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Prolog

 

Ich hörte nicht mehr den Sound meiner Musik, obwohl diese aufgedreht wie sonst was war. Das scharfe Geräusch einer Vollbremsung übertönte die schnelle Melodie, die durch meine Kopfhörer kam und ich wurde von einer unsichtbaren Kraft nach vorne gestoßen. Der Sicherheitsgurt hielt mich davon ab, mit dem Kopf gegen den Vordersitz zu prallen, drückte mir aber gewaltig gegen die Lunge. Ich bekam keine Luft mehr und fing an, wild zu husten.

Mein Handy entglitt meinen Händen und ich hörte, wie es gegen die Wagentür unseres Autos prallte. Als mein Blick zum Fenster wanderte, verschmolz das Grün der Landschaft mit dem blauen, wolkenlosen Himmel. Ich spürte, wie unser Auto herumgeschleudert wurde, und begann zu schreien. Immer kräftiger und lauter, bis der Gurt erneut gegen meinen Hals drückte. Ich versuchte, mich zu befreien, aber die zappeligen Bewegungen machten es nur noch schlimmer.

„Mama!“, hörte ich mich selbst mit stockender Stimme rufen, während mein Schrei von einem weiteren Geräusch erbarmungslos verschlungen wurde: Die Fensterscheibe war zersprungen. In Tausende von kleinen Splittern, die sich in die Haut meiner Mutter bohrten. Diese saß bewusstlos am Steuer, den Hals verrenkt und merkte gar nicht, dass aus ihren Armen Blut floss und dass ihre Tochter verzweifelt nach ihr rief. Immer und immer wieder.

Unser Auto drehte sich weiter, als würde es einen Berg hinunterrollen und ich schrie wie am Spieß. Auch Stieve, mein kleiner Bruder, weinte hemmungslos, während er sich mit seiner Hand an mich klammerte.

Von allen Seiten drang lauter Lärm an mich heran und ließ mich genau wie meinen kleinen Bruder losheulen. Die Tränen kullerten über meine Wangen und tropften dann auf meine Hose, aber ich achtete selbstverständlich nicht darauf.

Als erneut ein unsichtbarer Stoß von der Seite kam, prallte ich mit dem Kopf gegen die Fensterscheibe zu meiner Rechten und ein stechender Schmerz schoss durch meinen Körper. Ich wusste es nicht, vielleicht bildete ich mir das nur ein, aber ich hatte das Gefühl, ich würde bluten. Genau wie meine Tränen glitt die rote Flüssigkeit mein Gesicht herab, wurde von dem Kragen meines Pullis eingesaugt. Aus dem Augenwinkel nahm ich wahr, wie der Körper meiner Mutter matt zur Seite fiel und dort liegen blieb. Ein leises Stöhnen entkam meinen Lippen und meine Augenlieder wurden in wenigen Sekunden ganz träge. Ich hatte nicht länger die Kraft, meine Augen offen zu halten. Oder woher kam diese seltsame Schwärze, die von allen Seiten an mich heran kroch?

Endlich blieb der Wagen auf der Stelle stehen. Ob er, abgesehen von der eingeschlagenen Fensterscheibe, noch heil war, konnte ich nicht sagen.

Jedenfalls waren wir auf einem Hügel oder etwas Ähnlichem, wir lagen ziemlich schräg.

Das Weinen meines Bruders, die aufgebrachten und besorgten Worte meines Vaters kamen wie aus weiter Ferne. Ich hörte sie, aber sie kamen mir wie eine schlechte Tonbandaufnahme vor. Unecht, verzerrt und unterdrückt. „Stieve! Elizabeth! Geht es euch gut?!“, schrie mein Vater voller Verzweiflung, aber ich reagierte nicht. Nicht, weil ich es nicht wollte, sondern weil ich es nicht konnte. Und obwohl ich spürte, dass um mich herum alles in Bewegung stand, von allen Seiten Leute zu unserem Auto rannten und dass von überall Rauch aufstieg, schien für mich die Welt stillzustehen. Die Schwärze hüllte mich immer mehr ein, während der Schmerz langsam nachließ. Mein Kopf fiel zur Seite, meine Hände lagen erschlafft auf meinen Oberschenkeln.

Plötzlich waren die Schmerzen fort, genau wie das Bild des Autos und meines weinenden Bruders vor meinen Augen. Da war nur noch die Dunkelheit, die mich in sich gefangen hielt, und, wie ich es bereits ahnte, aus der ich nie wieder entkommen würde.

- Kapitel 1 -

 

Elizabeth:

Der Unterricht schien gar kein Ende nehmen zu wollen und die Zeit kroch lahm wie eine Schnecke dahin. Das langsame Ticken der Zeiger der Uhr hallte durch die Klasse und mischte sich mit dem Vortrag, den uns der Lehrer hielt. Ich saß gelangweilt in der hintersten Reihe des viel zu kleinen Klassenraums und versuchte nicht einmal, die ganzen komplizierten Gleichungen aus Variablen zu verstehen. Wozu auch die Mühe? Das hier war noch nicht einmal meine Klasse. Stattdessen glitt mein Blick an den selbstgemachten Plakaten entlang, die die Wände des engen Raumes bedeckten.

Ständig drehten sich die anderen Schüler zu mir um, beäugten mich, als wäre ich ein fremdes Tier und um ehrlich zu sein, nervte es mich mittlerweile gewaltig. Noch mehr regte mich aber die Vorstellung auf, hier die nächste Woche über sitzen zu müssen, während sich meine echte Klasse auf Klassenfahrt befand.

Wie ungerecht.

Glücklicherweise war das hier zumindest die letzte Stunde des heutigen Tages und es müsste in etwa zehn Minuten schellen.

Durch das Fenster fielen Sonnenstrahlen herein und strichen über meine Haut. Wärme. Im Moment wünschte ich mir nichts sehnlicher, als nach draußen zu gelangen und mich entspannen zu können. Aber am wichtigsten war es mir doch, hier endlich wegzukommen. Mich widerte es an, wie mich die Mädchen anglotzten, wie sie tuschelten, wenn der Lehrer mal nicht aufpasste und immer wieder in meine Richtung nickten. In solchen Momenten machte ich mich einfach klein und versuchte, so wenig Aufmerksamkeit wie möglich auf mich zu ziehen, auch wenn ich nicht unbedingt der schüchternste Mensch war.

Der alte Lehrer mit dem grauen Bart, den altmodischen Hosen und dem weißen Hemd, der bis jetzt nichts anderes getan hatte, als seiner Klasse lauter böse Blicke zuzuwerfen und aus einem Text über die Regeln der Mathematik vorzulesen, sah auf seine Armbanduhr und hustete daraufhin in seine Faust hinein, um die Aufmerksamkeit der Schüler auf sich zu ziehen.

„Ihr könnt dann jetzt die Bücher wegräumen. Ich hoffe, die Hausaufgaben sind allen klar und – halt, sitzen bleiben, es hat noch nicht geschellt – dass sie morgen jeder da hat. Außerdem will ich, dass ihr zur Übung des Themas diese Zusatzblätter macht, bei denen ihr die Regeln wiederholen müsst …“, sagte er, während er nach einem Stapel Papier griff, der die ganze Stunde über ruhig auf seinem Pult gelegen hatte.

Ein mürrisches Murmeln ging durch die Klasse und die Schüler sahen alles andere als begeistert aus, aber das ließ den bärtigen Typen völlig kalt. „Stellt euch nicht so an“, meinte er tadelnd und verdrehte die Augen. Dann reichte er den Stapel einem blonden Jungen, der ganz vorne saß und im Unterricht genauso unsichtbar war, wie ich. „Das ist nicht viel. Und, äh, du …“ Zögernd blickte er mich an.

„Ich heiße Elizabeth“, sagte ich betont laut und deutlich, da es heute schon das dritte Mal war, dass ich ihn an meinen Namen erinnern musste.

Fairerweise sollte ich vielleicht erwähnen, dass ich seinen Namen ebenfalls nicht kannte – was aber nur daran lag, dass der Mann russische Wurzeln hatte und man sich nur sehr schwer merken konnte, wie man ihn ansprechen sollte. Nicht, dass ich es wirklich versucht hätte.

„Ah, Elizabeth also. Ja, deine Klassenlehrerin hat mir Bescheid gegeben, dass ihr mit dem Thema nicht ganz so weit seid, wie wir. Falls du Probleme haben solltest, kannst du ja deine Eltern fragen“, riet er mir.

„Ja, mach ich“, log ich, während ich meine Sachen zusammenpackte. Wenn es nötig sein würde, würde ich bei jemandem abschreiben.

Na ja, aber wenn ich es mir recht überlegte … Ich kannte hier keinen. Mit dieser Klasse hatte ich kaum Kontakt, ich kannte hier nicht einmal jemanden wirklich beim Namen. Im Laufe des Tages hatte ich immer wieder welche von ihnen gehört, mir sie aber nie gemerkt.

Der blonde Junge, der die Blätter austeilte, ging gerade an meinem Platz vorbei. Nachlässig warf er eins der Blätter auf meinen Tisch. Beim Weitergehen stieß er versehentlich mein Mäppchen runter, doch statt es aufzuheben und sich zu entschuldigen, ging er desinteressiert weiter.

„Kannst du nicht aufpassen?!“, fauchte ich ihn zwar gereizt, aber eigentlich kaum hörbar an und hob es selbst auf. Ich war kein unhöflicher Mensch, wirklich nicht. Normalerweise wäre ich vermutlich auch wesentlich gelassener geblieben, aber nicht heute. Nicht, wenn ich hier sitzen und meine Freunde vermissen durfte, während diese ihren Spaß ohne mich hatten.

Der Kerl blieb ruckartig stehen, drehte sich mit verblüffter Langsamkeit zu mir um und musterte mich ein wenig erstaunt. Er war größer als ich, sportlich und schlank. Er hatte dunkelblonde Haare, die ihm leicht wirre vom Kopf abstanden, als hätte er zu viel Gel benutzt. Seine Augen waren grün, er hatte ein sonnengebräuntes Gesicht mit einem schmalen Mund und einem spitzen Kinn. An seinem Körper trug er ein gewöhnliches, schwarzes T-Shirt, eine dunkle Jeans und an den Füßen schwarze All Stars.

„Ist was?“, fragte ich irritiert, denn er musterte mich immer noch. Nein, er musterte nicht, er starrte regelrecht. Genau wie der Rest der Klasse, wie ich gerade bemerkte. Die meisten Leute hatten aufgehört zu packen und die Stühle hochzustellen. Alle Blicke ruhten auf uns und im Klassenraum herrschte eine beinahe ungewöhnlich seltene Stille. Selbst der Lehrer blickte aufmerksam in unsere Richtung.

Hatte ich etwas falsch gemacht?

Mir brach unverständlicherweise der Schweiß aus und ich sah mich nervös um. Wieso starrten die mich alle so an? Ich wollte meine Frage bereits wiederholen, doch plötzlich lächelte der Junge und bleckte spielerisch die Zähne. Hätte ich nicht gesessen, ich wäre zurückgewichen. Jetzt, da er so merkwürdig grinste, machte er mir irgendwie Angst. Seine Zähne waren weiß, perlenweiß und sogar ein wenig scharf, wie bei einem Hund. Vermutlich war es das, was mich so einschüchterte. Als er mir direkt in die Augen sah, hatte ich das Gefühl, dass sich auf meiner Brust ganz viel Druck sammelte.

Sein Blick ruhte etwas zu lange auf mir.

„Tut mir Leid, war nicht mit Absicht“, meinte er dann lediglich, warf mir einen letzten, neckischen Blick zu und schlenderte weiter. Nachdem er die letzten Blätter verteilt hatte, lief er wieder an seinen Platz und begann, seine eigene Tasche zu packen.

Ich ließ das Blatt und das Mäppchen ebenfalls in meiner Schultasche verschwinden, kurz darauf schellte es endlich. Die Leute stürzten laut durcheinander sprechend aus der Klasse, zwängten sich durch die Tür. Ich eilte ihnen nach, um nicht die Letzte zu sein, wobei ich bemerkte, dass sich manche von ihnen zu mir umdrehten, nur um mich noch einmal betrachten zu können. Allerdings stellte ich schnell fest, dass sich etwas verändert hatte:

Die anderen sahen mich nicht länger an, als sei ich ein seltenes Tier, sondern es lag eher etwas wie Respekt in ihren Augen.

 

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Und wohin genau ist deine Klasse gefahren?“, fragte Antonia, die neben mir den Bürgersteig entlanglief und dabei immer wieder an den Fenstern der einzelnen Läden stehen blieb.

„Es ist so eine Art Ferienhaus, das irgendwo in den Bergen liegt. Dort bleibt meine Klasse dann für fünf Tage und vier Nächte“, erklärte ich und blieb ebenfalls kurz stehen, um ein rotes Sommerkleid im Schaufenster zu bewundern.

Antonia war ein kleines, leicht rundliches Mädchen aus meiner Klasse. Die Klasse, in der ich derzeitig festsaß – nicht die, die gerade ungestört ohne mich einen Ausflug machte. Eigentlich hatte ich mit Antonia bis zum Ende des Schultages kein einziges Wort gewechselt, aber da wir zufällig denselben Heimweg hatten, hatten wir eine Art Gespräch miteinander begonnen.

„Meinst du etwa das Kalmano-Ferienhaus? Aber dort fahren doch nur die Elftklässler hin?“, meinte sie und sah mich an. „Ihr seid doch auch erst in der achten Klasse, wenn ich mich nicht irre“, sagte sie verwirrt, während sie versuchte, weiterzugehen, mit den Augen aber nach wie vor an dem roten Sommerkleid hing. Konnte ich ihr nicht übel nehmen, es war auch ausgesprochen schön.

Ich glaube, es hätte mir gut gestanden. Ich hatte lange, dunkelbraune Haare, die leicht gewellt über meine Schultern fielen und beinahe an meine Hüften reichten. Mein Gesicht war blass, genau wie meine dunkelblonden Augenbrauen, die ich zu zwei dünnen Bögen gezupft hatte. Meine Augen waren grau, mit blauen Sprenkeln und von schwarzen, dichten Wimpern eingerahmt. Ansonsten hatte ich noch eine kleine Nase, leicht geschwungene Lippen und ein rundes Kinn. Ich hatte eine schlanke Figur, schmale Schultern und mehr oder weniger kurvige Hüften, die in lange Beine überliefen.

„Ja, schon. Eigentlich dürften wir noch gar nicht dort hinfahren“, erklärte ich. „Aber meine Lehrerin geht nächstes Jahr in Rente, leider, also wollte sie noch unbedingt etwas mit uns unternehmen. So als Abschied. Es gab zwar eine Menge auszufüllen, zu organisieren, aber sie hat es doch noch geschafft, den Rektor davon zu überzeugen, den Ausflug vorzuziehen.“ Gelangweilt blickte ich umher, während ich ihr das erzählte. Meine Schultasche war so schwer, dass meine Schultern schmerzten, aber ich weigerte mich, mich zu beschweren. Bei meiner momentanen Lage hatte ich anderes, worüber ich mich beklagen konnte.

„Warum bist du eigentlich nicht mitgegangen?“, fragte Antonia, aber ich merkte an ihrem Ton, dass ihre ganze Aufmerksamkeit nicht mir, sondern einem Rock im Schaufenster eines ziemlich teuren Ladens gewidmet war.

Ich winkte so lässig wie möglich ab und hoffte, dass sie nicht bemerkte, wie ich mich instinktiv anspannte. „Ach, das ist nichts Besonderes. Mir ist was dazwischen gekommen“, wich ich der Frage aus.

Eigentlich war der wahre Grund in den Augen mancher vielleicht ein wenig albern, meiner Meinung nach aber völlig nachvollziehbar. Der Grund für meine Entscheidung, Zuhause zu bleiben, war, dass ich nicht hatte in den Bus steigen wollen, mit dem meine Klasse zu diesem Ferienhaus gefahren war.

Busse. Autos. Motorräder.  

Alles Dinge, mit denen ich nichts zu tun haben wollte. Ehrlich, die konnten mir so gestohlen bleiben. Nach diesem Autounfall, den ich vor drei Jahren erlebt hatte und seit dem meine Mutter im Rollstuhl saß, wollte ich nichts mehr mit solchen Fortbewegungsmitteln zu tun haben. Jedes Mal, wenn mir ein Auto zu nahe kam, bekam ich panische Angst – ich hatte stets das Gefühl, ersticken zu müssen.

Erinnerungen schossen mir dann durch den Kopf: das Bild des Leibes meiner Mutter, der kraftlos zur Seite fiel, war deutlich vor meinen Augen. Manchmal hörte ich das Schreien meines Bruders Stieve, den es damals zwar auch schlimm erwischt hatte, der heute aber dennoch nicht halb so große Probleme mit Autos hatte, wie ich. Ihm machte es nichts aus, mit ihnen zu fahren. Keinem in meiner Familie machte es noch etwas aus.

Nur mir.

Nicht nur, dass ich nicht damit fahren konnte, ich konnte auch nicht von der Schule abgeholt werden. Deshalb musste ich täglich nach Hause laufen, mit diesem Sack voller Bücher auf den Schultern.

