Cover

Prolog

Meine erste Erinnerung handelt davon, wie ich schwinge. In ewiger Veränderung begriffen, bin ich Aufbau und Zerfall, bin ich alles und nichts.

 

Meine zweite Erinnerung handelt davon, wie ich meinen Rahmen betrachte. In ewiger Stagnation begriffen, besitzt er schon immer die Form eines Kreises - und lässt all meine Schwingungen an seinen Grenzen abprallen. Er bildet mein Gegenstück. Zusammen bilden wir eine Möglichkeit.

 

Meine dritte Erinnerung handelt davon, wie ich erwache. Dabei bewandere ich den Kreisbogen meines Rahmens, bleibe an einem seiner Randpunkte stehen und schaue nach innen.

 

Mit spiegelndem Blick schaut Jemand zurück.

 

In diesem Moment weiß ich zum ersten Mal, was Liebe ist.

1

 

Es gab nie einen Anfang.
Es gab immer nur mich.

 

 

Der Unfall geschieht innerhalb von Sekunden. Ich spüre ein Reißen in meinem Herzen und höre mich schreien, noch bevor ich überhaupt weiß, warum.

Alles, was ich sehe, ist das Kind. Und es fällt, fällt von diesem grotesk pinken Fahrrad, das durch den Zusammenprall mit der Stoßstange komplett verbogen wurde. Weißes Scheinwerferlicht blitzt in den Reflektoren des Schulranzens auf und strahlt den Regen an, der die ganze Szenerie noch surrealer wirken lässt. Das grelle Quietschen der Reifen dringt an meine Ohren – und schließlich auch der Schrei, der meinem so sehr ähnelt. Es ist der Schrei einer Frau, die nun von ihrem eigenen Fahrrad springt.

Das Mädchen liegt schon auf dem Boden. Ich habe gar nicht bemerkt, dass bereits so viele Momente verstrichen sind. Die Fahrzeuge stehen schon still, die Menschen sammeln sich schon um die Unfallstelle, das Leben der Mutter hat sich schon aufgeteilt. Für sie gibt es jetzt nur noch ein Davor und ein Danach.

Meine Hände zittern. Lautlos huscht eine getigerte Katze am Unfallsgeschehen vorbei. Sie erscheint wie ein unwirklicher Geist in all dem Chaos.

Ein Davor und ein Danach.

Ich kann nicht mehr geradeaus denken. Blinzelnd halte ich mich an dem kühlen Rohrpfosten des Straßenschildes neben mir fest, denn auf einmal ist mir sehr schwindelig. Die Verkehrslichter verschwimmen vor meinen Augen, die Konturen meiner Umwelt verblassen. Nur am Rande meines Bewusstseins nehme ich Sirenen wahr, die sich schlagartig näheren. Als der Krankenwagen schließlich eintrifft, versinke ich in mir selbst wie in einem bodenlosen See.

Alles wird still.

Alles, bis auf meine Innenwelt. Meine Innenwelt ist in Aufruhr, sie tobt und wütet. Im Auge ihres Sturms habe ich ein Symbol meiner tiefsten Sehnsucht geformt. Nun öffnet sich ein Spalt und verschlingt mich mit Haut und Haaren, zieht mich so weit weg, dass ich vergesse, was Zeit ist.

Einen Quantensprung später werde ich wieder ausgespuckt.

 

Als meine Sinne zu mir zurückkehren, fährt der Krankenwagen gerade mit Blaulicht davon. Die schaulustige Menschenmenge löst sich langsam auf. Übrig bleibt nur eine gesicherte Unfallstelle, an der zahlreiche Polizisten stehen.

Benommen versuche ich, mich zu reorientieren. Die Erinnerung an das vorige Geschehen ist verworren und nur schwer einzuordnen. Meine Fingerspitzen sind taub und mein Körper fühlt sich zentnerschwer an. Außerdem hat der Regen inzwischen jede Schicht meiner Kleidung durchdrungen.

Hatte ich etwa eben einen kurzen Kreislaufzusammenbruch? Verwirrt schaue ich an mir herunter. Offenbar bin ich nicht ohnmächtig geworden, denn ich stehe noch immer an derselben Stelle wie vorher.

Irgendetwas ist aber anders, stelle ich fest. Vielleicht ist es die Lufttemperatur? Oder die Windrichtung? Oder die Farbkombination am Himmel?  

Oder stehe ich einfach nur unter Schock und nehme die Welt gerade anders wahr als sonst?

