie wusste jedoch nicht, ob sie es erneut schaffen würde.
Irgendwann fand sie das Loch zwischen den Wurzeln, das in modrige Dunkelheit hinunterführte. Via schauderte bei dem Gedanken, wieder unter die Erde zu müssen, aber einen anderen Weg gab es nicht. Jedenfalls kannte sie keinen anderen.
Via setzte sich auf den mit Gras übersehten Boden und ließ ihre Beine in das Loch gleiten. Sie hielt sich an den dicken Wurzeln des Baumes fest, während sie in das dunkle Loch hinab stieg. Sie stemmte sich mit den Füßen von den aus lockerer Erde bestehenden Wänden des Loches ab und tat alles, um nicht auszurutschen, denn sie wusste nicht, wie weit es hinunterging. Es ging steil hinunter und schon bald war Via von Finsternis eingehüllt. Blindlinks tastete sie sich mit den Füßen voran, bis sie den Boden des Loches erreicht hatte.
An dieser Stelle überging das Loch in einen langen, düsteren und vor allem engen Tunnel mit niedriger Decke. Via ließ sich auf die Knie fallen und kroch auf allen Vieren voran, während es ihr immer heißer um den Hals wurde.
Hier unten war es nicht nur stockfinster, sondern auch ungewöhnlich heiß und stickig, weswegen Via schon nach wenigen Sekunden der Schweiß ausbrach.
Sie war gerademal so weit gekrochen, dass sie sich direkt unter dem Baum befinden musste. Wie lange es wohl dauern würde, das Ende des Tunnels zu erreichen?
Als Liu und Via zusammen in die magische Welt gegangen waren, hatten sie in dem engen Tunnel nicht nebeneinander kriechen können. Via war als erste an der Reihe gewesen, während Liu sie, dicht hinter ihr, mit ihrer Pistole vorangetrieben hatte.
Via hielt inne, als sie versehentlich den Kopf hob und damit gegen die niedrige Decke stieß. Diese war ihr im Laufe der Zeit so nahe gekommen, dass Via nur noch über den sandigen Boden robben konnte. Der Engel versuchte, nur durch die Nase zu atmen, während sie sich weiter voranschob.
Ihre Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt, sehen konnte sie jedoch trotzdem nichts.
Nach weiteren Minuten des Kriechens brach der Tunnel irgendwann einfach ab und Via wusste, dass sie das Ende erreicht hatte.
„Endlich“, keuchte Via und strich sich den Schweiß von der Stirn, während sie sich auf den Rücken umdrehte und die Hände gegen die Decke stemmte. Statt Erde spürte sie nun hartes und kühles Metall an ihren Fingern. Gut. Das bedeutete, dass sie hier richtig war.
Via spannte sich an und drückte mit aller Kraft gegen den Gullideckel, wobei sie sich langsam aufsetzte. Es gelang ihr, ihn ein bisschen zur Seite zu schieben, sodass sie hinaussehen konnte. Das hereinfallende Licht blendete Via und sie musste warten, bis sich ihre Augen an das Lichtverhältnis gewöhnt hatten.
Glücklich stellte sie nach einem Blick aus dem Loch fest, dass sie sich definitiv wieder in der Menschenwelt befand. Nirgends sonst gab es diese seltsamen, hohen Häuser, diese merkwürdigen Laternen und diese betonierten Straßen, die selbst ohne Pflaster hart und unbewachsen waren.
Nicht weit von sich entfernt sah Via, wie eine Frau mit Kopfhörern und Sportklamotten durch die Straße lief. Sie joggte und schien Via nicht zu bemerken. Diese wartete, bis die Frau hinter der nächsten Ecke verschwunden war, bevor sie den Gullideckel endgültig zur Seite schob und aus dem Loch stieg.
Die Kälte schlug Via entgegen und ließ die Schweißperlen auf deren Haut gefrieren. Dieses Gefühl war so angenehm, dass Via sich einige Sekunden gönnte, um es einfach zu genießen.
Dann schob sie den Gullideckel wieder an seinen Platz, um den Weg in die magische Welt zu verbergen.
Via rappelte sich auf, klopfte sich den Dreck von der Kleidung und sah sich um. Sie hatte keine Ahnung, wo sie sich befand. Immer hin war es Nacht gewesen, als Liu sie entführt hatte. Mittlerweile war es wieder Tag, aber das half ihr auch nicht weiter, wenn Via Soa finden wollte.
Der Engel verließ die ruhige und unbefahrene Straße, in der er sich befand und versuchte, auf eine der Hauptstraßen zu gelangen. Vielleicht könnte sich Via auf diese Weise besser orientieren.
Als sie auf eine der Straßen hinaustrat und die ganzen Autos und Büße sah, die in einem Schwall aus Licht an ihr vorbeischossen, glaubte sie sogar, sich ungefähr daran zu erinnern, wo sie sich befand. Sie hielt sich von der Menschenmenge fern, um den Überblick behalten zu können. Einige Menschen blieben stehen um das von oben bis unten verdreckte Mädchen betrachten zu können, aber Via schenkte ihnen keine Beachtung.
Im Gedächtnis überlegte sie, wo die Baustelle sein könnte, auf der Lius und Soas Kampf stattgefunden hatte. Möglicherweise lag der Dämon ja immer noch bewusstlos dort, oder war von Arbeitern gefunden worden? Via schluckte, während sie sich den Oberarm rieb und durch die Straße schlenderte.
Obwohl sie momentan völlig verloren war, wuchs ihre Entschlossenheit mit jedem Schritt, denn sie war sich sicher: Wenn jemand die Ausrottung der Dämonen verhindern konnte, dann war es sie – ob mit Soas Hilfe, oder ohne.
Liu strich mit den Fingern über die lockere Erde des Tunnels, der unter der alten Eiche in die Menschenwelt führte. Sie bemühte sich, den Kopf gesenkt zu halten, um nicht gegen die niedrige Decke zu stoßen, dabei aber nicht zu viel von den herunterfallenden Erdkrümmeln oder dem Staub einzuatmen. Gleichzeitig musste sie darauf aufpassen, ihre Pistole in der Finsternis nicht zu verlieren.
Sie war sich sicher, dass Via diesen Weg genommen hatte, um wieder in die Menschenwelt zu gelangen. Jedenfalls hatte sie hier unten genug Spuren hinterlassen. Liu wusste, wie man die Verfolgung eines magischen Wesens aufnahm. Das konnte sie inzwischen so gut, dass sie manchmal nicht einmal die drei Buchstaben an ihrem Oberarm dazu benötigte, sondern sich ganz auf ihren Instinkt verließ.
Für Liu war es überlebenswichtig gewesen, schon in frühen Jahren zu lernen, mit der Welt klarzukommen. Allein. Denn sie unterschied sich von den restlichen ihrer Artgenossen und hatte dadurch zwei Dinge gelernt:
1) Wer anders war, gehörte nicht dazu.
2) Wer nicht dazu gehörte, war verloren.
Bei ihrer Geburt waren Lius Überlebenschancen gering gewesen. Ihre Eltern hatten sich gerade so lange um sie gekümmert, bis sie hatte selbstständig gehen, reden und essen können. Danach hatten sich alle von ihr abgewandt. Noch heute stellte sie sich die Frage, warum der Rat eine solche Missbildung wie sie nicht einfach umgebracht hatte.
Selbst heute, nachdem sie Jahre damit zugebracht hatte, hart zu arbeiten, zu trainieren, sich selbstständig durchs Leben zu quellen und dem Rat treu zu dienen schienen alle, denen sie über den Weg lief, sie nur mit spöttischem Augenglänzen zu betrachten und über sie zu lachen.
„Mist!“, fauchte Liu, als sie den stechenden Schmerz spürte, der sich in ihrem Oberarm ausbreitete. Aus den Wänden des Tunnels hatte ein scharfer Stein, oder etwas Ähnliches, herausgeragt und Liu war genau dagegen geprallt. Sie konnte fühlen, wie sich warmes Blut auf ihrer Haut ausbreitete.
Für einen Moment geriet sie in Panik. Was, wenn die Wunde tief war? Was, wenn sie eine Narbe hinterließ? Liu wurde blass. Eine Narbe durfte sie sich auf keinen Fall erlauben. Engel waren perfekt, Engel durften keine Wunden haben! Jedenfalls keine, die sich nicht beseitigen ließen.
