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Prolog

 

Der kleine und enge Keller, in dem sich alte Kisten bis zur Decke stapelten, wurde von nichts weiter als einer kahlen und staubigen Glühbirne beleuchtet. Durch die fest verschlossene Tür drang der Lärm des Fernsehers und durch die wenigen, leicht abgedunkelten Fenster konnte man die Bewegungen der vorbeifahrenden Autos beobachten.

Besonders ordentlich war der begrenzte Raum ja nicht. Über die Wände zog sich, statt einer anständigen Tapete, stark riechender Schimmel dahin und in allen Ecken waren Spinnennetze und Spinnenweben. Normalerweise hätte ich mich nie hierher getraut, was für einen kleinen Jungen nicht besonders verwunderlich war, aber das war nun einmal der einzige Ort in diesem Haus, an dem man allein sein konnte. Und ich musste allein sein.

Um mich zu vergewissern, dass mich niemand stören würde, warf ich der fest verschlossenen Tür einen letzten Schulterblick zu, bevor ich mich hinkniete und die bereitgelegte Klinge in die Hand nahm. Auf dem Boden war ein alter und muffiger Teppich ausgebreitet, der kaum groß genug war, um die Hälfte des Raumes auszufüllen. Meine Knie schmerzten unangenehm, als der raue Stoff meine Haut berührte, doch das machte mir nichts. Meine volle Aufmerksamkeit galt ganz und gar der Klinge, dich ich mit zitternden Fingern umklammert hielt. So etwas Derartiges hatte ich bis jetzt im Leben noch nicht gewagt, aber heute würde ich es tun. Nur um zu erfahren, wie es sich anfühlte.

Mit einer Hand zog ich den Ärmel meines linken Armes hoch, mit der anderen setzte ich den scharfen Gegenstand an meinen gesunden und unverletzten Oberarm. Ich holte einmal tief Luft, presste die Lippen zusammen und sammelte mich, bevor ich einmal kräftig zustach. Erst spürte ich nichts, keinerlei Veränderungen, doch dann folgte irgendwann ein stechendes Brennen und ich konnte spüren, wie das Blut nur so zu fließen begann. Fasziniert beobachtete ich, wie die rote Flüssigkeit aus der Wunde drang und einen unerklärlichen Schmerz mit sich brachte. Ich stöhnte leise, beherrschte mich aber, denn ich wusste – sollten mich meine Eltern erwischen, würden sie mich in eine Psychiatrie stecken. Oder Schlimmeres. Was tat man eigentlich mit Menschen wie mir? Ich hatte keine Ahnung.

Und das war das Schrecklichste an der Sache: Vor Schmerzen oder Ärger fürchtete ich mich nicht, aber die Unwissenheit über das, was mit mir geschehen könnte, jagte mir hin und wieder solche Albträume in den Sinn, dass ich nachts nicht schlafen konnte und weinend wach wurde.

Mein Blut fiel in winzigen Tropfen auf den Teppich, aber bei seiner dunklen Farbe fielen die Flecken kaum auf. Ich streckte meinen Arm ein bisschen von mir, damit meine Kleidung verschont blieb.

Die Schmerzen und das Brennen wurden immer stärker. Mittlerweile schienen sie tiefer in mein Fleisch einzudringen, jedenfalls konnte ich die Tränen nicht länger zurückhalten. Die blutverschmierte Klinge fiel aus meinen Fingern, die krampfhaft nach meinem Arm griffen und versuchten, die Blutung zu stoppen. Im Laufe der Zeit krümmte ich mich schon auf dem Boden und heulte leise und geräuschlos vor mich hin.

Nichtsdestotrotz war ich irgendwie glücklich.

- Kapitel 1 -

 

Keith:

In meinem Zimmer war es still. Nur das leise und ruhige Schnarchen meines Zimmergenossen drang an meine Ohren, während ich in meinem Bett lag und mein Handy umklammert hielt. Meine Handflächen waren schon ganz verschwitzt, so fest schlossen sich meine Finger darum.

Während ich gespannt auf eine Antwort wartete, blickte ich aus dem Fenster. Mattes Mondlicht fiel verschwommen durch die dunklen Vorhänge, direkt auf den kalten Boden, auf dem ein schwarzer, runder Teppich ausgebreitet lag. Die dadurch entstehenden Schatten tanzten über die Wände, glitten über die wenigen Möbel. Das Zimmer hier war gemütlich, fast schon vertraut. Ich hatte mich ein bisschen gewöhnt.

Es vergingen Sekunden, Minuten, in denen ich auf mein Handy starrte, doch es erschien keine neue Nachricht. Schließlich war es auch fast drei Uhr nachts. Sah aus, als würde ich erst morgen wieder mit Elizabeth schreiben können.

Ganz von alleine tippte mein Finger auf das Symbol mit dem Briefumschlag. Dann erschienen sie. Die ganzen Worte, die ganzen Texte, die Elizabeth und ich uns in den letzten zwei Monaten geschrieben hatten. Meine müden Augen überflogen die winzigen Buchstaben des heutigen Tages:

-Keith: Und? Wie ist die Mathearbeit gelaufen??

-Elizabeth: Beschissen. Ich hab’s total verbockt. Was ist mit dir? Hat sich bei dir alles verbessert?

-Keith: Na ja, könnte man sagen. Ich war immer noch in keine Schlägerei verwickelt, höchstens so ein kleines Rumgemotze auf den Gängen. Meine Noten waren auch vorher okay, daran hat sich nichts geändert. Ach ja, übrigens, ich versteh mich allmählich ganz gut mit meinem Zimmergenossen. Er ist zwar ein bisschen komisch, aber, hey, ich bin ja selbst nicht besser ;)

-Elizabeth: Wie, komisch??

-Keith: Ich weiß auch nicht. Der ist irgendwie ständig nervös, so zimperlich. Stört mich aber nicht, ist nichts Neues, dass Leute vor mir Angst haben.

-Elizabeth: Das muss ja nicht an dir liegen! Weiß er, dass du Sadist bist??

-Keith: Nein, woher denn? Die Lehrer müssen ja schweigen. Was ist eigentlich mit den Lehrern?? Vermissen die mich? :P

-Elizabeth: Nein, die haben auch ohne dich genug zu tun – Erik hat deinen Platz als Tyrann eingenommen. 

-Keith: Haha, hätte ich mir denken können. Wie geht’s diesem Vollidioten so?

-Elizabeth: Ganz gut, aber er vermisst dich. Ob du es glaubst, oder nicht, aber recht viele aus deiner Klasse vermissen dich. Die sagen, dass da was fehlt. Es ist zu still im Klassenzimmer.

-Keith: Haha, schon klar. Woher weißt du das denn??

-Elizabeth: Ich rede ja immer noch ab und zu mit Antonia. Außerdem hat sich neulich Erik nach dir erkundigt, da haben wir ein wenig geredet. Sag mal, hat er etwa deine Nummer nicht??

-Keith: Ne. Ich hab ganz vergessen, sie ihm zu geben. Wir waren ja nicht einmal richtige Freunde, eher so Kumpel …

-Elizabeth: Da untertreibt jemand aber mal wieder gerne.

-Keith: Was soll das jetzt heißen?

-Elizabeth: Dass du nicht zugeben willst, dass du ihn auch vermisst >:-)

-Keith: Doch, klar, ich vermiss ihn natürlich auch.

-Elizabeth: Darf ich es ihm sagen?

-Keith: Untersteh dich!!!

Seitdem hatte sie mir nicht geantwortet und ich bereute bereits zugegeben zu haben, dass ich diesen Trottel tatsächlich vermisste. Und ich bereute, nicht erwähnt zu haben, wie sehr ich sie vermisste. Es jetzt noch zu schreiben wäre … unpassend.

Ich konnte wirklich ein Idiot sein. Dabei dachte ich jeden Tag an sie.

Mir fehlten unsere Treffen. Und auch wenn wir jeden Tag telefonierten, uns schrieben, konnte das alles nicht ersetzen, sie täglich in echt zu sehen. Manchmal – und das Folgende hatte ich bisher weder jemandem erzählt, noch jemals laut ausgesprochen – träumte ich von ihr. Bloß schade, dass es mir in meiner Lage nicht besonders half, denn nach dem Aufwachen fehlte sie mir immer nur noch mehr.

Das alles konnte ich ihr aber nicht erzählen. Sie sollte nicht glauben, dass es mir schlecht ging und sich Sorgen machen, weswegen ich versuchte, stets nur von den guten Sachen zu berichten. Der Nachteil für mich war natürlich, dass ich mich bei keinem aussprechen konnte – aber das war es wert.

Mit einem leisen Seufzer legte ich das Handy auf die kleine Kommode neben meinem Bett und zog mir die Decke bis ans Kinn. Ich startete den Versuch, es mir auf eine wundersame Weise gemütlich zu machen und drehte mich ein paar Mal von einer Seite auf die andere. Mein Kopf versank gemächlich in meinem Kissen, während sich mein Körper endlich entspannte.

Vielleicht könnte ich heute endlich wieder schlafen. Oder zumindest ein wenig dösen.

 

Train:

Eine angenehme Welle von Wärme schlug mir entgegen, als ich die Vorhänge öffnete und die Sonnenstrahlen wie winzige Funken über mein Gesicht strichen. Trotz des schönen Gefühls kniff ich die Augen zusammen und schirmte sie mit einer Hand ab. Als ich mich endlich an das Licht gewöhnt hatte, stützte ich mich am Fensterbrett ab und lehnte mich leicht vor. Draußen war derselbe Anblick, der sich mir jeden Tag bot, wenn ich aus dem Schlaf erwachte: Um das Internat herum wuchsen große Bäume, jedenfalls vor meinem Fenster. Dahinter war der eiserne Zaun zu sehen, der uns von der Straße trennte, deren Verkehr noch bis hierher zu hören war.

Draußen bewegten sich die dünnen Zweige im schwachen Wind, der hin und wieder auch gegen die Fensterscheibe schlug. Das Geräusch mischte sich mit den Schritten, die durch die Tür zum Flur drangen und es entstand eine Art harmonischer Klang.

Ich seufzte glückselig und lockerte dann meine Glieder. Es war erst 6:50 Uhr, aber wenn wir es noch rechtzeitig zum Frühstück schaffen wollten, müssten wir jetzt aufstehen.

„Keith, sag bloß, du schläfst noch“, sagte ich tadelnd, während ich mich streckte und ein lautes, weites Gähnen unterdrückte. Dabei blickte ich zu meinem Mitbewohner.

Keith, der sich die Decke über den Kopf gezogen hatte, stöhnte leise und sprach einen unterdrückten Fluch aus. „Dein Ernst? Dein Ernst?!“, fragte er mich genervt, während er sich mühevoll in seinem Bett aufsetzte und mich mit blutunterlaufenen Augen anblickte. Seine Miene war irritiert und zwei dunkle Ringe ließen sein Gesicht noch bedrohlicher wirken, als sonst. Er schlief nachts nicht besonders gut, heute schien es nicht anders gewesen zu sein. Die blonden Haare standen ihm wirre vom Kopf ab und seine Arme hingen schlaff herab.

„Die Jugendleiter waren nicht einmal hier, um uns zu wecken!“, jammerte er müde. Ein kurzer Blick auf den Wecker genügte, um ihn aus der Fassung zu bringen. „Scheiße, Mann, erst 6:51 Uhr?! Train, willst du mich auf den Arm nehmen? Wir hätten doch noch zehn oder sogar zwanzig Minuten weiter schlafen können.“

„Jetzt mach kein Drama daraus“, meinte ich schmunzelnd, während ich mich entspannt an der Fensterbank anlehnte und die Hände vor der nackten Brust verschränkte. Ich war längst in die schwarzen Hosen der Uniform geschlüpft, mein Oberkörper war noch unbekleidet.

„Alter … Du bist grausamer als jeder Wecker“, murmelte Keith, während er sich verschlafen die Augen rieb. „Wer zur Hölle steht denn bitte so früh auf?“

Beinahe vergnügt beobachtete ich ihn von der Seite. Er gehörte hier nicht her. In den ganzen zwei Monaten, die er hier verbracht hatte, hatte er sich kein Stück an das Leben im Internat gewöhnt. Im Gegenteil. Er schien sich mit jedem Tag mehr nach seinem Zuhause zu sehnen und das sah man ihm an. Jede Nacht lag er wach und schrieb Nachrichten auf seinem Handy, vermutlich irgendwelchen Klassenkameraden oder sonst wem. Auf jeden Fall fiel es ihm schwer, hier Kontakt mit anderen Jugendlichen aufzubauen. Das lag nicht daran, dass er unbeliebt war oder so. Nein, daran lag es wirklich nicht. Ich hatte sogar schon des Öfteren Mädchen über ihn schwärmen hören, aber er bemerkte es nicht einmal.

Ich hätte wetten können, dass er dort, wo er herkam, eine Freundin hatte.

Ich bezweifelte, dass Keith sich jemals damit abfinden würde, in einem Internat leben zu müssen. Er wirkte hier so verloren, wie ein Ausgestoßener. Nur eben, dass er derjenige war, der sich keinem anvertrauen oder anschließen wollte.

„Wart’s ab. Irgendwann wirst du vielleicht mal ein Einzelzimmer bekommen, und dann kannst du von mir aus den ganzen Unterricht verschlafen“, witzelte ich, während ich skeptisch die Augenbrauen hob. Hinter mir spürte ich immer noch die Wärme der Sonne, der angenehm weiche Stoff der Vorhänge streifte meinen Arm.

Das Zimmer, in dem wir wohnten, war meiner Meinung nach sehr gemütlich. Es war nicht besonders groß und mit den wenigen Möbeln wirkte es ein wenig leer, was mich aber nicht störte. Die nicht allzu hohen Wände waren blau gestrichen, die Decke ebenso weiß wie die Bettwäsche unserer Schlafplätze. Diese standen nebeneinander, zwischen ihnen befand sich nichts außer einer schlichten und altmodischen Kommode. Ansonsten gab es hier noch zwei Schränke und zwei getrennte Schreibtische, vor denen jeweils ein Stuhl stand. Türen gab es hier nur zwei, eine führte in den Gang, die andere zum Bad.

Keith schnaubte leise. „Lach ruhig. Die Sommerferien stehen vor der Tür, ich werde nach Hause fahren und jeden Tag schlafen und …“

„Und diese dunklen Ringe um deine Augen loswerden“, lachte ich und unterbrach Keith somit. Dieser zwang sich gerade aus dem Bett und vergrub das Gesicht erschöpft in den Händen, als er auf der Kante seines Schlafplatzes saß. Er stöhnte kurz auf, öffnete dann zögernd die Augen und blickte unschlüssig zum Fenster.

„Das ist doch nicht auszuhalten“, murmelte er vor sich hin.

Ich fragte mich wirklich, wie und wann er bei sich zu Hause aufgestanden war.

„Okay, schon verstanden. Nächstes Mal werde ich einfach ohne jede Vorwarnung das Licht einschalten, dann kannst du dich bei der Glühbirne beklagen“, meinte ich und verdrehte die Augen. Manchmal war es richtig schwer mit ihm, aber das würde ich wohl oder übel hinnehmen müssen. Das Einzige, was mir noch übrig blieb, war es, wie alle anderen Schüler hier weiterhin von einem Einzelzimmer zu träumen.

Dabei brauche ich es von allen hier wohl am meisten, dachte ich mir und stieß hörbar die Luft aus. Bei dem Gedanken erinnerte ich mich an meinen Körper. Unauffällig betrachtete ich meine Arme. Die Kratzer waren längst verheilt, hatten aber blasse Spuren auf der Haut hinterlassen, was nur daran lag, dass ich dank dem Urlaub in Mallorca über die letzten Ferien so braun geworden war. Meine brünetten, glatten Haare waren ebenso dunkel, meine runden Augen grün und meine Lippen ein wenig füllig, wie die eines Mädchens.

Vom Aussehen her fand ich mich eigentlich ganz in Ordnung. Was meinen Körper anging, da konnte ich nicht dasselbe behaupten. Meine Schultern waren schmal, mein Oberkörper so ausgemagert, dass, wenn ich mich zurücklehnte oder vorbeugte, meine Rippen ganz hervortraten. Ich war lange nicht so durchtrainiert wie Keith. Dieser sah trotz seiner eher schmalen Statur im Vergleich zu mir aus, als würde er jeden Tag Gewichte stemmen. Dabei trieb er hier nicht einmal Sport, jedenfalls hatte ich ihn noch nie dabei erwischt.

„Wie lange haben wir noch Zeit?“, fragte Keith, der sich wie ein Betrunkener erhob und schwankend auf den Beinen stehen blieb. Er wirkte, als würde er jeden Moment zusammenbrechen. Dabei war er eigentlich ein kräftiger Kerl. Ich versuchte nicht einmal zu verbergen, wie sehr mich sein Zustand überraschte. Es grenzte fast an einem Wunder, dass so ein selbstbewusster und aktiver Mensch wie er so niedergeschlagen sein konnte. Es war auch klar zu erkennen, dass seine schlaflosen Nächte einen tieferen Grund hatten. Ihm fehlte etwas. Etwas, was an ihm rüttelte und ihn wach hielt.

„Keine Ahnung, noch etwa zwanzig Minuten. Wieso fragst du?“, wollte ich wissen, während ich zu meinem Stuhl schlenderte und nach meinem Hemd griff. Ich legte mir meine Sachen jeden Abend zurecht, um am nächsten Tag nicht so wie Keith im Schrank wühlen zu müssen.

Dieser rieb sich zufrieden den Nacken. Seine Stirn war gerunzelt, als müsste er erst überlegen. „Gut, das wird wohl reichen. Ich will noch kurz duschen, vielleicht werde ich davon ja wach“, murmelte er. Dann holte er aus seinem Schrank ein frisches Handtuch, beklagte sich ein letztes Mal über die Uhrzeit und verschwand dann hinter der Tür, die zu unserem winzigen Bad führte.