Aber das war noch nicht das Schlimmste. Nein, was mich wirklich nervte, war, dass ich doch tatsächlich zur Therapie musste. Ich hatte einen Therapeuten, den ich jeden Montag besuchen kam, damit wir zusammen über meine Ängste vor Fahrzeugen sprechen konnten. Und auch wenn ich es nur sehr ungern zugab, diese Therapien waren leider nötig. Irgendwann würde ich wieder anfangen müssen, mit Autos zu fahren, denn anders ging es nicht. Nur wegen mir konnten wir nie in den Urlaub, nur wegen mir mussten wir überall zu Fuß, auf Fahrrädern oder mit der Bahn hinkommen.

Langsam fühlte ich mich schuldig, auch wenn ich wusste, dass meine Familie Verständnis für mich hatte.

„Weißt du, irgendwie erstaunst du mich immer wieder. Zuerst die Szene heute in der Klasse, und jetzt das mit der Klassenfahrt. Ich meine, wie kann man sich so etwas entgehen lassen und stattdessen in der Schule rumsitzen?“, fragte Antonia kopfschüttelnd, während sie ausgelassen gähnte und neben mir her schlenderte. „Ich hätte alles getan, um mitkommen zu dürfen, ganz egal, was bei mir dazwischengekommen wäre.“

„Was meinst du damit? Was hab ich heute in der Klasse denn angestellt?“, fragte ich erstaunt und erinnerte mich an die Blicke, die mir die anderen zugeworfen hatten. Als wäre ich ein Freak.

Antonia rieb sich erschöpft die Stirn und ich ließ mich von ihrer Müdigkeit anstecken. „Du bist neu, also kann ich verstehen, dass dir nicht ganz bewusst ist, was du eigentlich angestellt hast“, meinte sie verschlafen, während sie mich ein wenig skeptisch ansah. Ich war um einen ganzen Kopf größer als sie, weswegen sie zu mir hoch blicken musste. „Du erinnerst dich doch sicher an den Jungen, der heute die Blätter ausgeteilt hat?“

„Der Blonde?“

„Ja, genau“, stimmte sie mir zu. „Keith. Keith Jefassun. Weißt du, ich habe noch nie erlebt, dass ihn jemand so angemotzt hat, wie du es heute getan hast und heil davon gekommen ist.“

„Warum denn das?“, fragte ich und musste wieder an sein bedrohliches Grinsen denken. Der Typ hatte auf mich einen sehr einschüchternden Eindruck gemacht. Er hatte nicht ausgesehen wie ein Schläger, weil er dafür etwas zu schlank gebaut gewesen war – aber zugetraut hätte ich ihm dennoch einiges.

„Er ist ziemlich …“ Antonia brach ab, fasste sich mit dem ausgestreckten Finger an die Schläfe und drehte diesen langsam im Kreis. Ich hätte das für einen Scherz gehalten, hätte sie dabei nicht so ernst geguckt.

„Echt?“

„Ja. Außerdem hat er irgendwie etwas ganz Aggressives an sich. Er darf sich an unserer Schule natürlich nicht prügeln, sonst kann er rausfliegen oder suspendiert werden. Aber ich habe mal einen Jungen gesehen, der in den Ferien eine Schlägerei mit Keith angefangen hat und von ihm ziemlich übel zugerichtet worden ist. Glaub mir, so etwas Brutales hast du unter Leuten unseres Alters noch nicht gesehen, mir ist förmlich alles hochgekommen.“ Um ihre Worte zu verdeutlichen, legte sich Antonia eine Hand auf ihren Bauch, als wäre ihr schlecht.

„Da hab ich ja wirklich Glück gehabt, dass er das von heute nicht so ernst genommen zu haben scheint“, murmelte ich leise, und sah zu Boden.

Antonia zuckte die Schultern. „Ich schätze mal, er hat dich in Ruhe gelassen, weil der Lehrer gerade zugesehen hat und du sozusagen die Neue bist. Jedenfalls würde ich mich an deiner Stelle für den Rest der Woche ruhig in seiner Gegenwart verhalten, sonst könnte er dir doch etwas antun“, warnte sie mich. „Für ihn macht es nämlich nicht viel Unterschied, ob er es mit Jungs oder Mädchen zu tun hat.“ Dann hielt sie an der kommenden Kreuzung an und blickte sich kurz um. „Sorry, ich muss jetzt hier abbiegen, wenn ich keinen großen Umweg nehmen will. Tja, dann bis morgen“, meinte sie, winkte kurz und drehte sich dann schwungvoll auf dem Bürgersteig um, bevor sie in eine andere Straße einbog.

Ich verabschiedete mich ebenfalls und lief weiter geradeaus.

Toll. Kaum war ich einen Tag in der Klasse, die normalerweise bloß einen Gang von meiner eigenen entfernt war, und schon machte ich mir Feinde. Keith … Allein der Name jagte mir inzwischen einen Schauer über den Rücken und eine Gänsehaut über die Arme, wenn ich daran zurück dachte, was passiert war.

Ein tiefer Seufzer drang aus meiner Kehle, weil ich an die bevorstehende Therapie denken musste. Wieder eine Stunde, in der wir reden, einander zuhören und am Ende doch nichts erreichen würden.

Ich schreckte zusammen, als neben mir ein laut hupendes Auto vorbeifuhr und scharf an der Ampel vorbeibrauste, die gerade gelb geworden war. Ich folgte dem Fahrzeug mit schreckensgeweiteten Augen und griff reflexartig an meinen Kopf. Die Wunde, die bei dem damaligen Unfall entstanden war, war natürlich längst verheilt, aber mir war es so, als würde ich sie immer noch spüren.

Nach einigen Sekunden ging ich weiter und beeilte mich, um, bevor wir zu meinem Therapeuten fuhren, mindestens noch essen zu können.

 

 

- Kapitel 2 -

 

Keith:

Keith, warte bitte ein wenig. Das Mädchen ist immer noch ganz verstört, das Ganze hat sie sehr mitgenommen“, sagte Mr. Willsem, mein Therapeut und persönlicher Folterknecht.

Ich nickte bloß verständnisvoll, obwohl mir langsam die Geduld ausging. Wegen diesem achtjährigen Mädel hatte sich der Zeitplan stark verschoben und er ließ mich nun schon mehr als eine  Stunde hier warten, was normalerweise eigentlich nicht vorkam. Ganz ehrlich, ich hatte Besseres zu tun, als im Wartezimmer rumzusitzen und vor mich hin zu rotten. Immerhin hatte unser Lehrer uns genug Hausaufgaben aufgegeben, dazu kamen noch diese völlig unverschämten Zusatzblätter.

„Wir müssten gleich fertig werden, dann kann ich mich mit dir beschäftigen. Gott, heute läuft aber auch alles schief. Es tut mir leid, dass der Zeitplan so durcheinander geworfen worden ist“, meinte Mr. Willsem, bevor er die Tür hinter sich zuzog und dann verschwand.

Ich war wieder allein.

Wie so oft wanderte mein Blick durch das öde Wartezimmer, während ich ungeduldig mit den Fingern auf dem Arm meines Stuhles trommelte. Das Wartezimmer war blau gestrichen, an den Wänden hingen Plakate von Wohltätigkeitsveranstaltungen, Politikern und anderem Mist. Es gab braune Stühle, die den Eindruck erweckten, als würden sie bereits seit Jahren hier rumstehen. In der Mitte des Raumes befand sich ein kleiner, aus Glas bestehender Tisch, auf dem lauter Zeitschriften und Comics verteilt lagen. Dieser Therapeut hatte sich auf Kinder und Jugendliche spezialisiert, Erwachsene behandelte er für gewöhnlich nicht.

Eigentlich hätte meine Therapie bereits vor über einer Stunde beginnen und heute nicht länger als 30 Minuten dauern sollen, aber Mr. Willsem hatte spontan dieses Mädchen aufnehmen müssen, deren Mutter einen Haufen Geld bezahlt hatte, um eine Sitzung ohne Termin für sie zu bekommen. Theoretisch hätte ich schon lange fertig sein können, bevor der nächste Patient käme. Diese kleine Ratte hatte den ganzen Zeitplan über den Haufen geworfen.

Mr. Willsem war seit ungefähr fünf Jahren mein Therapeut. Vorher hatten meine Eltern ständig neue suchen müssen, da irgendwie keiner mit mir klar gekommen war. Wie auch immer, selbst Mr. Willsem hatte anfangs Probleme damit gehabt, einen Sadisten zu behandeln, aber irgendwie haben wir es doch geschafft, einen Draht zueinander zu finden. Mir blieb es bis heute ein Rätsel, wie ihm das gelungen war. Sonst hatte ich meine Therapeuten nicht leiden können. Ihn mochte ich auch nicht besonders, aber mit ihm konnte man zumindest mehr ganz gut reden. Und er lächelte nett. Ich meinte nicht dieses falsche Lächeln, das viele andere erwachsene Menschen im Gesicht trugen, sondern ein richtiges. Er behandelte mich nicht so, als wäre ich … nicht normal.

Gerade behandelte er ein Mädchen, das von ihrem betrunkenen Vater geschlagen worden war. Ich hatte sie nur kurz gesehen, aber der nicht lange dauernde Anblick hatte gereicht, um mir ein schadenfrohes Lächeln ins Gesicht zu zaubern.

Leider war das schon ziemlich lange her.

Ich stöhnte leise, verdrehte die Augen und blickte zur Decke. Meine Güte, wie lange würde das hier noch dauern? Fast so schlimm wie der Unterricht in unserer Schule …

Ich hörte, wie die Tür plötzlich aufflog, durch die die Kinder ins Wartezimmer gelangten. Als ich in die besagte Richtung sah, musste ich erst genauer hinsehen, um zu erkennen, wer hereingekommen war.

Es war ein Mädchen, mit dunklen Haaren und …

… Moment, die kannte ich doch.

Als sich unsere Blicke trafen, verharrten wir beide kurz. Sie starrte mich an und ihre Augen weiteten sich ein wenig, sie sagte aber nichts. Es war dieses Mädchen, das diese Woche in unsere Klasse ging, während ihre eigene auf Klassenfahrt war.

Wie hieß die? Elizabeth? Ja, genau, das war ihr Name.

„Na sieh mal einer an“, sagte ich langsam, legte den Kopf schief und grinste ihr zu. Sie erwiderte das Lächeln nicht. „Die Neue.“

Anstatt irgendwas zu antworten, kniff sie feindselig die Augen zusammen, marschierte mit festen Schritten direkt zu dem Tisch in der Mitte, nahm sich hastig eine beliebige Zeitschrift und setzte sich in den Stuhl, der am weitesten von mir entfernt war.

Ich lachte in mich hinein. Ich würde sie selbstverständlich noch dazu bringen, mit mir zu reden – das stand außer Frage.

„Weswegen bist du hier?“, wollte ich wissen. Für mich sah sie ganz normal aus. Hatte jemand wie sie wirklich eine Behandlung nötig?

„Geht dich nichts an“, meinte sie kühl, womit sie mich aber nur noch neugieriger machte, und beugte sich über ihre Zeitschrift. Ein paar ihrer braunen Strähnen fielen ihr ins Gesicht und verdeckten ihre Augen. Die Beine hatte sie ausgestreckt, die Ellenbögen in die Arme ihres Stuhles gestemmt. Es wirkte so, als wäre sie öfters hier. Jedenfalls saß sie ganz entspannt da, sorglos.

Währenddessen musterte ich sie von der Seite.

Sie war hübsch. Außerdem machte sie einen coolen Eindruck. Schon allein die Tatsache, wie sie mich heute im Unterricht angefaucht hatte, bewies, dass sie sich einiges traute. Ob sie schon mal was verbockt hatte? Etwas richtig Schlimmes?

„Warum so zurückhaltend?“, fragte ich und bleckte die Zähne. Ich merkte, dass sie mich aus dem Augenwinkel ansah. „Vorhin warst du nicht ganz so ruhig.“

Sie ignorierte mich und las weiter, blätterte zurück und wieder ein paar Seiten vor.

Ich musste zugeben, es hatte mich schon ziemlich überrascht, als sie mich heute im Unterricht angeschnauzt hatte. Es kam selten vor, dass sich jemand mit mir anlegte und diejenigen, die es taten, waren meist in Gruppen unterwegs. Elizabeth hatte sich allein getraut, so etwas zu bringen. Sie kannte mich zwar noch nicht, aber das war ihre Schuld.

Sie hatte offensichtlich nicht vor, mir so schnell zu antworten.

„Hast du keine Lust zu reden? Sag mir doch einfach, warum du hier bist“, machte ich weiter und richtete mich leichtfüßig auf. Dann steckte ich die Hände in die Hosentaschen meiner Jeans und schlenderte langsam zu ihr rüber, blieb etwa zwei Schritte vor ihr stehen.

Elizabeth hob nicht einmal den Kopf. Irritiert blätterte sie eine Seite um und vertiefte sich in einen Artikel.

„Ich bin hier schon seit fünf Jahren“, sagte ich mit neutraler Stimme, und obwohl sie nicht einmal mit der Wimper zuckte, wusste ich, dass sie mir zuhörte. „Weißt du, warum?“, fuhr ich fort. Stille. Ich wartete kurz, bevor ich ihr die Antwort auf meine eigene Frage gab. „Ich bin Sadist“, erklärte ich und wartete gespannt auf ihre Reaktion.

Eigentlich war das bloß ein Versuch, ihr Angst einzujagen. Ein Versuch, der gewaltig daneben ging, wie ich feststellen musste.

Sie ließ die Zeitschrift sinken und blickte kurz hoch. In ihren Augen lag Misstrauen. „Könntest du bitte zur Seite treten?“, fragte sie mit beherrschter Freundlichkeit. „Du störst ein bisschen.“

Ich überhörte die Bitte. „Weißt du überhaupt, was Sadismus ist?“, fragte ich und blieb stehen, wo ich war. Ich hatte mir mehr erhofft, wirklich. Die meisten Menschen sahen mich zumindest verwundert an, wenn ich ihnen das erzählte. Elizabeth schien das alles am Arsch vorbeizugehen. Selbst wenn sie in diesem Augenblick auch nur ein Stückchen Angst hatte, dann verbarg sie das aber verdammt gut.

Sie schnalzte verärgert mit der Zunge, sah mich aber trotzdem an und schüttelte den Kopf. „Nein.“

Das war es also. Und ich dachte schon.

„Sadisten sind Menschen, die Freude daran haben, anderen Leuten Schmerzen zu bereiten“, grinste ich und spürte, wie ein gefährlicher Glanz in meine Augen trat. „Oder auch andere Arten von Leid. Sowas wie Kummer und Unbehagen gehören auch dazu.“ Spätestens jetzt hätte sich etwas in ihrem Gesicht regen müssen.

Sie zeigte keine Reaktion. Sie sah mich einfach an, mit einem kühlen, eisigen Blick, während sich ihre Muskeln leicht anspannten und ihre Finger, die die Ränder der Zeitschrift krampfhaft umklammerten, kurz zuckten – ansonsten zeigte sie jedoch nichts Derartiges wie Angst oder Furcht.

Sie schenkte mir nur denselben, genervten Blick und ich musste mich zusammenreisen, um nicht in Lachen auszubrechen.

Ein hartes Mädchen ohne Angst vor Sadisten also. Sie gefiel mir.

 

Elizabeth:

Meine Kehle war ganz trocken, doch ich zwang mich, nicht zu schlucken. Ein Anflug von Angst überkam mich, machte meine Glieder taub. Glücklicherweise saß ich ja, sonst wäre ich jetzt gemächlich in die Knie gegangen.

Keith war also Sadist. Eigentlich hatte ich genau gewusst, was Sadismus war, aber als er mich gerade danach gefragt hatte, war es mir irgendwie klüger erschienen, zu lügen. Es war eine reine Panikreaktion gewesen, von der ich aber hoffte, sie gut vor ihm verborgen zu haben. Der Schock über das von ihm eben Gesagte saß aber dennoch tief.

Ob seine Mitschüler und Lehrer in der Schule das wussten? Oder hatte er es mir jetzt nur erzählt, um mir Angst einzujagen?

Egal, jedenfalls hob ich wieder desinteressiert die Zeitschrift hoch und tat so, als würde ich lesen, während ich insgeheim hoffte, dass er sich wieder setzen und mich in Ruhe lassen würde. Das war eine kritische Situation, in der ich mal wieder steckte. Schon jetzt bereute ich es bitter, ihn heute angefaucht zu haben. Jetzt war es klar zu sehen, dass er es auf mich abgesehen hatte.

Er ließ nicht locker. „Also, komm schon. Ich hab dir gesagt, warum ich hier bin. Was hast du für Probleme?“, fragte Keith mit unschuldiger Stimme und trat etwas näher heran. Sein Schatten wurde auf die winzigen Buchstaben des Artikels geworfen. Ich konnte nicht lesen. Nicht nur wegen dem mangelnden Licht, die Worte verschwammen vor meinen Augen, tanzten über das dünne Papier. War es die Furcht, die mich so benommen machte? Oder doch eher die Tatsache, dass vor mir ein gewaltbereiter Schläger stand?