„Bitte nicht“, flüsterte Liu und begann, einen Deut schneller zu kriechen. Nicht das erste Mal stieg diese Aufregung bei dem Gedanken an eine schlimme Verletzung in ihrem Inneren auf. Es hatte nie jemanden gegeben, der Liu hätte helfen können, wenn sie sich geschnitten oder gestoßen hatte, weder in ihrer Kindheit, noch jetzt. Sie war schon immer auf sich allein gestellt gewesen.
Und – sie gab es offen zu – sie kam nicht klar damit. Sie hatte es versucht, immer wieder. Aber die Tränen, die jede Nacht über ihre Wangen gelaufen waren, hatten ihr ständig aufs Neue bewiesen, dass sie niemals strak genug sein würde, sich damit abzufinden.
Auch jetzt stiegen sie ihr in die Augen und obwohl sie nichts sehen konnte, wusste Liu, dass die Welt vor ihr gerade hinter einem Tränenschleier verschwamm. Sie wischte sie weg, mit ihren verdreckten, staubigen Händen und spürte, wie die Erde an ihrem feuchten Gesicht hängen blieb. Auch das noch. Ein Engel mit dem Gesicht eines Obdachlosen.
Als Liu das Ende des Tunnels erreichte, stieß sie einen einzigen, knappen Schluchzer heraus – und schluckte den Rest ihrer Trauer einfach hinunter. Kurz atmete sie durch. Sie war eine Kämpferin.
Und was auch immer geschehen würde, sie würde dem Rat beweisen, dass sie, auch wenn sie nicht dazugehörte, kein Müll war. Sie würden noch staunen. Sie würden alle noch staunen!
„Du wirst es schaffen“, flüsterte sie sich ermutigend zu, während sie die Hände nach oben ausstreckte und sie gegen den Gullideckel drückte. „Du schaffst alles. Das ist nämlich das Besondere an dir; Du stehst immer wieder auf, auch wenn keiner da ist, der dir die Hand reichen könnte!“
Mit aller Kraft drückte Liu gegen den Gullideckel, aber dieser ließ sich nur ein kleines bisschen bewegen. Es war, als würde er von einem sich darauf befindenden Gewicht zugedrückt werden. Liu sammelte ihre Kraft und drückte erneut. Sie hörte einen Aufschrei, als jemand stolperte und von dem Gullideckel fiel. Dieser ließ sich nun problemlos zur Seite schieben.
Liu hob ihn ein wenig an, um in das fassungslose Gesicht einer am Boden sitzenden Frau sehen zu können, die ihren Blick mit weit aufgerissenen Augen erwiderte. Offenbar hatte sie gerade auf dem Gullideckel gestanden, als Liu versucht hatte, ihn anzuheben. Die Frau war schon etwas älter, hatte lange blonde Haare und ein Handy am Ohr, als hätte sie bis eben noch mit jemandem telefoniert. Bei Lius Anblick legte sie jedoch schnell auf und kroch rückwerts ein paar Meter weg.
Ohne lange zu überlegen, schob Liu den Gullideckel ganz zur Seite und zog sich aus dem Loch. Es war schon Abend, was sich gut traf (dann würde es nämlich keine Zeugen geben). Dieser Mensch hatte soeben gesehen, wie sie die magische Welt verlassen hatte. Sicher war ihm nicht bewusst, dass dies keine gewöhnliche Kanalisation war, die Polizei würde die Frau vermutlich jedoch trotzdem rufen. Und dann würden sie den Weg finden.
Es war also nicht schwer zu entscheiden, was Liu mit ihr anstellen würde.
„Hallo, Frischfleisch“, schnurrte sie, während sie ihre Pistole entsicherte, die sie in die Hand genommen hatte, während sie sich herausgezogen hatte. Lächelnd trat sie einen Schritt auf die Frau zu, die immer noch auf dem Boden kauerte und sich nicht darum kümmerte, dass jeder Zeit ein Auto hätte vorbeikommen und sie überfahren können.
„Ich kenne da ein paar Hunde in meiner Wohngegend, die sich sehr über dich freuen würden“, schnurrte Liu. Und ein paar Trolle, fügte sie in Gedanken hinzu. Menschenfleisch würde sicher einen guten Köder darstellen, wenn Liu wieder auf Jagd ging.
Die Frau ließ sich seltsamerweise von ihrer Drohung nicht beeindrucken. Mit einem Stirnrunzeln betrachtete sie die drei Buchstaben an Lius Schulter, während plötzlich ein seltsames Funkeln in ihre Augen trat. Sie sah Liu in die Augen. „Du bist Liu?“, fragte sie gedehnt.
Liu ließ sich ihre Überraschung nicht anmerken und nickte bloß.
Dann stellte die Frau die Frage, die Liu in dem Moment am wenigsten erwartet hätte: „Wo ist Via?“
Mrs. Vivien Alee hatte noch ein Ass im Ärmel. Sie hatte nicht vor, Soa so leicht entkommen zu lassen. Möglicherweise gelang es ihr noch, ihn zur Vernunft zu bringen. Denn wenn Soa sich tatsächlich aufgemacht hatte, um Liu zu verfolgen und Via zu retten, lag nicht nur das Überleben der Dämonen auf dem Spiel; Er selbst geriet dadurch auch in Gefahr.
Die Frau ahnte, dass er das sogar bestens wusste.
Sie hielt das Handy fest an ihr Ohr gedrückt und wartete darauf, dass Soa endlich ranging. Sie hatte es erst vor wenigen Monaten neu gekauft und sich gleich eine neue Karte geholt, weil es irgendeinen Idioten gegeben hatte, der an ihre Nummer gekommen war und nichts besseres zu tun gehabt hatte, als ihr Telefonstreiche zu spielen oder sinnlose Anrufe bei ihr zu machen. Das alte Handy und die alte Karte hatten nutzlos in einer ihrer Schubladen rumgelegen – bis jetzt;
Denn jetzt würden sie ihr möglicherweise helfen, den verschwundenen Dämon zu finden. Eigentlich hatte Mrs. Vivien Alee darauf gehofft, ihn mit den Handschellen vorerst aufhalten zu können, sich aber dennoch auf alles vorbereitet. Während er geschlafen hatte, hatte ihm die Frau ihr altes Handy in die Hosentasche gelegt, damit, falls er abhauen sollte, sie ihn trotzdem noch erreichen konnte.
Jetzt stellte sich nur noch die Frage, ob Soa überhaupt mit einem Handy umgehen konnte. „Bitte geh ran“, flehte sie leise, während sie durch die Straßen rannte und mit den Augen nach ihm Ausschau hielt. Sie hatte ihn schon einmal blutend und der Ohnmacht nahe auf dem Boden gefunden, warum sollte es ihr nicht noch mal gelingen?
Es war erst Abend, Menschen gab es weit und breit dennoch nicht mehr. Immerhin glaubten sie alle nach wie vor, in Gefahr zu schweben, weil sich draußen ein Irrer rumtrieb, der einen Menschen nach dem anderen schlachtete.
Mrs. Vivien Alle rannte gerade über eine Straße, als sie hörte, wie am anderen Ende abgehoben wurde und sich eine Stimme meldete. „Hallo?“
Die Anwältin verharrte mitten auf der Straße und trat nicht einmal auf den Bürgersteig, das Herz schwer vor Erleichterung. Natürlich erkannte sie die Jungenstimme sofort. „Soa!“, schrie sie in den Hörer. „Sag mal, bist du von allen guten Geistern verlassen? Wo zur Hölle steckst du?!“
Sie hörte ein verächtliches Schnauben. „Das werde ich Ihnen gerade sagen!“
„Junge, ich glaube du weißt nicht, worauf du dich da einlässt!“ Sie blickte sich um, ob jemand in der Nähe war, der sie hätte belauschen können, aber sie war allein und die Straße war leer. „Ich bin mir sicher, es gibt einen Weg, deinen Artgenossen zu helfen, ohne Kopf und Kragen dabei zu riskieren. Hast du überhaupt einen Plan?!“
Soa zischte sie durchs Handy an. „Hast du überhaupt einen Plan?!“, äffte er sie nach. „Sie sollten sich mal hören. Was wissen Sie denn bitte schon? Ich glaube nicht, dass Sie überhaupt verstehen, worum es hier geht. Eine ganze Art ist dabei, vollkommen ausgelöscht zu werden. Hören Sie? Ich will es verhindern. Ich will nicht, dass es so weit kommt!“
Mrs. Vivien Alee biss die Zähne zusammen. Es kostete sie eine Menge Überwindung, nicht zu schreien. „Du meinst, ich verstehe davon nichts?“, fragte sie dann und konnte ein Beben in ihrer Stimme nicht unterdrücken. „Soa, ich bin Anwältin. Ich sehe wöchentlich, wenn nicht täglich Menschen, die ihr Leben wegwerfen und in den Knast wandern. Ich sehe Leute, die an einem Mord verantwortlich gemacht werden und ich sehe die betroffenen Leichen. Ich sehe jeden Tag das Bild meines Mannes vor meinem inneren Auge, der an Krebs gestorben ist und gegen dessen Tod ich nichts unternehmen konnte.“
Sie hielt inne und wartete. Soa schwieg, offenbar hatte sie zum ersten Mal wirklich sein Interesse und seine Ehrfurcht geweckt.