„Na dann viel Glück“, flüsterte ich lächelnd, aber doch so leise, dass er mich nicht mehr hören konnte. Geschickt zog ich mir das weiße Hemd über den Kopf und strich es mit einer lässigen Bewegung glatt. Es war mir einen Schuss zu groß und hing ein wenig herab, aber daran hatte ich mich längst gewöhnt. Als Nächstes griff ich nach meiner, ebenfalls längst bereitgelegten, schwarzen Weste und zog sie drüber. Es dauerte ein wenig, bis ich die wenigen Knöpfe zugeknüpft hatte, da ich mich dabei immer recht ungeschickt anstellte. Gut. Ich war fast fertig. Als Nächstes folgte noch die Krawatte. Jetzt musste ich nur noch …

Suchend blickten meine Augen auf meinen Schreibtisch, sahen hin und her, aber ich konnte meinen Kamm nicht sehen. Ich guckte unter den darauf liegenden Heften nach, aber er war nirgends zu finden. Auch in den Schubladen war er nicht. Vielleicht lag er ja im Bad?

„Keith, weißt du zufälligerweise ...“, rief ich laut, brach aber mitten im Satz schnell wieder ab. Da war er. Er lag auf der Kommode zwischen unseren Betten, neben Keiths Handy und dem Wecker, den ich von zu Hause mitgebracht hatte. „Ah, da ist er ja“, murmelte ich und ging rüber.

Als ich mich vorbeugte, um nach ihm zu greifen, stellte ich mich mal wieder dumm und streifte versehentlich mit der Hand Keiths Handy, das daraufhin scheppernd auf den Boden fiel. Ich zuckte zusammen, legte erschrocken den Kamm wieder auf die Kommode und hob das Gerät eilig auf. Besorgt betrachtete ich es, konnte aber keine Kratzer oder ernsthafte Schäden finden.

Puh. Erleichterung machte sich in mir breit. Das Handy war unversehrt. Aber der Bildschirm leuchtete plötzlich auf und es erschien eine Liste von Nachrichten.

Dem Datum nach waren sie alle vom gestrigen Tag, beziehungsweise von der letzten Nacht. Sie alle hatten etwas gemeinsam: alle wurden nur an eine einzige Nummer verschickt. An die Nummer von einer gewissen Elizabeth.

Bedenklich wanderten meine Augen zu der Tür zum Bad, während sich mein Körper instinktiv anspannte. So wie ich ihn kannte, würde Keith nicht weniger als zehn Minuten brauchen. Genug Zeit.

Nur der Teufel konnte sagen, warum ich hier stand und gleich das tun würde, was mir vorschwebte. Es wäre richtig gewesen, das Handy jetzt wegzulegen und ich wusste, dass ich es später bereuen würde, wenn ich es jetzt nicht tun würde. Aber wie so oft überhörte ich die innere Stimme, die vergeblich versuchte, mich zur Vernunft anzutreiben. Wie traumatisiert starrte ich auf den Bildschirm des Handys. Ganz von allein wanderte mein Daumen zu der obersten Nachricht und tippte sie an. Wenige Sekunden später erschien sie vor meinen Augen und ich wusste selbst nicht genau, warum ich zu lesen begann:

-Elizabeth: Wie, komisch??

-Keith: Ich weiß auch nicht. Der ist irgendwie ständig nervös, so zimperlich. Stört mich aber nicht, ist nichts Neues, dass Leute vor mir Angst haben.

-Elizabeth: Das muss ja nicht an dir liegen! Weiß er, dass du Sadist bist??

-Keith: Nein, woher auch? Die Lehrer müssen ja schweigen. Was ist eigentlich mit den Lehrern?? Vermissen die mich? :P

Weiter kam ich nicht. Ich wollte nicht weiter kommen.

Wie betäubt verharrte ich, meine Haltung versteifte sich und durch meinen Körper schoss ein Schlag von Energie, als hätte mir jemand einen Elektroschock verpasst. Im Zimmer breitete sich eine seltsam erstickende Stille aus, die Schritte in dem Flur schienen auf einmal ganz leise. Dann streckte ich meinen Arm aus und hielt das Handy weit von mir, als könnte es mich wie ein wildes Tier beißen.

Keith war ein Sadist …

Sadist.

Jeder normale Mensch hätte nun panische Angst bekommen, wäre zum Lehrer gerannt und hätte einen anderen Mitbewohner verlangt. Leider war ich nicht normal. Statt Angst, breitete sich in meinem Kopf ein hinterhältiger Gedanke aus und ergriff immer mehr Besitz von mir. Vorsichtig legte ich das Handy wieder auf das staubige Möbelstück.

Mein ganzer Körper zitterte wie Espenlaub. Allerdings nicht vor Furcht, sondern vor Aufregung. Meine Zunge wurde trocken und in mir erwachte Gier. Gier nach Schmerzen. Gier, nach diesem schönen und gleichzeitig elenden Gefühl, das an mir wie ein Fluch hing.

Ein Sadist. Ich konnte mein Glück kaum fassen. Welche Ironie.

Gemächlich formten sich meine Lippen zu einem Lächeln und ich bleckte die Zähne, wie ein tollwütiger Hund. „Ja“, hauchte ich leise, schloss die Augen und bedankte mich innerlich für dieses unendlich große Glück. „Oh ja.“

 

- Kapitel 2 -

 

Elizabeth:

„Kann das nicht warten?“, fragte Martha genervt und verschränkte sichtbar irritiert die Arme vor der Brust.

„Nein!“, antwortete ich energisch, aber doch mit unterdrückter Stimme, während ich darauf wartete, dass mein Handy endlich anging.

Gerade war die erste Pause des heutigen Tages. Martha und ich hielten uns in einer der kleinen Kabinen der Mädchentoilette unserer Schule auf. Während sie an der Tür lehnte, hockte ich auf der Kloschüssel und versuchte, die ärgerlichen Blicke meiner Freundin zu ignorieren.

„Mensch, Elizabeth. Du müsstest doch bis zum Schulschluss überleben können, ohne dein Handy zu benutzen.“ Ihre Stimme war nicht mehr als ein zaghaftes und besorgtes Flüstern. Auch ein Hauch Spott schwang in ihr mit.

„Das dauert nicht lange“, meinte ich gelassen, wobei ich mir aber nicht so sicher war. Mein Handy spinnte in letzter Zeit und es verging immer eine Weile, bis ich es anbekam.

Das Tappen von Schritten der anderen Mädchen, das ständig an unserer Tür vorbeiging, war deutlich zu hören. Auch das ständige Auf- und Zufallen der restlichen Türen war nicht zu überhören.

„Frau Alima oder die Hausmeisterin könnten jeden Moment reinkommen“, warnte Martha mich. „Wenn sie dich noch einmal mit dem Handy erwischen, kannst du ja gerne das ganze Wochenende ohne es verbringen.“

„Es ist Donnerstag“, erwiderte ich ungerührt, während ich den Code mit zitternden Fingern eintippte. Dabei drückte ich meinen Daumen gegen den Lautsprecher, damit man das Piepen nicht so leicht hörte. Man konnte sich wirklich wundern, wie viele Petzen es heutzutage auf den Klos doch gab. „Sie behalten es höchstens bis morgen, nicht das ganze Wochenende über.“

Martha ließ nicht locker. „Wer weiß? Bei dir wäre es ja nicht das erste Mal“, meinte sie achselzuckend, schwieg hinterher aber. Damit war das Thema wohl beendet.

Martha war ein großes und schlankes Mädchen, mit langen Beinen und braunen, leicht gewellten Haaren. Ihr Mund war schmal, ihre Nase klein und ihre Augen rund wie die einer Puppe. Es gab Tage, an denen sie mich, wenn sie entsprechend gekleidet war, wirklich an ein Spielzeug erinnerte. Dieser Eindruck wurde von ihren dichten Wimpern und den glanzvoll lackierten Fingernägeln oft genug unterstützt.

„Ich will hier raus“, jammerte Martha leise, trieb mich aber nicht länger zur Eile an. Ein bisschen besorgt blickte sie immer wieder über die Schulter, als könnte sie durch die geschlossene Tür etwas sehen oder etwas erkennen. Gleichzeitig aber beobachtete sie auch mich, wie ich mit eingezogenem Kopf und mit angezogenen Knien dasaß.

Mich störte das nicht.

Es war nun zwei Monate her, dass Keith die Schule verlassen und dem Internat beigetreten war. Seitdem schrieben wir uns jeden Tag und ich hatte nicht vor, mich davon abbringen zu lassen.

Als der Bildschirm meines Handys mit einer ruhigen Melodie endlich erleuchtete, sah ich, dass ich eine neue Nachricht bekommen hatte. Wie üblich machte mein Herz einen kurzen Sprung, aber die Freude war begrenzt. Als ich die Nachricht antippte, sah ich Folgendes:

-Keith: Untersteh dich!!!

Mehr war da nicht.

Die Enttäuschung breitete sich sowohl auf meinem Gesicht, als auch in meinem Inneren aus. Meine Schultern sanken schlaff herab, meiner Kehle entkam ein bitterer Seufzer.

Soweit ich sehen konnte, ging es Keith auf dem Internat recht gut. Er hatte sich an seinen Mitbewohner gewöhnt, die Lehrer dort mochte er auch. Kein einziges Mal hatte er sich beschwert oder etwas Negatives gesagt. Am Anfang hatte ich gedacht, er würde nur vorgeben, dort glücklich zu sein, aber das war wohl nicht der Fall.

Er beschwerte sich über nichts. Zum Beispiel, dass ihm dort das Essen nicht gefiel. Dass ihn seine Mitschüler nervten. Dass er gern mehr Freiraum hätte.

Oder dass er mich vermisste.

„Na? Keine Nachricht?“, fragte Martha nicht ganz so mitfühlend, wie es vielleicht angebracht gewesen wäre.

Wir kannten uns seit dem Kindergarten und waren schon immer Freundinnen gewesen. Wir wussten alles übereinander – sogar Dinge, die wir nicht unbedingt wissen wollten. Ich zum Beispiel war schon oft ungewollt in ihre familiären Probleme verwickelt worden, auch wenn mich das immer eine Menge Kraft und Nerven gekostet hatte.

Sie dagegen hatte alle schweren Zeiten mit mir durchgemacht – vor allem die ersten Tage nach dem Unfall, in denen ich im Krankenhaus hatte sitzen müssen. In denen ich hatte leiden müssen. Auch um meine Sorgen wegen meiner Mutter, die ja am meisten Schaden davongetragen hatte, hatte sie sich gekümmert und mich beruhigt.

Dabei war das Beruhigen von Menschen nicht unbedingt ihre Stärke. Martha war knallhart, gefasst und direkt. Sarkastisch und spöttisch war sie auch gerne, aber sie machte alles mit – vielleicht nicht ohne mindestens einmal die Augen verdreht zu haben, aber sie war da, wenn man sie brauchte.

„Schlimmer“, murmelte ich und zeigte ihr die Nachricht.

Sie beugte sich vor, um besser lesen zu können und runzelte leicht die Stirn. Ein paar widerspenstige Strähnen fielen ihr ins Gesicht und sie presste ihre Lippen leicht zusammen. Eine alte Angewohnheit von ihr, die immer dann zum Vorschein trat, wenn sie nachdachte oder sich konzentrieren musste.

„Untersteh dich …“, las sie leise, während ein verwirrter Ausdruck in ihr Gesicht trat. „Und was soll das bitte heißen? Womit hast du ihm denn gedroht?“, fragte sie, ein weiterer Schulterblick zur Klotür folgte.

„Ich hab ihm nicht gedroht“, erwiderte ich grinsend, stellte auf lautlos und ließ das Handy in die Tasche meiner Jeans gleiten. „Ich habe es endlich geschafft, ihm ein Geständnis abzuzwingen.“

Ich wollte kurz erwähnen, dass ich von Anfang an gewusst hatte, wie sehr er Erik eigentlich mochte. Auch wenn Keith es nie hatte zugeben wollen, es gab gewisse Menschen, die ihm wichtig waren.

Martha blinzelte verdutzt. „Ein Liebesgeständnis?“

Ich schüttelte den Kopf. Diese Antwort hätte mir zwar auch gefallen, leider entsprach das aber nicht der Wahrheit. „Nein, natürlich nicht. Er hat endlich zugegeben, dass er einen Freund aus seiner alten Klasse vermisst.“

Skeptisch hob Martha eine Augenbraue in die Höhe und musterte mich eine kurze Weile. Ich versuchte, ihren Blick zu deuten. Er war forschend.

Vielleicht sogar ein wenig verblüfft.

Dazu hatte sie wohl auch jeden Grund. Das war mir zwar ein wenig peinlich, aber Keith war tatsächlich mein erster, fester Freund. Vorher hatte es zwischen mir und einem Jungen nie mehr als nur Freundschaft gegeben. Wirklich, niemals. Und dass ich nun innerhalb von drei Wochen so eine feste Beziehung aufgebaut hatte, überraschte Martha zutiefst.

Als sie zusammen mit meiner Klasse von der Klassenfahrt zurückgekehrt war, hatte sie mir erst gar nicht glauben wollen. Sie hatte das Ganze für einen dummen Witz gehalten. Dann hatte ich ihr Keith vorgestellt. Sie hatte nur bestürzt zwischen mir und ihm hin und her geblickt, um gleich darauf völlig auszurasten.

Es war vermutlich das erste und letzte Mal gewesen, dass sie mir vor lauter Hysterie um den Hals gefallen war, während Keith grinsend von der Seite zugesehen hatte.

„Ist was?“, fragte ich unsicher. Es kam in letzter Zeit öfter vor, dass sie mich so beäugte. In den letzten zwei Monaten war das schon fast zur Norm geworden.

„Er vermisst einen seiner alten Klassenkameraden. Na und? Wieso machst du so eine große Sache draus?“

„Ich mache keine große Sache draus.“ Machte ich ja auch nicht. Und wenn, dann hatte ich jedes Recht dazu. „Aber er lässt nur selten jemanden an sich ran. Es ist total ungewöhnlich, dass er zugibt, jemanden gern zu haben. Nicht einmal mit seinen Eltern hat er ein gutes Verhältnis. Ich glaube, ich bin die einzige Person, der er sich noch anvertraut.“

Abgesehen von Mr. Willsem, aber es war wohl nicht besonders taktvoll, nun die Sache mit dem Therapeuten zu erwähnen.

Martha verdrehte die Augen und stöhnte still.

Der Laut, den sie von sich gab, mischte sich mit dem unterdrückten Kichern von Mädchen, die gerade die Toilette betraten.

„Was ist bloß mit dir passiert?“, fragte sie mich leicht grinsend, packte mich sacht an den Schultern und schüttelte mich spielerisch. Hätte ich mich nicht rechtzeitig an der Wand abgestützt, ich wäre panisch aufjaulend von der Kloschüssel geflogen. „Ich meine, ich war doch nur eine Woche weg! Als ich mit allen anderen auf Klassenfahrt gefahren bin, hab ich dich als ein ruhiges, liebes, manchmal nervendes Mädchen in Erinnerung behalten, das nie etwas von einem Jungen gewollt hat. Was sehe ich, als ich zurückkomme? Dieselbe, alte Elizabeth von früher, aber jetzt nur mit einem heißen Schläger an ihrer Seite. Wieso hat sich das zwischen euch eigentlich so gut und schnell entwickelt?“, wollte sie wissen. Die kleinen Fetzen von Ironie in ihrer Stimme während ihres Vortrages waren mir nicht entgangen, ich ignorierte sie aber.

Ich wusste bereits, worauf sie hinaus wollte. Wie schon gesagt, wir wussten alles über uns. Nur eins hatte ich ihr verschwiegen: Dass Keith Sadist war und die Tatsache, dass ich die ganze Woche ihrer Abwesenheit über nichts anderes getan hatte, als sein seltsames Spiel mit ihm zu spielen.

„Glaub mir, ich habe keine Ahnung“, murmelte ich und erhob mich wankend von der Kloschüssel, auf der ich bis eben noch gehockt hatte. Meine Glieder waren ganz taub und ich musste mich für einen kurzen Moment an Martha stützen, um nicht zur Seite zu kippen.

„Irgendwann wirst du es mir erzählen müssen“, meinte sie selbstsicher. Höchstwahrscheinlich hatte sie sogar Recht. Irgendwann würde ich es ihr erzählen.

Aber heute war der Tag noch nicht gekommen.

 

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Auch wenn ich mich ständig informierte, wie es ihm erging und ich täglich mit ihm schrieb, schienen Keith und ich uns immer mehr voneinander zu entfernen. Natürlich, eine Fernbeziehung war nie einfach. Aber es lag auch teilweise daran, dass sich mein eigenes Leben wieder normalisiert hatte.

Meine Klasse war von der Klassenfahrt zurückgekehrt und ich hatte wieder Freunde, mit denen ich abhängen konnte. Ich musste keine seltsamen und verdrehten Spiele mehr spielen, musste nicht fürchten, jeden Moment von einem Wasserballon getroffen zu werden.

Dennoch vergaß ich Keith nicht. Drei Wochen. Drei Wochen, die wir zusammen verbracht hatten – auch wenn die erste von ihnen sicher nicht die Schönste gewesen war – hatten gereicht, um in mir so derartig viel Sympathie für ihn und seine Lebenssituation zu wecken, dass ich ihn weiterhin bei mir haben wollte. Ich wollte jemanden bei mir haben, der wegen meiner Ängste nicht über mich urteilte und sich halbwegs in meine Lage als Therapiebedürftige hineinversetzen konnte.

Aber vor allem wollte ich momentan wohl nur, dass er mir zeigte, wie sehr er mich ebenfalls vermisste – falls er das überhaupt tat.

 

Keith:

Die Zahlen auf dem Arbeitsblatt verschwammen vor meinen Augen und mein Blick schweifte die weiten Wände des Klassenraumes entlang. Ich war müde. So müde … Meine Knochen waren ganz taub und meine Augenlieder schwer. Kraftlos saß ich auf meinem Stuhl und lehnte mich erschöpft zurück.

Gerade war erst die dritte Stunde an diesem Tag, ein gewöhnlicher Donnerstag wie jeder andere auch. Trotzdem fühlte ich mich, als hätte ich mehrere Stunden durchgearbeitet.

Die restlichen Schüler saßen ruhig auf ihren Plätzen und bearbeiteten ihre Aufgaben. Jeder von ihnen wirkte konzentriert, todernst und irgendwie völlig erwachsen. Genau so ein Kind hätten sich meine Eltern wohl gewünscht. Vielleicht war das auch der Grund, weswegen sie mich in dieses Internat geschickt hatten.

Fast schon angewidert wandte ich den Blick ab und unterdrückte ein leises Stöhnen. Im Gegensatz zu diesen Strebern wollte ich nicht über Mathe und anderen Quatsch nachdenken. Ich wollte an mein Zuhause denken und in Erinnerungen schweben.