„Das würdest du bestimmt gerne wissen“, schnaubte ich und schlug die Zeitschrift zu.

„Ja, eben.“

„Ich hatte mal einen Unfall, okay?“, fuhr ich ihn an, gereizt und sogar ein wenig verzweifelt über meine Lage. Hätte er mir doch nur nicht gesagt, dass er Sadist war und hätte Antonia mir nicht von seinen Schlägereien erzählt. Er würde mich doch wohl nicht im Wartezimmer eines Therapeuten zusammenschlagen, oder? Unwillkürlich suchte ich schon nach einem Fluchtweg, was aber schwer war, da er direkt vor mir stand. „Unser Auto ist einen Hügel hinunter gerollt und ich hab seitdem leichte Probleme mit Fahrzeugen. Zufrieden?“

Sein Lächeln verschwand kurz und er schien verwirrt. Offenbar hatte er etwas völlig anderes erwartet. „Muss man deswegen gleich zur Behandlung?“

„Ja, wenn man so wie ich an Amaxophobie leidet“, sagte ich und bereute es schnell. Wieso erzählte ich das? In diesem Augenblick hätte ich mir gern auf die Zunge gebissen, mit voller Absicht und so stark, dass sie geblutet hätte.

„Was genau bedeutet Amaxophobie?“

„Hast du nicht zugehört? Das ist eine Phobie, bei der man Angst davor hat, mit Autos zu fahren. Fahrangst, sozusagen“, zischte ich und funkelte ihn an, als Zeichen, dass er gefälligst gehen sollte. Ich konnte förmlich spüren, wie sich über meinen Augen ein tiefer und dunkler Schatten ausbreitete. „Du weißt jetzt, was du wissen wolltest. Bitte geh jetzt.“

„Wovor hast du sonst noch Angst?“, fragte er in einem bedrohlich ruhigen Tonfall, stemmte seine Hände gegen die Arme meines Stuhles und beugte sich zu mir vor. Ich glaube, so etwas wie Freundlichkeit und Benehmen waren für diesen Jungen völlig fremd.

Ich sah erschrocken auf und lehnte mich zurück, so weit, wie es in diesem Stuhl nur ging. Tja, jetzt hatte Keith wohl erreicht, was ihm vorhin erst misslungen war: Jetzt hatte er meine volle Aufmerksamkeit.

Ich sah direkt in die dunklen, grünen Augen, die nicht sehr weit weg von meinen eigenen entfernt waren und ein kalter Schauer durchfuhr mich.

„Geht dich nichts an“, presste ich zwischen knirschenden Zähnen hervor und merkte, wie sich warme Schweißperlen auf meiner Stirn bildeten. Das Einzige, worüber ich in diesem Moment wirklich glücklich war, war die Tatsache, dass mein Gesicht sich nicht rot verfärbte. Ich blieb blass, wie sonst auch. 

„Beantworte meine Frage“, meinte Keith und beugte sich noch etwas näher. Zwischen unseren Gesichtern war kaum noch Platz für eine Hand und meine Angst verwandelte sich hurtig in verständnislose Panik.

„Ich habe vor nichts Angst“, hauchte ich und rückte so weit wie möglich zurück. Brachte leider nichts. Ich wusste nicht genau, auf was ich hoffen sollte: Dass jemand rein kam und diese peinliche Situation beendete, oder dass wir doch alleine blieben und niemand herausfand, was hier gerade abging.

„Sicher?“, fragte er und lächelte wieder. Es war kaum mehr als das Heben der Mundwinkel. Mir fiel das Atmen schwerer.

Meine Stimme versagte. Meine Lippen formten bereits das Wort, das sie verlassen sollte, doch aus meinem Mund kam kein einziger Laut. Also nickte ich bloß missmutig, obwohl ich selbst genau wusste, was für eine dumme und dreckige Lüge das doch war.

So stand er eine Weile da und ich fragte mich, ob er überhaupt noch gehen würde. Er stand immerhin direkt vor mir, beugte sich zu mir herunter, das Gesicht nur wenige Zoll gegenüber von meinem und musterte mich.

„Weißt du was?“, fragte er dann irgendwann und ich musste zugeben, dass ich gespannt darauf wartete, was dieser Irre als Nächstes sagen würde. „Ich glaube, mit dir kann man sich gut die Zeit vertreiben. Wie wär’s? Hast du Lust auf ein kleines Spiel?“

Ich runzelte die Stirn, unfähig, etwas zu tun. Er würde mich nicht in Ruhe lassen. Auch am Ende der Woche nicht, darin war ich mir jetzt sicher. Warum, konnte ich selbst nicht genau sagen. Jedenfalls musste ich ihm jetzt geben, was er von mir wollte – egal, was ich dadurch auf mich nehmen müsste. Wenn auch nur, damit er mich nicht hier und jetzt so derartig belästigte.

Also nahm ich bloß einen solch emotionslosen Gesichtsausdruck an, wie ich nur konnte, und fragte mit gefasster Stimme: „Und wie sind die Spielregeln?“ 

„Die bestimmst du selbst. Hauptsache, wir beide verbringen etwas Zeit miteinander“, meinte er, griff vorsichtig mit einer Hand nach meinem Kinn, hob es an und beugte sich näher heran. Ehe ich verstand, was um mich herum eigentlich geschah, berührten sich unsere Lippen kurz und seine Hand glitt von meiner Wange zu meinem Nacken. Er drückte mich noch etwas fester an sich, während ich wie benommen da saß. Seine Lippen waren kühl, bewegten sich auf meinen.

Als ich mich endlich gefasst hatte, ballte ich die Fäuste und drückte ihn energisch von mir weg.

„Spinnst du?!“, schrie ich ihn an, während er einen Schritt zurücktaumelte. Nun stieg mir die Röte doch ins Gesicht und ich sprang von meinem Stuhl auf, die Zeitschrift fiel laut knisternd zu Boden.

Genau in diesem Moment öffnete sich die Tür zum Behandlungszimmer meines Therapeuten und ein kleines Mädchen kam heraus, gefolgt von Mr. Willsem selbst. „Christiane, deine Mutter wartet draußen auf dich. Und vergiss nicht, was ich dir gesagt habe“, sagte der Mann zu dem Mädchen, das sich knapp verabschiedete und dann durch die Tür trat, durch die ich gekommen war.

Mr. Willsem seufzte erschöpft, setzte dann aber wieder sein freundliches Lächeln auf und sah erst zu mir, dann zu Keith, der derweil wieder fest auf den Beinen stand und die Hände unschuldig in die Hosentaschen gesteckt hatte. Er schmunzelte und zwinkerte mir zu.

So ein Penner.

„Keith, du bist als Nächster dran. Elizabeth? Du kommst heute recht früh, kann das sein?“, fragte Mr. Willsem und sah gehetzt auf seine Armbanduhr. Er wirkte überfordert.

Ich konnte nicht antworten. Immer noch aufgewühlt starrte ich Keith an.

Mein Therapeut kratzte sich verlegen am Kopf. „Tut mir leid, das Gespräch mit der Kleinen hat mehr Zeit weggenommen, als ich erwartet habe. Für gewöhnlich wäre Keiths Sitzung schon vorbei, noch ehe du dich auf den Weg zu deiner machen würdest“, sagte er an mich gewandt. „Heute läuft aber auch alles schief. Aber keine Angst, das wird jetzt etwas flotter gehen. Ich werde einfach versuchen, Keiths Therapie ausnahmsweise so kurz wie möglich zu halten, damit du nicht so lange warten musst“, versicherte er. Dann bat er Keith mit einer Geste, ihm ins Behandlungszimmer zu folgen und verschwand genauso schnell, wie er gekommen war.

Keith folgte ihm mit lässigen und langsamen Schritten, doch bevor er den Raum endgültig verließ, drehte er sich im Türrahmen zu mir um und grinste mir noch einmal hinterhältig zu. „Nun, dann hat unser Spiel wohl soeben begonnen.“ 

- Kapitel 3 -

 

Elizabeth:

Der nächste Tag war die reinste Hölle gewesen.

Ich wusste nicht, warum. Vielleicht hatte es ja daran gelegen, dass Keith Sadist war und Spaß daran hatte, es mir schwer zu machen. Vielleicht auch daran, dass ich ihn, als er dabei gewesen war, mich zu küssen, von mir weggedrückt hatte und er sich nun rächen wollte. Jedenfalls hatte es sich dieser Junge zur Aufgabe gemacht, mich bei jeder Gelegenheit zu demütigen, mich zu schikanieren und bloßzustellen.

Er hatte immer witzige Sprüche und Kommentare auf Lager gehabt, wenn ich mich mal gemeldet und etwas gesagt hatte. Meistens hatten auch alle gelacht, abgesehen von mir und obwohl sich das harmlos anhörte, nervte es nach dem zehnten Mal extrem, da die anderen irgendwann auch begonnen hatten, darauf anzuspringen.

Wenn ich aufzählen müsste, wie oft er mir nur an diesem Tag ein Bein gestellt hatte, sobald ich an ihm vorbei gekommen war, hätte ich mich gar nicht mehr erinnern können. Ganze drei Mal hatte er es sogar geschafft, dass ich mit den Knien auf den harten Boden gefallen war.

Zu Beginn der Pause war er mir sogar auf der Treppe aufgelauert und hatte versucht, mich hinunter zu schubsen – was ich glücklicherweise gerade noch hatte verhindern können.

Ein paar Mal hatte er mich im Gang etwas zu hart gegen die Wand oder gegen ältere Schüler geschubst, bei denen ich mich habe peinlich berührt entschuldigen müssen. Auch drei blaue Flecken an meinen Armen hatte ich ihm zu verdanken.

Aber der absolute Höhepunkt war der Moment gewesen, in dem ich gespürt hatte, wie etwas mit voller Wucht gegen meinen Nacken geschlagen hatte. Kurz darauf war lauter kaltes Wasser meinen Rücken hinuntergeflossen und schließlich von dem Stoff meines T-Shirts und meines Rucksacks eingesaugt worden. Keith hatte von hinten mit einem Wasserballon nach mir geworfen, als ich die Klasse nach Schulschluss verlassen hatte. Diesen Augenblick würde ich nie vergessen.

Ich hatte mich nur kurz zu ihm umgedreht, mit nichts weiter als Fassungslosigkeit auf dem Gesicht. Und wozu? Nur um ein weiteres, fieses Lächeln von ihm zu ernten. Am liebsten hätte ich ihn angeschrien. Laut, so laut, dass alle auf dem Schulhof es mitbekommen hätten. Aber das hatte ich nicht getan. Ich hatte die Lippen zusammengepresst, ihn finster angeblitzt und war dann demonstrativ weiter gegangen.

Ich gab inzwischen zu – vielleicht war die arrogante Geste, mit der ich dabei die feuchten Haare zurückgeworfen hatte, ein wenig zu viel des Guten gewesen, aber in dem Moment hatte meine Wut ein viel zu großes Ausmaß gehabt, um mir die Möglichkeit zu geben, darüber nachzudenken.

Es hätte selbstverständlich schlimmer kommen können. Glücklicherweise schien er zum Beispiel niemandem von meiner Fahrangst erzählt zu haben, aber es konnte noch alles kommen. Gott, wann würde meine Welt wieder normal werden ..?

 

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Wütend warf ich das Deutschheft in die Mülltonne. Es war nicht mehr zu gebrauchen. Alles, was ich bis jetzt geschrieben hatte, war verschwunden, vom Wasser weggewischt. Auch die leeren Seiten waren durchnässt und unnütz.

Ich ging nicht wieder in mein Zimmer, sondern blieb auf dem Boden der Küche sitzen und kramte in meiner feuchten Schultasche. Ich war mir sicher, das Deutschheft war nicht das Einzige, was ich nun hätte wegwerfen können. Wenigstens hatten die Bücher überlebt und ich müsste sie nicht bezahlen. Im Großen und Ganzen war nichts von uns gegangen, nur mein Hausaufgabenheft und mein Vokabelheft hatten den gemeinen Wasserballonangriff nicht überstanden.

Meine Haare und mein T-Shirt waren im Laufe der Zeit längst getrocknet. Geduscht hatte ich trotzdem, da mich die Sorge geplagt hatte, im Ballon hätte etwas anderes als Wasser sein können.

„Wird wohl eine harte Woche“, murmelte ich vor mich hin, während ich mich ungeschickt aufrichtete und zusammen mit meiner Schultasche in mein Zimmer ging. Keiths Aktion mit dem Wasserballon grenzte schon fast an Mobbing und ich bereute bereits, seinem dummen Spiel zugestimmt zu haben.

Die Regeln hatte ich nach wie vor nicht begriffen. Wenn ich aber raten dürfte, würde ich sagen, dass es darum ging, es mir besonders schwer zu machen.

Erschöpft schloss ich die Tür hinter mir und lehnte mich erst einmal dagegen. Mein Zimmer war klein, mit nichts weiter als einem Bett, einem Tisch, auf dem ein moderner PC stand und einem Schrank. Ansonsten stand noch eine kleine Kommode neben meinem Schlafplatz und auf dem laminierten Boden war ein schwarzer, flauschiger Teppich ausgebreitet. Meine Tapete war weiß, mit schwarzen Tigern und Bildern, die ich mit Klebeband aufgehängt hatte. Es gab ein großes Fenster, das beinahe eine ganze Wand in Anspruch nahm und dessen Ausblick nichts weiter bot, als unsere Straße.

Heute war Dienstag und ich war gerade erst zu Hause angekommen, deshalb war ich auch allein. Mein kleiner Bruder Stieve hatte noch Fußball, meine Eltern arbeiteten. Das hieß wohl, ich würde mir heute mein Essen mal wieder selbst machen müssen.

Oder ich rief bei der Pizzeria an. Was war klüger? So teuer war eine Pizza gar nicht und bei unserer Pizzeria lieferten sie für wenig Geld. Ich dachte kurz darüber nach, aber wie immer siegte am Ende doch die Faulheit.

Ich machte mit dem Telefon eine Bestellung, bevor ich mich an den Stapel Hausaufgaben setzte, der mich schon seit vielen Tagen boshaft auslachte und immer größer zu werden schien.

Es verging etwa eine halbe Stunde, bis ich mit dem Aufsatz in Bio fertig wurde. Ich wollte niemandem etwas vormachen, ich war kein Streber und kein Meisterschüler. Vielleicht fehlte es mir sogar an Intelligenz.

Trotzdem war ich, was Aufsätze, Referate oder Hausaufgaben anging, ziemlich fleißig.

Dazu trieb mich täglich meine Mutter an, da sie selbst in ihren jungen Jahren nicht besonders gut in der Schule gewesen war. Nun arbeitete sie als Sekretärin in einer Art Firma, auch nach dem Unfall hatte sie ihren Job nicht aufgegeben. Ich musste zugeben, dass ich sie deswegen bewunderte. Mein Vater arbeitete mit Computern, entwickelte neue Programme, die den Menschen helfen sollten, besser mit Technik umgehen zu können.

Als ich ungefähr die Hälfte der Hausaufgaben fertig gemacht hatte, ging ich ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher an, konnte mich aber nicht auf die Sendung konzentrieren. Ich musste an Keith denken, und wie viel Angst er mir doch machte. Ob er mich weiterhin so behandeln würde?

Und zu mir war er vermutlich noch vergleichsweise nett. Ich verdrängte den Gedanken schnell, da ich nicht darüber nachdenken wollte, wie es wäre, seine wirklich böse Seite kennenzulernen.

Eigentlich hatte ich vor gehabt, mich bald an die Hausaufgaben in Mathe zu machen, aber dazu hatte ich gerade keinen Kopf. Irgendwie … war mir schlecht. Nicht nur wegen des schweren Tages. In meinem Kopf drehte sich alles und mir wurde übel. Auf meiner Stirn hatte sich Schweiß gebildet und ich hörte das Blut, wie es schnell durch meinen Kopf schoss.

Konnte es sein, dass es Folgen mit sich brachte, wenn man draußen mit nassen Haaren rumlief? Und mit einem nassen Nacken?

Ich glaubte, ich würde morgen mal zu Hause bleiben.

 

- Kapitel 4 -

 

Keith:

Keith, könntest du bitte aufpassen, wenn du dich schon nicht meldest?“, fragte mich meine Deutschlehrerin genervt und baute sich vor mir auf.

Ich schreckte aus meinen Gedanken und zuckte zusammen, setzte dann aber ein entschuldigendes Lächeln auf und versteifte meine Haltung. „Äh, ja, natürlich“, sagte ich schnell und legte ordentlich die Hände auf dem Tisch ineinander.

Frau Alima musterte mich mit zusammengezogenen Augenbrauen, bevor sie sich wieder zur Tafel umdrehte und einen Relativsatz anschrieb. Sie war eine junge, leicht füllige Frau mit einer runden Brille auf der Nase, blonden Haaren und kurzen, seltsam aussehenden Händen. Die meisten Schüler mochten sie, was ich allerdings nicht nachvollziehen konnte.

Sie war eine der wenigen Lehrer, die von meinen psychischen Problemen wussten und schien eine Abneigung gegen mich entwickelt zu haben. Kein Wunder, sie war auch diejenige, die sich um mich kümmern musste, wenn ich mal wieder eine Schlägerei außerhalb der Schule anfing und sich die Eltern der Idioten hinterher beschwerten.