„Weißt du, warum ich Anwältin geworden bin?“, fragte sie flüsternd. „Weil ich nach dem Tod meines Mannes nicht länger rumsitzen wollte. Ich wollte Menschen helfen. Für eine Ärztin hat mir die nötige Ausbildung gefehlt – also suchte ich mir was anderes, wo ich etwas nützen konnte. Ich sehe ständig Menschen, die mit meiner Hilfe oder mit der meiner Kollegen ein neues oder besseres Leben anfangen. Ich sehe aber auch Leute, die nicht so viel Glück haben. Ihre Namen sind wie eine Liste in meinem Kopf gespeichert, der meines Mannes ganz oben. Ich will nicht, dass du der Nächste bist. Oder Via.“
Mrs. Vivien Alee stoppte und holte tief Luft. Viel zu lange hatte sie das alles in sich gefangen gehalten und nun war es endlich raus. Sie fühlte sich, als hätte ihr jemand in dem Moment eine schwere Last von den Schultern genommen.
„Wo bist du gerade?“, fragte sie dann, als sie sich wieder gefangen hatte. Sie durfte sich von ihren Gefühlen nicht ablenken lassen.
„Was meinen Sie?“
„Ich befinde mich in der Everdeen-sight-street“, erklärte sie, „und suche nach dir. Wenn wir zusammen suchen, könnten wir Via vielleicht noch finden.“
„Halt, halt, halt! Wer sagt denn bitte, dass wir ..?“, setzte Soa an, wurde aber von Mrs. Vivien Alees Schrei unterbrochen. Die Frau stolperte zurück, als der Boden unter ihren Füßen sich zu bewegen begann.
Als sie auf dem Hintern landete, bemerkte sie, dass sie halb auf einem Gullideckel gestanden hatte. Der sich bewegte. Bewegt wurde. Er hob sich leicht und aus der Dunkelheit blitzten ihr zwei große, vor Zorn flammende Augen entgegen.
Mr. Vivien Alee wich zurück und umklammerte das Handy. Beim Sturz hatte sie aus Reflex aufgelegt. Fassungslos starrte sie auf das Mädchen, das den Gullideckel ohne Mühe beiseite schob und aus dem Loch stieg. Im Dämmerlicht sah Mrs. Vivien Alee die Umrisse einer Waffe in ihrer Hand.
Das Mädchen war etwa neunzehn Jahre alt, fast schon eine Frau. Ihre roten, wilden Locken waren verflitzt und ihr Gesicht vollkommen verdreckt. Sie trug ein graues Kleid, das früher mal weiß gewesen sein musste. An ihrem Oberarm war frisches Blut, das ihren Arm herunter tropfte. Mrs. Vivien Alee war so erstaunt, dass sie nichts anderes tun konnte, als mit offenem Mund zu gaffen.
„Hallo, Frischfleisch“, sagte das Mädchen in einem bedrohlichen Tonfall. Die Anwältin zuckte zusammen. „Ich kenne da ein paar Hunde in meiner Wohngegend, die sich sehr über dich freuen würden.“ Das Mädchen entsicherte die Pistole in ihrer Hand und setzte dabei einen Gesichtsausdruck auf, als würde sie das Spielzeug betrachten, das sie sich schon so lange gewünscht hatte.
Die Anwältin hätte eigentlich Angst verspüren müssen, doch außer einem mulmigen Gefühl in ihrer Magengegend regte sich nichts in ihr. Fasziniert starrte sie zu dem Oberarm des Mädchens hoch. Bisher war sie von dem Blut abgelenkt worden, aber nun, wo sie genauer hinsah, bemerkte Mrs. Vivien Alee, dass das Mädchen ebenfalls drei Buchstaben in der Nähe ihrer Schulter tätowiert hatte; L.I.U – Liu!
Und plötzlich verstand Mrs. Vivien Alee. Das war der Engel, gegen den Soa im Kampf verloren hatte! Für einen Augenblick überkam Mrs. Vivien Alee doch die Furcht, aber sie versuchte, sie zu verdrängen. „Bist du Liu?“, fragte sie.
Das Mädchen zog kurz die Augenbrauen hoch, nickte dann aber misstrauisch. Dumme Frage. Natürlich war sie es. Mrs. Vivien Alee stellte eine andere Frage, eine, die viel wichtiger war, als die restlichen: „Wo ist Via?“
Ihr Schrei unterbrach ihn mitten im Satz. Es folgte ein kurzes Knistern, als würde Mrs. Vivien Alee das Handy herum schwingen, dann war das Gespräch unterbrochen. Sie hatte aufgelegt.
„Hallo?“, versuchte Soa es trotzdem noch einmal. „Was geht bei Ihnen vor?“
Selbstverständlich erhielt er keine Antwort. Fluchend steckte er das Handy weg. Er hatte es entdeckt, als es plötzlich begonnen hatte, in seiner Hosentasche zu klingeln. Zunächst hatte er nicht begriffen, was er damit tun sollte, aber dann war ihm doch der Gedanke gekommen, auf das grüne Symbol mit dem Telefonhörer zu drücken.
Er befand sich in einer schmalen, dunklen Seitengasse und hielt sich geduckt hinter ein paar Mülleimern versteckt, deren wiederwertiger Geruch ihm bissig in die Nase stieg. Man hätte meinen können, er betrat solche Gassen nur, um unentdeckt zu bleiben, aber eigentlich ging es ihm vor allem darum, den ganzen betrunkenen Pennern auszuweichen, die hier in der Gegend ihre Runden zogen. Es war nicht einmal Nacht und ihm waren vorhin schon drei dieser Vollpfosten begegnet, der eine hatte ihn lallend angesprochen und sich hinterher übergeben. Soa war schnell weitergegangen.
Fieberhaft überlegte er, was er nun tun sollte. Er glaubte nicht, dass sie einfach so aufgelegt hatte. Vor allem für den Schrei hätte sie einen Grund haben müssen. Wollte sie ihn in eine Falle locken oder schwebte sie in Gefahr? Und wenn schon. Was kümmerte es ihn?
Gleichzeitig dachte Soa aber an ihre Worte, die voller Schmerz gewesen waren, währen sie mit ihm gesprochen hatte: Ich sehe ständig Menschen, die mit meiner Hilfe oder mit der meiner Kollegen ein neues oder besseres Leben anfangen. Ich sehe aber auch Leute, die nicht so viel Glück haben. Ihre Namen sind wie eine Liste in meinem Kopf gespeichert, der meines Mannes ganz oben. Ich will nicht, dass du der Nächste bist. Oder Via.
Eine Gänsehaut streifte seine Arme.
Everdeen-sight-street … das war hier ganz in der Nähe. Wenn er rannte, könnte er es locker in fünf Minuten schaffen.
Für einen Augenblick war der Dämon hin- und her gerissen; Dann warf er frustriert den Kopf in den Nacken, fuhr seine Krallen aus und stieß ein tiefes, wütendes Jaulen aus, das dem eines Tieres hätte geleichen können. „Wenn ihr nichts zugestoßen ist, werde ich sie selbst in Scheiben schneiden“, knurrte er und rannte los, wobei seine Krallen die Steinwand des Gebäudes neben ihm streiften. Sie hinterließen tiefe Spuren, die er auch schon oft auf den Kehlen vieler seiner Opfer gesehen hatte.
Vielleicht würde es bald noch jemanden geben, dessen Hals mit ihnen geschmückt wäre.
Es war schon Abend, als Via endlich das Haus erreichte, in dem Mrs. Vivien Alee wohnte. Ein warmes, kribbelndes Glückgefühl strömte durch ihren Körper, als sie ins Treppenhaus trat und die Gewissheit hatte, sich in Sicherheit zu befinden.