Warme Sonnenstrahlen fielen durch das offene Fenster und kündigten die Sommerferien an. Ich konnte es kaum noch erwarten. Meine Ungeduld und Sehnsucht wuchs mit jedem Tag, den ich hier verbrachte. Dann würde ich nach Hause fahren. Wieder ausschlafen können. Jeden Tag in Ruhe entspannen. Und Elizabeth wiedertreffen.

Train hatte mir von seinem Urlaub in Mallorca erzählt, den er mal mit seinen Eltern unternommen hatte. Er war so begeistert gewesen, dass ich Elizabeth vorgeschlagen hatte, selbst mal dort hinzufliegen. Sie war auch einverstanden gewesen und hatte gleich ihre Eltern gefragt. Es war zwar noch nicht entschieden, aber wir hatten große und gute Chancen, unseren Wunsch wahr werden zu lassen.

Es stellte sich nur noch die Frage, ob meine Eltern zusagen würden. Das würden sie sicher. Meine Mutter wurde immer noch von einem schlechten Gewissen geplagt, das bewiesen ihre täglichen Anrufe. Ich ging nie ran, drückte sie weg oder schwieg einfach am Hörer, wenn sie mir erzählte, wie leid es ihr doch täte. Das war mir nämlich so gleichgültig. Mir war egal, wie leid es ihr tat.

Verzeihen würde ich ihr trotzdem vorerst nicht.

„Keith? Ist alles in Ordnung?“

„Hmm?“, machte ich und sah meinen Lehrer mit blutunterlaufenen Augen an. Ich hatte ihn gar nicht kommen hören.

Mr. Sadan war ein kleiner, hagerer Mann, mit schmalen Schultern, dunkelblonden Haaren und einer runden Brille, die auf seiner Nasenspitze saß. Er trug wie immer einen grauen Anzug, darunter ein weißes zerknittertes Hemd und schwarze Schuhe. Er war ein Lehrer, der sich vor seinen Schülern zu fürchten schien und genau so sah er auch aus.

Dieser Mann erinnerte mich stets an eine dieser verstreuten Eulen aus den Kinderfilmen. Seine Brille und der nervöse Blick unterstrichen diesen Eindruck jedes Mal.

Allen Lehrern fiel in letzter Zeit meine Müdigkeit auf. Manche hatten mich schon darauf angesprochen. Ich winkte jedoch immer wieder ab und meinte, alles sei in Ordnung. Fehlte nur noch, dass sie sich da einmischten. Jeder von ihnen wusste, dass ich nicht freiwillig hierher gekommen war und jeder schien Mitleid mit mir zu haben. Das wollte ich aber nicht. Ich mochte es nicht, wenn Leute mich bemitleideten. Weder wegen meinem Sadismus, noch wegen anderen Situationen, in die ich immer mehr hineingeriet.

„Geht es dir nicht gut?“, stotterte Mr. Sadan, wobei er hektisch seine Hände ineinander knetete. Es war förmlich zu spüren, wie ihm der Schweiß ausbrach. Ich hätte gern gewusst, wie er reagiert hätte, wenn er von meinen psychischen Problemen erfahren würde. Ha, sicher hätte er das Klassenzimmer nie wieder ohne einen Elektroschocker betreten.

Nicht alle Lehrer wussten von meinem Geheimnis. Eigentlich nur wenige.

Ich blinzelte ihn verschlafen an. Es dauerte kurz, bis ich seine Frage überhaupt richtig wahrnahm. „Was? Äh, nein, nein, alles ist in Ordnung“, murmelte ich und tat, als würde ich die nächste Aufgabe in Angriff nehmen. Dafür setzte ich einen besonders überanstrengten Gesichtsausdruck auf und starrte auf die winzigen Zahlen.

Das kaufte er mir nicht ab. Fast schon besorgt guckte er mich an. „Sicher? Du siehst nicht besonders gut aus. Vielleicht solltest du dich vom Arzt untersuchen lassen …“, schlug er mit unüberzeugter Stimme vor und musterte mich nachdenklich.

„Mir. Geht. Es. Gut“, knurrte ich mit zusammengepressten Zähnen, genervt und gereizt von meiner Schlaflosigkeit. Vielleicht lag es auch einzig und allein an der Dummheit dieses Mannes. Begriff er es denn nicht? Nichts war gut! Das war es ja. Mir ging es momentan so schlecht, wie noch nie in meinem Leben.

Und daran würde ein Arztbesuch nichts ändern.

Offenbar war es meinem Lehrer doch viel zu mühsam, mich weiterhin zu bemuttern. „Wenn du meinst“, murmelte Mr. Sadan schulterzuckend und ging weiter, zu einem Schüler, der offensichtlich große Probleme beim Rechnen hatte.

Ich wartete, bis sich seine Schritte entfernten, dann stieß ich hörbar die Luft aus und vergrub das Gesicht in den Händen. Mein eigener Atem strich mir über das Gesicht, als ich mir die Augen rieb. Entspannt streckte ich die Beine unter meinem Tisch aus und versuchte, mich einigermaßen zu sammeln.

So konnte das nicht weiter gehen. Ich musste mich wirklich mehr ausruhen und meinen Nachrichtenaustausch mit Elizabeth auf den Tag verschieben. Nicht nur, weil ich nicht weiterhin als lebender Zombie durch die Gänge laufen wollte. Sondern auch, weil ich es mir nicht mit meinen Lehrern verderben wollte. Mir gefiel es auf diesem Internat nicht. Ich wollte hier nicht bleiben. Aber mir war auch bewusst, dass der Wunsch allein mich nicht wieder nach Hause bringen würde. Das hier war ein Neuanfang. Ich durfte meine Lehrer nicht so anmotzen, mich nicht schlecht bei ihnen machen. Und wer wusste es schon? Vielleicht würde ich dank meinem guten Benehmen irgendwann wieder zurück dürfen ..?

„An deiner Stelle würde ich nachts mehr schlafen.“ Victoria sprach diese Worte, ohne mich anzusehen.

Ich konnte nicht anders, als meine Sitznachbarin erstaunt anzublicken. Für einen Moment vergaß ich sogar meine Müdigkeit.

Wir sprachen nur selten miteinander, eigentlich fast gar nicht. Ich glaube, das hier war bis jetzt gerade mal der zweite oder dritte Satz, den wir miteinander gewechselt hatten.

Victoria war etwas jünger als ich, viel kleiner und gebrechlicher. Sie war ein blasses Mädchen, mit braunen Haaren, in denen sich auch honigblonde Strähnen wiederfinden ließen. Sie lagen glatt an ihrem Kopf und waren ziemlich gerade geschnitten, was man bei Mädchen irgendwie nicht mehr so oft sah. Victoria hatte blutrote, geschwungene Lippen, die sich nur selten bewegten und aus denen nicht oft Worte zu hören waren. Man sagte ja, Augen wären das Tor zur Seele. Tja, jedes Mal, wenn ich ihr in die bernsteinfarbenen Augen blickte, lief ein kalter Schauer über meinen Rücken. Als würde ich vor jemandem stehen, der mich mit einem einzigen Gedanken durchbohren konnte. Victoria war so verschlossen. In ihren Augen war nichts. Kein Glanz. Keine Emotion. Kein Leben.

„Meinst du nicht, ich würde es tun, wenn ich könnte?“, fragte ich sie irritiert, während ich auf die Uhr blickte, die über der Tür hing. In weniger als fünf Minuten würde es schellen. „Was meinst du? Wird er schimpfen, wenn ich jetzt beginne, einzupacken?“, fragte ich sie flüsternd und warf Mr. Sadan einen schnellen Seitenblick zu.

Victoria überhörte die Frage.

Stirnrunzelnd sah ich sie nun an. „Victoria, bist du taub?“

Keine Antwort. Victoria strich sich bloß eine Strähne aus dem Gesicht und löste die nächste Aufgabe. Sie schien die Zahlen nicht einmal zu lesen. Der Stift in ihrer Hand bewegte sich unaufhörlich und die Menge an Zeichen wuchs auf ihrem Blatt mit jeder Sekunde.

Ich startete keinen weiteren Versuch, sie mit Worten zu erreichen.

Es war nicht so, als würde Victoria die Menschen um sie herum ignorieren. Es war mehr so, als würde sie sie nicht hören. Sie nicht wahrnehmen.

Ohne auf eine Bestätigung auf meine Frage zu warten, begann ich also, meine Sachen in die kleine Schultasche zu packen. Zuerst das Mäppchen, dann das Buch und zuletzt mein Schmierblatt. Was ich allerdings nicht mitnahm und völlig vergaß, war mein Heft. Achtlos ließ ich es liegen, als ich mich von meinem Stuhl erhob und es zum Ende der Stunde schellte.

Alle anderen Jugendlichen stürmten ebenfalls aus der Klasse, ohne auf Mr. Sadans Ermahnungen zu achten.

„Passt auf!“ – „Drängelt gefälligst nicht!“ – „Vorsicht! Kinder, hört auf so ein Theater zu veranstalten!“

Gähnend schob ich meinen Stuhl an den Tisch und sah ein letztes Mal zu Victoria. Diese saß nach wie vor an ihrem Tisch und bearbeitete die unterste Aufgabe. Hatte sie etwa nicht bemerkt, dass alle anderen längst gegangen waren?

Für einen Moment wollte ich sie bereits an der Schulter rütteln, aber dann ließ ich es sein. Ging mich schließlich nichts an, wenn sie hier drinnen blieb. Außerdem würde Mr. Sadan sie sicher noch ansprechen, falls es ihn störte.

Langsam schlendernd verließ ich also das Klassenzimmer. Victoria und mein Heft blieben dort und ich schenkte keinem der beiden weiter Beachtung.

Damals wusste ich ja noch nicht, wie sehr mir diese scheinbar unbedeutende Unaufmerksamkeit helfen würde.

 

- Kapitel 3 -

  

Victoria:

Es war nicht das sich schnell entfernende Tappen von Schritten der anderen Leute, das mich aus meinen Gedanken riss. Es war die plötzlich einkehrende Stille.

Prüfend hob ich den Blick und sah mich im Klassenzimmer um. Er war leer. Bis auf Mr. Sadan, der an der Tür stand und mit ängstlichem Blick seinen Schülern hinterher sah, war niemand hier.

Das war mein Zeichen.

Sofort begann ich, meine Sachen einzupacken und damit meine Schultasche zu füllen. Ich war bereits seit zwei Jahren auf diesem Internat und hatte bis jetzt recht viele Dinge gelernt. Eine davon war zum Beispiel zu erkennen, wann der Unterricht hier beendet war.

Ich kannte diesen Raum. Jeden Tag musste ich hier sitzen und die Zahlen auf den ausgeteilten Blättern bearbeiten. Dieses Zimmer sah man nur auf zwei verschiedene Arten: Entweder war es erfüllt von Schülern, Lärm und Stimmen – oder er war leer. Daran konnte man sich leicht orientieren. Sobald mir auffiel, dass es hier ganz ruhig wurde, kam ich immer zu dem Schluss, dass der Unterricht vorbei war. Meist stimmte es auch. Und manchmal stand ich einfach mitten in der Stunde auf und ging zur Tür, nur, weil alle anderen scheinbar nichts zu sagen hatten und ruhig arbeiteten.

„Victoria?“, hörte ich meinen Lehrer sagen.

Das war mein Name. Ich hörte es – sah aber nicht auf. Wieso sollte ich auch? Sollte er meinen Namen doch sagen. Was ging mich das an?

Ungestört packte ich weiterhin meine Sachen. Als mein Mäppchen, mein Hausaufgabenheft und mein Buch eingepackt waren, griff ich nach meinem Heft …

… Halt, Moment. Das war nicht mein Heft. Meins hatte ich heute gar nicht mitgenommen und stattdessen ein Blatt verwendet. Das hier gehörte Keith. Stirnrunzelnd griff ich danach und betrachtete es.

„Victoria“, wiederholte Mr. Sadan.

Wieso sagte er ständig meinen Namen? Brachte ihm das etwas?

Wie traumatisiert starrte ich auf das Heft in meiner Hand.

„Victoria!“ Seine Stimme klang ungeduldig. Als würde er auf etwas warten. Rief er mich etwa? War das der Grund, weshalb er laufend meinen Namen sagte? Immer noch mit gerunzelter Stirn hob ich den Blick und guckte ihn an.

Tatsache. Er hatte nach mir gerufen. Leicht aufgewühlt kam er auf mich zu, dabei musterte er das Heft in meiner Hand.

„Gehört es dir?“, fragte er und las den Namen auf dem Umschlag.

Ich antwortete ihm nicht, sondern sah ihn bloß schweigend an.

„Das hat Keith wohl vergessen“, murmelte er und kratzte sich nachdenklich am Kopf, dabei verwuschelte er seine dunkelblonden Haare. Dann warf er seiner Armbanduhr einen eiligen Blick zu. Seine Reaktion war nicht besonders gut. „Verdammt, der Junge müsste längst weg sein. Und ich muss auch gleich wieder verschwinden, zur nächsten Klasse. Sag mal, Victoria, könntest du es ihm möglicherweise vorbeibringen?“

Stumm betrachtete ich ihn, dann das Heft und dann wieder ihn. Schließlich schulterte ich meine Tasche, drückte Keiths Heft gegen meine Brust, verschränkte die Arme und ging mit sicheren Schritten auf die Tür zu.

Gleich würde die nächste Stunde beginnen, wenn ich mich nicht irrte. Keith würde ich sein Heft später vorbeibringen. Eigentlich hätte Mr. Sadan das gut und gern allein erledigen können, aber ich wusste ja, was eigentlich dahinter steckte.

Die Lehrer auf dieser Schule wollten sich um mich kümmern und mir immer wieder Aufgaben stellen, um mich und mein Verhalten zu fördern. Er wollte prüfen, ob ich es schaffen würde. Dabei war diese Aufgabe nicht einmal besonders schwer, oder?

Leider trauten mir die Menschen vieles nicht zu. Das hatte einen besonderen Grund: ich war nämlich Autistin.

 

Train:

Es kostete mich eine Menge Mühe, meine Nervosität zu umspielen. Meine Finger zitterten, ich atmete schwer und mein Blick sprang von einer Stelle auf die andere, als würde ich etwas suchen. Gott, meine Nerven waren wirklich am Ende.

Der Unterricht und die Lernzeit waren für heute längst vorbei, es war schon recht spät. Ab jetzt hatten die Schüler für den Rest des Tages Freizeit und bald würde Keith sicher in unser Zimmer zurückkehren. Ich wartete hier bereits auf ihn.

Aufgewühlt kaute ich an meinem Daumennagel herum, während ich auf dem Stuhl vor meinem Schreibtisch saß. Ungeduldig trommelte ich mit den Fingern meiner freien Hand auf dem Tisch und warf der Tür immer wieder hurtige Blicke zu. Wann würde er denn endlich aufkreuzen?

Gemächlich verwandelte sich meine Ungeduld in Panik, meine Panik in Depressionen und Aggressionen. Ich konnte es kaum noch abwarten. Die Sekunden wurden zu Minuten, Minuten zu …

Ich zuckte erschrocken zusammen, als die Tür zu unserem Zimmer aufflog und Keith hineinkam. Sein Gesichtsausdruck war mürrisch, auf seinen Schultern war die kleine Schultasche und in seiner Hand hielt er etwas wie eine Verpackung.

Ich setzte ein schiefes Grinsen auf und begrüßte ihn, dabei versuchte ich so lässig wie möglich zu wirken. „Hey, ich nehme mal an, dass du keinen besonders schönen Tag hattest. Was hast du da?“, fragte ich, während Keith sich müde auf sein Bett warf. Dort blieb er liegen, gab einen leisen Klagelaut von sich und vergrub das Gesicht in einer Hand, in der anderen hielt er die Verpackung.

„Schlaftabletten“, antwortete er finster und hob die Verpackung noch etwas in die Höhe. „Die hat mir Frau Dengreya doch tatsächlich heute einfach in die Hand gedrückt. Ich hätte sie dringend nötig, hat sie dabei noch gemeint. Ihr sind nämlich meine dunklen Augenringe in letzter Zeit sehr aufgefallen. Soll das ein Scherz sein? Ich habe sie im ersten Moment bloß blöd angeguckt. Hat sie selbst mal in den Spiegel gesehen? Jetzt mal ernsthaft, die sieht doch aus wie eine Leiche aus einem Horrorfilm.“

„Schlaftabletten?“, fragte ich, während ich kurz verharrte und auf die Verpackung in Keiths Hand glotzte. In meinem Kopf regte sich ein Gedanke. Das alles verlief ja besser als geplant. Ich schien derweil sehr viel Glück zu haben. „Musst du sie vor dem Schlafengehen einnehmen?“

„Ja, immer zwei Stück“, murmelte Keith, während er sich mit der Hand durchs blonde Haar fuhr. Momentan erinnerte er an eine Vogelscheuche, so, wie er dalag. „Ich weiß, das hört sich jetzt vielleicht bescheuert an, aber kannst du mich morgens doch weiter wecken? Nur für den Fall, dass ich wegen der Tabletten verschlafe“, bat Keith, dabei sah er ausweichend zur Seite.

Ich lachte ausgelassen. Leider klang es falsch. Ihm schien es aber nicht aufzufallen, also kam ich noch mal davon. „Klar, kein Problem“, sagte ich, obwohl ich es natürlich nicht vorhatte.

Zwei Tabletten vor dem Schlafengehen, um ruhig zu schlummern. Dann würden drei oder vier wohl ausreichen, um ihn für die ganze Nacht auszuschalten.

Super. 

 

Victoria:

Es war ungewöhnlich dunkel in dieser Nacht.

Die langen, unzähligen Gänge des Internates lagen in völligem Schatten da. Gelassen schlenderte ich sie entlang und suchte nach dem richtigen Zimmer. Der Lichtstrahl meiner Taschenlampe glitt über den glatten Boden und streifte jede einzelne Tür. Keiths Heft hielt ich in der anderen Hand und umklammerte es mit den Fingern.