Als ich mir sicher war, dass sie noch eine Weile schreiben würde, drehte ich mich um und warf einen Blick über die Schulter. Elizabeths Platz war frei. Sie war heute nicht in die Schule gekommen. Ob es wohl an dem Wasserballon lag, mit dem ich nach ihr geworfen hatte? Immerhin war es bei dem kühlen Wetter recht leicht, sich was einzufangen.

Ich hätte mich normalerweise darüber gefreut, dass es einem meiner Klassenkameraden wegen mir schlecht ging – ich wäre sogar stolz gewesen, hätte es nicht meinen Spielgenossen getroffen.

Elizabeth hielt sich gut. Der gestrige Tag war problemlos verlaufen. Ich meine, sie hatte sich nicht bei den Lehrern über mich beschwert, bei niemandem geklagt, mich nicht angeschrien. Und trotzdem hatte ich das Gefühl, dass sie sich das alles nicht mehr sehr lange gefallen lassen würde. Bei ihr brodelte es unter der Oberfläche, sogar gewaltig. Bald würde sie sich ihre eigenen Spielregeln selbst setzen und zurückschlagen. Nur eben nicht heute, denn an diesem Tag war sie zu Hause geblieben.

„Sieht aus, als wäre dein Opfer heute zu ängstlich, um das Haus zu verlassen“, flüsterte Erik, der neben mir saß und offenbar besonders viel Langeweile hatte. Sonst hätte er die Hände nicht auf dem Tisch verschränkt, um seinen Kopf darauf zu betten. Sicher war ihm aufgefallen, wie oft ich einen Blick über die Schulter riskierte, als würde ich hoffen, dass sie irgendwann doch noch dort sitzen würde. „Eine nette Freundin hast du dir angeschafft“, neckte er mich und lauschte mit müden Augen dem Unterricht.

Es war bereits die zweite Stunde an diesem Tag, doch alle Schüler waren immer noch ganz benommen vor Schlafmangel. Wahrscheinlich hatten die meisten gestern ihre Zeit bis tief in die Nacht auf Facebook oder Twitter verbracht. „Und? Wie lange willst du sie noch so mobben?“, fragte er mich leise, während er sich unauffällig zu mir rüber beugte.

Frau Alima ließ sich nicht unterbrechen und erklärte in aller Ruhe, was ein Relativsatz war. Es war eine kurze Wiederholung aus dem letzten Schuljahr.

Es war nicht immer leicht, ganz vorne zu sitzen. Allerdings blieb mir und Erik nichts anderes übrig, da wir die „Rabauken“ der Klasse waren (wie uns die älteren Lehrer nannten). Wir beide verhielten uns während des Unterrichtes ruhig, schrieben eigentlich gute Noten, mussten aber zusammen immer Ärger bauen, sobald keine Autoritätsperson in der Nähe war.

In der Klasse hatte ich nur mit wenigen Leuten Kontakt, vielleicht mit drei, vier Jungs. Die meisten meiner Freunde waren auf anderen Schulen, von denen ich aber wegen schlechtem Verhalten geflogen war.

Erik war wesentlich geselliger als ich, auch wenn er genauso viel Mist baute. Er war mit jedem Idioten aus der Klasse befreundet, kannte auch einige von den älteren Schülern und ging oft aus. Auch mit Mädchen hatte er viel zu tun – nur die Neue hatte ihn bis jetzt nicht interessiert, Elizabeth hatte er keines Blickes gewürdigt.

„Ich will ja nicht, dass du noch eifersüchtig wirst“, hatte er sich über mich lustig gemacht.

Dafür hatte ich ihm eine Ohrfeige versetzt.

„Ich mobbe sie nicht“, flüsterte ich zurück, ohne die Lippen zu bewegen. Zwar hatte uns die Lehrerin den Rücken zugewandt, aber ich hatte das Gefühl, dass sie uns durch die Spiegelung in dem Glas eines Bildes beobachtete. Ich konnte mir es nicht verkneifen, zu lächeln. „Ich spiele bloß ein Spiel mit ihr.“

„Für dich sind Menschen auch nichts anderes als Schachfiguren“, seufzte er übertrieben ironisch und wohl ein wenig zu laut, denn Frau Alima drehte sich ruckartig zu uns um und unterbrach ihren Vortrag. Wir beide verharrten zusammen mit dem Rest der Klasse und versuchten, ihr nicht in die Augen zu sehen, sondern interessiert an die Tafel zu starren. Half leider nicht. Ich spürte, dass ihr Blick auf mir ruhte. Dabei war es doch dieses Mal Erik, der Scheiße gebaut hatte!

„Da fällt mir gerade ein … Hat jemand von euch Elizabeths Telefonnummer?“, fragte sie uns, während ihre Augen die Klasse durch ihre Brillengläser hindurch streiften.

Alle schüttelten die Köpfe. Ich schluckte.

Frau Alima senkte enttäuscht die Schultern. „Ach, das ist ja wirklich bedauerlich. Ich müsste sie zwar irgendwo hier haben, aber wenn ich es mir recht überlege … wird das wohl nicht besonders helfen, da sie auf diese Weise gar nicht die Arbeitsblätter bekommen würde. Kennt denn einer von euch ihre Adresse?“

Antonia, die ein paar Reihen hinter mir saß, hob zögernd den Arm. Ihr Gesicht war ganz rot, denn sie war keine von denen, die es mochten, vor der Klasse zu sprechen. „Ich kenne sie so ungefähr.“

„Könntest du vielleicht bei ihr vorbeischauen und ihr die Aufgaben der Hausaufgabe erklären? Sie hat heute ziemlich viel verpasst. Na ja, oder ich erklär es ihr morgen eben noch einmal in der Pause.“

Mein Herz setzte kurz aus. Ich wusste nicht, warum, aber durch meinen Körper schoss ein Schlag von Energie. Meine Lippen formten sich von allein zu einem fiesen Lächeln und meine Hand hob sich gemächlich in die Höhe, wie die einer Puppe, die durch Fäden ferngesteuert wurde. „Ich könnte ihr die Aufgaben vorbeibringen“, sagte ich, ohne darauf zu warten, dass unsere Lehrerin mich dran nahm.

Ausnahmsweise bekam ich deswegen mal keine Stammpauke, stattdessen hob sie überrascht die Augenbrauen, bevor ihre Miene misstrauisch wurde. Im ersten Moment war sie sicher erstaunt gewesen, dass ich jemandem helfen wollte, aber nun war sie wohl dahinter gekommen, dass es bloß zu meinem Nutzen war. „Du hast ihre Adresse und du hast gut genug aufgepasst, um ihr die Aufgaben erklären zu können?“, fragte sie argwöhnisch.

Manchmal war ich schon fast beleidigt, wie wenig sie mir zutraute.

Ich hielt eine barsche Antwort zurück und nickte bloß.

„Okay, dann wäre das ja geregelt“, sagte sie langsam, während sie sich umdrehte, um dann mit ihrem Unterricht fortzufahren. Natürlich hörte ihr keiner zu. Die meisten Leute kritzelten in ihren Heften rum, flüsterten mit dem Nachbarn oder schauten verträumt aus dem Fenster, als könnten sie das Schellen, das die Pause ankündigen würde, nicht erwarten. Keiner sah besonders fröhlich aus. Außer mir.

Denn ich war derjenige, der sich entspannt und selbstzufrieden zurücklehnte und mit den Fingern auf der Tischplatte trommelte.

„Alter, hast du wirklich schon ihre Adresse? Nach nur einem Tag? Sag mal, bist du zum Stalker geworden?“, wollte Erik halb im Scherz wissen, und ich musste an seinem Ton und Gesichtsausdruck feststellen, dass er ehrlich verblüfft war.

„Die bekomme ich schon“, murmelte ich lediglich, womit ich das Thema beendete. Die würde ich sicher noch bekommen. Und dafür war nichts weiter nötig, als ein kleines Telefonat mit meinem Therapeuten.

 

Elizabeth:

Es war so verdammt heiß.

Schwer atmend schlug ich mir die Decke von den Beinen und versuchte, mir mit der Hand Luft zuzufächeln. Die Hitze ließ mich schwitzen, sie erfüllte mein ganzes Bett und Zimmer. Meine Eltern hatten mir verboten, das Fenster zu öffnen und ließen mich hier langsam wie Wasser verdampfen.

Fieber.

Gestern hatte ich bloß an einen Menschen erinnert, der zu faul war, um aufzustehen – aber heute war ich nichts weiter als ein Haufen Elend. Meine Haare waren schweißgetränkt, meine Kleidung klebte an meinem Körper und mein Gesicht war gerötet. Ich sah die Welt nur noch verschwommen, durch eine Art Tränenschleier und meine Lippen bebten unbeholfen.

Neben meinem Bett stand ein Eimer, nur für alle Fälle.

Mein Vater war in der Apotheke, um etwas zu besorgen, das mir hoffentlich gegen diesen Zustand half. Ich betete, dass er bald zurück sein würde, denn lange hielt ich es nicht mehr aus. Stieve hatte mir schon einen Tee gekocht und an meiner Stelle den Abwasch erledigt. Manchmal konnte er richtig süß und nett sein.

Mein kleiner Bruder hatte genau wie ich braune Haare, seine waren aber eher glatt. Sein Gesicht war wie eine jüngere Version von meinem, nur ein wenig schmaler und etwas blasser. Auch meine sportliche Figur hatte er, wobei er natürlich ein wenig breiter gebaut war.

In meinem Magen zog sich alles zusammen und ich fragte mich nicht zum ersten Mal, ob ein gewöhnlicher Wasserballon so viel Unheil anrichten konnte. Hoffentlich würde Keith etwas Schlechtes zustoßen. Etwas, das mindestens halb so schlimm war, wie das hier. Vermutlich lachte sich dieser Sadist gerade die Lunge aus dem Leib, weil ihm klar war, dass er mit seinem Angriff großen Erfolg gehabt hatte.

„Stieve!“, rief ich so laut ich konnte und wartete kurz. Nichts zu hören. „Stieve!“, wiederholte ich etwas lauter. Er kam immer noch nicht und ich griff nach einem Labelo in meiner Tasche, den ich dann mit voller Wucht gegen die Tür schmiss. „STIEVE!“

Nun nährten sich eilige Schritte. So groß war unsere Wohnung nicht, er hätte mich eigentlich schon beim ersten Mal hören müssen.

Wir lebten im ersten Stock, wegen meiner Mutter, die mit dem Rollstuhl nur schwer Treppen bewältigen konnte. Wenn sie das Haus verließ, lief sie hin und wieder mal auf Krücken, ansonsten verbrachte sie ihr Leben im Sitzen. Wir lebten in einer Wohnung mit einem Bad, einer kleinen Küche, einem anständig großen Wohnzimmer und drei Schlafzimmern. Ich fand, wir hatten es ziemlich gut, auch wenn man hier nicht oft Privatsphäre fand.

Die Tür öffnete sich einen Spalt breit und Stieve steckte seinen Kopf hindurch. Obwohl er ganze drei Jahre jünger war, als ich, war ich kaum größer als er. Nicht mehr lange, und er würde mich überholen.

„Hast du gerufen?“, fragte er und trat ein. In seinem Ton schwang ein wenig Sorge mit. Er war so niedlich.

„Kannst du bitte Papa anrufen und fragen, wo er bleibt?“

„Warte kurz“, sagte er und griff in seine Tasche, um sein Handy zu zücken. Es war noch relativ neu, doch er ließ es locker zwischen seinen Fingern gleiten, ohne zu befürchten, dass es runterfiel. „Brauchst du sonst noch etwas?“, fragte er.

„Meine Gesundheit.“

„Die bekommst du schon bald“, meinte er mit einem Augenverdreher, bevor er aus dem Raum trat und per Kurzwahl meinen Vater anrief.

Ich war froh, so einen liebevollen Bruder zu haben. Er war nicht einer dieser Typen, die auf cool taten, Schlägereien anfingen und sich dadurch aufspielten, wie viele Dummheiten sie sich trauten. Er war ruhig, aber trotzdem witzig und locker drauf, ohne irgendwelche Probleme zu bereiten oder Ärger zu machen. Er hing auch mit Mädchen ab, ohne auf den Spott von ein paar Jungs aus der Schule zu reagieren, was ich an ihm ehrlich bewunderte.

Während Stieve vor meiner Tür telefonierte, lauschte ich meinem eigenen Herzschlag. Schnell und laut. Gleich würde mein Herz aus meiner Brust springen.

„Papa ist schon auf dem Heimweg“, rief Stieve von draußen, während ich mir sehnlichst wünschte, der Begriff „bald“ würde nicht länger als wenige Minuten bedeuten.

 

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Papa kam zwar erst ganze zehn geschlagene, qualvolle Minuten später zurück, aber das Warten hatte sich gelohnt. Und wie es sich gelohnt hatte! Nachdem ich die Tabletten eingenommen und den Saft getrunken hatte, fühlte ich mich viel besser. Und nachdem ich eine Runde geschlafen hatte, ging es mir wahrlich bemerkenswert. Das Denken, Gehen und Sitzen fiel mir immer noch schwer und ich benahm mich, als wäre ich betrunken, aber schon bald würde ich nüchtern werden.

 

Keith:

Es war bereits Viertel vor fünf, wie es mir ein Blick auf meine Uhr verriet und ich beschleunigte meinen Schritt, um doch noch rechtzeitig bei Elizabeth anzukommen. Die Straße, durch die ich lief, war laut, von Leben erfüllt und von Menschen überfüllt – genauso, wie ich es mochte.

Meine Augen suchten beinahe schon verzweifelt nach dem richtigen Haus. Die Adresse hatte mir Mr. Willsem erst gar nicht verraten wollen, als ich ihn angerufen hatte. Stur wie ein Bock hatte er sich geweigert, sie mir zu geben, obwohl ich ihm sogar die Situation genau erklärt hatte.

Erst nach zwanzig Minuten des Bettelns hatte er sich weichklopfen lassen. Für gewöhnlich bettelte ich nicht. Ich drohte Menschen einfach, aber bei meinem Therapeuten ging das ja schlecht. Lehrer, Eltern und Mr. Willsem, das waren die Menschen, bei denen ich höflich blieb.

Bei anderen lohnte es sich selten.

Auf meinem Rücken trug ich den Rucksack, in dem die Aufgaben und die nötigen Bücher steckten.

Sicher würde Elizabeth sich freuen, mich zu sehen, dachte ich ironisch und lachte in mich hinein. Vorausgesehen, ich fand das richtige Haus. Derweil erwachte in mir langsam der Verdacht, Mr. Willsem hätte mir die falsche oder gar eine unechte Adresse gegeben, um mich loszuwerden, aber das war unwahrscheinlich. Das hätte bloß unser Verhältnis zueinander verschlechtert.

Neben mir flog ein Auto mit unglaublich schneller Geschwindigkeit vorbei und der dabei entstehende Wind wehte mir die dunkelblonden Haare ins Gesicht. Ich strich sie mit einer Handbewegung weg und folgte dem Fahrzeug verärgert mit den Augen. Es war nicht ungewöhnlich, dass ich als Sadist schnell Hass auf einen Menschen entwickelte. Bei mir ging so etwas in wenigen Sekunden. Manchmal brauchte ich nur einen Augenblick.

Aber oft konnte ich meine brutalen Gedanken zur Seite schieben und mich beherrschen. Am öftesten gelang es mir, wenn etwas anderes meine Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Heute war es Elizabeth.

Ich freute mich bereits, meinen Spielgenossen wiederzusehen.

- Kapitel 5 -

 

Elizabeth:

Elizabeth?“, fragte Stieve kleinlaut und trat zur Hälfte durch die offene Tür in mein Zimmer.

Ich lag im Bett, auf meinem Schoß befand sich ein DVD-Spieler, der Karate Kid spielte. Ich drückte kurz auf Pause und runzelte die Stirn. „Ja? Ist was?“

Mittlerweile ging es mir sehr viel besser. Ich hatte mich ein bisschen erholt und das Fieber war gesunken. Zu meinem Bedauern musste ich jedoch feststellen, dass ich morgen vermutlich wieder zur Schule gehen könnte. Schade.

„Da ist Besuch für dich“, sagte Stieve ruhig und ein wenig verlegen, dabei unterdrückte er ein Grinsen.

Ich setzte mich vorsichtig auf. So ein Verhalten kannte ich normalerweise gar nicht von ihm. „Besuch? Von wem?“

„Von einem deiner Klassenkameraden. Euer Lehrer hat ihn angeblich damit beauftragt, dir die Hausaufgaben vorbeizubringen und zu erklären.“

„Ihn?“, fragte ich stockend, während eine leise Ahnung in mir wuchs. Nein. NEIN. Er würde mir doch nicht bis nach Hause gefolgt sein … oder?