Bevor ich weiter darüber nachdenken kann, lenkt mich ein Polizist ab, der sich vor das Fahrrad des Kindes gehockt hat, um es zu inspizieren. Bereits beim bloßem Anblick des verbogenen Rahmens zieht sich mein Magen zusammen. Das Kreischen der Autobremse und der Schrei der Mutter hallen wieder in meinen Ohren nach. Übelkeit steigt in mir hoch.

In diesem Moment rempelt mich Jemand an und holt mich damit glücklicherweise zurück ins Hier und Jetzt. Ich taumle einen Schritt vorwärts und schaue zur Seite.

Was wollte ich eigentlich hier?

Mein Blick fällt auf die Bushaltestelle am Ende der Straße. Kaum habe ich den Namen der Bushaltestelle entziffert, fällt mir auch wieder der Bezirk von Berlin ein, in dem ich mich gerade befinde.

Erleichtert seufze ich auf. Neukölln, natürlich! Wie konnte ich nur vergessen, dass ich hier hin gefahren bin, um Maru vom Theater abzuholen! Wahrscheinlich stehe ich tatsächlich unter Schock und bin deswegen etwas neben der Spur.

Kopfschüttelnd ziehe ich meine durchnässte Jacke enger um mich und setze meinen Weg fort. Noch einmal noch blitzt das Bild des fallenden Kindes vor meinem inneren Auge auf und ich muss schlucken.

Es war nicht so schlimm, wie es aussah, sage ich mir selbst. Das Auto hat das Mädchen nur am Vorderrad erwischt.

Und dennoch schaffe ich es nicht, die Erinnerung daran zu verdrängen. Sie bleibt hinter meinem Herzen hängen wie ein gerahmtes Bild, das ich nie richtig ansehen kann. Wenn ich versuche, meinen Blick darauf zu richten, verzerrt es sich und bleibt so verwaschen wie der regnerische Himmel an diesem merkwürdigen Tag.

 

Trotz der offenen Balkontür rührt sich kein Lüftchen im Wohnzimmer. Auch draußen stehen die Bäume unbewegt da. Die Nachmittagssonne scheint mit stoischer Hitze durch die Fensterscheiben in unsere Gesichter und macht uns zu trägen Löwen. Es ist ein entspannter Samstag und wir haben endlich Zeit, durchzuatmen.

Ich höre Chim neben mir seufzen, als er eine Buchseite umblättert. Mit überschlagenen Beinen sitzt er im Sessel neben der Balkontür.

Mein Blick liegt auf Maru, die sich so stark konzentriert, dass sie sich auf die Lippe beißt, ohne es zu bemerken. Sie hockt auf dem Boden und malt fein säuberlich Kreise auf eine riesige Leinwand. Ihre Hände sind farbgesprenkelt. Zahlreiche Pinsel, Tuben und Schwämme besiedeln ihre Zeitungsunterlage.

„Wie war es eigentlich im Theater gestern?“, frage ich sie.

„Gut“, antwortet meine Tochter, ohne aufzusehen. Ich muss schmunzeln.

Maru tunkt ihren Pinsel in die Tasse mit dunkel gefärbtem Wasser und wäscht ihn sorgfältig aus. Das klirrende Geräusch, das sie dabei macht, lässt Chim von seinem Buch aufschauen.

„Bist du aufgeregt wegen der Aufführung?“, fragt er von seinem Sessel aus. Ich ziehe das Zeitungspapier etwas weiter auseinander, um den Boden vor eventuellen Wassertropfen zu retten.

Ein Grinsen schleicht sich auf ihr Gesicht. „Ich doch nicht. Wir haben alles tausendmal geübt. Da kann nichts mehr schiefgehen.“

Chim sieht mich an und zuckt die Schultern. „Das hat sie definitiv nicht von mir“, sagt er.

Ich stutze. Irgendetwas wirkt auf einmal anders an ihm, aber ich weiß nicht genau, was es ist. Blinzelnd ziehe ich die Stirn in Falten.

„Sag mal“, setze ich an und lege dabei meinen Kopf schief, „hast du dir etwa den Bart abrasiert?“

Er lässt das Buch sinken und starrt mich an. „Ja, Simi. Heute morgen. Wie immer.“

Maru hat aufgehört zu malen; ich kann ihren Blick in meinem Nacken spüren. Ich verstehe nicht, was vor sich geht. Ich könnte schwören, dass Chim immer einen leichten Bart trägt. Aber es ist wahr, er rasiert sich jeden Morgen vor der Arbeit, während Maru neben ihm steht und sich die Zähne putzt. Manchmal stelle ich mich sogar dazu und schminke mich. Hatte mein Gedächtnis gerade etwa einen kurzen Aussetzer?