Während ich ging, betrachtete ich interessiert die hohen und alten Wände des Gebäudes. Ich fragte mich, wie Ziegelsteine von solcher Größe eigentlich so gut zusammenhalten konnten. Das alles wirkte so stabil, verlief wie bunte Farben ineinander …

Beim Gehen streifte ich immer wieder mit dem Fuß das weite Hosenbein meines Schlafanzuges. Eigentlich war gerade tiefste Nacht und ich müsste in meinem Bett liegen und schlafen, aber dazu fehlte mir die Zeit. Ich musste Keith noch sein Heft bringen. Warum ich es gerade jetzt tat, konnte ich nicht sagen. Der Entschluss war so plötzlich aufgetaucht, dass ich mir nicht einmal die Mühe gemacht hatte, mich umzuziehen. Es war so ähnlich, als würde man plötzlich Hunger oder Durst bekommen. Er war da, aber man konnte nicht erklären, warum gerade jetzt.

Die Schatten schienen mich zu verfolgen. Sie waren überall, in allen Ecken und an allen Stellen, die man mit dem Auge erblicken konnte. Fast schon konnte ich ihren Atem hören, als würden sie leben. Als würden sie mich begleiten.

Ich wusste nicht so recht, ob es mir überhaupt gestattet war, das Zimmer um diese Zeit zu verlassen, geschweige denn in der Schule herumzulaufen. Aber vermutlich war nichts weiter schlimm daran, sonst würden die Lehrer die Türen ja abschließen.

Endlich erreichte ich die Tür, die zu Keiths Zimmer führen sollte. Ich hatte im Sekretariat nachfragen müssen, da keiner der Lehrer so genau wusste, in welchem Zimmer der Junge momentan lebte.

Als ich davor stehen blieb, knipste ich mit einer kurzen Bewegung die Taschenlampe aus, klemmte sie mir unter den Arm und legte meine Hand auf den Türgriff. Er war kühl, als hätte ihn seit längerer Zeit kein Mensch berührt.

Die Tür ließ sich leicht und geräuschlos öffnen. Vorsichtig drückte ich gegen das Holz und trat mit einem Fuß hindurch. Wie erwartet, war es hier drinnen dunkel. Stockfinster. Trotzdem konnte ich einiges erkennen. Zum Beispiel Keith, der tief und fest schlummernd in seinem Bett lag und schlecht zu träumen schien. Aber mindestens schlief er nun. Selbst mir war Keiths mürrische Ausstrahlung der letzten Zeit aufgefallen, der Ursprung dafür waren vermutlich seine schlaflosen Nächte. Besser, ich ließ ihn schlafen. Das Heft würde ich ihm eben morgen geben, irgendwann in den Pausen oder im gemeinsamen Unterricht.

Während ich meinen Sitznachbarn beim Schlafen beobachtete, begann mein Gehirn ganz von allein das Zimmer zu mustern und sich jedes Detail einzuprägen. Dabei bemerkte ich ein paar merkwürdige Dinge, denen ich aber kaum Beachtung schenkte.

Beispielsweise, dass das andere Bett, das mit großer Wahrscheinlichkeit Keiths Mitbewohner gehörte, leer war. Seinen Besitzer sah ich nur aus dem Augenwinkel, oder besser gesagt, seine unscharfen Konturen. Dennoch prägten sich seine hektischen Bewegungen in mein Gedächtnis ein – das geschah schnell und für mich völlig unbewusst, ich nahm die neu gewonnenen Informationen nicht einmal richtig zur Kenntnis.

Der Junge, der für mich kaum mehr als ein sich bewegender Schatten war, gab immer wieder leise Schmerzenslaute von sich, die er aber mit größter Mühe zu unterdrücken schien. Seine Haltung war seltsam gekrümmt, als könne er sich kaum auf den Beinen halten. Mir hatte er den Rücken zugewandt, aber selbst wenn es dem nicht so gewesen wäre, hätte er mich nicht bemerkt.

Dafür war er viel zu vertieft in sein Handeln.

Mein Blick schweifte ein letztes Mal durch das Zimmer, betrachtete jedes Möbelstück, auch wenn es mir bei der Dunkelheit nur schwerfiel. Ohne über all das nachzudenken, bewegte ich mich rückwerts aus dem Zimmer, lautlos schloss ich die Tür hinter mir. Das Schloss klickte kurz, ansonsten war nichts zu hören.

Ich blieb noch eine Weile vor der geschlossenen Tür stehen, bevor ich die Taschenlampe wieder anknipste, das Heft fest in die Hand nahm und zurück zu meinem eigenen Zimmer schlenderte. Auf dem Weg dorthin betrachtete ich wieder die Wände des Gebäudes und den steinernen Boden, als wären diese viel interessanter als das, was ich eben hatte beobachten können.

 

Damals hatte ich mich nicht nach dem Grund für das frappante Verhalten des Jungen gefragt. Mir war auch nicht bewusst gewesen, welch ein bedeutendes und wichtiges Geschehen ich damals beobachtet hatte – kein Wunder: ich hatte das Ganze ja kaum wahrgenommen.

- Kapitel 4 -

 

Elizabeth:

Geh ran!, schrie ich in Gedanken, während ich mein Handy an mein Ohr drückte und ungeduldig die Lippen aufeinander presste. Keine Chance. Am anderen Ende war nichts zu hören, dabei war das hier bereits der dritte Anruf, den ich startete. Ich horchte so lange, bis die Mailbox ansprang, dann seufzte ich enttäuscht.

Vermutlich war ich die einzige Person weit und breit in dieser Gegend, die an solch einem Tag traurig war. Immerhin schien die Sonne, der Himmel war wolkenlos und klar, es wehte ein leichter Wind, der die ewige Hitze erträglich machte und außerdem stand den Kindern und den Erwachsenen das Wochenende bevor. Gerade war es 13:35 Uhr, zehn Minuten nach Schulschluss und die meisten unserer Klassenkameraden waren längst nach Hause gegangen. Martha und ich hatten einen kleinen Umweg unternommen.

„Ruf ihn doch später an“, meinte Martha gelangweilt, die mit übereinandergelegten Beinen auf einer alten, hölzernen Bank saß, die so wirkte, als würde sie jeden Moment zusammenbrechen. Die Schultasche hatte sie achtlos auf die Wiese geworfen, vor der wir uns befanden. Nach der Schule waren wir nicht wie der Rest sofort nach Hause gegangen, sondern waren im Park geblieben, der ganz in der Nähe unserer Schule lag.

Während Martha lustlos dasaß, ging ich vor ihr hektisch auf und ab, dabei schlossen sich meine Finger krampfhaft um mein Handy und meine Schuhsohlen streiften das hohe Gras. Etwas weiter weg war ein kleiner Basketballplatz und ein paar Kids schmissen den Ball von einem zum anderen, dabei schrien sie wild durcheinander und nervten sich gegenseitig. Ich schenkte ihnen kaum Beachtung, genauso wenig wie dem sachten Wind, der mir über die Wangen strich und mir die Haare ins Gesicht wehte.

„Ich versteh das nicht“, jammerte ich und legte auf, denn langsam hatte ich diese Warterei satt. Abrupt blieb ich stehen und blickte fast schon fassungslos auf mein Handy, als wäre es an allem Schuld.

„Da geht er mal nicht an sein Handy ran. Was soll’s? Möglicherweise hat er noch Schule …“, meinte Martha, während sie mit einem gelangweilten Blick die spielenden Kinder musterte. Sie waren jünger als wir, viel jünger. Wahrscheinlich sogar Grundschüler. Und trotzdem erinnerten sie mich weniger an ein Spielzeug, als Martha es tat.

„Das glaube ich nicht. Normalerweise antwortet er auch immer nach der Schule, an jedem Tag der Woche. Und wenn nicht, dann schickt er mir eine Nachricht.“ Ich sah sie an und schüttelte den Kopf. „Dieses Mal war da nichts. Keine Nachricht, kein Anruf.“ Ich hätte gern vor lauter Frust mit dem Fuß aufgestampft.

Das fand ich wirklich seltsam. Eigentlich war ich gar nicht so anhänglich. Aber wenn man eine Person so sehr vermisste, wollte man eben auf einer Wellenlänge mit ihr bleiben. Man wollte wissen, was sie trieb, was sie gerade tat und ob sie an einen dachte. Immerhin sah ich ihn ja nie, und das würde sich bis zu den Sommerferien nicht ändern.

Keith und ich hatten uns vorgenommen, falls seine Eltern zustimmen würden und das mit den Flugtickets und dem Hotel klappen würde, zusammen nach Mallorca zu fliegen. Das wäre schön. Allein der Gedanke zauberte mir ein Lächeln ins Gesicht, das aber sehr schnell gefror, als mir einfiel, wie lange ich bis dahin noch warten musste.

Mittlerweile vermisste ich Keith mit jedem Tag, an dem er weg war. Umso mehr deprimierte es mich, dass er nicht an sein Handy ging. Und umso mehr plagte es mich, dass er, seinerseits, kaum erwähnte, wie sehr er mich vermisste.

Martha interessierte das Ganze nicht besonders. Auch wenn sie hin und wieder mal so tat, ich sah es an ihrem Blick. Er war so bettelnd. Als würde sie nur darauf warten, dass ich das Handy zur Seite legen würde. Aber ihr Desinteresse wehrte nicht immer. Manchmal verfolgte sie meine Beziehung sogar sehr genau, vor allem, wenn mal etwas wirklich Romantisches geschah, was aber nur selten vorkam.

„Elizabeth. Ich glaube, du könntest mal wieder etwas Ablenkung gebrauchen. Versuch doch einfach mal, das Handy für eine Zeit lang wegzulegen und dich mit etwas anderem zu beschäftigen“, säuselte sie in einem fürsorglichen Tonfall und sah mich mit ihren Glasaugen einer Puppe an. Dabei legte sie den Kopf schief und klimperte dämlich mit den Wimpern, was aber doch irgendwas Süßes an sich hatte.

Diese Masche kannte ich. Das war nur einer ihrer erfolglosen Versuche, mich dazu zu bringen, mit ihr shoppen zu gehen.

Aber dieses Mal hatte sie vermutlich sogar irgendwie recht. Vielleicht wäre es jetzt tatsächlich das Klügste, das Handy wegzulegen. Selbstverständlich nicht für lange, aber mindestens für ein paar Stunden …

„Na gut, du hast mich überredet“, seufzte ich und ließ den Kopf hängen. Dabei starrte ich niedergeschlagen auf die Spitzen meiner Schuhe, die sich in die lockere Erde unter dem Gras bohrten. Hinter mir hörte ich das Geschrei der spielenden Kinder und hob den Kopf, dabei warf ich ihnen einen flüchtigen Blick zu. Sie waren so glücklich. Oder zumindest erschienen sie so. Jeder von ihnen lächelte, schien etwas zu sagen zu haben, ohne schweigen oder trauern zu müssen.

Der Ball, mit dem sie spielten, flog durch einen schlecht gezielten Wurf ins Gebüsch, gefolgt von einem lauten Rascheln der Blätter. Die Büsche und Bäume in diesem Park waren hier unglaublich hoch. Deswegen war dieser Ort auch so beliebt bei den Kindern, weil man sich hier so richtig austoben konnte. Man konnte klettern, verstecken spielen und ab und zu die ganzen Sorgen vergessen. Und wenn man eben mehr Platz brauchte, um zum Beispiel Fußball zu spielen oder anderen Sport zu treiben, konnte man diese riesige Wiese nutzen.

Irgendwann bemerkte ich aus dem Augenwinkel, dass Martha mich bereits seit einiger Zeit von der Seite beobachtete.

Ruckartig drehte ich den Kopf herum und sah sie fragend an. „Ist was?“

Sie zuckte bloß die Achseln. „Nö. Eigentlich nicht. Nur …“ Sie zögerte, als müsste sie nachdenken.

„Nur was?“

„Vielleicht ist ja nur sein Akku leer. Ich bin sicher, er ruft dich später an“, murmelte sie, dabei versuchte sie ein aufmunterndes Lächeln. Es war ein wenig schief, aber ich nahm es positiv auf. Ich wusste ja, wie schlecht sie in solchen Dingen war.

„Ja, kann sein“, flüsterte ich und kaute auf meiner Lippe rum. Ja. Das hätte gut sein können. Es hätte Hunderte von Gründen geben können, warum er nicht anrief. Der Akku hätte leer sein können. Er hätte sein Handy verloren haben können. Er hätte kein Guthaben mehr haben können – es konnte wirklich viele Gründe geben. Und doch. Einen letzten Versuch musste ich begehen.

Wirklich, nur noch einen …

Ich hörte, wie Martha dramatisch seufzte, als ich wieder auf den Bildschirm meines Handys drückte und Keiths Nummer antippte. Ich hatte ihn mittlerweile auf Kurzwahl, es dauerte mir zu lange, ihn täglich im Kontaktbuch zu suchen.

„Das dauert nicht lange“, versicherte ich Martha, die das Gesicht in den Händen vergrub und verzweifelt den Kopf schüttelte, als gäbe es für mich keine Hoffnung mehr. Währenddessen drückte ich das Mobiltelefon an mein Ohr und lauschte.

„Ich sag dir auch, warum es nur kurz dauern wird“, warf Martha ein und hob spöttisch die Augenbraue in die Höhe. „Weil er nicht ran gehen wird!“

Ich ignorierte sie. Wie gesagt, sie konnte oft ziemlich fies sein.

Der erste Rufton verging – nichts.

Der Zweite folgte – wieder nichts.

Der Dritte war ebenso schnell vorbei, wie die beiden anderen – und auch dieses Mal war nichts zu hören.

Gerade als ich schon bedrückt die Schultern sinken ließ und auflegen wollte, hörte ich aber ein Knistern, als wäre jemand rangegangen. Meine Ohren wurden spitz und für einen Moment schoss durch meinen Körper ein Stromschlag. Gespannt verharrte ich.

„Hallo?“

Langsam breitete sich ein triumphierendes Lächeln auf meinem Gesicht aus. „Keith!“, rief ich in den Hörer und es war mir momentan egal, dass mein lauter Schrei selbst die spielenden Kinder auf mich aufmerksam gemacht hatte.

„Elizabeth?“

„Ja, ich bin’s!“ Plötzlich löste sich der Druck auf meiner Brust und ich entspannte mich. Weshalb hatte ich mich eigentlich so aufgeregt? Ich meinte, er war ja nicht für immer weg gewesen oder so. Er war nur nicht an sein Handy rangegangen.

Trotzdem hatte ich das seltsame Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Es war seine Stimme. Sie klang heiser. Nicht von einer Erkältung oder einer sonstigen Krankheit, sondern vor Schock und Angst.

Da ich aber nur ungern als die paranoide Freundin auftrat, ging ich doch lieber langsam ran.

„Mensch, und ich hab mich schon gewundert, warum du nicht ran gegangen bist. Sag mal, ist was los?“

Ich konnte Marthas forschenden Blick spüren, wie er auf mir ruhte und mich fixierte.

Keith räusperte sich hörbar. „Mist, Elizabeth. Dein Anruf kommt jetzt wirklich ungelegen …“

Ich blinzelte verwirrt und versuchte, das nicht als Beleidigung aufzufassen. „Wie, ungelegen?“, fragte ich stockend. Nervös legte ich die Stirn in Falten. „Was ist denn los?“

Für einen Moment war am anderen Ende nichts zu hören. Da war nur ein unterdrücktes Murmeln, so als würde Keith die Hand auf den Hörer drücken und mit jemand anderes sprechen. Wenige Sekunden später war er wieder da. „Elizabeth, ich kann gerade nicht …“ Seine Stimme war flehend. Als würde er sich wortlos entschuldigen wollen, dafür, dass er jetzt auflegen musste.

Ich ließ es nicht so weit kommen.

„Erzähl mir doch einfach, was da bei dir los ist!“, drängte ich und hoffte inständig, dass er es nicht einfach ignorieren würde.

Er schwieg eine kurze Zeit. Aber dann rückte er doch noch mit der Sprache raus, wenn auch nur in einem Flüsterton: „Es ist mein Mitbewohner …“

„Ja, was ist mit dem?“

„Er ist heute Morgen … na ja, ich weiß nicht, wie ich es erklären soll.“ Verzweiflung ließ sich in seiner Stimme wiederfinden.

„Keith, verdammt noch mal, was ist passiert?!“, wollte ich wissen. „Spann mich doch nicht so auf die Folter.“

„Er wurde heute Morgen völlig zerschlagen von den Lehrern aufgefunden.“

Für einen Moment dachte ich mir, ich hätte mich verhört. „Wie bitte?“

„Ja, ich weiß auch nicht … Ich schlaf in letzter Zeit nicht so gut, da hab ich ein paar Schlaftabletten genommen. Die haben mir auch sehr gut geholfen, aufgewacht bin ich erst am nächsten Morgen. Und zwar, als ein Lehrer mich völlig aufgebracht aufgeweckt hat. Ich hab erst gar nichts begriffen, sondern nur verwirrt geguckt. Dann hab ich Train gesehen.“

„Ja, was war denn mit ihm?“, fragte ich wohl ein wenig zu laut. Schnell warf ich Martha einen Hilfe suchenden Blick zu, als könnte sie mir in dieser Lage etwas nützen. Sie hingegen starrte bloß zurück.

„Er war halt total mitgenommen. Weiß nicht genau, jedenfalls hatte er überall blaue Flecken, überall Kratzer und Schnitte, als hätte man ihm mit einer Klinge die Haut aufgeschlitzt. Das war echt hart. Okay, ich gebe zu, der Anblick allein hat mich nicht besonders erschreckt. Eigentlich war es ganz in Ordnung für mich. Aber leider sah der Lehrer das ganz anders …“

Mir ging das ehrlich gesagt etwas zu schnell. Ich war völlig durch den Wind. „Moment, Moment, du hast ihn verprügelt?“

Martha schnaubte.

„Nein! Doch … Ich weiß es nicht. Ich kann mich nicht erinnert. Jedenfalls behauptet er, ich hätte das mit ihm angestellt. Und zu meinem Pech ist der Lehrer, der ihn heute Morgen entdeckt hat, einer von denen, die von meinem kleinen Geheimnis wissen.“

„Warte mal kurz. Er sagt also du hättest ihn verprügelt?“ Ich wollte es mal genau haben.

„Ja.“

„Und hast du das?“

„Keine Ahnung! Vielleicht liegt es ja an den Schlaftabletten. Vielleicht war ich nur halb wach und hab ihn mir vorgenommen, aber eigentlich ...glaube ich nicht daran… Wirklich, ich hab keine Ahnung. Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll.“ Er klang ehrlich entrüstet und hilflos. Ich wäre in dem Moment gern an seiner Seite gewesen.