Stieve nickte und sah mich leicht unschlüssig an. „Also, was soll ich jetzt machen? Soll ich ihm irgendwas sagen?“

„Nein“, murmelte ich und sagte als Nächstes die Worte, die ich von mir selbst am wenigsten erwartet hätte. „Bring ihn bitte einfach her.“

 

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Gut geschlafen?“, fragte Keith mich mit einem boshaften Grinsen, als er mein Zimmer betrat und die Schultasche auf den Boden fallen ließ. Seine Augen musterten mich mit einem wilden Blick, wie ein Fuchs, der ein Kaninchen im Visier hatte.

Mir war natürlich klar, dass er mit seiner Bemerkung auf meine dunklen Augenringe anspielte, die meine Miene düster und mürrisch wirken ließen. Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen und lächelte schon beinahe freundlich zurück.

„Nicht wirklich. Dein gestriger Angriff hat ziemlich schwere Folgen hinterlassen“, sagte ich, merkte aber erst kurz darauf, wie naiv diese Worte doch waren. Keith war Sadist. Er würde sich nicht schuldig fühlen. 

„Schwere Folgen also. Für mich siehst du ganz gesund aus“, meinte er schmunzelnd, während er die Tür hinter sich mit einem schwachen Tritt zuschlug.

Jetzt, wo er es erwähnte, blickte ich apart an mir herab. Ich trug immer noch meinen Schlafanzug, eine graue Hose und ein viel zu großes, schwarzes T-Shirt, das meiner Meinung nach ein wenig zu tief hing. Unauffällig zog ich es hoch, doch leider nicht unauffällig genug.

Keiths Schmunzeln vertiefte sich um einiges.

„Das kommt von den Tabletten. Wieso bist du hier? Solltest du mir die Aufgaben vorbei bringen?“, fragte ich mit gekränktem Gesichtsausdruck, da ich eigentlich gehofft hatte, die Hausaufgaben einmal umgehen zu können.

„Teilweise“, erwiderte Keith, während er sich hinhockte und die nötigen Bücher und Blätter aus seiner Schultasche fischte. „Ich habe zwei Gründe.“

„Wie, zwei Gründe? Welche denn?“, fragte ich und spürte, wie ich automatisch schlucken musste. Jetzt verfolgte er mich schon bis nach Hause.

„Schönes Zimmer hast du.“

„Lenk nicht vom Thema ab“, zischte ich und zog die Decke etwas hoch, während ich den DVD-Spieler ausschaltete und auf die Kommode neben meinem Bett stelle. Darauf lagen ansonsten noch mein Handy und meine schwarze Uhr. Alles viel zu wertvoll, um im Notfall nach ihm zu werfen. Der Labelo lag immer noch neben der Tür.

„Ich erklär dir alles nach den Hausaufgaben“, meinte Keith in einem ungewohnt ernsten Tonfall und ich ließ es sein. Ich unternahm auch nichts, als er sich auf dem Rand des Bettes niederließ und anfing, mir etwas über Relativsätze und Relativpronomen zu erklären. Ich hörte nicht zu. Das Thema hatten wir erst letzte Woche mit meiner Klasse wiederholt, da waren wir etwas weiter als die. Trotzdem unterbrach ich ihn nicht und ließ ihn sprechen.

Keith war seltsam. Ich beobachtete ihn aufmerksam von der Seite. Mal war er nett, mal wieder nicht. Wie er wohl wäre, wenn es seinen Sadismus nicht gäbe? Immer noch ein Schläger oder doch ein netter Junge? Wäre beides möglich gewesen.

„Wir müssen auf dem ersten Blatt nur die dritte Aufgabe bearbeiten, das zweite Blatt vollständig ausfüllen. Kannst du’s dir merken?“, fragte er, während er mir die beiden Blätter reichte und ich sie nachlässig auf die Kommode weglegte. Allein der Anblick war scheußlich. Lauter Aufgaben, klein gedruckt und ohne Bilder. Diese Frau Alima schien viel strenger zu sein, als unser Deutschlehrer.

„Hmm? Ja, ja, klar“, murmelte ich abwesend, denn im Moment waren mir diese Blätter so ziemlich egal. Ich hatte Angst. Keith hatte mich bis jetzt nur in der Schule tyrannisiert, ob er mir zu Hause etwas antun würde? Meine Eltern waren doch da. Und mein Bruder. Hoffentlich würde Stieve das Ganze nicht falsch verstehen. Oh Mann, diese Situation war irgendwie erschreckend peinlich.

„Also, was war der eigentliche Grund, wieso du hierhergekommen bist?“, begann ich missmutig und sah ihn skeptisch an. Eine meiner Augenbrauen wanderte nach oben und ich legte den Kopf schief, um ihm zu zeigen, dass ich nicht so dumm war, wie er es möglicherweise von mir dachte.

Er zuckte bloß mit den Schultern, aber ich wurde das Gefühl nicht los, dass er ein Lächeln unterdrücken musste. „Ich bin hier, um dich über den Punktestand zu informieren“, meinte er dann, während er in die Tasche seiner Jeans griff. Kurz darauf zog er einen zerknüllten Zettel hervor, der ein paar Mal ineinander gefaltet worden war.

Ach ja. Keiths seltsames und mysteriöses Sadisten-Spiel.

Er hatte am Anfang zwar gemeint, ich könne die Regeln festlegen, aber ich hatte keine Ahnung, was wir eigentlich machten und es wirkte für mich eher danach, als würde ich nach seiner Pfeife tanzen. Offenbar hatte er selbst alles in die Hand genommen, nachdem ich am Dienstag nichts unternommen hatte.

Ich runzelte die Stirn. „Was ist das?“, fragte ich, als er mir den Zettel reichte. Ich faltete ihn auseinander und betrachtete ihn genauer. In der Mitte war ein gerader Strich gezogen worden, der das Papier in zwei Hälften teilte. Auf der einen Seite stand mein Name, auf der anderen Keiths. Unter meinem Namen waren vier Striche gekritzelt worden, unter Keiths sieben.

„Der Punktestand.“

„Was für Punkte denn?!“ Ich verstand weder, wie man sich diese dämlichen Punkte verdiente, noch, wann ich mir meine geholt hatte.

„Erinnerst du dich nicht mehr?“, fragte er und rückte etwas näher an mich heran. Ich musste mich beherrschen, um nicht erschrocken zusammenzuzucken. Er zeigte mit dem Finger auf seine eigenen Punkte. „Ich habe sieben Punkte. Einen, wegen dem Wasserballon. Drei weitere, weil ich dir ein Bein gestellt habe. Und noch zwei weitere, weil ich dich im Unterricht mit Kommentaren niedergemacht habe.“

„Das waren aber mehr als nur zwei ...“, murmelte ich.

„Ja, aber nur zwei waren besonders verletzend. Man soll ja nicht jede Kleinigkeit mitzählen.“

„Okay, das sind aber nur sechs Punkte. Wofür ist der siebte?“

„Für den Kuss“, antwortete er gelassen, womit er mich sehr verblüffte. Vorher hatte ich auch nichts verstanden, aber nun war ich endgültig verwirrt. Außerdem kapierte ich nicht, warum ich hier saß und mit ihm irgendwelche Punkte zählte, deren Sinn mir völlig unbekannt war. Was trieb mich bitte dazu?

Wenn ich mir so ansah, wofür er sich selbst Punkte verteilt hatte, vermutete ich fast, es ging bei dem Spiel darum, den anderen fertig zu machen. Aber wieso hatte ich dann schon vier Punkte?

„Ich hätte übrigens mehr Punkte, wenn du mich dich hättest von der Treppe schubsen lassen“, fügte er beiläufig hinzu, aber ich ignorierte den Scherz.

„Moment“, fuhr ich ihn an und wusste gar nicht, wohin ich blicken sollte. Das alles ging mir ein wenig zu schnell. „Ich dachte, bei den Punkten geht es darum, den anderen zu nerven, oder nicht? Wieso hab ich schon vier Punkte? Ich habe dir schließlich nichts getan. Was hat der Kuss damit zu tun? Und da wir gerade dabei sind, würde ich noch gerne eine Erklärung von dir verlangen. Ich meine, jetzt mal ehrlich – das, was du dort im Wartezimmer abgezogen hast, war wirklich mehr als nur eine gewöhnliche Frechheit!“

Auf einmal stieg Wut in mir auf. Nicht diese Wut, bei der man jemanden am liebsten anschreien würde, sondern bei der man gerne alles vergessen hätte – alles, was in den letzten Tagen geschehen war und was noch geschehen würde.

Keith lächelte bloß zur Antwort und legte die Beine übereinander. „Vergiss nicht, was ich dir gesagt habe. Du hättest die Spielregeln selbst bestimmen können, solange es nur darum gegangen wäre, mehr Zeit miteinander zu verbringen. Aber als du am Dienstag zur Schule gekommen bist, hast du nichts gemacht. Du hattest deine Chance, jetzt machen wir es so, wie ich es will. Pass auf, deine Punkte sind folgendermaßen: Deinen ersten Punkt hast du dir dadurch verdient, dass du mich beim Kuss von dir weggedrückt hast. Dadurch hast du mir mehr als deutlich gemacht, dass du stark bist.“ Er lachte leise. „Die nächsten zwei dafür, dass du nicht sofort zu den Lehrern gerannt bist, sondern mich ignoriert hast. Und den Letzten, weil du zu Hause geblieben bist.“ Er musterte mich kurz mit selbstvergessenem Blick. „Ich lerne dich immer besser kennen.“

„Das ergibt doch überhaupt keinen Sinn“, erwiderte ich schwach, doch schon im nächsten Augenblick war ich mir nicht mehr ganz sicher an meiner Aussage. Zögernd betrachtete ich noch einmal das Blatt. „Oder?“

„Was denkst du denn?“, meinte Keith und schien mir Zeit geben zu wollen, um selbst darauf zu kommen, was die Bedeutung dieser Punkte war.

Also, sobald ich das verstanden hatte, bestand Keiths seltsames Spiel daraus, mit dem anderen eine Art Verbindung aufzubauen. Sowohl eine Gute, als auch eine Schlechte. Man sollte den anderen kennenlernen. Es zählte jede nette Tat, aber auch jede schlechte, weil man immer besser verstand, wie sich der andere in gewissen Situationen verhalten würde. Jedenfalls funktionierte das ungefähr auf diese Weise. Und wenn nicht, dann sei es eben so. Zumindest hatte ich jetzt das Gefühl, in diesem Spiel ein wenig durchblicken zu können.

Gerade als ich meine Gedanken laut aussprechen wollte, stand er plötzlich auf und begann, seine Sachen zu packen. Die Bücher hatte er in wenigen Sekunden weggesteckt, danach kamen die Hefte.

„Was machst du da?“, wollte ich wissen, obwohl die Antwort ja wohl mehr als offensichtlich war.

„Ich glaube, ich sollte jetzt gehen“, murmelte Keith. Ich versuchte, in seinen Rucksack zu blicken und glaubte kurz, etwas wie ein Messer darin zu entdecken, aber ehe ich es genau erkennen konnte, schloss er den Reisverschluss seiner Schultasche und schulterte diese dann auf seinem Rücken. Ich beschloss, nicht weiter darauf einzugehen, während er mit einem winzigen Lächeln hinzufügte: „Wir wollen ja nicht, dass sich dein Bruder fragt, warum wir so lange brauchen.“

Dafür warf ich mit dem Kissen nach ihm. Er schlug es lachend zur Seite und es landete mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden.

„Also, entschuldige für den gemeinen Wasserballonangriff“, bat er, während er noch einmal näher an mich herantrat. Er stand nun direkt neben meinem Bett.

Das kaufte ich ihm nicht ab. „Lügner. Verkauf mich nicht für dumm. Ich weiß genau, dass es dir nicht leid tut.“ Ich kniff argwöhnisch die Augen zusammen.

„Das hab ich nie gesagt. Ich hab um Verzeihung gebeten und nicht behauptet, dass es mir leid täte.“ Mit diesen Worten stemmte er eins seiner Knie in die Kante des Bettes, stützte sich mit einer Hand ab und beugte sich vor. Ich, dieses Mal bereit und vorgewarnt, wollte zurückweichen, aber er war wieder schneller. Erneut lag seine Hand hinter meinem Nacken und er zog mich mit einem Ruck näher an sich heran. Dieses Mal berührten seine Lippen meine aber nicht, sondern küssten nur meine Stirn. Meine kochend heiße Stirn, die bei seiner Berührung noch mehr zu glühen schien. Seine Hand wanderte von meinem Nacken zu meiner Wange und seine kühlen Finger strichen vorsichtig über meinen Mund.

Dann ließ er mich los und trat einen Schritt zurück, sein Gesichtsausdruck war selbstzufrieden. Wieso auch nicht? Schließlich hatte ich dieses Mal gar nicht die Zeit gehabt, ihn von mir wegzudrücken. Oder doch? Das wusste ich gar nicht mehr so genau.

„Wie gesagt, ich gehe jetzt besser“, säuselte er, während er sich in einer flüssigen Bewegung umdrehte und zur Tür schlenderte. „Wir haben einen ganzen Spieltag verpasst, also sei morgen gefälligst da“, rief er über die Schulter, statt mir gute Besserung zu wünschen.

Noch bevor er das Zimmer verlassen hatte, schoss meine Hand zu meiner Kommode, riss eine der Schubladen auf und suchte nach einem Stift. Als meine Finger endlich einen ertastet hatten, schnippte ich mit meinem Daumen die Kappe ab, welche bis ans Ende des Bettes flog. Schnell breitete ich den Zettel mit dem Punktestand auf meiner Decke aus und kritzelte einen Strich auf Keiths Seite.

Dieser war längst aus dem Zimmer verschwunden. Ich hörte noch, wie sich seine beinahe lautlosen Schritte entfernten.

„Acht Punkte“, murmelte ich und konnte ein Lächeln nicht zurückhalten. Ich musste über mich selbst lachen. Hier saß ich nun, krank, verwirrt, und spielte mit einem Sadisten ein Spiel, dessen Sinn aus einer anderen psychischen Liga hätte kommen können. Tat es ja auch, in gewisser Weise. Trotzdem hatte ich das rüttelnde Gefühl, jetzt eine Art kleinen Überblick zu besitzen, was die Spielregeln anging. Vielleicht würde es mir doch noch Spaß machen und vielleicht könnte ich am Ende sogar als Siegerin hervor gehen.

Vielleicht.

 

- Kapitel 6 -

 

Elizabeth:

Am nächsten Tag konnte ich wieder zur Schule gehen – dieses Mal sogar ohne die Befürchtung, klatschnass nach Hause zurückkehren zu müssen. Insgeheim freute ich mich sogar ein wenig, da ich nun endlich die Regeln verstanden hatte. Oder mir zumindest einbildete, sie verstanden zu haben.

In beiden Fällen hatte Keiths Spiel etwas wie … Ehrgeiz in mir geweckt.

Jedenfalls war Donnerstag sogar noch besser verlaufen, als ich erwartet hatte. Ich hatte Keith im Unterricht der ersten Stunde vier stolze Male öffentlich gedisst und somit ganze vier Punkte verdient. Er hatte nur zwei Mal „zurückschlagen“ oder etwas erwidern können, es hatte aber niemand gelacht.

Ja, allmählich hatte ich den Bogen raus.

Es ging nicht nur darum, dass der Gegner öffentlich gedemütigt wurde – es ging eher darum, ob der andere auf die Worte reagierte und vor allem wie er reagierte. Mich hatte seine erbärmlich schwache Verteidigung weder verletzt, noch zum Lachen gebracht. Pech gehabt. An der Stelle stand der Punktestand also acht zu acht.

Dadurch, dass es mir in der kleinen Pause zwischen den ersten beiden Stunden sogar noch gelungen war, ihm erfolgreich eine Papierkugel an den Kopf zu werfen, worüber er sich auch gewaltig geärgert (sie sich aber auch verdient) hatte, hatte ich einen Vorsprung für mich gewinnen können. Neun zu acht.

Und ich konnte mir selbst nicht erklären, warum es mich so glücklich gemacht hatte. Wenn ich genauer darüber nachdachte, war es doch kindisch. Albern. Aber es machte Spaß, jetzt, wo ich ihn doch noch überholt hatte.

Der Triumph hatte jedoch nicht sonderlich lange gewährt. Keith hatte in der ersten Pause mit dem Tafellappen nach mir geworfen und leider demnach auch getroffen. Und auch wenn man es mir nur schwer glaubte, ich hatte mich mehr über den Punkt aufgeregt, den ich an ihn verloren hatte, als über den feuchten Lappen in meinem Gesicht.

Gerächt hatte ich mich mit dem Wurf eines Stückes Kreide, das ihn mitten in der Stirn getroffen hatte. Damit hatte ich nicht nur auf seinen Angriff antworten können, sondern auch wieder für einen Vorsprung gesorgt.

Aber auch dieser hatte nicht lange gehalten, denn schon in der dritten Stunde war mir aufgefallen, dass ich mein Pausenbrot wegen dem ganzen Stress zu Hause vergessen hatte. Und Keith, der zufälligerweise eben zwei Brote dabei gehabt hatte, hatte mir eins abgegeben. Ich hatte die Wahl gehabt. Einen Punkt zu verlieren und eine kleine Niederlage hinzunehmen, oder zu verhungern.

Momentan stand es zehn zu zehn. Gleichstand.

So ein Mist.