Einfach war es nicht gewesen, hierher zu kommen. Bevor Via sich auf den Weg zu Mrs. Vivien Alees Wohnung gemacht hatte, hatte sie auf der Baustelle nachgesehen, ob Soa nach wie vor dort lag oder nicht.
Via hatte die Baustelle nicht betreten können, da dort gerade Bauarbeiter gearbeitet hatten und sie sofort erwischt hätten. Doch selbst von dem Zaun aus, neben dem sich der Engel postiert hatte, hatte er genau erkennen können, dass die Stelle, an der Soa und Liu gekämpft hatten, leer gewesen war.
Was auch immer mit dem Dämon passiert war (Vielleicht war er am Leben, vielleicht hatte ihn aber auch nur die Polizei gefunden und weggebracht?), auf seine Hilfe konnte sie momentan nicht hoffen. Via hatte versucht, die drei Buchstaben an ihrem Arm dazu zu benutzen, seinen Aufenthaltsort ausfindig zu machen, aber dazu fehlte ihr mittlerweile die Kraft. Sie war einfach zu erschöpft. Die drei Buchstaben hatten zwar ein wenig geleuchtet, gespürt hatte Via aber nichts.
Danach hatte sie versucht, sich zu orientieren. Da sie aber mit dem Bus zu Mrs. Vivien Alees Wohnung gefahren war, war das gar nicht so leicht gewesen. Via hatte sich eine Haltestelle gesucht und gewartet, bis der richtige Bus gekommen war, um damit möglicherweise in eine Gegend fahren zu können, in der sie sich besser auskannte.
Dies hatte sich als schwieriger erwiesen, als es sich zunächst für sie angehört hatte.
Als Via in den Bus gestiegen war, hatte der Busfahrer sie erschrocken angesehen und besorgt gemustert. Kein Wunder, sie sah scheußlich aus: Dreckige, staubige und verflitzte Haare. Ein schmutziges Gesicht, gerötete Augen. Verschlissene Kleider und mit Kratzern übersehte Arme. Alles in Allem sah Via so aus, als wäre sie überfallen, zusammengeschlagen und zurückgelassen worden.
„Alles in Ordnung?“, hatte der Busfahrer gefragt, während auch andere Leute zu ihr rüber gesehen hatten. „Geht es dir gut? Brauchst du irgendwas? Vielleicht solltest du zur Polizei gehen?“
Via hatte bloß selbstvergessen den Kopf geschüttelt. In ihrer Lage hätte ihr die Polizei nie helfen können. „Nein, danke. Es ist alles in Ordnung. Ich müsste jedoch an einen ganz bestimmten Ort, kann aber nicht weit zu Fuß laufen, falls Sie verstehen …“ Verlegen hatte sie auf ihre Verletzungen gewiesen. „Und ich habe kein Geld.“
Der Mann hatte nur den Kopf geschüttelt und auf einen freien Platz hinter sich gewiesen, als Zeichen, dass sie einsteigen sollte. Via hatte sich auf den Platz geschmissen und die Beine ausgestreckt, die Glieder schwer vor Erschöpfung. Gedankenverloren hatte sie aus dem Fenster gesehen, während der Bus langsam über die Straßen gerollt war.
Manchmal hatte sie den Busfahrer dabei erwischt, wie er ihr verstohlene Blicke durch den Spiegel neben seinem Sitz zugeworfen hatte.
Irgendwann hatte Via die Haltestelle erkannt, an der sie zusammen mit Mrs. Vivien Alee nach ihrer ersten Busfahrt ausgestiegen war. Von da an war es leicht gewesen, den Weg zur Wohnung der Anwältin zu finden.
Via hoffte, dass die Frau zu Hause war, während sie sich die Treppen hinauf schleppte. Als sie das Stockwerk erreichte, in dem die Frau lebte, stellte sie erleichtert fest, dass die Tür einen Spaltbreit offen war und grelles Licht aus der Wohnung in den dunklen Flur fiel. Via bemerkte, dass das kaputte Schloss zwar repariert worden war, es aber immer noch nicht ganz stabil wirkte.
„Sie sollte es wirklich von jemandem bearbeiten lassen“, murmelte Via, während sie die Tür aufstieß und in die Wohnung gestolpert kam. Im Flur zog sie ihre Schuhe aus (Mrs. Vivien Alee hatte ihr eingeschärft, dass es sich so gehörte) und holte sich Hausschuhe aus einer kleinen Schublade, die neben der Tür stand.
„Mrs. Vivien Alee?“, rief sie und ging weiter ins Wohnzimmer. Dort blieb sie ruckartig stehen und starrte den Mann an, der mit einer großen Tasche in der Hand vor den Regalen stand und offenbar die darauf stehenden Glasfiguren hinein stopfte. Via blinzelte. „Wer sind Sie?“
Der Mann hob den Kopf, als hätte er sie gerade erst gesehen. In der ersten Sekunde war sein Blick ängstlich, doch als er erkannte, dass bloß ein fünfzehnjähriges Mädchen vor ihm stand, lächelte er in einer Mischung aus Erleichterung und Schadenfreude.
Die beiden starrten sich eine Weile schweigend an.
„Hast du mich vielleicht erschreckt“, seufzte er, während er von den Glasfiguren abließ, die Tasche neben sich ablegte und in seine Hosentasche griff. Er war komplett in Schwarz gekleidet, selbst seine Haare waren dunkel. In der Nacht hätte er förmlich unsichtbar sein können. Via begriff, dass sie es hier mit einem Einbrecher zu tun hatte, als er ein Messer aus seiner Hosentasche holte. „Ich dachte schon, die Bewohner dieses Hauses wären zurückgekommen.“
„Ich glaube, Sie sollten jetzt gehen“, sagte Via bestimmt.
Der Mann lachte und machte einen Schritt auf sie zu. Via wich einen Schritt zurück. „Keine Angst“, sagte er und legte sich die freie Hand aufs Herz. „Ich werde dir nichts tun. Ich muss nur dafür sorgen, dass du vorzeitig ruhig bleibst und mich nicht störst.“ Mit diesen Worten griff er in die andere Hosentasche und holte ein dickes Seil hervor.
Jetzt wurde Via wütend. Sie hatte eine Menge hinter sich und ihr fehlte zurzeit die Lust, sich mit diesem Mann auseinandersetzen zu müssen. „Ich sagte, Sie sollten jetzt besser gehen!“, zischte sie und nahm eine drohende Haltung an.
Der Mann gab sich unbeeindruckt. Sein Lächeln wurde nur noch breiter. „Zwing mich doch“, lachte er und hielt ihr die Messerspitze entgegen.
Diese Worte würde er noch bitter bereuen.
Soa hatte die Straße schneller erreicht, als er angenommen hatte. Es war angenehm, seine Muskeln anzuspannen und mal wieder mit voller Geschwindigkeit durch die Gassen zu rennen, auch wenn sich zwischendurch hin und wieder der Schmerz seiner fast verheilten Wunden gemeldet hatte.
Der Dämon versuchte, sich zurechtzufinden. Gleich hier um die Ecke müsste die Everdeen-sight-street sein, falls er sich nicht täuschte. Ohne sein Tempo zu verringern, bog Soa um die Ecke und trat auf die besagte Straße hinaus. Er sah nach links und rechts und erblickte, irgendwo dort hinten im Dämmerlicht, zwei Gestalten, mitten auf der Straße. Eine von ihnen saß, die andere schien zu stehen.
Aus dieser Entfernung konnte er keinen von ihnen besonders gut erkennen. Er würde schon nachsehen müssen, ob eine von ihnen Mrs. Vivien Alee war.
„Hoffentlich ist sie es“, murrte er, während er weiterlief, langsam ins Schnaufen geratend. Er verstand, dass es zu dieser Zeit nur wenig Menschen auf den Straßen gab. Weshalb hier aber keine Autos fuhren, war ihm ein Rätsel. Vermutlich war das hier keine besonders beliebte Gegend. Das könnte möglicherweise auch erklären, weshalb Mrs. Vivien Alee geschrien hatte. Soa konnte sich vorstellen, dass diese Straße sich für einen Überfall gut eignete.
Beim Rennen sah er, dass die Gestalt, die bis eben noch auf dem Boden gekauert hatte, aufsprang und vor der anderen zurückwich. Langsam erkannte Soa auch ihre Konturen: Es waren beides Frauen, ohne Zweifel.