„Kriegst du jetzt Ärger?“

„Vermutlich. Es ist noch nicht entschieden, was mit mir passieren soll. Vielleicht werde ich aus dem Internat geschmissen. Vielleicht bekomme ich auch einfach nur Ärger und ein Einzelzimmer. Es könnte aber auch sein, dass wir Trains Eltern Schmerzensgeld zahlen müssen und das Ganze weitaus mehr Konsequenzen haben wird.“

Ich atmete einmal tief aus und schloss die Augen, dabei legte ich den Kopf in den Nacken. In meinem Bauch mischten sich die Gefühle: Einerseits war ich unglaublich schockiert über das, was Keith mir eben erzählt hatte, andererseits verspürte ich auch etwas Triumph. Triumph darüber, dass ich doch recht gehabt hatte und das üble Gefühl in meinem Magen mich nicht getäuscht hatte.

Nur musste ich zugeben, dass es mir lieber gewesen wäre, wenn ich falsch gelegen hätte.

Fieberhaft suchte ich in Gedanken bereits eine Lösung für das entstandene Problem. Leider war das hier keine gewöhnliche Schlägerei, sondern ein sehr viel ernsterer Fall.

„Was passiert jetzt mit dir?“

„He, hat dein Freund etwa was angestellt?“, fragte Martha plötzlich. In ihrer Stimme war tatsächlich etwas Ähnliches wie Sorge zu finden, was für mich eine angenehme Überraschung darstellte.

Ich antwortete ihr nicht.

„Wie schon gesagt, das ist noch nicht ganz klar. Erst müssen meine und seine Eltern hier antanzen, ohne sie können wir das nicht klären. Jedenfalls sind die Lehrer ganz aufgebracht. Scheiße, ich versteh die Welt nicht mehr.“ Geräuschvoll stieß er die Luft aus.

Unsicher verzog ich den Mund. „Keith, das wird schon wieder“, wollte ich ihn aufmuntern und war in dem Moment froh, dass er mein Gesicht nicht sah. Denn mein Gesichtsausdruck verriet genau, was ich gerade dachte. Und ich dachte an nichts Gutes.

Da war er wohl nicht besonders überzeugt. „Glaub ich nicht. Ehrlich gesagt können wir mit dem Schlimmsten rechnen. Tja, Elizabeth, sieht fast so aus, als könnten wir den Urlaub in Mallorca vergessen.“ Diese Worte waren so bitter.

„Red keinen Quatsch!“, erwiderte ich energisch, während eine enorme Trauer in mir wach wurde. Das durfte doch alles nicht wahr sein. „Es wird alles wieder gut, hörst du?!“

„Sei nicht so optimistisch. Im Moment ist es unmöglich, meine Unschuld zu beweisen. Ich weiß ja selbst nicht einmal, ob ich es war.“ Wieder herrschte Schweigen an dem anderen Ende. Nur ein leises, aufgeregtes Murmeln im Hintergrund drang an mein Ohr. „Elizabeth, ich muss jetzt wirklich auflegen. Ich rede sowieso schon viel zu lange mit dir. Tut mir wirklich leid, ich ruf dich später an, sobald das Meiste geregelt ist.“

„Du kannst doch jetzt nicht einfach auflegen!“ Es klang wie ein Vorwurf.

„Ich verspreche dir, ich rufe dich an, sobald alles klar ist. Oh Mann, das alles ist so beschissen … Ich wünschte echt, du wärst hier.“

Für einen Moment konnte ich nichts sagen und über meine Haut lief ein eiskalter Schauer. Sag es, dachte ich in Gedanken und war bereits den Tränen nahe.

„Ich vermisse dich“, erklang es am anderen Ende, dann legte er wortlos auf. Das Gespräch war vorbei. Für mich drehte sich die Welt nun wie in Zeitluppe.

Ich schnappte nach Luft.

„Und?“, fragte Martha gespannt. So interessiert war sie sonst nie gewesen.

Ich sah sie mit weit aufgerissenen Augen an, das Handy saß immer noch an meinem Ohr. Mein Gesicht war blass und meine Knie weich wie Butter. Womöglich würde ich gleich umkippen.

„Er …“ Meine Stimme versagte. Ich schluckte, sammelte mich und ließ die Hand mit dem Handy gemächlich sinken. Leider kamen die falschen Worte über meine Lippen. „Er vermisst mich.“

 

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Papa?“, rief ich, als ich auf den Parkplatz stürmte und mich hektisch nach meinem Vater umblickte. Normalerweise fuhr er ungefähr zu dieser Zeit weg, um einzukaufen und uns für das Wochenende zu versorgen.

Nach dem Telefonat mit Keith war ich ohne zu zögern nach Hause gerannt. Ich hatte mir nicht einmal richtig die Zeit genommen, mich von Martha zu verabschieden oder ihr die Lage deutlich zu erklären. Was hieß hier denn bitte erklären? Ich verstand ja selbst kaum etwas.

Jedenfalls war ich ganz gespannt. Mir schossen hundert Fragen und Sorgen durch den Kopf, während ich bloß wie versteinert nach einer Lösung suchte. Leider war es anstrengend, gegen ein Problem zu kämpfen, wenn man mehrere Kilometer davon entfernt war.

Ich musste mich nur kurz umblicken, bis ich meinen Vater gefunden hatte. Schließlich waren wir die einzigen Menschen weit und breit.

„Elizabeth?“, fragte er, während er den Kofferraum seines Wagens schloss. Auf seinem Gesicht zeichnete sich Verwirrung, die ich nur allzu gut verstehen konnte. Es kam nicht oft vor, dass ich mich hierher traute. Normalerweise mied ich den Parkplatz, so gut ich konnte. Eigentlich betrat ich ihn nie.

Ich fühlte mich unwohl, als ich an der langen Reihe von parkenden Autos entlang ging. Mein Körper war angespannt und ich lag auf der Lauer, als könnte sich eins dieser Dinger gleich wie ein verrückt spielendes Monster auf mich werfen. Mit steifen Gliedern nährte ich mich meinem Vater.

Dieser musterte mich mit hochgezogenen Augenbrauen, dabei lehnte er sich gegen sein Auto. Es war schwarz und recht modern, aber nicht besonders groß, da es nur selten vorkam, dass wir mit der ganzen Familie darin fuhren. Den Grund musste ich wohl nicht erwähnen.

„Was machst du denn hier?“, fragte er und verschränkte die Hände vor der Brust. Das schwarze, zerzauste Haar fiel ihm ins Gesicht und seine blauen Augen funkelten seltsam.

„Papa? Kann ich dich um einen Gefallen bitten?“, fragte ich langsam, dabei musste ich mich zwingen, ihm in die Augen zu sehen. Aber nicht, weil ich mich schämte oder schüchtern war, sondern weil es mich alle Kraft kostete, nicht die neben mir stehenden Autos anzustarren. Oh, wie ich diesen Ort hasste. Hier fiel mir das Atmen viel schwerer.

„Was denn, Liebling?“, fragte er argwöhnisch und beäugte mich erneut. Es war leicht zu verstehen, dass es ihn schwer interessierte, was heute mit mir los war. Ich betrat den Parkplatz, wollte etwas von ihm. An seiner Stelle fände ich es auch verdächtig.

„Du hast heute doch Zeit, oder? Ich meine, es ist ja Freitag. Den Rest des Tages müsstest du doch freihaben, stimmt’s?“ Ich versuchte, meine Stimme so zuckersüß wie möglich klingen zu lassen, leider war es bei mir nicht halb so entzückend wie bei Martha.

Mein Vater zuckte die schmalen Schultern. „Abgesehen davon, dass ich noch die Einkäufe erledigen muss … Ja. Eigentlich habe ich jetzt Zeit. Wieso fragst du?“

In unserer Familie war es üblich, dass mein Vater die Einkäufe erledigte. Während ich und Stieve in der Schule waren und gelegentlich im Haushalt aushalfen, war meine Mutter ja an den Rollstuhl gefesselt.

„Ich müsste da mal wohin“, sagte ich leise und verschränkte die Hände hinter dem Rücken.

„Ach, wohin denn?“

„Die genaue Adresse kenne ich gerade nicht, aber die lässt sich leicht herausfinden. Sag mal, ich habe dir doch erzählt, dass Keith jetzt auf einem Internat ist, oder?“

Es regte sich etwas in seinem Gesicht, nichts weiter als das Anspannen einiger Muskeln. Plötzlich seufzte mein Vater tief und fuhr sich mit der Hand über das Haar. Seine Gesten waren von Müdigkeit gezeichnet. „Elizabeth“, begann er und blickte mich durch die gespreizten Finger an, „ich kann verstehen, dass du ihn wiedersehen willst. Ehrlich.“ Sein Ton war abweisend.

Ich hatte mich ein paar Tage vor Keiths Abreise getraut, ihn meinen Eltern vorzustellen. Das hatte mich wirklich meinen ganzen Mut gekostet. Aber am Ende hatte es sich doch gelohnt, meine Mutter und mein Vater hatten ihn gut leiden können und er hatte sich einigermaßen mit Stieve verstanden.

„Aber wir können nicht einfach zu ihm fahren. Jedenfalls nicht sofort.“

„Wieso nicht?“

„Weil ich unsere Gegend hier wie meine Westentasche kenne“, erklärte mein Vater streng. „Hier in der Nähe gibt es nirgendwo ein Internat. Das bedeutet, es muss weit entfernt sein. Ich glaube nicht, dass wir es heute mit dem Fahrrad noch dorthin und wieder zurückschaffen würden.“ Seine Stimme war bedauernd.

„Aber es ist wirklich wichtig!“, erwiderte ich und machte ein bedrücktes Gesicht. Scheibenkleister. Er musste mir doch helfen können.

Er schüttelte den Kopf und ich sah ihm bereits an, dass er sich nicht umstimmen lassen würde. Dann versuchte er aber mitfühlend und aufheiternd zu lächeln. „Pass auf, Schatz. Morgen ist Samstag. Wie wäre es, wenn wir morgen noch ganz früh aufstehen und dann sofort mit dem Fahrrad zu dem Internat fahren? Dann hast du noch genug Zeit, die du mit Keith verbringen kannst.“

„Wir müssen aber schon heute dorthin!“ Ich war mir sicher, bis morgen würde ich nicht durchhalten.

Mein Vater verdrehte die Augen, dann legte er herausfordernd den Kopf schief. „Und wie, meinst du, soll das bitte gehen?“

Sein Blick erdrückte mich. Eine Lösung musste her, sonst würden wir wirklich erst morgen fahren. Ich musste Keith aber schon heute sehen. Ich musste schon heute erfahren, was bei ihm genau geschehen war.

Ich konnte es nicht erklären, aber in gewisser Weise fühlte ich mich für ihn verantwortlich, seit ich so viel über seine Probleme erfahren hatte. Es war fast so, als müsste ich mich um ihn sorgen. Und möglicherweise hatte ich aus dieser Fürsorglichkeit meine Liebe zu ihm entwickelt. Leider waren in dieser Situation beide Gefühle gleich stark, sowohl die Fürsorglichkeit, als auch meine Sehnsucht.

Ein bitteres Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus, als mir die Lösung für dieses Problem kam. Diese Lösung würde mich allerdings eine enorme Entschlossenheit kosten. Und auch eine Menge Selbstüberwindung.

„Elizabeth? Was machst du da?“, fragte mein Vater und trat bestürzt zurück, als ich näher an den schwarzen Wagen trat und zögernd meine Hand auf das harte Dach legte. Die Berührung war ungewohnt. Es war nun schon ganze drei Jahre her, seit ich ein Auto zum letzten Mal berührt hatte, geschweige denn in einem gefahren war. Das glatte Metall war warm, erhitzt und erwärmt von den Lichtstrahlen der Sonne. Ein Kribbeln lief über meine Haut, als meine Finger über die harte Oberfläche strichen.

Mein Herz schlug mir bis zum Hals, als ich zwar entschlossen, aber auch mit weichen Knien die Wagentür öffnete und mit steifen Gliedern einstieg. Vorsichtig nahm ich auf dem weichen Sitz Platz, während ich in einem tiefen Atemzug den Geruch von Leder einatmete.

„Was ist denn in dich gefahren?!“, rief mein Vater aufgewühlt und sah mich durch die offene Wagentür an. Sein Gesicht war blass wie Schnee und seine Augen waren geweitet. Er wirkte nur noch entsetzt.

Ich war zu gelähmt, um ihm zu antworten oder ihn anzublicken. Stattdessen sah ich mich eingeschüchtert um.

Es kam mir hier drinnen so eng vor. Als würde ich von allein Seiten gleichzeitig von einer unsichtbaren Kraft erdrückt werden. Wie damals, bei dem Unfall – ich war herumgeschleudert worden, in alle Richtungen und völlig unfähig, etwas dagegen zu unternehmen.

Kurz schloss ich die Augen und ließ die grausigen Erinnerungen über mich ergehen. Ich erinnerte mich an den Lärm und an den Schmerz, an den Rauch und an die Angst. Ja, Angst hatte ich damals gehabt und das hatte sich bis heute nicht geändert. Immer noch ließ mich die Furcht zittern und verfolgte mich wie ein dunkler Schatten.

„Mit dem Auto müssten wir es schaffen“, brach ich mit dünner Stimme heraus und lehnte mich zurück, dabei versuchte ich mich in den Sitz zu schmieden. Behutsam lockerte ich meine Schultern und streckte die Beine aus, damit ich mich nicht so bedrängt fühlte. Geschafft. Endlich Geschafft. Auch wenn mein Herz viel schneller pochte, ich kreidebleich war und kaum Atem fand, mischte sich zwischen der ganzen Angst auch Selbstzufriedenheit. Ich hatte es geschafft!

„Was redest du denn da? Du willst doch wohl nicht ernsthaft …“

„Doch, ich will“, unterbrach ich ihn barsch, denn mir war gerade nicht danach, eine lange Diskussion aus dem hier zu machen. Dann versuchte ich, meinen Blick so ernst wie möglich wirken zu lassen. „Und ich will es mehr als alles andere. Denk darüber nach, denn wenn ich es nicht heute tue, werde ich mich nie wieder in ein Auto setzen.“

Verdutzt kratzte sich mein Vater am Kopf und schien fieberhaft nachzudenken, dabei starrte er mich verwundert und beeindruckt an. „Das ist dir wirklich wichtig, oder?“

Darauf antwortete ich nicht. Danach verlangte er auch nicht. Stattdessen schwang ich wieder die Beine nach außen und wollte wieder aussteigen. Ich war mir sicher, damit hatte ich ihn überzeugt. Leider war ich noch nicht ganz bereit. Immer noch wollte ich hier raus, wollte so schnell wie möglich weg von hier. Ich brauchte Zeit, um mich vorzubereiten.

„Pass auf, wie wäre es damit“, sagte ich und sah meinem Vater direkt in die Augen. „Du fährst jetzt einkaufen und ich werde währenddessen die Adresse im Internet suchen. Wenn du wieder da bist, geht es los.“

- Kapitel 5 -

 

Train:

Ein stechendes Brennen breitete sich auf meiner Haut aus, als ich das Desinfektionsmittel über die Kratzer auf meinem Arm schüttete. Ich verzog das Gesicht und knirschte mit den Zähnen, während die Flüssigkeit ihrer Arbeit nachging.

Diese Nacht war wirklich … wunderbar gewesen. Ich konnte es immer noch nicht ganz fassen, dass es mir tatsächlich gelungen war. Ein beruhigter Seufzer entdrang meiner Kehle und ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück. Mein Plan hatte wie am Schnürchen geklappt.

Gerade befand ich mich im Behandlungszimmer des Internates und klebte mir Pflaster auf die Wunden. Die besonders schlimmen hatte die Krankenschwester mit einem dicken Verband versehen, danach war ich von ihr allein gelassen worden, weil sie einem Kind mit einer Magen-Darm-Grippe helfen musste. Sollte mir recht sein.

Ich brauchte Zeit für mich.

Das Behandlungszimmer war im Grunde genommen bloß ein kleiner Raum mit einem Tisch, in dessen Schubladen sich Pflaster und Medikamente stapelten und in dem ein paar Stühle standen. Eine kahle Glühbirne hing von der Decke und spendete kaum Licht, diese Arbeit übernahmen die großen Fenster. Hier gab es auch einen Schrank, in dem sich Fläschchen mit Warnschildern drauf befanden.

Ich mochte dieses Zimmer nicht. Kein Schüler tat das. Hier herrschte einfach nur so eine üble Atmosphäre.

Während der Schmerz in meinem Arm langsam nachließ, blickte ich apart an mir herunter und stöhnte leise. Jede Bewegung schmerzte gewaltig, meine Arme und Beine waren mit dicken, blauen Flecken und Kratzern übersehen. Von außen machte ich vermutlich den grauenhaftesten Eindruck, den man sich auf einem Internat nur vorstellen konnte. Innerlich strahlte ich jedoch heller als die Sonne.

Ich erschrak, als die Tür plötzlich aufflog und ein Mädchen mit einer Kiste in den Händen hereinkam. Sie hatte braune, glatte Haare und geschwungene Lippen, die ihre bernsteinfarbenen Augen betonten. Ich sah zu ihr rüber, als sie abrupt im Türrahmen stehen blieb und mich mit schmalen Augen ansah.

Ich kannte sie. Sie hieß Victoria. Zwar hatte ich mit ihr noch nie gesprochen, zusammen an einem Projekt gearbeitet oder sonstigen Kontakt zu ihr gehabt, aber wir hatten im Unterricht ein paar Stunden zusammen. Ich glaube, Keith hatte mal erzählt, sie würde in irgendeinem Fach neben ihm sitzen.

„Hey, sag mal, weißt du, wann die Krankenschwester zurückkommt?“, fragte ich sie mit vor Schmerz verzogenem Gesicht. Sie hatte mich angewiesen, vor ihrer Rückkehr nicht einfach zu gehen.

Victoria antwortete mir nicht. Stumm stand sie da, im Türrahmen, und starrte mich mit kalten, leeren Augen an. Ihr Gesichtsausdruck verriet mir nicht, was sie dachte.

Das schüchterte mich ein wenig ein. Anmerken ließ ich es mir nicht. „Weißt du, wann sie zurückkommt?“, wiederholte ich meine Frage etwas lauter, doch auch dieses Mal bekam ich keine Antwort.