Der Schultag war ungewöhnlich schnell verflogen. Es hatte mich ganz schön überrascht, wie sehr mich dieses Spiel plötzlich gepackt hatte. Mir fiel es manchmal sogar schwer, mich auf andere Dinge zu konzentrieren.

Die Woche würde bald um sein und mir blieben nur noch wenige Tage, um gewinnen zu können. Ich verstand selbst nicht so genau, warum ich so scharf auf den Sieg war. Ich wusste ja nicht einmal, was ich gewinnen würde. Etwas Materielles würde es sicher nicht sein. Eher etwas wie eine unnötige Erfahrung oder Erleuchtung.

Jedenfalls konnte ich es dennoch nicht mehr erwarten.

 

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Komm doch rein, Elizabeth“, sagte Mr. Willsem, der halbstehend über seinen Schreibtisch gebeugt war und etwas in sein Notizheft schrieb. Unter seinen Augen zeichneten sich dunkle Ringe und sein dichtes, braunes Haar war, seit ich ihn kannte, zum ersten Mal in der Öffentlichkeit ungekämmt. Sein schmales Gesicht war nicht wie sonst ordentlich rasiert, kleine Bartstoppel bedeckten sein spitzes Kinn. „Ich muss zugeben, dein plötzlicher Anruf hat mich ein wenig überrascht“, murmelte er erschöpft, vermutlich hatte er gerade noch geschlafen. Mein Therapeut hatte zu den verschiedensten Zeiten Dienst und es war kein Wunder, dass es ab und zu von Nöten war, tagsüber zu schlafen.

„Ja. Es tut mir leid, falls es ein wenig plötzlich kam“, entschuldigte ich mich schuldbewusst, während ich in das kleine Behandlungszimmer kam. Hier gab es Mr. Willsems Arbeitstisch, zwei davor stehende Stühle, einen Therapiesessel und einen Schrank mit lauter … Zeugs.

„Aber für dich doch immer, meine Liebe“, meinte er, während er sich träge in seinen Sessel fallen ließ, der eng an dem dunklen Schreibtisch stand.

Ich mochte Mr. Willsem. Immer, wenn ich ihm in die Augen sah, begrüßten mich diese mit einem freundlichen und offenen Blick. Das war etwas, was ich an ihm sehr schätzte. Wenn er lächelte, war es ein ehrliches Lächeln. Nicht so falsch aufgesetzt, wie bei anderen Therapeuten, die nur das Vertrauen der Kinder gewinnen wollten, ohne sie wirklich verstehen zu können. Bei ihm hatte ich nie das Gefühl, dass er es vorher heimlich vor dem Spiegel üben musste. 

„Also“, fragte er ruhig, als ich mich auf den Gästestuhl niederließ. Obwohl ich mich schon lange an diesen Raum gewöhnt hatte, machte ich es vorsichtig, als wäre ich zum ersten Mal hier. „Worüber wolltest du mit mir sprechen?“, fragte er gedehnt, während er, ohne mich aus den Augen zu lassen, etwas in seinen PC tippte. Mit nur einer Hand, so gekonnt, als hätte er nie etwas anderes im Leben getan. „Ist etwas passiert?“

„Eigentlich wollte ich mit Ihnen nicht über mich sprechen“, sagte ich betont langsam, während sich meine Finger in den Sitz meines Stuhles bohrten. Das Holz war glatt, altmodisch und doch sehr angenehm. Leider half mir das im Moment nicht besonders. Ich war von einer Nervosität gepackt worden, deren Ursache ich mir nicht erklären konnte.

Mr. Willsems Augenbrauen wanderten ein kleines Stück weiter nach oben, doch ansonsten regte sich in seinem Gesicht nichts. Seine Finger zuckten kurz auf der Tastatur, er schien aber nichts einzutippen. „Über was denn sonst?“

Ich holte kurz Luft. „Über Keith“, brach ich dann schließlich heraus und presste kurz darauf schnell die Lippen zusammen.

Mr. Willsem verharrte für einen Moment, dachte nach, während er mich aus großen Augen ansah. Da er es aber gewohnt war, überraschende und manchmal sogar seltsame Dinge von seinen Patienten zu hören, hatte er sich schnell wieder gefasst. Eilig tippten seine Finger etwas in den Computer, als hätten sie ihren eigenen Willen.

„Über Keith? Hmm. Also, das habe ich jetzt nicht erwartet. Obwohl, eigentlich hätte ich es mir denken können. Immerhin hat er doch neulich bei mir wegen dir angerufen.“

„Wieso hat er wegen mir angerufen?“, fragte ich erstaunt und ehrlich entrüstet. Das hatte ich gar nicht gewusst.

Entspannt lehnte sich Mr. Willsem in seinem Sessel zurück, seine Hand lag nach wie vor auf der Tastatur. „Ich glaube, das war am Dienstag. Er wollte deine Adresse von mir wissen, um dir angeblich Hausaufgaben vorbeizubringen und erklären zu können. Erst habe ich es ihm gar nicht geglaubt und sie ihm nicht verraten wollen, aber an dem Tag hatte ich mal wieder Nachtschicht und …“ Schuldbewusst senkte er den Blick und fuhr sich durch das Haar. „Ich war müde und hab mich dann doch weichklopfen lassen. Tut mir leid, falls ich dir dadurch irgendwie Schwierigkeiten bereitet habe, aber er hat mich am Telefon einfach nicht in Ruhe gelassen …“

„Ist nicht schlimm“, murmelte ich, während ich langsam in Gedanken versank. Keith hatte mir damals gesagt, er hätte mir die Hausaufgaben und den Punktestand vorbei bringen müssen. Dass er extra hier anrief, um mich besuchen zu können, war auf eine seltsame Weise sehr … süß. „Ich bin nicht hier, um mich zu beschweren“, erklärte ich. „Ich würde gerne einfach nur erfahren, was genau mit Keith los ist.“

Die Mundwinkel meines Therapeuten zuckten interessiert und in seine Augen trat ein aufmerksamer Glanz. Ich sah, wie sich sein Körper anspannte und wie er mich aufmerksam beäugte. „Was soll denn mit ihm sein?“

„Ich weiß nicht so recht“, sagte ich unsicher, denn ich verstand es ja selbst nicht so genau. „Ich weiß, dass er Sadist ist, aber-“

„Du weißt davon?“, unterbrach Mr. Willsem mich scharf und legte die Stirn in Falten.

Ich zuckte bei seinem Ton zusammen und blinzelte ihn erschrocken an. „Äh, ja. Er hat es mir aber selbst erzählt, ich hab ihn nicht dazu gezwungen oder so. Wieso sollte er denn sonst hier sein?“

„Ah“, machte Mr. Willsem, während sich seine Miene aufhellte und die Müdigkeit aus seinem Gesicht verschwand. Schnell griff er nach der Maus und suchte offenbar nach einem bestimmten Ordner in seinem PC. Währenddessen schwieg ich. „Rede weiter“, bat er, jedoch ohne mich anzusehen.

„Wie schon gesagt – ich weiß, dass Keith Sadist ist. Er hat mir auch schon einiges angetan. Hat mich blamiert, gemobbt, mir einen Wasserballon an den Kopf geworfen. Versucht, mir stets Angst einzujagen und mich sogar von der Treppe zu schubsen. Hat mir oft ein Bein gestellt. Und doch hab ich das Gefühl, dass er eigentlich nichts gegen mich hat. Ich meine, sonst hätte er mir nicht die Hausaufgaben gebracht und mit mir sein Pausenbrot geteilt.“

Und mich nicht geküsst, fügte ich in Gedanken noch hinzu, behielt den Teil aber für mich. Selbst ein Therapeut musste nicht alles wissen.

Es dauerte recht lange, bis ich eine Antwort erhielt. Das grelle Licht des Bildschirmes spiegelte sich in seinen Augen wieder, während er fortlaufend etwas Neues eintippte, eine Datei auswählte und nach etwas zu suchen schien.

Letztendlich seufzte er schwer und ließ von seinem Computer ab. „Ich glaube, du bist der erste Mensch, der mich aus dieser Sicht nach Keith ausfragt – von seinen Eltern vielleicht mal abgesehen. Die meisten wollen sich bloß beschweren oder ihn verklagen, wenn er mal wieder einen Nachbarsjungen schlägt. Weißt du, Keith ist eigentlich ein netter Kerl, falls man das so nennen darf. Er hat bloß … Probleme. Nein, es sind nicht einmal Probleme. Wohl eher so etwas wie seine eigenen Vorstellungen von der Welt. Er lebt so, wie es ihm passt, dabei kann er keine Rücksicht auf andere nehmen. Verstehst du? Nicht, weil er egoistisch ist, sondern weil es ihm einfach schwerfällt, anders zu handeln. Es gefällt ihm, zuzusehen, wie andere leiden, Schmerzen ertragen müssen, aber er weiß genau, dass es falsch ist. Er bereut nichts, ihm tut nichts leid, aber er weiß, dass es falsch ist. Deswegen versucht er selbst, sich stets unter Kontrolle zu bringen, aber nicht indem er sich verstellt und so tut, als wäre er friedlich und normal, sondern indem er alles ausgleicht. Mal tut er etwas Schlechtes, mal was Gutes.“

Mr. Willsem legte den Kopf in den Nacken und sah zur Decke. „Nur ist es sehr schwer, Leute zu finden, die das ertragen können.“

Als er das sagte, durchzuckte ein Gedanke meinen Kopf: Was, wenn er mich mit diesem ganzen Spiel nur testen wollte? Wenn er nur sehen wollte, wie lange ich das Ganze mitmachen würde?

Ich war nicht schwach. Und das wusste er dank diesem Spiel inzwischen wohl auch.

„Ach so“, flüsterte ich, während ich meine Finger ineinander verknotete und beunruhigt auf meinem Stuhl hin und her rutschte. Das, was Mr. Willsem eben gesagt hatte, erklärte so einiges. Den Wasserballon. Den Kuss. Den Krankenbesuch. Die ganzen Sprüche im Unterricht.

Und sein seltsames Spiel.

Mal was Gutes, mal was Schlechtes. Da hatten wir es doch.

„Du darfst ihm das Ganze nicht übel nehmen. Weißt du … nach dem, was du mir eben erzählt hast – über den Wasserballon, den Krankenbesuch und all das – glaube ich, dass er dich eigentlich sehr mag. Du leidest doch an Fahrangst. Gerade du müsstest doch wissen, wie schwer es einem Menschen fallen kann, gegen seine psychischen Probleme ankämpfen zu müssen“, meinte Mr. Willsem zurückhaltend, aber doch mit strengem Ton.

Bei diesen Worten wurde mir ganz schlecht. Es stimmte. Hätte mich jemand dazu zwingen wollen, in ein Auto zu steigen und durch die Gegend zu fahren … sich mit dem Fahrzeug zu bewegen … die ganze Zeit über in Lebensgefahr zu schweben …

Ich schloss kurz die Augen.

„Danke, dass Sie sich für mich Zeit genommen haben“, sagte ich höflich, denn plötzlich schlug meine Stimmung Purzelbäume. Ich wusste nicht, woher diese abrupte Freude in mir so unerwartet herkam. Sie war einfach aufgetaucht. Irgendwie machte es mich fröhlich, zu wissen, dass ich Keith allein durch dieses Gespräch ein kleines Stückchen näher gekommen war.

Im Grunde genommen war er ja nichts anderes, als ein Junge, der nicht wusste, was er gegen sich selbst tun sollte und vielleicht sogar Hilfe brauchte. Meine Hilfe, nicht die von einem Erwachsenen.

„Liebend gerne“, antwortete Mr. Willsem bloß schulterzuckend, auch wenn die Augenringe in seinem Gesicht was völlig anderes sagten. „Dazu bin ich ja da.“

„Ich habe aber noch eine Frage“, sagte ich schnell, bevor ich es noch vergaß. Ich sah ihn unsicher an und runzelte leicht die Stirn, traute mich aber, meine Frage zu stellen. „Warum waren Sie vorhin so erstaunt, als ich sagte, ich wüsste, dass Keith Sadist ist?“

„Ach, das. Also …“ Mr. Willsem rieb sich übermüdet die Schläfe. Dieser Mann musste wirklich mehr schlafen, sonst würde er noch irgendwann am Lenkrad wegdriften. Aber da zeigte sich mal wieder, wie bereit er doch war, sich für Kinder aufzuopfern. „Das liegt bloß daran, dass so gut wie niemand darüber Bescheid weiß. Und Keith ist der Letzte, der es jemandem erzählen würde. Dass er es dir erzählt hat … nun ja, sagen wir, ich glaube, dass er das nicht nur getan hat, um dir Angst einzujagen. Da muss schon mehr dahinter liegen.“ Mit einem schwachen Grinsen fügte er gähnend hinzu: „Falls du verstehst, was ich meine.“

 

- Kapitel 7 -

 

Elizabeth:

Ich ließ die schwere Tasche neben meinem Stuhl fallen und setzte mich träge auf meinen Platz ganz hinten. Das Erste, was ich tat, war es, mich hurtig in der Klasse umzublicken. Alles war wie immer. Vorne stand der Mathelehrer und schrieb etwas an die Tafel. Vermutlich die Aufgaben, die wir heute bearbeiten würden. Der Unterricht hatte noch nicht begonnen, also hatten sich die Schüler in den üblichen Cliquen zusammengesetzt und unterhielten sich über Serien, Filme und was es sonst noch zu bereden gab. Draußen war es noch ein wenig düster und es fiel kein Licht in den kleinen Raum, nur die Deckenlampen blendeten die Mädchen und Jungen. Nichts Ungewöhnliches.

Nur eins war heute anders: Keiths Platz war leer.

Ich sah mich erneut rasch um, konnte ihn aber nicht finden. Nirgendwo war sein blondes Haar zu entdecken, nirgendwo ein boshaftes Grinsen. Überall nur gelangweilte und müde Gesichter. War er etwa krank? Oder hatte er einfach nur verschlafen? Normalerweise war er immer vor mir da und erwartete mich bereits mit irgendwelchen miesen Überraschungen. Heute war nichts Derartiges geschehen.

Vielleicht würde er noch später kommen. Und wenn nicht, dann konnte ich mich für einen Tag entspannen. Ausruhen. Oder mich ausnahmsweise mal auf den Unterricht konzentrieren. Unerklärlicherweise missfiel mir der Gedanke.

Ich gähnte ausgelassen, nachdem ich meine Sachen ausgepackt hatte. Bis zu Beginn der Stunde waren es noch etwa fünf Minuten, also hatte ich Zeit. Da ich hier aber weder Freunde, noch gerade besonders viel Lust dazu hatte, zu Antonia zu gehen, blieb ich sitzen. Ganz von allein schweifte mein Blick zu dem Schild neben der Tür und blieb dort hängen: 8c.

Heute war Freitag, mein letzter Tag in dieser Klasse. Ich musste nur noch das Wochenende überstehen. Bald würden meine Freunde zurückkehren und ich würde wieder meinem normalen Leben nachgehen, ohne dämliche Spiele und seltsame Sadisten. Ja.

Besonders begeistert war ich nicht. Und ich verheimlichte es nicht einmal.

„He, Neue“, meinte plötzlich ein Junge zu mir und riss mich aus meinen Gedanken. Ich, dumme Kuh, reagierte sogar noch auf die Art, wie er mich ansprach und blickte zu ihm. Er hatte dunkelbraune, glatte Haare, die ihm in die Stirn fielen und seine blauen Augen zum Teil bedeckten. Die Hände hatte er lässig in die Taschen gesteckt, während er durch die Klasse hindurch auf mich zu schlenderte. Sein Blick wirkte irgendwie amüsiert, ein wenig belustigt. Ich glaube, er hieß Erik. „Weißt du zufälligerweise, was mit Keith los ist?“, fragte er und blieb vor meinem Tisch stehen.

Jetzt fiel es mir wieder ein. Er und Keith waren Sitznachbarn.

Ich schüttelte den Kopf. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass auch andere zu uns rüber schielten. Vermutlich hatten die sich auch schon gefragt, wo deren Lieblingsschläger abgeblieben war. „Nein, keine Ahnung. Warum fragst du gerade mich?“, wollte ich wissen, während ich unter meinem Tisch entspannt die Beine ausstreckte und mich an der kalten Tischplatte anlehnte.

Im ersten Augenblick antwortete er mir nicht, sondern starrte mich einfach ein wenig verdutzt an, als hätte ihn die Frage verblüfft. Dann aber, langsam, bogen sich seine Lippen zu einem schiefen Lächeln und sein Mund öffnete sich leicht, um etwas zu sagen.

Ein lauter Knall unterbrach ihn.

Alle, mich eingeschlossen, drehten sich schwungvoll nach hinten, um zu erfahren, was die Ursache des Lärmes war. Keith stand in der Tür. Schweratmend, rot im Gesicht, mit einer dunklen Sonnenbrille über den Augen und den üblichen Klamotten. Er sah eigentlich fast aus wie immer. Nur sein fieses Lächeln hatte er heute zu Hause gelassen.