Soa beschleunigte seine Schritte noch ein wenig, während er sich näher an den Rand der Straße begab, in den Schatten der Häuser. Es wäre dumm gewesen, so einfach auf die beiden zuzurennen. Wer wusste schon, was dann geschehen könnte?
Soa war den beiden Gestalten nun so nahe gekommen, dass er sie beide erkennen konnte. Die Frau, die auf dem Boden gekauert hatte, war tatsächlich Mrs. Vivien Alee. Nun stand sie mit dem Rücken gegen die Wand eines Hauses gedrückt, ohne einen Ausweg und mit einer Spur der Angst auf dem Gesicht. Vor ihr – Soas Mund wurde trocken – stand Liu, die ihre Pistole direkt auf Mrs. Vivien Alee richtete. Via war nicht bei ihr.
Die beiden redeten miteinander, auch wenn Soa nicht verstehen konnte, was sie sagten. Keine von ihnen hatte ihn bisher entdeckt. Liu war höchstens zwanzig Schritte von ihm entfernt. Soa nutzte den Effekt der Überraschung und fuhr seine Krallen aus. Er hatte vorgehabt, Liu von der Seite anzuspringen, doch offenbar hatte der Engel seine Schritte gehört.
Liu fuhr zu ihm herum und musterte ihn mit einem mörderischen Blick. Ihre roten Locken schienen im Mondschein zu glühen. Aus lauter Panik blieb Soa abrupt stehen und begab sich in eine kauernde Position, als würde er sie anspringen wollen.
„Was machst du denn hier?!“, blaffte Liu. Soa fiel auf, dass sie sehr mitgenommen aussah. Über ihr dreckverschmiertes Gesicht zogen sich von ihren Augen aus zwei Linien zu ihrem Kinn. Offenbar hatte sie geweint. An ihrem Oberarm pragte eine hässliche Wunde mit fast getrocknetem Blut und das Kleid, das sie trug war zerrissen.
„Das könnte ich dich auch fragen“, fauchte er zurück und suchte automatisch mit den Augen nach Via, doch der Engel war nicht da oder zumindest nicht in Sichtweite. „Wolltest du Via nicht in die magische Welt bringen? Oder bist du zurückgekommen, in der Hoffnung, meine Leiche als Trophäe behalten zu können?“ Bei den letzten Worten lächelte er provokant.
Liu verzog das Gesicht und spuckte auf den Boden. „Das kleine Miststück ist mir entwischt!“, zischte sie. „Aber das ist egal. Ihr werdet die Auslöschung der Dämonen ohnehin nicht verhindern können. Eigentlich hatte ich vor, die Kleine zu schonen, aber nachdem sie sich geweigert hat mit mir zu kommen, wird es mir nicht schwer fallen, sie einfach umzulegen.“
Das „Genau wie dich!“ ließ sie in der Luft hängen.
Für einen Moment glühte in Soa Hoffnung auf. Via war also entkommen. Vermutlich streute sie gerade durch die Stadt und suchte nach ihm. Allerdings würden Soa und Via niemals zusammen zum Rat gelangen, wenn Liu ihnen weiterhin im Weg stand.
Er musste es beenden. Nicht später, sondern jetzt.
Mit einem Schlag wurde ihm bewusst, dass es nach diesem Kampf nur einen Sieger geben würde, und somit auch nur einen Überlebenden.
Offenbar hatte Liu erraten, was er dachte, denn sie lachte spöttisch auf. „Was? Denkst du, du könntest mich besiegen?“ Beim Lachen stolperte sie einen Schritt zurück, als würde es ihr schwer fallen, das Gleichgewicht zu behalten. Sie sah krank aus, völlig mitgenommen. „Hast du schon vergessen, wie ich dich das letzte Mal zusammen geschlagen habe? Ist gerade mal einen Tag her.“
Soa knurrte bloß zur Antwort. Kurz blickte er an Liu vorbei und sah, dass Mrs. Vivien Alee sich in Bewegung gesetzt hatte. Vorsichtig und lautlos huschte die Frau die Wand entlang, an der Liu sie in die Enge getrieben hatte und bewegte sich näher an eine Telefonzelle, hinter der sie hätte Schutz suchen können.
Gut gemacht, Frau Anwältin, dachte Soa und hätte fast gelächelt. Erst findest du Liu für mich und bringst dich hinterher sogar selbst außer Gefahr. Vielen Dank.
Er sah wieder zu Liu und merkte viel zu spät, dass sie ihre Pistole auf ihn gerichtet hatte. Mit einem Lächeln auf den Lippen, das der Puppe eines Horrorfilms hätte entspringen können, drückte sie auf den Abzug.
Der Schuss war ohrenbetäubend.
Soa warf sich gerade noch rechtzeitig zur Seite und spürte den Streifschuss, der seine linke Schulter erwischte. Der Dämon fluchte und rannte los, wilde Hacken schlagend, damit Liu nicht richtig auf ihn zielen konnte. Er war noch etwa zehn Schritte von ihr entfernt. Ziel auf ihren Schwachpunkt, ziel auf ihren verletzten Oberarm!, schrie er sich in Gedanken zu.
Liu feuerte den zweiten Schuss ab, dieses Mal traf sie gerademal den Boden neben Soa. Jetzt waren es nur noch fünf oder drei Schritte, die sie voneinander trennten. Gerade wollte Liu ein weiteres Mal auf ihn schießen, doch die Knarre fiel ihr scheppernd aus den Händen, als Soa sich mit einem Hechtsprung auf sie stürzte.
Fauchend und brüllend wie Tiere fielen die beiden zu Boden und gerieten so heftig ineinander, dass Soa es kaum merkte, als er instinktiv mit den Zähnen in ihre Haut biss und mit den Krallen nach ihr schnappte. Er rammte sie ihr in den Bauch, gleichzeitig spürte er ihre unglaublichen Schläge, die ihn Blut spucken ließen. Er spürte, wie sie ihn zu würgen begann und versuchte, sie von sich wegzustoßen. Es gelang ihm jedoch nicht und so kam es, dass ihm mit jedem verzweifelten Atemzug weniger Luft blieb.
Ein paar Sekunden später lag er keuchend auf dem Rücken, Liu drückte ihn mit ihrem Gewicht zu Boden. Er sah, wie sie auf ihn herab grinste, ihre Augen geweitet vor lauter psychotischer Freude. „Stirb!“, raunte sie ihm zu, während sich ihre Hände noch etwas fester um seinen Hals legten. „Verreck, du Missgeburt!“
Soa stieß ein hilfloses Röcheln aus und reckte seinen Kopf gerade so weit, dass er ihr ins Handgelenk beißen konnte. Obwohl er warmes Blut an seinen Lippen schmecken konnte, ließ Liu seinen Hals nicht los. Dieses Mal würde sie es zu Ende bringen. Sie würde ihn erwürgen.
Dann, in einem schrecklichen Augenblick, in dem Soa dachte, es wäre für immer vorbei und sich alles vor seinen Augen zu drehen begann, löste sich der Druck um seinen Hals und er konnte einen tiefen Atemzug machen. Ihm war gar nicht aufgefallen, dass er die Augen geschlossen hatte. Der Dämon wartete, bis sich sein Herzschlag beruhigt hatte, bevor er zögernd die Augen aufschlug und sich vorsichtig aufsetzte.
Liu lag bewusstlos neben ihm, eine Hand krampfte sich noch in seine Brust, als würde sie noch versuchen wollen, ihn selbst in ihrer geistigen Abwesenheit umzubringen. Was für ein verbissenes Ding, dachte er und schubst sie weg.
Als er den Blick hob, sah er, dass Mrs. Vivien Alee neben ihm stand und ihn mit ihren hellen Augen fixierte. In der Hand hielt sie die Pistole, die Liu hatte fallen lassen.
Soa hob die Augenbrauen. „Haben Sie etwa ..?“
„Nein, natürlich nicht!“, erwiderte sie empört, als könne sie nicht glauben, dass er ihr so etwas zutraute. „Ich habe ihr bloß mit dem Lauf auf den Hinterkopf geschlagen. Fest.“
„Wunderbar“, knurrte Soa, dem es eigentlich ganz recht war, dass die Anwältin Liu nichts getan hatte. Denn nun konnte er es selbst vollenden.