Wortlos betrat sie den Raum und eilte zu dem Tisch, um die Kiste in ihren Händen darauf abzustellen. Wahrscheinlich waren darin weitere Medikamente und Tabletten, oder Ähnliches. Mich würdigte sie keines Blickes.

Ich musste gestehen, dass mich das allmählich irritierte. Fast schon genervt blickte ich sie an, doch sie schien es nicht einmal zu bemerken. „Sag mal, was machst du hier eigentlich?“

„Ich habe die Kiste abgestellt.“

„Nein, warum hast du hier die Kiste abgestellt?“

„Die Krankenschwester hat mich darum gebeten.“

„Na prima. Weißt du, wo sie ist?“

Schweigen. War das eine Art Kampfansage?

Ich hätte sie vor Ärger gern getreten. Nahe genug stand sie ja. Aber das hätte mir im Augenblick mehr Schmerzen bereitet, als ihr.

Die Zeit schien sich zu dehnen. Die Stimmung im Raum schlug eine seltsame Wendung und wurde auf einmal so angespannt, dass ich ein richtiges Kribbeln auf der Haut bekam. Dann, nach weiteren Sekunden der Geräuschlosigkeit, wandte Victoria mir langsam das Gesicht zu. Ihre Augen fixierten mich und ich fühlte mich unter ihrem Blick merkwürdig erdrückt. Beinahe schon ängstlich wich ich ein wenig in meinem Sitz zurück, bis mein Rücken gegen den Stuhlrücken stieß.

„Ist was?“, fragte ich zögernd.

Sie blinzelte. „Du bist deiner Sucht nachgegangen.“ Das klang wenig nach einem Vorwurf. Eher nach einer Tatsache.

Hä? „Was?“, fragte ich wirr und legte die Stirn in Falten. Was meinte sie denn damit? Und von welcher Sucht sprach sie bitte? Für einen Moment trat ein schlechtes Gefühl in meinen Magen.

Bestimmt und selbstsicher trat Victoria nun etwas näher an mich heran, blieb unmittelbar vor mir stehen, stemmte die Hände in ihre Knie und beugte sich leicht zu mir vor. Zwischen unseren Gesichtern war kaum noch Platz und ich spürte ihren frischen Atem auf meinen Wangen.

Erschrocken schnappte ich nach Luft und zog den Kopf ein.

„Wo ist Keith?“, fragte sie leise, während sie mir tief in die Augen guckte. Und ich konnte ihrem Blick nicht ausweichen. Er wirkte wie eine Hypnose, er hatte etwas Seltsames an sich. Etwas Lebloses.

„Er … er spricht gerade mit den Lehrern“, stotterte ich und sank in meinem Stuhl zusammen, während Victoria nicht die kleinste Anstalt machte, zurückzutreten. Ihr schien diese plötzliche Nähe gar nichts auszumachen, mir dagegen hämmerte das Herz bis zum Hals. Hatte sie denn Nerven aus Stahl?

„Warum?“, wollte sie wissen.

„Warum wohl? Weil er mich …“, begann ich, aber ihr Gesichtsausdruck verriet mir, dass es nicht das war, was sie hören wollte. Meine Stimme brach ab.

Nicht mehr viel, und unsere Nasenspitzen hätten sich berührt.

„Sei vorsichtig“, riet Victoria mir, während sie endlich einen Schritt zurücktrat, dabei warf sie ihr langes Haar zurück. Ich konnte sie in dem Moment nur entrüstet anstarren. Was ging denn hier ab? Was stimmte nicht mit dieser Verrückten?

„Was redest du da?“, brach ich heraus und konnte das nervöse Zucken meiner Finger nicht unterdrücken. Ohne mir den Grund dafür erklären zu können, geriet ich in Panik.

Zum ersten Mal lächelte Victoria. Es war kein freundliches, warmes Lächeln, sondern eher das sachte Heben der Mundwinkel. Leicht legte sie den Kopf schief und ihre Miene nahm einen sanften, wenn nicht sogar fürsorglichen Ausdruck an. „Stell deine Bedürfnisse in den Hintergrund. Sonst könntest du viele Leben ruinieren.“ Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und verließ das Zimmer. Ihre Schritte entfernten sich nur langsam, als würde die Zeit persönlich diesen Moment in die Länge ziehen. Ich glotzte ihr mit weit aufgerissenen Augen und leicht geöffnetem Mund hinterher.

Wow, war das ein Freak.

Ich konnte momentan nur hoffen, dass die Krankenschwester bald zurückkehren würde.

 

Elizabeth:

Es war dieses beklemmende Gefühl, wenn man sich zum ersten Mal in eine Achterbahn setzte, die von der Seite her einen fürchterlichen Eindruck machte. Mit Loopings und so.

Genauso fühlte ich mich, als ich beobachtete, wie die Häuser der Straßen und die ruhig laufenden Menschen an uns vorbei schossen, als wir mit dem Auto fuhren. Mein Herz hämmerte und ich atmete zu schnell, dabei drohte ich zu ersticken oder zumindest in Ohnmacht zu fallen.

Trotz der stechenden Furcht, die meinen gesamten Körper umklammert hatte, ließ ich mir nichts anmerken. Zumindest hoffte ich das. Denn mein Vater war nicht weniger nervös als ich. Immer, wenn wir an einer roten Ampel hielten, warf er mir prüfende Blicke zu und fragte mich wiederholt, wie es mir ging.

„Achte auf den Verkehr!“, erwiderte ich jedes Mal mit scharfer Stimme, den Tränen nahe. Ich wollte nicht wieder in einen Unfall verwickelt werden, bloß weil er nicht aufpasste. Vor drei Jahren war er auch nicht auf der Hut gewesen, und wohin hatte ihn das gebracht? Hmm? Wohin?!

Beinahe ins Grab hätte ihn das gebracht, und mich fast in die Psychiatrie!

Tief und schwer atmend schloss ich die Augen und grub meine Finger in den ledernden Sitz, auf dem ich saß. Ich spürte den Gurt auf meiner Brust und die ewige Bewegung unter mir. Wir fuhren. Mal langsam, mal wieder schneller. Während man auf der rechten Seite nichts als den Bürgersteig erblickte, sah man links neben uns weitere Autos. Nicht selten drang ein ungeduldiges Hupen an mein Ohr, das Geräusch einer Bremse oder von quietschenden Rädern.

Ich kannte die Gegend, durch die wir fuhren nicht. Das hieß wohl, dass wir schon recht weit von unserem Zuhause entfernt waren.

„Elizabeth“, sagte mein Vater vorsichtig und riss mich aus meinen Gedanken.

Ich war zu schwach, um zu antworten. Das Einzige, was ich herausbekam, war ein leises: „Hmm?“

„Vielleicht war es keine gute Idee, auf Anhieb so weit wegzufahren. Ich meine, es bleibt ja noch der Rückweg und die Strecke, die wir noch hinter uns lassen müssen. Du hast dich in drei Jahren zum ersten Mal in ein Auto gesetzt. Du darfst es nicht so überstürzen. Wir hätten klein anfangen sollen, zum Supermarkt um die Ecke fahren können.“ Seine Stimme war einfühlsam und ich musste ihn nicht daran erinnern, auf den Verkehr zu achten. Seine Augen waren auf die Straße gerichtet und auf nichts anderes.

Bange schüttelte ich den Kopf. „Nein“, hauchte ich, dabei schweifte mein Blick gemächlich zum Fenster. Ich wusste nicht, wie lange wir schon fuhren. Es musste schon länger her sein, denn ich begann bereits, mich zu entspannen. Mein Körper schmiedete sich in den Sitz und die Anspannung wich aus meinen Beinen. „Weißt du, ich glaube nicht, dass es mir gelungen wäre, wenn wir damit gewartet hätten.“

Da war ich mir sicher. Es war nämlich diese Sehnsucht gewesen, die mich dazu getrieben hatte, in dieses Monster auf Rädern zu steigen. Sicher wäre die brennende Neugierde, die Keiths Lage in mir geweckt hatte, schon nach wenigen Stunden wieder erloschen. Dann hätte ich mich nie getraut, meine Phobie zu überwinden.

Bald würden wir am Internat ankommen. Wir würden Keiths Problem lösen, und selbst wenn nicht, dann hatte es mindestens den Vorteil, dass ich meine Angst überwunden hatte und wir uns zumindest heute sehen konnten.

Alles würde wieder gut werden.

 

- Kapitel 6 -

 

Victoria:

Hinter der Tür waren viele verschiedene Stimmen zu hören: wütende, aufgebrachte, tadelnde und vorwurfsvolle. Sie alle redeten wild durcheinander und wurden immer lauter, bis einer dann doch für Ruhe sorgte und wieder unterdrücktes Gemurmel zwischen den Erwachsenen ausbrach.

Mit geradem Rücken stand ich vor dem Sekretariat und wartete auf die Krankenschwester. Diese sprach zusammen mit den anderen Lehrern gerade mit Keith. Die Lage spitzte sich immer mehr zu. Offenbar war das hier ein besonders schlimmer Fall, jedenfalls konnte man das annehmen.

Es war bereits 16:23 Uhr, also hatten die Jugendlichen im Internat frei. Die meisten von ihnen lungerten zwar nur auf ihren Zimmern rum oder spielten auf dem Sportplatz Fußball, aber manche mussten auch den Lehrern helfen. So wie ich. Die Krankenschwester hatte neulich erst eingekauft und einen Vorrat an neuen Schlaftabletten, Verbänden, Pflastern und anderem Kram besorgt und brauchte meine Hilfe beim Einsortieren. Außerdem konnte das Behandlungszimmer auch mal wieder aufgeräumt werden.

Ich mochte die Krankenschwester. Sie war eine junge, hübsche Frau mit roten Locken und grünen Augen, die immer wieder meine Blicke auf sich zogen. Sie war auch einer der Menschen, die sich um mich auf diesem Internat kümmerten, die mit mir sprachen und sich für mich richtig Zeit nahmen.

Es bereitete mir jedes Mal große Freude, wenn ich ihr irgendwie helfen konnte. Heute tat ich es dadurch, dass ich die neu gekauften Kisten voller Fläschchen ins Behandlungszimmer trug, diese in die Regale stellte und der schönen Frau Gesellschaft leistete, auch wenn sie meist diejenige war, die sprach. Ich schwieg bloß und hörte ihr zu.

Meine Geduld schrumpfte mit jedem Augenblick, den ich hier stand. Es war nicht unbedingt meine Stärke, besonders lange zu warten. Wann würde die Krankenschwester endlich rauskommen?

Traurig seufzte ich. Würde wohl noch eine Weile dauern.

Sie hatte mir gesagt, ich solle die restlichen Kisten in das Behandlungszimmer tragen, in dem Train gerade saß. Das war ja nicht besonders schwer, ich hatte nur ein Problem: Ich wusste nicht, wo sich diese Kisten überhaupt befanden. Die, die ich eben erst dorthin getragen hatte, hatte mir die Krankenschwester zuvor einfach in die Hand gedrückt. Wo der Rest steckte, hatte sie mir nicht verraten.

So stand ich also hier und wartete.

Just in diesem Moment hörte ich, wie am anderen Ende des Ganges Schritte hörbar wurden und die Stille zerrissen; leise und zögernde Schritte, die aber dennoch irgendwie gehetzt wirkten. Erst beachtete ich sie kaum, doch nach wenigen Sekunden zwang mich doch irgendwas, den Kopf zu drehen und hinüber zu blicken. Zu dieser Zeit hielten sich normalerweise nur wenige Schüler im Gebäude auf, schließlich gab es genug andere Plätze.

Sobald ich das beurteilen konnte, war das Mädchen, das den Gang entlangeilte gar nicht von dieser Schule. Jedenfalls trug sie keine Uniform, was den Schülern hier verboten war.

Das Mädchen war groß, schlank und hatte braune Haare. Sie war blass, hatte ein rundes Kinn und blaue Wolfsaugen, die von schwarzen Wimpern eingerahmt wurden. Ihre Ausstrahlung war merkwürdig und sehr schwer zu deuten: Sie wirkte besorgt, gleichzeitig ängstlich und erschöpft. Ich schätzte sie ein wenig älter, als ich es war.

Ich musterte sie, als sie auf mich zuging. Mir fiel auf, dass sie ihre Augen zusammenkniff: als müsste sie gegen Tränen kämpfen.

„Äh, entschuldige“, fragte sie mich, als sie ihr Tempo ein bisschen beschleunigte. Zwischen uns waren vielleicht noch zwanzig Schritte. „Weißt du, wo das Sekretariat ist?“

Interessiert fixierte ich sie. Was sie hier wohl wollte?

 

Elizabeth:

„Äh, entschuldige“, fragte ich ein Mädchen, das sich als Einzige auf diesem unendlich langen Gang des alten Gebäudes aufhielt. Sie stand vor einer gelben Tür und schien auf jemanden zu warten. „Weißt du, wo das Sekretariat ist?“, fragte ich sie, in der Hoffnung, dass sie mir weiter helfen könnte.

Ehrlich gesagt war ich ziemlich beeindruckt von mir selbst, dass es mir gelang, mit solch fester Stimme zu sprechen. In Wahrheit kam mir bereits alles den Hals hoch. Sollte ich mich vorbeugen oder mich bücken, würde ich mich sicher übergeben. Die Fahrt hierher hatte mich wirklich alle Kräfte gekostet.

Nachdem ich ausgestiegen war und wieder festen Boden unter den Füßen gehabt hatte, hatte mein Vater mich daran hindern müssen, auf dem Parkplatz zusammenzubrechen. Ich wäre beinahe umgefallen vor Erleichterung. Und das Schrecklichste war, dass ich seitdem mit den Tränen kämpfen musste. Es war allein mein angeborener Trotz und Sturkopf, der mich davon abhielt, loszuheulen.

Das Mädchen antwortete mir nicht. Sie beäugte mich mit zusammengekniffenen Augen und ließ ihren Blick meinen Körper entlang gleiten. Vermutlich fragte sie sich, wieso ich nicht die Uniform dieser Schule trug.

„Kannst du mir bitte sagen, wo das Sekretariat ist?“, fragte ich erneut, dieses Mal etwas zögernder.

Immer noch erhielt ich keine Antwort. Ein bedrückendes Schweigen breitete sich aus. Ich verstand nicht genau, was hier vor sich ging: das Mädchen wirkte auf den ersten Blick ganz nett. Recht hübsch, ordentlich, aber ihr Blick hatte etwas Würgendes an sich. Er war nicht feindselig, aber auch nicht besonders einladend.

So, als würde sie durch mich hindurchsehen, als wäre ich Luft.

Ich blieb etwa fünf Meter vor ihr stehen und sah mich Hilfe suchend um. Das Internat war ein altes, historisch wirkendes Gebäude, in dem sich nicht besonders viele Schüler aufhielten. Bis jetzt hatte ich jedenfalls nur wenige gesehen. Wahrscheinlich waren die meisten von ihnen auf dem Sportplatz, den ich neben dem Parkplatz erblickt hatte.

Als ich das Gebäude betreten hatte, war ich einer Putzfrau begegnet.

„Wieso trägst du nicht deine Uniform?“, hatte sie mich verblüfft gefragt.

Ich hatte sie perplex angeblinzelt und dann mit hektischen Handbewegungen den Kopf geschüttelt. „Nein, nein! Ich geh hier nicht zur Schule! Ich bin nur zu Besuch hier. Könnten Sie mir vielleicht sagen, wo das Sekretariat ist?“

„Ah, Besuch“, hatte sie nur achselzuckend gemeint und mit dem Kopf zu einer Treppe genickt. „Eine Etage höher, der zweite Flur rechts. Du wirst ein bisschen nach der richtigen Tür suchen müssen, aber ich glaube, du wirst sie schon finden. Falls du dich verlaufen solltest, frag irgendeinen der Schüler oder Lehrer“, hatte sie am Ende noch hinzugefügt.

Tja, hier war ich nun.

Leider war weit und breit niemand, der mir hätte helfen können. Na ja, außer diesem frappanten Mädchen, das offensichtlich nicht besonders gesprächig oder einfach nur unhöflich war.

Vielleicht würde ich ja Glück haben und gleich würde plötzlich Keith um die Ecke kommen? Genau wie bei einem dieser sinnlosen Zufälle in Teenagerserien.

Mein Herz setzte kurz aus, als in diesem verlassenen Flur eine weitere Tür mit einem aggressiven Tritt aufflog. Mein Blick schoss zu dem Ursprung des Lärmes und ich sah, wie ein Junge in den Flur humpelte. Als ich ihn genauer betrachtete, wanderten meine Augenbrauen nach oben und mein Mund öffnete sich leicht. Eher vor Schreck, als vor Erstaunen.

Der Junge war … oh Gott. Er sah einfach scheußlich aus. Nicht wie Jungs normalerweise nach einer Schlägerei aussahen, sondern so, als wäre er gerade in einen Unfall verwickelt worden. An seinem Kopf konnte man genau das getrocknete Blut erkennen und die zerschlagenen Lippen. Allein sein Gesicht machte einen schlimmen Eindruck – von seinem Körper musste ich gar nicht erst anfangen.

Das Verlangen, mich zu übergeben, wurde stärker.

Erst jetzt bemerkte ich, dass das Mädchen vor mir mich nach wie vor unbewegt anstarrte.

„Entschuldige!“, rief ich schnell und versuchte die Aufmerksamkeit des Jungen auf mich zu ziehen. Dieser zuckte zusammen und schien mich erst jetzt zu bemerken. Er wirkte ein wenig schreckhaft, was sich allerdings leicht nachvollziehen ließ.

„Ja?“, fragte er langsam, während er die Tür, durch die er gekommen war, hinter sich wieder schloss.

Ich verstand wirklich nicht, wie die Leute sich hier zurechtfanden. Die Türen sahen alle gleich aus und es gab Unmengen von ihnen. Allein dieser Gang hier musste um die fünfzig haben.

„Kannst du mir sagen, wo das Sekretariat ist?“, fragte ich hoffnungsvoll und betete, dass zumindest er die Güte besitzen würde, mir zu helfen.