„Da ist der feine Herr ja“, sagte Erik munter, vergaß mich völlig und ging auf seinen Kumpel zu. Die beiden begrüßten sich flüsternd, Keith murmelte bloß etwas und ging mit schweren Schritten zu seinem Platz. Dort angekommen, ließ er sich auf den Sitz seines Stuhles fallen und begann sofort, die Schulsachen auszupacken.

An mir war er wortlos vorbei gegangen.

Das verletzte mich ein wenig. Allerdings begann bald darauf der Unterricht und ich hatte gar keine Zeit mehr, mir einen Kopf darum zu machen.

Ich hatte da ja noch nicht gewusst, dass Keiths üble Laune eine viel schlimmere Hintergrundgeschichte hatte, als ich es hätte erwarten können.

 

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Auf dem Heimweg quälte mich die ganze Zeit ein stechender Schmerz in der Brust, während ich bedrückt zu Boden starrte. Als würde mir etwas die Luft abschnüren und gegen meinen Magen drücken. Ich war ganz vertieft in meine Depressionen, die ganzen Leute um mich herum nahm ich kaum wahr.

Keith hatte sich seit seinem Ankommen in der Klasse kein Stück besser verhalten. Mich hatte er noch dazu vollständig ignoriert. Nicht einmal unser Spiel hatte er weiter gespielt, obwohl er doch derjenige gewesen war, der es überhaupt in die Welt gerufen hatte!

Ich wusste nicht, welches Gefühl momentan stärker war und was davon mich mehr aufwühlte: Die Trauer oder die Wut. Ja, ich war zornig. Was sollte dieser Mist? Wieso zur Hölle verhielt er sich so seltsam? Gut, seltsam hatte er sich schon die ganze Zeit über verhalten.

Das bessere Wort hier war anders.

Er hatte kein einziges Mal versucht, meine Aussagen im Unterricht zu kritisieren oder zu kommentieren (obwohl ich mir sogar wegen dem Idioten die Mühe gemacht hatte, mehrmals aufzuzeigen).

Die ganze Zeit über hatte er mich mit Schweigen und Ignoranz gestraft. Er war kein einziges Mal aus eigenem Willen zu mir gekommen.

Doch das Schlimmste war, dass ich jedes Mal, wenn ich versucht hatte, ihn anzusprechen, nichts weiter als einen eisigen Blick von ihm geerntet hatte. Irgendwann hatte ich es sein lassen, weil der Schreck einfach zu groß gewesen war.

Sein Verhalten hatte mich verletzt.

Ich hatte mich noch nicht weit vom Schulgelände entfernt und neben mir liefen überall Kids herum. Manche stiegen in Autos, mit denen ihre Eltern sie abholten. Manche gingen zusammen zu dem Kiosk um die Ecke und manche fuhren auf Fahrrädern an mir vorbei. Jedenfalls waren überall Stimmen zu hören, Lachen, Geläster, und der ganze Rest. Ich beteiligte mich an den Gesprächen nicht und auch Antonia war nicht zu entdecken. Heute würde ich wohl alleine laufen müssen.

Allerdings fiel mir selbst schnell auf, wie zögernd und wackelig meine Schritte waren. Als würden sich meine Beine weigern, in die Richtung meines Hauses zu laufen. Als würden sie wissen, wie ich mich gerade fühlte.

Etwas zwang mich dazu, stehen zu bleiben und mich umzudrehen. Ein paar ältere Jungs wären fast in mich hineingelaufen, konnten aber noch mit mürrischen Gesichtern ausweichen. Ob Keith schon weg ist?, fragte ich mich und blickte zu dem alten Gebäude meiner Schule. Das Gymnasium war älter als meine Eltern, größer als jedes Haus in dieser Gegend.

Sobald ich wusste, wohnte Keith in einer anderen Richtung, als ich. Seine genaue Adresse kannte ich nicht. Und selbst wenn, was hätte ich dann bitte tun sollen? Besonders viel bringen würde es mir ja nicht, zu ihm zu gehen. Mir war ja selbst nicht ganz bewusst, was ich tun wollte.

Ich wollte ihn nur kurz sehen, zusammen eine kleine Erklärung von ihm bekommen. Eine Entschuldigung möglicherweise auch.

Meine Augen blickten durch die Menge, durch die entspannten und gelassenen Gesichter. Ich kannte viele der Jugendlichen, manche von Facebook oder von den Pausen, aber mit niemandem hatte ich richtigen Kontakt. Niemand, an den ich mich hätte wenden können.

Ich hätte auch einfach wieder bei Mr. Willsem vorbeisehen können, aber ich wollte ihn nicht noch mehr belästigen. Meine nächste Therapie war erst am Montag, bis dahin würde ich noch warten müssen. Außerdem würde doch an diesem Wochenende meine alte Klasse wieder kommen.

Ou Mann. Irgendwie hatte sich mein Leben in diesen wenigen Tagen ziemlich verändert.

Unverständlicherweise schoss mein Kopf hoch, als ich irgendwo zwischen der Menge das braune Haar eines Jungen sah. Erik. Sobald ich wusste, machte er ziemlich viel mit Keith. Ob er wohl ..?

Ohne mich kontrollieren zu können, lief ich los, rannte in jeden Zweiten hinein, der mir entgegen kam. Es fiel mir aber nicht ein, anzuhalten. Die Tasche auf meinem Rücken war schwer, sprang zusammen mit meinen Schritten auf und ab, aber das störte mich nicht.

„Erik!“, rief ich und wedelte auch noch mit einer Hand, um ihn auf mich aufmerksam zu machen, was aber eigentlich gar nicht nötig gewesen wäre.

Er hatte mich auf Anhieb gehört und drehte sich gelangweilt zu mir um. „Ah“, sagte er langsam, während er mich mit einem spöttischen Blick von oben bis unten musterte. „Die Neue.“

Ich überhörte das. „Weißt du zufälligerweise, ob Keith noch da ist?“

„Ist gerade nach Hause gerast.“

„Oh“, murmelte ich enttäuscht und räusperte mich unsicher. Bis Montag würde ich also nicht mit ihm sprechen können. Leider bezweifelte ich, dass ich es so lange aushalten würde. Ich musste jetzt mit ihm reden und herausfinden, was eigentlich mit ihm los war. In einem ernsten Ton und ohne zu erröten, fragte ich: „Kannst du mir sagen, wo er wohnt?“

 

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Etwa eine halbe Stunde später stand ich bereits vor der besagten Tür. Das Haus war nicht besonders groß, höchstens drei Etagen, aber sehr schön und einladend. Die Wände waren weiß gestrichen, die Fenster sauber und voller Blumentöpfe mit bunten Pflanzen. Die Gegend hier war an sich recht ruhig, eine kleine Straße mit vielen, gleich aussehenden Häusern. Nur selten bog hier ein Auto ein, höchstens die, die hier in der Nähe wohnten.

Erik hatte mir Keiths Adresse gegeben, ohne Fragen zu stellen oder dumme Bemerkungen zu machen, wofür ich ihm wirklich äußerst dankbar gewesen war. Allerdings hatte er sich ein schiefes Grinsen nicht verkneifen können, während er mir die Richtung gewiesen und den Weg genannt hatte. Das hatte ich ihm aber nicht besonders übel genommen.

Völlig gehemmt sah ich auf die ganzen Namensschilder, die mit kleinen Buchstaben beschriftet waren. Wundervolle Leistung, Elizabeth, dachte ich in Gedanken und hätte mir gern selbst eine Kopfnuss verpasst. Jetzt stand ich vor der hoffentlich richtigen Tür und hatte glatt seinen Nachnamen vergessen.

Sollte ich bei jedem einzeln klingeln? Allerdings bezweifelte ich schon jetzt, dass ich genügend Mut zu so etwas hätte. Ich geriet nicht gern freiwillig in peinliche Situationen, wie jeder normale Mensch auch.

„Kann ich dir irgendwie helfen?“

Mein Blick schoss erschrocken nach oben, in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Auf einem Balkon, etwas weiter rechts von mir, saß ein alter Mann, mit einem weißen Ziegenbart, einem faltigen, runden Gesicht und einer großen Brille auf der Nase. Für einen Augenblick erinnerte er mich an den Mathelehrer aus Keiths Klasse, nur wirkte er etwas freundlicher.

Ich blinzelte ihn nur verdutzt an. „Wie bitte?“

„Bist du auf der Suche nach jemandem?“, fragte er hilfsbereit und beugte sich aufmerksam über das Gelände. Er hatte in einem Stuhl gesessen, eine Weile bereits, wie ich vermutete.

Ich brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, was um mich herum eigentlich geschah. „Äh, ja“, stotterte ich. Immer, wenn ich mit Erwachsenen sprach, die ich nicht kannte, wurde ich ganz unschlüssig und verstreut. Dabei war ich keiner der Menschen, die besonders schüchtern waren. „Kennen Sie einen Jungen namens Keith? Er müsste hier in diesem Haus wohnen.“ Mir brach der Schweiß aus, als würde ich gerade vor einer Kamera sprechen.

Der Alte nickte mit dem Kopf in eine Richtung, die ich leider nicht deuten konnte. Während er die nicht ganz so graziöse Bewegung durchführte, verdoppelten sich die Falten in seinem Gesicht. „Du hast ihn gerade verpasst. Ich glaube, er ist hinters Haus gerannt. Keine Ahnung, ob er dort noch ist. Kannst ja nachsehen. Er war ziemlich schnell, hat mich nicht einmal begrüßt“, empörte er sich, während er tadelnd den Kopf schüttelte, als wäre das die heutzutage größte Unverschämtheit, die ein Junge in seinem Alter tun konnte. Ein sadistischer Junge, vor allem.

„Ach so“, antwortete ich knapp und trat eilig ein paar Schritte zurück. Das hatte ich bis jetzt gar nicht bemerkt. Das Haus wurde von einer großen Wand aus eng aneinander stehenden Büschen eingerahmt, die die Häuser voneinander trennte, aber nicht ganz berührte, wodurch ein kleiner Weg entstand. Ein perfekter Ort für jemanden, der ungestört sein wollte.

„Vielen Dank!“, rief ich über die Schulter, während sich meine Beine in Bewegung setzten und ich in diesen Weg hineinlief. Er war nicht besonders breit, vielleicht konnte man gerade noch zu zweit nebeneinander herlaufen.

Ich rannte das überraschend große Haus entlang, und verlangsamte meinen Schritt erst auf halbem Wege. Rechts von mir war nichts weiter als die weiße Wand des Hauses, links von mir nichts weiter als die Wand aus Blättern. Mattes Licht fiel hindurch, tanzte auf meinen Wangen und dem steinernen Boden.

Mijaaah!

Ich hielt kurz inne, als ein skurriles Geräusch an meine Ohren drang. Es war schrill, hoch, von Schmerzen erfüllt und bereitete mir Sorgen. Es verlieh mir eine Gänsehaut, die über meinen ganzen Körper glitt.

Mijaaah!

Da war es wieder.

Beunruhigt lief ich schneller, bis mein Atem stockend ging. Es war beinahe erschreckend, wie schnell ich außer Atem geriet. Als ich das Ende des Hauses erreicht hatte und hurtig um die Ecke bog, wäre ich am liebsten wieder weggerannt oder schockiert zurückgestolpert. Stattdessen blieb ich aber wie erstarrt stehen, bestürzt über den Anblick, der sich mir bot:

Keith hockte hinter dem Gebüsch auf dem Boden und drückte etwas nieder. Eine Katze. Das Tier fauchte, jaulte, schlug mit den Krallen und biss mit gefletschten Zähnen nach ihm, aber es nützte nichts. Der Sadist steckte den Schmerz locker weg und würgte das Tier nur noch heftiger.

Seine eigenen Arme waren bereits voller Kratzer, er blutete, aber er schien es nicht einmal zu bemerken. Er war ganz in seine Tat vertieft – dabei wirkte er nicht einmal wirklich glücklich. Sein Gesichtsausdruck spiegelte nichts weiter als kalte Wut wieder.

„Keith!“, rief ich, als ich meine Sprache wiedergefunden hatte. Er überhörte es. Für einen Moment erschien es mir so, als würde die Katze nicht mehr lange durchhalten.

„Hör auf, du bringst sie noch um!“, schrie ich nun aus voller Kehle und rannte auf ihn zu. Als ich bei ihm ankam und nach seiner Schulter griff, bemerkte ich, wie sich seine Hände entspannten und sein Griff sich lockerte. Die Katze bekam wieder Luft.

„Lass mich los“, knurrte er drohend, aber doch mit bebender Stimme. Als würde er aus letzter Kraft versuchen, diese unter Kontrolle zu halten.

Was ihn wohl so aufgewühlt hatte?

„Nein! Verdammt, lass die arme Katze in Ruhe!“, verlangte ich, während sich meine Finger in sein T-Shirt bohrten und ich ihn energisch rüttelte. Es reichte, um ihm für wenige Sekunden das Gleichgewicht zu rauben.

Das Tier ergriff seine Chance.

Mit einem kräftigen Sprung entkam die Katze seinen Händen und war mit einem Satz beim Gebüsch, das uns umgab. Bedrohlich dreinschauend drehte sie sich zu uns um und fauchte Keith wütend an. Ihre gelben Augen ließen ihn nicht mehr los. Ihr Schwanz peitschte angriffslustig und sie hielt sich in Kampfposition. Ich befürchtete bereits, sie würde zurückschlagen, aber schließlich verschwand sie doch noch demonstrativ zwischen den Blättern und Zweigen.

Das Einzige, was sie uns hinterließ, waren ein paar ihrer Fellfetzen und eine sehr plötzlich einkehrende Stille. Ich konnte mein eigenes Herz hören, wie es laut in meiner Brust pochte, so ruhig war es.

Schweiß lief meine Stirn hinunter und mir wurde ganz heiß um den Hals. Erschöpft hockte ich mich neben Keith hin, meine Hand ruhte nach wie vor auf seiner Schulter. „Sag mal, was sollte das denn?“, fragte ich schnaufend, während Keith bloß schweigend seine leeren Hände betrachtete, in denen bis eben noch ein unschuldiges Tier gequält worden war. Über seinen Augen hatte sich ein dunkler Schatten ausgebreitet, seine Lippen bebten. Zurzeit trug er wie sonst auch ein schwarzes T-Shirt, eine leicht zerrissene Jeans und ausgetretene, alte schwarze Chucks. Seine Hände bluteten immer noch und seine Finger zuckten unbeholfen.

„Du hättest nicht kommen sollen“, zischte er, während er sich erhob, die blutverschmierten Hände unaufmerksam in die Taschen schob und mit schweren Schritten losging. Ohne mich auch nur eines weiteren Blickes zu würdigen, wollte er nun tatsächlich abhauen.

Aber das ließ ich nicht zu. Mit einer kurzen Bewegung warf ich die Schultasche von meinen Schultern und erhob mich, meine Schulsachen ließ ich unbeachtet auf dem Boden liegen. „Warte! Erklär mir doch, was passiert ist“, forderte ich, während ich ihm hinterher eilte.

Er reagierte nicht.

„Keith, bleib stehen!“, schrie ich nun, während mir zum ersten Mal die wenigen Fenster auffielen, von denen man das alles hätte beobachten können. Seltsam, dass bis jetzt noch niemand das Jaulen der Katze gehört hatte. Oder mein Geschrei.

Keith ging weiter, seine Schritte wurden sogar noch um einiges schneller. Als würde er eigentlich rennen wollen.

„Ich hab gesagt, dass du stehen bleiben sollst …“

„Halt die Klappe“, fauchte er mich an und wirbelte mit wildem Gesichtsausdruck herum. Ich wäre fast in ihn hineingelaufen, hielt aber noch rechtzeitig an. Rechtzeitig, um zu begreifen, dass er mich schubsen wollte, aber nicht rechtzeitig genug, um auszuweichen. Seine Hände trafen hart auf meine Schultern und ich keuchte erschrocken auf, als ich nach hinten stolperte und schließlich auf den Boden fiel.

Es war kein allzu harter Aufprall – was aber überwiegend nur daran lag, dass ich es hatte kommen sehen. Ich konnte mich noch mehr oder weniger mit den Händen abfangen, bevor ich zu stark auf dem Asphalt aufschlug und mir richtig wehtat. Es war ein kurzer Schock, aber ich hatte mich recht schnell wieder im Griff und sah auf – nur, um festzustellen, dass Keith mich beinahe schon entsetzt anstarrte.

Es wurde wieder ruhig, während ich so dasaß.

Eigentlich hätte es genau umgekehrt sein müssen, aber im nächsten Augenblick wirkte er viel erschrockener, als ich. Zögernd zog er seine Hände zurück und starrte sie an, als würden sie nicht ihm gehören.

Und ehe ich mich versah, war er auch schon da, um mich wieder auf die Beine zu ziehen.

„Scheiße, Elizabeth, das tut mir echt …“, gab er von sich, während er mich hochzog. Als ich stand, wich er weg. Er wurde blass und starrte mich mit großen, nein, riesigen Augen an. In ihnen lag keine Reue, aber dafür Entsetzen und etwas Furcht. „Das … tut mir …“, versuchte er sich zu entschuldigen, während er ein paar Schritte zurücktrat und dann das Gesicht halb hinter seiner Hand vergrub.