Soa setzte sich auf die Knie und drehte Liu so um, dass sie auf dem Rücken lag. Ihr verdrecktes Gesicht wirkte auf einmal so friedlich. So ruhig. Soa fiel auf, dass er sie noch nie gelassen gesehen hatte. Nun, bald würde sie nie wieder verspannt sein.
Der Dämon setzte vorsichtig seine Krallen an ihre Brust.
„Was machst du da?!“, rief Mrs. Vivien Alee erschrocken und wollte ihn aufhalten, doch er sah sie bloß an und schüttelte den Kopf.
„Keine Angst: Ich glaube, ich tue ihr hiermit bloß einen Gefallen“, murmelte er und musste ihre roten Locken betrachten. Sie war schön, aber … nicht perfekt. Engel mussten perfekt sein, das war ihre Normalität. Wer nicht normal war, war anders. Wer anders war, war nicht perfekt. Wer nicht perfekt war, war allein.
Und niemand war gern einsam.
„Also ich weiß nicht so recht“, flüsterte Mrs. Vivien Alle besorgt. „Ich glaube, dass ist keine gute Idee …“
„Vielleicht nicht, aber momentan ist das für mich der einzige Ausweg“, antwortete Soa bloß achselzuckend. Insgeheim dachte er wirklich, dass Liu viel glücklicher wäre, wenn sie ihren ewigen Frieden erhalten würde. Vielleicht würde man sie als eine tapfere Kämpferin im Gedächtnis behalten, die ihr Leben im Kampf verloren hatte? Schade, dass sie diesen Tag niemals erleben würde.
Soa setzte eine seiner Krallen an die Stelle, an der sich ihr Herz befinden müsste. Er stieß sie durch ihr Fleisch, so tief, bis ihm fast übel wurde, und wartete, bis ihr Herzschlag aufgehört hatte zu schlagen. Währenddessen regte sich nichts im Gesicht des Engels, offenbar hatte er den Übergang ins Jenseits kaum gespürt.
Als Soa sich umdrehte, merkte er, dass Mrs. Vivien Alee sich angewidert abgewandt hatte. Sie hatte zwar gesagt, sie hätte es ständig mit Leichen zu tun. Das hieß jedoch noch lange nicht, dass die Frau sie mögen musste. „Ist es vorbei?“, fragte sie, ohne ihn anzusehen. Selbst bei diesem dunklen Abend sah Soa die winzigen Tränen, die in ihren Augen glitzerten.
„Ja“, flüsterte Soa und zog seine Hand zurück. Zuvor wusch er das Blut von seinen Krallen an Lius Kleid ab und richtete sich auf.
„Sollten wir sie nicht begraben?“, fragte Mrs. Vivien Alee bekümmert. „Oder bestatten? Irgendwas?“
„Nein“, antwortete der Dämon bloß. „Die Polizei wird sie spätestens morgen früh finden und den Rest übernehmen.“ Dann trat er zu der Frau und lehnte sich erschöpft an sie. Er musste furchtbar aussehen. Ihm tat alles weh. Liu besaß zwar keine Krallen, er spürte jedoch trotzdem tiefe Kratzspuren in seinem Gesicht, die wie Feuer brannten.
Mrs. Vivien Alee stützte ihn und dafür war er ihr tatsächlich ausnahmsweise dankbar. „Was willst du jetzt tun?“, fragte sie ihn.
„Für heute hatte ich genug Stress“, antwortete Soa bloß. Dann sagte er etwas, von dem er sich eigentlich vorgenommen hatte, es niemals zu ihr sagen zu müssen: „Ich würde jetzt lieber nach Hause gehen und mich ausruhen.“
„Oh nein!“, seufzte Mrs. Vivien Alee, als sie vor ihrer Haustür stehen geblieben waren. Offenbar war der lustige Abend noch nicht ganz vorbei, denn die Tür stand weit offen und grelles Licht fiel heraus. Das Schloss, das ohnehin schon völlig kaputt gewirkt hatte, war nun zu gar nichts zu gebrauchen. Es wäre ein Leichtes für jeden Einbrecher gewesen, es aufzubrechen.
„Ich würde Ihnen raten, sich ein neues Schloss zu besorgen“, murmelte Soa und konnte sich trotz dem Ernst der Lage ein winziges Lächeln nicht verkneifen. „Ich glaube nicht, dass das hier noch was taugt.“
Mrs. Vivien Alee fand das nicht so witzig. Verärgert funkelte sie ihn an. „Das ist nicht lustig!“, zischte sie und blickte besorgt zur Tür. „Was ist, wenn der Einbrecher noch da ist?“, fragte sie etwas leiser.
Soa hob zur Antwort bloß seine Hand. Lius getrocknetes Blut klebte noch an seinen Krallen. „Dann hat er sich die falsche Zeit ausgesucht, um mir zu begegnen. Ich bin nämlich nicht in bester Laune.“
„Lass den Unsinn!“, fauchte Mrs. Vivien Alee und packte ihn an der Schulter, als er in die Wohnung schlendern wollte. Das Treppenhaus war dunkel und die beiden befanden sich im Schatten. „Bei Liu hab ich es noch zugelassen, dass du … es durchziehst. Hier geht’s aber um ein Menschenleben!“
„Um das Leben eines Einbrechers“, korrigierte Soa sie.
„Das ist mir egal! Ich werde jedenfalls nicht zulassen, dass es weitere Todesfälle gibt.“
Soa seufzte unterwürfig. Eine Diskussion mit dieser Frau würde er niemals gewinnen. „Ich tu ihm nichts, falls er noch hier ist, sondern setze ihn bloß außer Gefecht. Dann rufen Sie die Polizei. Wäre das für Sie in Ordnung?“ Er machte eine spöttische Handgeste.
Als sie nichts erwiderte, löste er ihre Hand von seiner Schulter und humpelte in die Wohnung. Vielleicht war er verletzt, vielleicht war er erschöpft, aber mit einem Menschen würde er locker fertig werden.
Soa stolperte durch den Flur, ohne sich die Schuhe auszuziehen und trat ins hell beleuchtete Wohnzimmer. Er hätte in dem Moment alles erwartet: Eine leer geräumte Wohnung, eine trinkende Gang, möglicherweise sogar eine Leiche oder etwas in der Art – aber niemals Via, die entspannt und mit einem Stück Pizza auf dem Sofa saß, Fernsehen sah und mit der Fernbedingung gerade in dem Programm stöberte.
Auf dem Boden lag ein schwarz gekleideter Mann. Er war nicht bei Bewusstsein, Soa war sich jedoch sicher, dass er noch am Leben war. Das erklärte zumindest, warum sich seine Brust so hektisch hob und senkte.
Soa klappte die Kinnlade herunter. „Was ..?“
„Oh“, stieß Via aus, als sie ihn bemerkte und legte den Kopf schief. Ihre langen Haare waren feucht und ihre Kleider klebten an ihrem Körper. Soa vermutete, dass sie sich geduscht hatte. Erstaunlich. Als er ihr das letzte Mal begegnet war, konnte sie kaum richtig sprechen. Nun hatte sie sogar herausgefunden, wie man sich selbst eine Pizza machte und sich duschte. „Was machst du denn hier? Ich … ich dachte du wärst tot!“ Sie klang befreit.
Soa ignorierte diese Worte dennoch.
„Gott, bin ich froh, dass ich dich gefunden habe!“, stieß er erleichtert aus und stolperte zu ihr. Erschöpft ließ er sich neben ihr auf der Couch fallen. Via machte ihm Platz, während sie den letzten Bissen ihres Pizzastücks hinunterschlang. Dann musterte sie ihn.
„Du bist verletzt“, stellte sie fest, während sie seine Wunden betrachtete. Liu hatte ihm dieses Mal keinen besonders großen Schaden zugefügt, ein paar kleine Verletzungen hatte er jedoch davontragen müssen.
„Nichts Schlimmes“, versicherte er ihr. Eigentlich hätte er sich doch denken müssen, dass wenn Via nicht nach ihm suchte, sie zu Mrs. Vivien Alee zurückgekehrt wäre. Schließlich war das in gewisser Weise der erste Ort gewesen, den Via nach ihrer Geburt aufgesucht hatte. Selbstverständlich betrachtete sie es als ihr zu Hause.