Er sah zuerst zu mir, dann schweifte sein Blick zu dem sichtlich stummen Mädchen und es schien ihm plötzlich ein Licht aufzugehen. Skepsis machte sich auf seinem Gesicht breit. „Ah“, murmelte er leise und zeigte mit einer Geste zu der Tür, vor dem das Mädchen stand. „Kannst du nicht lesen? Da ist es.“

Für einen Moment war ich verwirrt. Aber dann, als ich die Tür etwas näher betrachtete, hätte ich mir gerne selbst eine Ohrfeige verpasst. Neben der Tür hing ein Schild, ein kleines, eckiges Ding, auf dem dick und fett Sekretariat geschrieben stand.

Man, war ich blöd. Das alles war so peinlich.

Gerade wollte ich sprechen, um mich mit glühenden Wangen zu bedanken, da reiste das Mädchen plötzlich den Mund auf und griff mir ins Wort.

„Was machst du hier?“, wollte sie von dem Jungen wissen, ohne ihn anzusehen. Ihr Blick ruhte nach wie vor auf mir. „Du musst im Behandlungszimmer warten.“

„Ich hab keine Lust mehr“, winkte der Junge gelassen ab und humpelte zu dem Mädchen. Das Gehen fiel ihm unglaublich schwer, das verrieten seine Gesichtszüge und die Art, wie er den Mund verzog. Er tat mir leid. „Victoria, hörst du mich? Sag der Krankenschwester Bescheid, wenn du sie siehst, in Ordnung? Ich warte schon seit einer Ewigkeit auf sie! Sag mal, ist sie dort drinnen?“

Victoria. So hieß das Mädchen also.

Zu meiner Genugtuung musste ich feststellen, dass Victoria genauso wenig auf die Worte des Jungen reagierte, wie auf die meinen.

Dieser beobachtete sie genervt von der Seite. Dann ließ er von ihr ab und wandte sich stattdessen mir zu. „Und du? Was ist mit dir? Ich glaube nicht, dass du von hier bist.“

Ich stellte mich ein wenig dämlich an, bei meiner Antwort. Der Anblick des Jungen machte meine Zunge taub. Es waren nicht seine Wunden, die meine Blicke und meine Aufmerksamkeit auf sich zogen. Es war mehr so, als würde irgendwo am Rande meines Unterbewusstseins eine Glocke läuten. Hell und laut. Nur konnte ich nicht verstehen, warum dieser Alarm so abrupt in meinem Kopf losging.

Was hatte dem Jungen bloß wiederfahren können, dass er nun so mitgerissen aussah? Ich bezweifelte, dass er tatsächlich in einen Unfall verwickelt worden war. Es schien eher so, als hätte er sich geprügelt. Aber gab es hier wirklich solch brutale Schlägertypen? Das hier war doch ein gewöhnliches Internat! Keith war ein Schläger, aber …

Es war der letzte Gedanke, der mein Gesicht förmlich erfrieren ließ. Ich war gerade nicht ganz auf der Höhe, nachdem ich eben die erste Autofahrt seit drei Jahren hinter mich gebracht hatte und auch der Anblick des verletzten Jungen vor mir hatten mich aus der Fassung gebracht, aber als mir nach einer Ewigkeit endlich bewusst wurde, wer eigentlich vor mir stand, konnte ich nicht verhindern, dass meine Hand sich langsam erhob und mein ausgestreckter Finger direkt auf die Person vor mir zeigte.

„Du!“, hauchte ich leise und schluckte schwer. Ein Stromschlag schoss durch meinen Körper und meine Lippen begannen zu beben.

Überraschung und Verwirrung zeichnete sich nun auf seinem Gesicht. Train. So hieß er. Keith hatte ihn mal in ein paar seiner Nachrichten erwähnt, aber nicht oft von ihm gesprochen. Genau diesen Jungen hatte man doch heute Morgen zerschlagen in seinem Zimmer gefunden.

„Was?“, fragte er unsicher und schien vor lauter aufsteigender Panik nicht zu wissen, wohin er sehen sollte.

„Du bist doch Keiths Mitbewohner!“, rief ich bestürzt, während ich ihn nun durch völlig andere Augen betrachtete. Keith hätte Train nie im Leben so zugerichtet. Nein, das glaubte ich ihm nicht. Keine Ahnung, wie es sich hier sonst erklären ließ, aber es war alles anders abgelaufen. Bestimmt. Es musste einfach anders abgelaufen sein.

Für einen Moment hielt Train besorgt die Luft an und sein Gesicht wurde blass. Alle Farbe wich heraus und das Einzige, was noch zu sehen war, war die kalte, unterdrückte Angst des Jungen. „Du kennst Keith?“, fragte er leicht stotternd, wobei er gemächlich den Blick senkte. Als wäre diese Frage ganz nebensächlich.

Diese Masche würde ich ihm nicht durchkommen lassen. Meine Miene verhärtete sich und meine Haltung wurde steif, während ich Train mit eisernem Blick ansah. Mit leichter Arroganz verschränkte ich die Hände vor der Brust und schob das Kinn vor. Das Mädchen Victoria, die sich zwischen uns befand, rührte sich nicht. Hätte mich auch gewundert.

„Das kaufe ich dir nicht ab“, meinte ich schließlich, ohne Trains Frage zu beantworten.

„Was denn?“, fragte dieser kleinlaut, immer noch unfähig, mir in die Augen zu blicken.

„Diese ganze Show, die du hier abziehst“, sagte ich und machte einen kleinen Schritt auf ihn zu – als winzige Drohung, sozusagen. Er sollte ruhig wissen, dass ich es ernst meinte. „Ich glaube dir das nicht. Keith hat dir nichts getan. Ich weiß nicht, wie man es sonst erklären könnte, aber er war sicher nicht derjenige, der dir das angetan hat. Nein.“ Zur Betonung meiner Worte schüttelte ich den Kopf. Das genügte. Mit dem Fuß auf dem Boden aufzustampfen, wäre an dieser Stelle wohl etwas übertrieben gewesen.

Jetzt begann der Spaß. Train wurde sichtlich nervös. Unruhig hinkte er von einem Bein auf das andere und sein Blick schoss von einer Stelle auf die andere. Ich beobachtete ihn schweigend und ließ ihn leiden. Jetzt habe ich dich, dachte ich im Kopf.

Er hätte sicher nicht erwartet, dass es bei Keiths Sadismus auch nur eine Person gegeben hätte, die ihn verteidigt hätte. Aber hier war sie und stand vor Train, um ihn zur Rede zu stellen.

„Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst“, meinte er dann achselzuckend und schien nun bei Victoria Hilfe zu suchen. „Sag mal, wie lange ist die Krankenschwester schon dort drinnen?“

Zu meinem Vergnügen antwortete sie ihm nicht, sondern starrte wieder zur Tür.

„Wie genau ist das heute Nacht eigentlich verlaufen?“, fragte ich ihn und hob spielerisch eine Augenbraue in die Höhe. Ich würde seine Version der Geschichte nur zu gern hören.

Keith hatte oft gesagt, Train wäre zimperlich. Das konnte ich jetzt nachvollziehen. Dieser Junge war wirklich so ein Weichei.

Mit erschrockenem Blick glotzte er mich an. „Wie bitte?“

„Du hast mich schon verstanden. Was genau ist heute Nacht passiert?“, drängte ich.

„Wer bist du eigentlich?!“

„Mein Name ist Elizabeth. Sagt dir das was?“

Das tat es tatsächlich. Ein wissendes Glitzern trat in Trains Augen, was mir für einen kleinen Moment ein Lächeln auf die Lippen zauberte. Keith hatte mich also mindestens mal erwähnt. Das war gut.

„Ah, Elizabeth. Schön dich kennenzulernen. Nur schade, dass die Bedingungen gerade so schlecht sind.“

War das zu fassen? Nun tat er einen auf freundlich.

Widerlich. Ich versuchte nicht einmal, meine Abneigung gegen diesen Typen zu verbergen.

„Lenk nicht vom Thema ab“, zischte ich ihn an, während langsam Wut in mir aufkam. Es war klar zu erkennen, dass das alles hier ein falsches Spiel war. Nur musste ich noch die Regeln durchschauen.

Und darin war ich mittlerweile vermutlich Weltmeister.

„Schrei ihn bitte nicht an“, sagte Victoria plötzlich, ohne die Tür aus den Augen zu lassen. Es kam mir vor, als würden wir hier schon seit Stunden stehen. „Er kann nichts dafür. Er ist bloß seiner Sucht nachgegangen.“

Irritiert runzelte ich die Stirn, da ich die Worte des Mädchens nicht deuten konnte. Glücklicherweise lag das nicht an mir, denn ein kurzer Augenkontakt verriet mir, dass Train ebenso wenig verstand, wie ich.

„Welcher Sucht?“, fragten Train und ich wie aus einem Mund, auch wenn wahrscheinlich keiner von uns wirklich die Antwort hören wollte.

„Keith hat nichts getan“, fuhr Victoria ungestört fort, als würde sich niemand außer ihr selbst hier befinden. Als würde sie Selbstgespräche führen. „Er hat geschlafen. Tief und fest. Und während er geschlafen hat, hat der Arme die Gunst der Stunde genutzt. Mehr nicht.“

Für mich ergab das alles hier keinen Sinn. Weder das, was Victoria sagte, noch das, was hier gespielt wurde. Aber Train schien den Sinn begriffen zu haben. Jedenfalls wurde er für einen Moment ganz still. Sein Blick wanderte in eine unbestimmte Richtung und seine Schultern sanken nach unten. Ihm stand ins Gesicht geschrieben, dass er sich ertappt fühlte.

Auch wenn ich bezweifelte, dass sie mir zuhörte, wandte ich mich an Victoria, die aber längst das Interesse an mir verloren hatte. „Warte bitte mal kurz. Du sagst, dass Keith geschlafen hat. Warst du denn da?“

Stille.

„Okay, nehmen wir mal an, dass du da warst“, fuhr ich fort, denn ich hatte das alles wirklich nicht nötig. „Und nehmen wir mal an, du hättest gesehen, wie Keith geschlafen hat. Wer hat ihn dann bitte so zugerichtet?“, fragte ich und blickte zu Train.

Dieser war nun ebenso still wie Victoria.

„Und dann hätte ich noch eine Frage“, sagte ich zu niemand Bestimmtes. Mein Gerede war einzig und allein nötig, um das Schweigen zu füllen. „Warum hat Train dann das alles auf Keith geschoben?“

Victoria sprach von einer Sucht. Aber welche konnte das sein? Mal überlegen. Vielleicht hatte Train irgendeine Sucht, bei der man sich schwer verletzten konnte, von der aber niemand wissen sollte. Ja, das hätte doch als Erklärung reichen können. Aber woraus konnte die Sucht bestehen?

Es war nur ein leiser Verdacht, der sich in meinem Kopf regte, aber nur in wenigen Sekunden nahm dieser Gedanke immer mehr an Gestalt an. Konnte es sein, dass ..?

„Train?“, fragte ich vorsichtig, während ich die Augen zusammenkniff und nicht wusste, ob ich vorwurfsvoll oder behutsam sprechen sollte. „Kann es sein, dass du dir das alles extra ... selbst angetan hast?“

Ich war längst bereit, über mich selbst zu lachen, da diese Worte laut ausgesprochen völlig absurd klangen, aber Trains Reaktion hinderte mich daran: Er fing nicht an zu schreien, er wurde auch nicht still und zeigte keine Wut. Nein, das was er tat, überraschte mich in diesem Augenblick am meisten – er brach zusammen.

Laut schluchzend und weinend fiel er auf die Knie und vergrub das Gesicht in den Händen, während er demütig auf dem Boden hockte.

Erschrocken stolperte ich ein paar Schritte zurück und starrte ihn an. Ich fühlte mich so dämlich, als ich ohne jeden Schimmer auf den heulenden Jungen vor meinen Füßen blickte. Was war denn jetzt los?

„He, Train“, sagte ich vorsichtig, bekam als Antwort jedoch nichts weiter als einen lauten Schluchzer. Hilflos, wie ich war, warf ich Victoria einen bettelnden Blick zu. Diese hatte Train den Rücken zugewandt und schien sein Weinen zu ignorieren. Die Tür zum Sekretariat war für sie im Moment wohl viel interessanter.

Mir wurde heiß und ich bekam Kopfschmerzen, die genauso unerwartet kamen, wie diese Szene hier. Das alles verlief so unglaublich schnell. Ich kannte diese Leute nicht, ich musste mich höchstens mit dem zufrieden geben, was Keith mir über Train erzählt hatte. Victoria war für mich völlig fremd und machte auch nicht gerade den besten Eindruck.

„Wieso heulst du denn jetzt?“, platzte es aus mir heraus, während mir selbst die Tränen hochkamen. Ein Ausweg war kaum in Sicht. Momentan konnte ich nur hoffen, dass ein halbwegs normaler Mensch um die Ecke kommen und das hier klären würde.

„Ich halt das nicht mehr aus“, jammerte Train, wobei ich ihn gerade noch so verstand. Zwischen jedem seiner Worte war ein unterdrückter Schrei. „Scheiße, warum muss es gerade mich treffen?“

„Aber wovon redest du, verdammt noch mal?“, wollte ich wissen und ging in die Hocke, um halbwegs auf einer Augenhöhe mit ihm zu sein, dabei stemmte ich die Ellenbögen in meine Knie. Meine Haare fielen mir ins Gesicht und kitzelten mich an der Nase.

„Verstehst du es denn nicht?“ Train schrie schon fast. Immer noch zusammengekrümmt lag er da. Ich wusste nicht, ob ich ihn verabscheuen oder bedauern sollte. „Ich war es! Verdammter Mist, ich wars! ICH!“ Mit jedem „Ich“, das er von sich gab, wurde seine Stimme schriller, bis sie sich überschlug.

„Ich hab’s ja verstanden“, redete ich auf ihn ein, als ob er ein kleines Kind wäre. „Okay, dann warst es eben du. Aber warum hast du diesen ganzen Scheiß überhaupt angestellt?“

Sein Weinen verstummte für einen Moment und man hörte bloß sein schnelles und lautes Keuchen. Hoffentlich bekam er noch genug Luft. Dann, nach langem Zögern, hob er den Kopf und sah mich mit roten, verweinten Augen und tieftraurigem Blick an. Sein Gesicht war tränenüberströmt und seine Wangen leicht gerötet. Jetzt machte er einen noch erbärmlicheren Eindruck, als er es vorhin getan hatte. Falls dies überhaupt noch möglich war.

„Ich bin …“ Es fiel ihm schwer, mir in die Augen zu sehen oder den Satz zu Ende zu bringen. Geräuschvoll zog er die Luft ein und wischte sich verstohlen mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht.

„Was?“, fragte ich.

„Ich bin Masochist.“ Er zuckte bei seinen eigenen Worten zusammen, als würde er es nicht fassen können, dass er sie tatsächlich ausgesprochen hatte. Er hatte aufgehört zu weinen, war jedoch nach wie vor nicht in der Lage, sich zu erheben.

„Äh …“, machte ich leise, denn ich wusste nicht so recht, was ein Masochist war. Verlegen kratzte ich mich am Hinterkopf und blickte Train fragend an. Dieser verstand sofort.

„Masochisten sind Menschen, die ihre Freude aus dem eigenen Schmerz gewinnen“, erklärte er schüchtern, während er sich die Stirn rieb. „Ich hab’s nachgeschlagen.“

„Wie jetzt? Das heißt, du bist süchtig nach Schmerzen?“, fragte ich verdutzt und runzelte die Stirn. „Nach deinen eigenen?“

Train nickte.

Das verstand ich nicht. Wenn Train Masochist war, dann hätten die Lehrer dieser Schule doch darauf kommen können, dass er sich das alles selbst angetan hatte. Und außerdem hätte Train das alles nicht auf Keith schieben müssen. „Wissen deine Lehrer davon?“, fragte ich.

Er schüttelte den Kopf.

„Wer weiß denn davon?“

„Niemand“, antwortete er leise.

„Niemand? Nicht einmal deine Eltern?“

„Nein. Niemand außer dir. Und eigentlich hätte es auch keiner erfahren sollen.“ Seine Stimme klang so bitter, dass ich ihn gern in diesem Moment ein wenig getröstet hätte, aber dafür hatte er zu viel Mist gebaut.

„Aber warum?“, wollte ich wissen und schüttelte verständnislos den Kopf. „Man hätte dir doch helfen können! Sicher! Warum hast du es denn keinem erzählt?“

„Ich hatte Angst“, war seine Antwort. Die Tränen waren längst getrocknet und nun befand sich nichts weiter als Kälte auf seinem Gesicht, als würden ihm gerade grausige Gedanken durch den Kopf schießen.

Ich atmete einmal tief durch, bevor ich ein sanftes Lächeln aufsetzte. „Das musst du nicht. Ich bin mir sicher, Therapien oder Medikamente hätten dir helfen können. Oder zumindest hätte es dann Menschen gegeben, die versucht hätten, auf dich einzureden, dir zu helfen. Ich weiß nicht, ob es daran liegt, aber du wärst auch sicher nicht sofort in die Klapse geschickt worden. Und beim Psychiater ist es auch nicht so schlimm. Glaub mir, ich war selbst dort. Die beißen schon nicht.“

„Das ist es nicht“, murmelte Train. „Ich habe keine Angst, dass man mich zum Psychiater schickt. Die habe ich nie gehabt. Wovor ich mich wirklich schon immer gefürchtet habe, war, dass man es mir vielleicht verbieten könnte. Was wäre, wenn man mich unter Beobachtung stellen würde? Ich dürfte mir keine Schmerzen mehr zufügen. Tag für Tag kam ich mit blauen Flecken und Kratzern nach Hause, erzählte Geschichten von Schlägereien und Unfällen auf dem Pausenhof. So lange, bis man mich hierher schickte. Ich wollte nicht, dass man mir verbietet, Schmerzen zu empfinden, weil es gefährlich und ungesund ist. Ich habe mich immer mit kleinen Wunden zufriedengegeben, das hat es auch erträglich gemacht, dass keiner von meiner Sucht wusste. Dieses Mal habe ich es wohl übertrieben. Leider.“ Ermüdet seufzte er, aber dabei wirkte er auch irgendwie befreit.

Zwar konnte ich mich nicht in ihn hinein versetzen, aber ich konnte ihn durchaus verstehen. Damals hatte ich dieselbe Angst gehabt, als ich zum ersten Mal zur Therapie gemusst hatte.

Er hatte seine psychischen Probleme bis heute vor der Welt geheim gehalten. Eigentlich hätte man früher erkennen können, dass mit ihm irgendwas nicht stimmte. Nur hatte nie jemand so genau darauf geachtet.