„Ist nicht schlimm“, wollte ich ihn beruhigen, denn ich hatte den Eindruck, er würde gleich einen Nervenzusammenbruch kriegen. Außerdem war der Stoß vielleicht etwas impulsiv, aber eigentlich nicht weiter schlimm gewesen, wie ich fand, weswegen ich auch nicht wirklich sauer sein konnte.

Es hätte mich immerhin auch eine Faust treffen können.

„Nein, es ist schlimm!“, erwiderte er entschlossen, nahm die Hand vom Gesicht und trat mit dem Fuß heftig gegen die Wand des Hauses. Ein unauffälliger, fast unsichtbarer Fußabdruck blieb auf der hellen Wand. Mit einer Mischung aus einem Stöhnen und einem unterdrückten Fluch lehnte sich Keith schließlich mit dem Rücken gegen das Haus und legte den Kopf in den Nacken.

Seufzend schlenderte ich zu ihm rüber und lehnte mich etwas zögernd neben ihn gegen die Wand. Sie war kühl, hart. „Du hättest sie nicht umgebracht, oder?“, fragte ich nach einer Weile, um nicht diese peinlichen und unangenehmen Pausen zwischen den Gesprächen entstehen zu lassen. Außerdem hätte ich die Antwort gern gewusst und es war nur besser, ihn von dem abzulenken, was gerade eben passiert war.

Keiths Atem war nach wie vor ganz unruhig, als würde er ersticken. Vielleicht lag es auch daran, dass er ständig die in ihm aufsteigenden Schluchzer unterdrücken musste.

„Ich war schon oft davor“, brach er heraus, während er die glasigen Augen schloss, den Kopf immer noch gegen die Wand gelehnt. Seine Brust hob und senkte sich, seine Muskeln waren angespannt. „Ich habe auch schon als Kind Tiere gequält, aber es nie zu Ende gebracht. Oft haben sie sich kaum noch bewegt, aber ich habe es nie beendet. Keine Ahnung, warum. Ratten, Vögel, Katzen, kleinere Hunde. Ich kann gar nicht mehr zählen, wie vielen Lebewesen ich so richtig wehgetan habe. Oder beinahe wehgetan hätte“, fügte er hinzu, während er mir einen scheuen Seitenblick zuwarf.

Ich konnte dem nicht viel hinzufügen. „Hmm.“

„Ehrlich gesagt ist es ein bisschen peinlich, dass du mich hier erwischt hast ... “ Ich hörte ihn schlucken.

„Vergiss das“, sagte ich und versuchte wieder ein wenig umzuschalten. „Es sah aber nicht gerade danach aus, als hättest du die Katze gewürgt, weil du besonders große Lust dazu hattest. Na los, sag schon. Ich weiß doch, dass etwas passiert ist. Dein seltsames Verhalten im Unterricht. Die Aktion von eben. Was hat dich so aufgeregt?“

Erst weigerte er sich, mir eine Antwort zu gönnen.

„Du weißt, dass ich dich nicht in Ruhe lasse, bevor du es mir erzählst“, sagte ich in einem Ton, der keine Widerrede duldete. Außerdem hätte er mich inzwischen gut genug kennen müssen, um zu wissen, dass ich es ernst meinte.

„Es sind meine Eltern“, murmelte er mürrisch und schnaubte hinterher, um zu verdeutlichen, wie groß seine Wut war.

„Was ist mit ihnen?“, fragte ich und hoffte nicht allzu aufdringlich zu klingen.

„Sie wollen, dass ich …“ – er hielt kurz inne, sammelte sich, knirschte mit den Zähnen und rückte letztendlich mit der Sprache raus – „dass ich auf ein Internat gehe.“

Für einen Moment befürchtete ich, ich hätte mich verhört. Verdutzt spitzte ich die Ohren und sah ihn mit gerunzelter Stirn an. „Ein Internat?“

„Ja.“

„Aber das geht nicht“, sagte ich, während so etwas wie Panik in mir aufstieg. Misstrauisch kniff ich die Augen zusammen und blickte ihn skeptisch an. „Oder doch?“

Er brachte ein schwaches Lächeln zu Stande. „Dich scheint es ja ganz schön mitzunehmen.“

„Mach jetzt keine Witze! Deine Eltern können dich doch nicht einfach so in ein Internat abgeben. Wieso überhaupt?“

Das Lächeln verschwand augenblicklich. „Ich hatte in letzter Zeit ziemlich viele Schlägereien, mit ein paar Typen aus meiner alten Schule. Übrigens, deswegen musste ich damals überhaupt wechseln. Hat nichts gebracht, ich weiß wo sie wohnen und sie kennen meine Adresse auch. Jedenfalls beschweren sich deren Eltern immer öfter und meine scheinen langsam die Nase voll zu haben. Tja, also kommt hier das Internat ins Spiel.“ Keith kickte mit einem Tritt einen vor seinen Füßen liegenden Stein weg.

„Wann musst du denn weg?“, fragte ich, während sich in mir langsam ein wenig Traurigkeit sammelte. Das alles hier wirkte so … so unecht. Ich konnte es nicht ganz glauben.

„Ist noch nicht ganz entschieden. Meine Eltern haben es mit den Lehrern besprochen und die meinen auch, es wäre das Beste für mich. Idioten. Es geht ihnen gar nicht um mich, sondern darum, weniger Stress zu haben. Glücklicherweise muss noch einiges ausgefüllt werden, meine Eltern wollen sich auch das Internat genauer ansehen. Es wird dort einen Mann geben, der ständig ein Auge auf mich werfen und aufpassen wird, dass ich mich gut entwickle. Mit dem müssen die auch noch was bereden. Ich kann es nicht genau sagen, aber ich schätze, ich bleibe noch ungefähr zwei Wochen hier.“

Ich stöhnte leise und sackte ein wenig zusammen. „Zwei Wochen? Ist das dein Ernst?“

„Vielleicht sogar weniger.“

„Aber bald sind doch die Sommerferien! Bis dahin ist es nicht mehr weit. Vielleicht drei Monate. Nein, vermutlich sogar weniger. Wäre es nicht klüger, dich bis dahin hier zu lassen?“

„Das habe ich auch gesagt, aber die glauben, je schneller, desto besser. Ich meine, drei Monate reichen mir völlig, um in mindestens hundert Schlägereien verwickelt zu werden.“ Es war ungewohnt, dass er einen solchen Satz ohne den üblichen Humor in der Stimme aussprach. Eigentlich hätte er strahlen müssen, aber momentan war sein Gesicht bedrückt und eher leblos. Selbst seine Haltung war nicht so lässig und cool wie sonst, er lehnte wie eine Puppe an der Wand des Hauses. Ich erkannte ihn kaum noch wieder.

Und ich musste mir irgendwie eingestehen: Mir gefiel der alte Keith besser.

An den Augenblick, in dem ich angefangen hatte, ihn zu mögen, konnte ich mich gar nicht mehr erinnern. Es war nach und nach passiert. Unauffällig.

„Möglicherweise wird es auf dem Internat ja nicht so schlimm“, meinte ich, um ihm mindestens ein wenig Hoffnung machen zu können. Zwar brauchte ich im Moment selbst jemanden, der mich aufmunterte, aber Keith wohl noch viel mehr.

Wieso war ich eigentlich so traurig? Mich ging die Sache gar nichts an.

Keith stieß ein tiefes Knurren aus und schnaubte hinterher verächtlich. „Ich bitte dich! Dieses bescheuerte Internat kann mich mal, und meine Eltern und die Lehrer auch! Ich will hier nicht weg.“

„Wieso nicht? Ich meine, ein Internat wäre doch ein toller Neuanfang“, sagte ich und versuchte ein ermutigendes Lächeln. Leider wirkte es eher wie eine gefrorene Grimasse.

„Hier sind alle. Erik. Meine Verwandten. Meine Freunde. Die paar Nachbarn, die ich noch mag. Ich will nicht weg. Ich will sie alle nicht verlassen.“ Ich konnte nicht nachvollziehen, was er jetzt fühlte, aber sein Gesichtsausdruck teilte mir mit, wie tief seine derzeitige Trauer war.

„Auf dem Internat kannst du dir doch neue Freunde suchen“, sagte ich und schlug ihm mit der Faust sacht gegen den Oberarm, so als erheiternde Geste. Brachte wenig.

Mit leeren Augen starrte er in das Gebüsch, das gerade mal fünf Schritte von uns entfernt war. „Das will ich aber nicht. Außerdem kannst du nicht erwarten, dass es für mich so leicht sein wird. Du bist die Erste, die mein Spiel zu Ende gespielt oder es überhaupt versucht hat. Und ich wette, dass du nicht leugnen kannst, dass es dich sehr viel Geduld und Kraft gekostet hat.“ Er wandte mir das Gesicht zu und blickte mich an. Diesen Blick würde ich nie vergessen.

Ein Schauer lief über meinen Rücken.

„Nein, es hat wirklich viel Mühe gekostet“, sagte ich und nickte einmal. Dann atmete ich aber tief ein und lächelte, auch wenn es mir im Augenblick nicht danach war. „Aber es hat auch irgendwie Spaß gemacht.“

Knapp nahm ich an, er würde mir nicht glauben. Seine Miene verriet nicht, was er dachte. Sie war wie eine Maske, völlig versteinert. Plötzlich grinste er jedoch, zwar nur ein schwaches Grinsen, aber immer noch so fies und bedrohlich wie früher.

Er drückte sich von der Wand ab und trat mit einem festen Schritt näher an mich heran. Dann setzte er seine linke Hand neben meinen Kopf an das Haus, die andere legte er mir auf die Hüfte und zog mich näher an sich. Ich spannte mich automatisch an und hob die Hände, um sie auf seine Brust zu legen, aber ohne ihn wegzudrücken. „Das will ich doch hoffen“, meinte er spielerisch, bevor er sich zu mir vorlehnte und vorsichtig meinen Hals küsste.

Ich war mir nicht ganz sicher, ob ich das wollte: immerhin gab es momentan eigentlich Dinge, die wichtiger waren, als das hier – aber eigentlich konnte ich mich nicht beschweren. Ich hatte gut genug gewusst, worauf das Ganze hier hinausgelaufen war und obwohl ich die Gelegenheit gehabt hatte, auszusteigen, als Keith begonnen hatte, mich zu ignorieren, hatte ich weiter nachgehackt und mir eine gewisse Verantwortung aufgeladen. Es zählte nicht mehr, ob ich mir in meinen Gefühlen für ihn zu hundert Prozent sicher war oder nicht. Es war inzwischen ein bisschen zu spät dafür.

Ich konnte nicht verhindern, dass sich meine Lippen zu einem Lächeln formten. Was soll’s, dachte ich mir und entspannte mich allmählich. Dann glitt eine meiner Hände hinter seinen Hals, die andere zog ihn achtsam am Kragen enger an mich. Zwischen uns war kaum noch Platz, ich spürte seine Wärme wie meine eigene. Ich fuhr ihm mit der Hand von hinten durch das blonde Haar, ließ es zwischen meinen Fingern gleiten.

Okay, vielleicht mochte ich ihn etwas mehr, als ich zugeben wollte. Anders konnte ich das Glücksgefühl, das mich in diesem Augenblick durchströmte, nicht beschreiben.

Keiths Hand, die auf meiner Hüfte ruhte, wanderte zu meinem Rücken, während er von meinem Hals abließ und nun mit den Lippen meine Wange streifte. Mit der linken Hand strich er mir über die Stirn, seine kalten Fingerspitzen kitzelten mich. Mit seinem eigenen Gewicht drückte er mich sanft gegen die Wand und nahm mir jede Möglichkeit, mich nun aus dem Staub zu machen.

„Ich hätte noch eine Frage an dich“, sagte ich, als er sich gerade zu mir vorlehnte. Wir verharrten beide, das Gesicht nur wenige Zoll von dem des anderen entfernt. Ich war froh, zu sehen, dass ich nicht die Einzige war, deren Wangen einen leicht rötlichen Schimmer auf sich trugen.

„Ja?“

„Was genau wolltest du mit deinem Spiel erreichen? Ich meine, warum ausgerechnet ich?“ Es war völlig offensichtlich, dass ich nur von ihm hören wollte, dass er in mich verliebt war. Das wusste ich und bestritt es auch nicht. Ich wusste auch, wie bescheuert es war, ihn danach zu fragen. Aber die Antwort hätte ich doch gerne gehört. Aus seinem Mund, nicht in meinem Kopf.

Er ließ sich Zeit mit der Antwort. Ohne sich von mir zu entfernen oder auch nur sein Gesicht zurückzuziehen, überlegte er.

Dann stieß er ein leicht nervöses Lachen aus. „Sag du es mir. Schließlich solltest du die Regeln festlegen.“

„Weich nicht aus. Das war keine Antwort auf meine Frage“, erwiderte ich, denn ich wollte sie unbedingt hören, obwohl ich sie längst wusste. Oder zu wissen glaubte. Dennoch, er sollte es sagen. Jetzt, sofort. „Außerdem hast du sie am Ende selbst festgelegt. Ich hab damit gar nichts zu tun.“

Ohne ein Wort von sich zu geben, legte er seine Lippen auf meine und bewegte sie langsam, bis ich den Kuss erwiderte. Es schien so, als hätte er genau darauf gewartet. Dass ich seine Zuneigung erwidert hätte.

„Vielleicht habe ich genau darauf gewartet“, meinte er, als sich unsere Lippen wieder trennten. Kurz dachte ich, er könnte Gedanken lesen. Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. „Auf das Spielende.“

„Seltsam ist es schon“, kicherte ich, während ich sein Gesicht in meine Hände nahm und ihn förmlich dazu zwang, mir in die Augen zu sehen. Es war ein wenig unangenehm, aber nichts, was ich mir entgehen lassen wollte. „Du hast erreicht, was du wolltest und musstest gleichzeitig doch eine Niederlage einstecken.“

Verwirrt und verunsichert runzelte er die Stirn und kniff leicht die Augen zusammen. „Was meinst du?“

„Na ja, ich stehe hier. Bei dir. Das ist doch das, was du wolltest? Und trotzdem hast du verloren.“ Mit einem giftigen Lächeln stellte ich mich auf die Zehenspitzen und schlang ihm dabei die Arme um den Hals. Ich umarmte ihn und wartete drauf, dass er es mir nachtat. Als er die Umarmung erwiderte, flüsterte ich ihm leise ins Ohr: „es steht immer noch elf zu zehn, Keith. Game over, mein Lieber.“

Epilog

 

Keith:

Es folgte ein kurzes und leises Klicken, als ich den Koffer zuklappte. Alles war gepackt, meine Kleidung und Sachen. Mit einer leichten Drehung blickte ich mich im dunklen Zimmer um. Hier war es nun ungewöhnlich still und leer. Normalerweise dröhnte immer laute Musik aus der Anlage, der PC auf dem Schreibtisch war angeschaltet und die Vorhänge waren geöffnet. Sonst waren die winzigen Regale mit Büchern oder anderem Kram gefüllt. Heute war aber alles anders. Als würde mein Zuhause mich mit dieser Stille verabschieden wollen.

Mein Handy stieß ein leises Klingeln aus und ich zog es mit einer lässigen Bewegung aus der Tasche.

-Elizabeth: Wann soll ich kommen?

Elizabeth wollte mich zum Bahnhof begleiten.

Schwerfällig ließ ich mich auf meinem Bett nieder und tippte eine Antwort ein.

-Keith: Wir kommen dich in zehn Minuten abholen.

Die Antwort ließ nicht auf sich warten.

-Elizabeth: Ich warte. Und ein Kuss-Smiley dahinter.

Um ehrlich zu sein, wollte ich nicht, dass Elizabeth mitkam. Womöglich würde sie sonst noch anfangen, am Bahnhof zu heulen, wenn wir uns verabschiedeten – oder ich würde es tun, im schlimmsten Fall. Dieser ganze innerliche Stress war für mich dann doch etwas zu viel, ich hielt das Ganze einfach nicht aus. Leider würde ich das wohl müssen, denn offensichtlich waren meine Eltern ebenso erbarmungslos wie alle anderen Erwachsenen auch.

„Keith, bring bitte deinen Koffer nach unten!“, rief meine Mutter aus der Küche mit ihrer samtweichen Stimme.

Ich antwortete ihr nicht.

Die ganzen zwei Wochen, die ich noch hier geblieben war, hatte ich kein einziges Wort mit meinen Eltern gewechselt und die gesamte Zeit über mit meiner neuen Freundin verbracht.

Ja, Elizabeth und ich waren nun zusammen. Allerdings fragte ich mich, wie lange das noch dauern würde. Schließlich war es schwer, eine Fernbeziehung zu führen, besonders in unserem Alter. Wir kannten uns auch nicht lange und das Ganze war eher aus einer Notsituation heraus entstanden. Es war völlig kitschig.

Aber falsch fühlte sich es trotzdem irgendwie nicht an.

Mit einem Seufzer packte ich den Koffer und versuchte, ihn durch die enge Tür zu kriegen.

So begann also ein neuer Anfang.

 

Fortsetzung: Victoria - Psychisch nicht normal

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 17.10.2012

Alle Rechte vorbehalten

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