Wenn er genauer darüber nachdachte, fiel ihm auf, dass bei ihm es ebenfalls die erste Wohnung gewesen war, in der er jemals geschlafen hatte …
„Wie bist du Liu entkommen?“, fragte er, während er sich auf dem Sofa ausstreckte und sich entspannte. Ihm fiel auf, dass Via überall an ihrem Körper Verbänder und Pflaster hatte. Offenbar hatte sie sich selbst versorgt, während sie bei Mrs. Vivien Alee auf die Rückkehr der beiden gewartet hatte.
„Bin eben geflohen und hab begonnen, nach dir zu suchen“, erklärte sie. „Du warst nicht mehr auf der Baustelle und ich war zu schwach, um meine Kräfte einzusetzen, mit denen ich hätte nach dir suchen können. Also bin ich hierher zurückgekehrt.“ Sie schluckte besorgt. „Bist du Liu etwa begegnet?“
„Keine Angst“, beruhigte er sie und verschwieg ihr die Tatsache, dass der rothaarige Engel gar nicht mehr am Leben war. Ob ihre Leiche wohl schon gefunden worden war? „Ich glaube, wir werden ihr in der nächsten Zeit nicht begegnen.“
Er sah, wie Via beruhigt ausatmete.
„Ich wüsste nur noch gern, was es mit dem da auf sich hat“, murrte Soa und wies mit dem Kinn in die Richtung des Mannes, der leise vor sich hin schnarchte, das Gesicht in den Teppich der Wohnung vergraben.
„Der war schon hier, als ich zurückgekommen bin“, sagte Via. Sie nahm wieder die Fernbedienung in die Hand und schaltete ein paar Kanäle um. „Ich glaube, Leute wie ihn nennt man Einbrecher. Ich habe ihn mit der Faust einmal kräftig zwischen die … na ja, sagen wir, ich habe ihn geschlagen und dann außer Gefecht gesetzt. Ich bin noch rechtzeitig gekommen, also konnte er nichts mitgehen lassen.“ Sie wies mit der Hand auf eine Tasche, die neben einem der Regale mit den Glasfiguren lag.
„Verstehe“, murmelte Soa und musste feststellen, dass sich nicht nur Vias Denkvermögen in dieser kurzen Zeit weiterentwickelt hatte. Auch ihre Kampffähigkeiten wurden mit der Zeit besser. Als Liu ihn auf der Baustelle angegriffen hatte, hatte Via nicht einmal gewusst, wie sie ihm hätte helfen können. Inzwischen schien sie jedoch härter geworden zu sein. Er konnte nicht verschweigen, dass er das sehr … anziehend fand.
„Soa? Alles in Ordnung?“, hörte er Mrs. Vivien Alles gedämpfte Stimme im Flur. „Ist der Einbrecher noch da?“ Mist. Die Frau hatte er ja völlig vergessen.
Kurz darauf betrat diese das Wohnzimmer und blieb im Türrahmen stehen. Nichts regte sich in ihrem Gesicht, nicht die kleinste Überraschung ließ sich darin wiederfinden. Auch, als ihr Blick auf Via fiel, die lächelnd auf dem Sofa saß und den Blick der Frau erwiderte.
„Hallo, Mrs. Vivien Alee“, sagte der Engel strahlend. „Ich habe auf Sie gewartet.“
„Hallo, Via“, sagte Mrs. Vivien Alee trocken, während ihr Blick auf den Einbrecher fiel. Von allen Fragen, die ein Mensch in solch einer Situation hätte stellen können, wählte sie: „Lebt er noch?“
„Ja“, antworteten Via und Soa wie aus einem Mund.
„Gut.“
„Rufen Sie jetzt die Polizei?“, wollte Soa wissen.
„Später. Zuerst müssen wir deine Wunden versorgen“, seufzte die Anwältin.
„Das mach ich!“, meldete sich Via und verschwand in der Küche. Soa hörte, wie sie die Schränke durchwühlte, auf der Suche nach Verbandzeug. Dabei lag dieses auf dem Tisch vor dem Sofa. Tja, es scheint, als wäre ihr Gehirn doch noch nicht ganz ausgereift, dachte Soa und musste grinsen.
Mrs. Vivien Alee lief zu ihm und beugte sich zu dem Dämon runter. „Was zur Hölle macht sie hier?“, raunte sie ihm zu.
Er sah sie überrascht an. „Haben Sie etwas dagegen? Ich dachte, Sie würden sie suchen wollen.“
„Natürlich habe ich nichts dagegen! In letzter Zeit betritt sowieso jeder zweite Fremde meine Wohnung. Es wundert mich bloß, wie sie den Weg hierher ganz allein gefunden hat. Außerdem hat sie selbst eine Pizza zubereitet und geduscht. Wie ist ihr das gelungen?“
Soa hasste es, in einem ernsten Tonfall sprechen zu müssen. Er war lieber locker und spöttisch. Doch in diesem Fall war das leider nicht möglich. „Das hier ist die erste Wohnung, die Via seit ihrer Geburt betreten hat“, erklärte er. „Indem Sie sie hierher gebracht haben, haben Sie sie förmlich dazu eingeladen, bei Ihnen zu bleiben. Via hat den Weg hierher zurückgefunden, weil“ – er stockte – „sie meint, das wäre ab jetzt ihr Zuhause. Gegen diesen Instinkt kann sie nichts machen.“
Gespannt wartete er Mrs. Vivien Alees Reaktion ab. Die Frau strich sich das verschwitzte blonde Haar aus dem Gesicht und seufzte tief. Sie schien zu überlegen. Als Soa den müden Ausdruck in ihren Augen sah, befürchtete er für einen Augenblick, sie wäre die ganze Sache Leid und würde Via einfach vor die Tür setzen. Gleichzeitig bemerkte er aber auch den sanften Ausdruck in ihren Zügen.
„Ihr Kinder macht mich wirklich fertig“, murmelte sie schließlich, während sie sich auf den Boden neben dem Tisch setzte und mit misstrauischen Augen den bewusstlosen Mann betrachtete, der nicht weit von ihr entfernt lag. Obwohl sie ihn nicht aus den Augen ließ, glaubte Soa, dass sie an etwas ganz anderes dachte. Und er behielt recht.
„Aber ich glaube, es müsste hinkommen“, dachte die Frau laut nach, während sie nach der Fernbedienung griff und den Fernseher auf stumm schaltete. Gerade lief Spongebob, ein gelber, sprechender Schwamm der – Soa runzelte die Stirn – mit einem Netz in der Hand einer Qualle hinterherrannte. „Wenn ich das Zimmer meines Mannes ausräumen und mein Arbeitszimmer ausleeren würde, hätte jeder von euch ein eigenes Zimmer …“
„Jeder von euch?“, wiederholte Soa überrascht. Ihm war es bis jetzt gar nicht in den Sinn gekommen, ebenfalls hier zu bleiben, obwohl der Gedanke eigentlich ganz verlockend war.
„Klar“, sagte Mrs. Vivien Alee und sah ihn an, als wäre das selbstverständlich. „Ich werde dich ja wohl schlecht rausschmeißen können. Immerhin war das hier bei dir ebenfalls die allererste Wohnung, in der du seit deiner Geburt gewesen bist, falls ich mich nicht irre. Vorher hast du doch auf der Straße geschlafen. Du kannst gerne hier bleiben … Falls du willst.“
Stille.
Soa war dankbar, als Via zurück ins Wohnzimmer geschlendert kam, eine Schere in der Hand und das Schweigen brach. „Ich habe keine weiteren Pflaster gefunden“, erklärte sie verstohlen. „Ich glaube, ich habe sie alle aufgebraucht. Tut mir Leid.“
„Ist schon in Ordnung“, murrte Soa, als sie sich neben ihn auf das Sofa setzte und begann, um eine Schnittwunde an seinem Oberarm einen Verband zu machen. Es schmerzte kaum. Viel mehr war es angenehm, zur Abwechslung mal versorgt, anstatt geschlagen zu werden.
„Via, ich hätte mal eine Frage an dich“, setzte Mrs. Vivien Alee an.
„Ja?“
„Hättest du Lust, hier zu bleiben? Bei mir?“, fragte die Anwältin, obwohl die Antwort eigentlich schon völlig offensichtlich war.