Ich war die erste Person, die nun von seinem Geheimnis wusste. Na ja, da war ja noch Victoria, falls diese überhaupt zugehört hatte. Ich kannte hier niemanden, aber ich war mir sicher, dass dieses Mädchen für Train ebenso unbekannt war, wie ich. Das hieß, er hatte sein Herzensleid zwei völlig fremden Menschen verraten. Manch einer hätte das naiv genannt, aber für mich war das bloß ein Zeichen seiner tiefen Verzweiflung.

„Pass auf“, sagte ich mit fester Stimme, erhob mich leichtfüßig und trat an ihn heran, bevor ich ihn an der Schulter packte. „Du wirst jetzt gefälligst aufstehen und den Lehrern alles erklären“, forderte ich ihn auf, während ich ihn auf die Beine zog. Für einen Jungen wog er unglaublich wenig. Er musste sich leicht an mir stützen, schaffte es aber dennoch problemlos. „Ich bin mir sicher, dass sie Verständnis zeigen werden. Und wenn du dich bei Keith entschuldigst und er dir verzeiht, kannst du dir ja überlegen, wie du es wieder gut machen und deinen Eltern die Nachricht erklären kannst.“

„Du meinst ernsthaft, dass das so einfach wird?“, sagte er ein wenig mürrisch, was ich ihm im Moment nicht übel nehmen konnte. Er war kein schlechter Mensch. Im Grunde genommen war er bloß ein Junge, der Hilfe brauchte … genau wie Keith es mal gewesen war.

„Ich meine es nicht nur, ich weiß es“, sagte ich, dabei wanderte mein Blick aus reinem Zufall zu Victoria.

Diese hatte die Güte erwiesen, mir ihre Aufmerksamkeit zu widmen und starrte mich an. Allerdings nicht so wie vorher. Das Lächeln, das ihr Gesicht schmückte, ließ sie nun weniger feindselig und geheimnisvoll wirken.

Und ich konnte nicht anders, als verlegen zurückzulächeln. Ich hatte ja gesagt, dass alles wieder gut werden würde.

„Weißt du was ...“, murmelte Train. „Ich bin fast froh.“ Er seufzte. „Es lief ohnehin viel zu gut, um wahr zu sein. Ich wusste, dass ich auffliegen würde, aber die Versuchung war zu groß ...“

„Du hättest wohl nicht gedacht, dass irgendwer seine Schuld bezweifeln würde, stimmt’s?“, fragte ich.

Er versuchte etwas wie ein Lächeln, aber es scheiterte. Gewaltig. „Genau.“

Wie auf ein Kommando flog plötzlich die Tür des Sekretariates auf.

 

- Kapitel 7 -

 

Keith:

„Ehrlich, das alles tut mir unglaublich Leid“, sagte Train zum sechsten Mal und senkte schuldbewusst den Blick. Er saß auf einem der Drehstühle des Sekretariates und starrte beschämt auf den Boden vor seinen Füßen. Seine Augen waren nach wie vor feucht und leicht gerötet. Ein klares Zeichen dafür, dass er geweint hatte.

Ich verdrehte bloß die Augen. „Ich hab’s ja verstanden, Mann. Du brauchst dich nicht noch einmal zu entschuldigen, ich hab dir längst verziehen.“ Um ehrlich zu sein war es mir ein wenig peinlich, hier zu sitzen und mir Trains Entschuldigungen anhören zu müssen.

Mein Blick wanderte immer wieder zu Elizabeth, die schweigend an der Wand neben der Tür lehnte und das Gespräch genauestens beobachtete. Ich glaubte immer noch nicht ganz, dass sie tatsächlich hier war. Hier. Auf dem Internat. Bei mir.

Es war schwer zu beschreiben, was ich von dieser ganzen Sache hielt: in einem Moment wurde ich von den Lehrern mit lauter Beschuldigungen bombardiert und im nächsten Augenblick stand plötzlich Train laut schluchzend und entstellt vor mir und bat um Vergebung. Ich hatte erst gar nicht begriffen, was er vor sich hin gestammelt hatte, so stark hatte er geflennt.

Wie es sich herausgestellt hatte, war Train also Masochist und hatte sich diesen ganzen Unfug selbst angetan. Ich war wütend, zugleich aber auch ein wenig amüsiert über diesen Zufall: Hätte ich von Anfang an über Trains kleines Geheimnis Bescheid gewusst, hätte ich ihn vermutlich noch schlimmer zugerichtet, als er ohnehin schon aussah.

So lustig war das vielleicht auch wieder nicht. Zumindest nicht für andere. Ich fand diese Ironie zum Schreien.

Auch hatte Train mir gestanden, dass er durch das Lesen meiner Nachrichten hinter mein eigenes Geheimnis gekommen war. Das nahm ich ihm nicht besonders übel. Nichts von all dem nahm ich ihm besonders übel. Keine Ahnung, wieso. Normalerweise blieb ich nicht so ruhig. Wahrscheinlich mochte ich ihn einfach. Mehr nicht.

„Und du bist wirklich nicht wütend?“, fragte Train vorsichtig, zum vermutlich achten Mal. Mir fiel auf, dass er sich ständig wiederholte.

Ich zuckte die Schultern, um Lässigkeit bemüht. „Kein bisschen.“

„Aber wieso?“

„Hmm“, machte ich gedehnt, während ich Elizabeths wissenden und bedeutenden Blick auf mir spürte. „Ich glaube, wir machen alle Fehler. Ist menschlich, oder?“

„Ich hab dir eine ganze Menge Ärger bereitet“, murmelte Train und ich hatte das Gefühl, dass er gleich wieder in Tränen ausbrechen würde.

Ich zögerte. Es lag mir nicht besonders, Menschen aufzuheitern. „Wie schon gesagt, jeder baut in seinem Leben mal Scheiße. Vor allem wir beide müssten das wissen. Ich habe selbst wegen meiner psychischen Probleme nicht wenig Fehler begannen“, flüsterte ich ausweichend und rieb mir verstohlen die Nase. Elizabeths winziges Lächeln entging mir nicht und ich biss die Zähne zusammen, um nicht rot zu werden.

„Okay“, seufzte Train mit bedrückter Miene, auch wenn sich auf seinem Gesicht Erleichterung zeichnete.

Für einen Moment war es still.

„Übrigens“, sagte ich schnell, da mir etwas einfiel. „Wie kommt es eigentlich, dass du so plötzlich den Kürzeren gezogen hast? Ich meine, dein Plan hätte doch problemlos geklappt, hättest du ihn bis zum Ende durchgezogen. Ich würde gerne wissen, wie und von wem du erwischt worden bist.“

Train ließ sich Zeit mit der Antwort. Er und Elizabeth wechselten einen kurzen Blick, der so einiges zu sagen schien. „Ich weiß nicht genau, wie es dazu gekommen ist, aber ich glaube, Victoria hat mich nachts beobachtet.“

Ich hob eine Augenbraue. „Victoria? Ist das dein Ernst?“ Ich erinnerte mich nur zu gut an meine Sitznachbarin. Die stille, geheimnisvolle Victoria, die ganz in ihrer Welt gefangen zu sein schien.

„Ja“, sagte Train nickend. „Echt, ich habe keine Ahnung, wann sie mich gesehen haben könnte. Vielleicht kann das Mädel ja durch Wände blicken“, sagte er halb im Scherz.

Das machte mich wirklich stutzig. „Selbst wenn – was ich natürlich bezweifle – bleibt noch die Frage, was sie auf den Gängen so spät noch zu suchen hatte.“

Eigenartig. Aber mir konnte es ja egal sein. Momentan hatte ich andere Sorgen.

„Keine Ahnung …“ Er fuhr sich durch das Haar. „Äh ... also. Ich schätze, ich muss jetzt dann mal …“, setzte Train an und erhob sich zögernd von seinem Drehstuhl.

Ich blickte ihn fragend an. „Wohin so eilig?“

„Die Lehrerin hat gesagt, ich soll zu ihr kommen, sobald ich mit dir gesprochen habe. Sie hat gesagt, es wäre besser, wenn ich selbst mit meinen Eltern sprechen würde.“ Train schluckte hart.

„Wirst du großen Ärger bekommen?“

„Vermutlich. Aber ich glaube, sie werden sich eher über meinen Masochismus aufregen, also …“ Er zuckte die Achseln, steckte die Hände in die Taschen und zog mit seinem Fuß einen Halbkreis über den Boden. „Ist okay.“

Ich sah ihm wortlos nach, als er den kleinen Raum verließ und stieß die Luft erst aus, als die Tür hinter ihm zufiel. Erschöpft rieb ich mir die Schläfe, während ich mich seufzend zurücklehnte.

Ich hasste das Sekretariat. Genauso wie das Behandlungszimmer. Hier war es einfach stickig, allerdings nicht wegen der Hitze. Der Schreibtisch der Sekretärin war mit Notizen, Blöcken und Stapeln von Papier überfüllt. Es gab kaum genug Platz um ein Glas darauf abzustellen.

Für einen Moment kehrte Ruhe ein. Beinahe schon ohrenbetäubende Stille, die auf mich wie ein beruhigender Klang wirkte. In den letzten Stunden war ich die ganze Zeit über von lauter schimpfenden Menschen umringt worden und hatte kaum Zeit für mich gefunden. Erst jetzt bekam ich so richtig die Chance, das alles zu verdauen.

„Dann ist das wohl geklärt.“ Elizabeth trennte sich von der Wand und ging zu dem Schreibtisch, dabei griff sie frecherweise nach einem darauf liegenden Tacker und spielte mit ihm rum, indem sie ihn auf- und zuklappte. Ich sah sie mit einem neutralen Blick an.

„So, und jetzt zu dir“, sagte ich mit spaßhafter Stimme, während ich sie von der Seite betrachtete. Heute kam sie mir noch hübscher vor, mit ihren braunen Haaren und dem schlanken Körper, den leicht geschwungenen Lippen und der kleinen Nase. Wie lange war es nun her, dass ich sie das letzte Mal gesehen hatte? Ich meinte in echt, nicht auf ihrem Profilbild auf Facebook oder anderen Fotos? Zwei Monate … „Könntest du mir vielleicht erklären, wie du hierher gekommen bist?“

Sie wirkte abwesend, als sie die Hand, in der sie den Tacker hielt, langsam sinken ließ und ihr Blick zu mir schweifte. Amüsanz blitzte in ihren Augen auf und ihr Mund verzog sich zu einem spöttischen Lächeln. Mit jeder Sekunde wirkte sie mehr danach, als würde sie gleich in Lachen ausbrechen.

Ich starrte zwar irritiert, aber auch vergnügt zurück. „Was?“ Sie kicherte leise, als sie mich aufs Neue musterte. „Was?!“, wollte ich wissen und musste selbst lächeln.

 

Elizabeth:

Nur mit Mühe konnte ich das Lachen, das bereits zwischen meinen zusammengepressten Lippen hervor drang unterdrücken. Oh Mann, ich erkannte Keith kaum noch wieder.

Um seine Augen hatten sich dunkle Ringe gelegt und er trug gerade die Uniform dieses Internates, die auch Train und Victoria getragen hatten. Ein weißes Hemd, mit einer schwarzen Weste und einer ebenso schwarzen Krawatte drüber, dazu passende schwarze Hosen. Die Sachen wirkten ein wenig zu groß für ihn.

Ich konnte es nicht beschreiben, aber er hatte sich drastisch verändert. Da war nichts mehr von dem alten, frechen Schläger mit dem kalten Blick und dem fiesen Grinsen. Alles weg. Auch die Haare wirkten seltsam, viel zu stark zurückgekämmt. Und doch schien er genau derselbe zu sein, wie früher.

„Was?!“, fragte er leicht lachend, weil ich ihn schon seit einiger Zeit mit diesem vergnügten Blick musterte.

„Ach nichts“, winkte ich kichernd ab und legte den Tacker zurück auf seinen Platz.

„Wenn du meinst.“

„Nein, es ist wirklich nichts. Du siehst nur so …“

„Blöd aus?“

„Nicht blöd … oder vielleicht doch.“

„Tut mir leid, dass du mich nach so langer Zeit in diesem Zustand sehen musst.“ Grinsend sah er an sich herab.

„Ach was“, sagte ich und machte einen kleinen Schritt auf ihn zu. Sofort schossen mir wieder die Worte durch den Kopf, die er über den Hörer zu mir gesagt hatte. Ich verspreche dir, ich rufe dich an, sobald alles klar ist. Oh Mann, das alles ist so beschissen … Ich wünschte echt, du wärst hier. Ich vermisse dich. „So schlimm ist es auch nicht“, flüsterte ich leise, während ich vor ihm stehen blieb und ihm durch das normalerweise zerzauste blonde Haar strich. Er hatte es mit Gell gebändigt, es war aber noch so stachelig wie früher.

Das machte mich sehr glücklich.

„Ich bitte dich“, empörte er sich mit verdrehten Augen und legte mir plötzlich eine Hand auf den Rücken, während er die andere gegen meine Kniekehlen drückte und mich vorsichtig auf seinen Schoss setzte. Ich quiekte kurz auf, ließ ihn aber gewähren. „Du hast es ja kaum ohne mich ausgehalten. Weißt du, ich habe mir erlaubt nachzusehen, wie oft du heute eigentlich schon angerufen hast. Willst du lieber raten oder soll ich dir die genaue Zahl sagen?“ Er stieß mir den Finger sanft in den Bauch.

Okay, vielleicht hatte er sich nur äußerlich verändert. Seine große Klappe hatte er nicht verloren, was mich, aus welchem Grund auch immer, irgendwie erfreute. Gefallen ließ ich mir trotzdem nichts.

„Warte mal kurz“, sagte ich und tat, als müsste ich ganz scharf nachdenken. „Wer hat noch mal am Telefon gesagt, er würde sich mich an seine Seite wünschen und dass er mich vermissen würde? Fällt dir da zufällig jemand ein? He, Moment, warst das nicht du?“ Ich runzelte die Stirn, als ich ihn anblickte.

Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und rutschte unbehaglich hin und her. „Kann es sein, dass du auf Komplimente aus bist?“

„Kann sein. Vielleicht. Ja.“

„Okay, du siehst wundervoll aus.“ Er nahm eine meiner Strähnen zwischen die Finger und führte sie an seine Lippen.

„Das reicht mir nicht.“

„Was willst du denn sonst noch?“

Das war ein altes Spiel zwischen uns. Ohne zu zögern legte ich ihm eine Hand auf den Hinterkopf, mit der anderen griff ich nach seiner schwarzen Krawatte und zog ihn leicht an mich ran. Den Rest übernahm er, indem er mich an sich drückte und mich zuerst auf die Stirn, dann auf die Nase und auf die Wange küsste.

Ich seufzte leise.

„Ist was?“, fragte er mich, während unsere Gesichter nur wenige Zoll voneinander entfernt verharrten. Ich spürte seine Wärme und, vor allem, seine Anwesenheit.

„Wann kannst du wieder nach Hause?“

„Ich hab ja gesagt, dass du es kaum ohne mich aushältst.“

„Ich meine es ernst“, murmelte ich, während mir das Blut ins Gesicht schoss. Ich schlug ihm sacht auf den Oberarm, bevor ich meinen Kopf auf seine Schulter legte.

„Keine Ahnung, ob ich überhaupt wieder zurück darf. Ich habe zwar im Grunde nichts gemacht, bin aber trotzdem wieder in Schwierigkeiten verwickelt worden. Außerdem hab ich wohl keine Wahl. Du weißt doch, wie Erwachsene denken. Wenn ich mich hier schlecht benehme, wird es noch wichtiger für meine Eltern, dass ich auf dem Internat bleibe. Wenn ich mich gut benehme, werden sie sagen, dass es einen tollen Einfluss auf mich hätte, hier zu leben. Leider.“

Da hatte er wohl recht.

Ich verdrehte den Kopf und sah zu ihm auf. „Aber unser gemeinsamer Urlaub in Mallorca bleibt bestehen, oder?“, wollte ich wissen.

„Natürlich“, schnurrte er, während er mit den Fingern immer wieder sanft über meine Schultern strich. Er drückte sein Kinn an meinen Kopf und schmunzelte. „Aber kannst du mir jetzt mal erklären, wie du hierher gekommen bist?“, flüsterte er.

„Das ist eine lange Geschichte“, log ich und kuschelte mich in seinen Armen ein. Ich hatte keine Lust, jetzt über meine Phobie zu sprechen. Jetzt wollte ich die Zeit mit ihm genießen, auch wenn sie nicht mehr lange dauern würde.

Ich fühlte, wie er mir mit gespreizten Fingern durch das Haar fuhr. Sein Atem strich mir über die Stirn, als ich das Gesicht in seiner Brust vergrub.

„Die kannst du mir ja dann in Mallorca erzählen“, meinte er und küsste mich auf die Wange.

„Ja, bis dahin ist es ja nicht mehr lange“, sagte ich und freute mich bereits wie wild.

 

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So saßen wir lange da und unterhielten uns. So lange, bis irgendwann dann doch mein Vater gekommen war, um mich abzuholen, weil ihm die Geduld ausgegangen war, auf mich zu warten. Es war ja auch eine recht lange Zeit vergangen. Für mich verflog sie stets so schnell, wenn ich sie mit Keith verbrachte.

 

Epilog

 

Elizabeth:

Ich musste zugeben, ich hatte für ihn Gefühle entwickelt, die weit über Zuneigung hinausschossen. Es gab keine großen Chancen, dass er nach Hause kommen würde, statt auf dem Internat zu bleiben. Aber das war im Grunde genommen auch völlig egal. Es gab ja noch die Ferien, die Nächte und Tage, in denen wir telefonierten und uns schrieben. Getrennt würden wir nie wirklich werden.

Also, von dieser Seite betrachtet hatte sich alles zum Schluss doch gut ergeben. Doch nachdem ich mich von Keith verabschiedet hatte und mit meinem Vater nach Hause gefahren war, hatte sich wieder diese Einsamkeit in mir ausgebreitet. Und während ich mit genau dieser Einsamkeit zitternd vor Angst auf dem Rücksitz des Autos gesessen hatte, fragte ich mich mit Tränen in den Augen, ob das hier wirklich das Happy End war, das ich mir gewünscht hatte …

 

Fortsetzung: Katharina - Psychisch nicht normal

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 31.10.2012

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