Via hielt kurz inne und schien erstaunt. Dann breitete sich auf ihrem schönen Gesicht ein Lächeln aus, das einem das Herz glatt schneller schlagen ließ. „Gerne!“, sagte sie und nickte heftig. „Aber nur, wenn es Ihnen nichts ausmacht.“
„Nein. Meiner Meinung nach habe ich ein wenig zu lange in Einsamkeit gelebt. Ich vermute, es ist Zeit, sich ein bisschen zu öffnen“, murmelte Mrs. Vivien Alee und strich sich verlegen die Haarsträhnen hinter die Ohren. „Außerdem habe ich, in gewisser Weise, schon immer davon geträumt Kinder zu haben.“
Wow. Soa betrachtete die Frau vor ihm und glaubte, zum ersten Mal zu wissen, was für eine Last sie wohl seit dem Tod ihres Mannes mit sich tragen musste.
„Also bleiben wir hier“, sagte Via jovial, während sie mit einem feuchten Tuch eine Schürfwunde an Soas Handgelenk auswusch. „Aber zuerst müssen Soa und ich zum Rat. Da Liu uns nicht mehr aufhalten kann, können wir endlich ungestört verhindern, dass die Dämonen ausgelöscht werden.“
„Du willst zum Rat gehen? Freiwillig?“, fragte Soa verdutzt.
Er wusste, dass Via eine nette Persönlichkeit war, aber als er sie beim letzten Mal zum Rat hatte bringen wollen, hatte er das Gefühl gehabt, sie dazu zwingen zu müssen. Immerhin hatte er sie aus Mrs. Vivien Alees Wohnung entführt. Außerdem konnte er sich nach wie vor nur schwer vorstellen, dass ein Engel den Dämonen helfen wollte.
„Selbstverständlich will ich das!“, meinte Via und sah ihn mit großen Augen an. „Es wäre ungerecht, die Dämonen auszulöschen, nur weil der Rat die Engel viel lieber hat. Niemand kann sich aussuchen, als was er geboren wird. Jeder hat das Recht auf ein glückliches Leben – egal, zu welcher Art er gehört.“
Einmal mehr bewies Via dem Dämon, dass sie etwas sehr Besonderes war.
„Fertig“, sagte Via schließlich, als sie seine letzte Verletzung behandelt hatte. Sie hatte ihre Sache wirklich gut gemacht. Die Verbände saßen weder zu fest, noch zu locker.
„Danke“, murmelte Soa, dem nichts Besseres einfiel. Er fühlte sich, als müsste er noch etwas tun oder sagen. Als sein Blick versehentlich zu Mrs. Vivien Alee fiel, grinste ihn die Frau frech an, formte mit den Lippen einen Kussmund und tippte sich mit dem Finger an die Wange.
Soa blinzelte sie an und zögerte zunächst. Dann sprang er doch über seinen Schatten und blickte Via in die tiefen, blauen Augen. „Danke“, wiederholte er verlegen, während er sie etwas näher an sich ran zog und sie sacht auf die Wange küsste.
Der Engel zuckte kurz zusammen, wehrte sich aber nicht. Als Soa sich wieder entfernt hatte, lächelte Via und wandt sich mit leicht geröteten Wangen wieder dem Fernseher zu, der nach wie vor auf stumm geschaltet war.
Mrs. Vivien Alee lachte.
Soa funkelte sie an und wurde, trotz der Gewissheit alles richtig gemacht zu haben, das Gefühl nicht los, mächtig verarscht worden zu sein. Seltsamerweise war es genau dieses Gefühl, das ihn in einen merkwürdigen Zustand der Geborgenheit versetzte. Er glaubte, seinen Platz in dieser Welt gefunden zu haben.
In gewisser Weise war es nicht mal seine Bestimmung, die Dämonen vor der Ausrottung zu retten. Er war dazu bestimmt, diese beiden – nämlich die einsame Anwältin und den auf seine eigene Weise besonderen Engel – glücklich zu machen.
Das hier war sein Platz.
Und daran würde selbst der Rat nichts ändern können.
Geschickt zog sich der Mann an der Wand hoch. Er musste kaum überlegen, seine Finger schoben sich ganz von allein in die richtigen Spalten zwischen den Steinen. Der Mörtel war alt, man konnte sich problemlos festahlten, wenn man sich nicht allzu dumm dabei anstellte.
Es war Nacht und sachter Regen fiel vom Himmel herab. Er war lässtig, hinderte den Mann jedoch nicht daran, an dem Haus hinaufzuklettern, in dem Via und Soa angeblich zur Zeit wohnten. Er hätte natürlich auch die Feuerleiter nehmen können, doch dann hätte er nicht durch das richtige Fenster spähen können.
Inzwischen war es schon viele Monate her, seit Soa und Via beim Rat aufgetaucht und verkündet hatten, sie könnten selbst als Engel und Dämon in Frieden miteinander leben. Die beiden hatten verlangt, dass die Ausrottung der Dämonen, die schon seit vielen Jahren in Planung war, verhindert werden sollte. Das hatte für Aufruhr gesorgt.
Der Rat war mächtig, aber selbst er musste sich an gewisse Gesetze halten. Und wenn es einen Weg gab, einen Krieg zu verhindern, durfte somit auch keiner stattfinden. Soa und Via waren der eindeutige Beweis dafür, dass es Engel und Dämonen möglich war, ein gemeinsames Leben zu führen. Zumindestens behaupteten sie es.
Nicht alle in der magischen Welt glaubten den beiden – vielleicht erpresste der Dämon das Mädchen dazu, sich auf seine Seite zu schlagen? Jedenfalls standne die beiden unter strenger Beobachtung, auch wenn ihnen das nicht bewusst war. Der Rat überwachte sie persönlich, einer nach dem anderem.
Heute war der Mann an der Reihe, der in die Menschenwelt vorgedrungen war und sich nun auf dem Weg zu den zwei Kindern befand. Mit übermenschlicher Kraft zog er sich hoch, bis er das Fenster erreicht hatte, das zur Wohnung der beiden gehörte. Drinnen brannte noch Licht, was hieß, dass mindestens einer der beiden noch wach sein müsste. Gut.
Soa und Via hatten sich, trotz einem Angebot des Rates, dagegen entschieden, in der magischen Welt zu bleiben. Sie würden lieber in der Menschenwelt leben, hatten sie gesagt. Und der Mann glaubte zu verstehen, warum.
Als er sich an dem Fensterbrett abstützte und durch das Fenster blickte, sah er in ein Wohnzimmer. Auf dem Sofa, das vor einem Fernseher und einem winzigen Tisch plaziert war, saß Soa und hielt eine Schüssel in den Händen. Er schien sich mit jemandem zu unterhalten, den der Mann jedoch nicht sehen konnte. Neben Soa, schon am dösen, lag Via und lehnte an seiner Schulter.
Die beiden sahen tatsächlich danach aus, als wären sie Freunde. Der Mann konnte selbst nicht erklären, warum es ihn enttäuschte. Irgendwie hatte er doch gehofft, dass das alles nur eine Lüge wäre.
Er erkannte, mit wem Soa gesprochen hatte, als eine Frau mit blonden Haaren in seine Sichtweite trat, um Soa etwas zuzuflüstert. Sofort nahm der Dämon die Fernbdienung in die Hand, vermutlich um leiser zu machen. Die Frau lächelte, drückte ihm und Via einen Kuss auf die Stirn und verschwand dann gähnend in einem anderem Zimmer.
Der Mann beobachtete Via und Soa noch eine Weile, wie sie friedlich dasaßen, bevor er sich abwandt. Mit einem einzigen Sprung stieß er sich von der Wand ab, drehte sich im Flug und landete wie eine Katze auf allen Vieren am Boden, ohne sich etwas getan zu haben. Er erhob sich leichtfüßig, während er sich den feuchten Schlamm von den Händen rieb, den der Regen verursacht hatte.
So ungern er das auch zugab, er musste sich etwas gestehen: Es war an der Zeit, dass zwischen Engeln und Dämonen wieder Frieden einkehrte. Nicht nur das. Vielleicht war es für die magischen Wesen auch an der Zeit, die Grenzen zu überrschreiten und sich den Menschen zu zeigen? Schließlich war es Via und Soa ebenfalls gelungen, ein gutes Verhältnis zu einer gewöhnlichen Frau aufzubauen. Wenn die magischen Wesen sich mit Menschen verbinden würden, würde eine neue Ära beginnen. Ein neues, besseres Zeitalter.
Vermutlich hatten die beiden mehr gutes bewirkt, als ihnen eigentlich bewusst war. Sie hatten nicht nur für Gerechtigkeit gesorgt – sie hatten die Grenzen zwischen Existensen und verschiedenen Arten verschoben.
Und das war bisher noch nie jemandem gelungen.
Ende
Tag der Veröffentlichung: 31.03.2013
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