„Guter Witz, Mama“, wirft Maru ein und wendet sich wieder ihrer Leinwand zu.

Doch Chims nachdenklicher Blick bleibt auf mir liegen. Stille dehnt sich zwischen uns aus, bis er irgendwann lächelnd den Kopf schüttelt und seufzt.

„Ich bin wirklich froh, dass wir bald Ferien haben“, sagt er und richtet damit seine Aufmerksamkeit wieder auf sein Buch.

Ich bleibe verwirrt zurück. Höre einer Fliege zu, die immer wieder mit dem Fenster kollidiert. Schaue auf Marus Kunstwerk, ohne es wahrzunehmen. Die ganze Welt erscheint mir auf einmal wie gemalt, Farben sickern durch mein Sichtfeld, die Linien flimmern, lösen sich auf und festigen sich wieder. Es wirkt fast so, als könnte ich meine Umwelt anstupsen und wie eine Wasseroberfläche durch meine Berührungen durch kleine Wellen verzerren.

Ich halte mich fest an Maru. An ihren braunen Locken, an dem kleinen Muttermal direkt unter ihrem linken Auge, an ihren stetigen Bewegungen. Ich halte mich an ihr fest, bis sie mein Zentrum geworden ist und sich alles wieder normal anfühlt.

 

Am Sonntagmorgen wache ich davon auf, dass Maru in unser Schlafzimmer getapst kommt. Der Regen fällt rauschend auf die sattgrünen Blätter und prasselt gegen unser Fenster. Maru kuschelt sich zwischen mich und Chim. Ihre Haut ist warm und ihre Finger zeichnen Muster auf meine Handinnenflächen. Sie schmiegt ihren Kopf an meine Schulter, ich gebe ihr einen Kuss auf die Stirn. Nach einer Weile beginnt Chim wieder, leise zu schnarchen.

Maru sagt morgens nicht viel. Sie entkommt nur schweigend ihrer Traumwelt, wandert durch die Wohnung mit verschlafenen Augen und langsamen Bewegungen. Irgendwann blinzelt sie dann und ihr Blick klärt sich wie ein bewölkter Himmel nach einem Sturm.

„Wer hat Lust auf ein Frühstück?“, frage ich schließlich in die Runde. Maru fängt an, sich gähnend zu strecken und Chim dreht sich grummelnd auf die Seite, sodass das Feuermal an seinem Hals sichtbar wird. Aus kleinen Augen schaut er uns an.

„Ich befürchte, bei diesem Wetter traut sich keiner vor die Tür, um Brötchen zu holen, oder?“, fragt er und grinst. Maru setzt sich umständlich im Bett auf und haut mir dabei fast den Ellbogen ins Gesicht. Sie sieht bereits wacher aus als vor ein paar Minuten noch.

„Wer sagt denn etwas von Brötchen?“, antworte ich und muss ebenfalls grinsen, weil der Blick meiner Tochter auf einmal erwartungsvoll an mir hängen bleibt. „Ich hatte da eher an Pfannkuchen gedacht ...“

Marus Freudenschrei entreißt uns das letzte bisschen Müdigkeit. Mit einem Satz ist unsere Tochter auch schon aus dem Bett gesprungen und versucht, uns mit allen Kräften aus den Laken zu zerren. Wenn sie endlich wach geworden ist, verwandelt sich Maru in einen kleinen Wirbelwind, den niemand stoppen kann. Ich gebe ihr lachend nach und spüre in der Brust eine seltsame Sehnsucht. Während ich Chim und Maru in die Küche folge, frage ich mich, woher diese Sehnsucht kommt. Es fühlt sich so an, als würde sie von einer Erinnerung stammen, doch die Erinnerung selbst ist wie ein blinder Fleck in meinem Sichtfeld.

In der Küche ist es wärmer als im Schlafzimmer. Schnell reiße ich die Fenster auf, um die regenkühle Luft hereinzulassen. Auf dem Tisch liegt benutztes Geschirr und die Post vom Vortag. Während Maru meinen Kochanweisungen folgt, macht sich Chim daran, die Küche aufzuräumen.

Kurz erhasche ich einen Blick auf mich in der Spiegelung des Glasschrankes. Genau wie mit Chim gestern beschleicht mich auf einmal das Gefühl, dass irgendetwas anders ist – doch ich kann beim besten Willen nicht sagen, was genau. Vielleicht wirke ich ungewohnt ausgeschlafen.

„Mama, wie viele Eier brauchen wir für die Pfannkuchen?“, unterbricht Maru meinen Gedankengang. Ich blinzle und wende mich ihr zu. Sie steht dort mit einem Ei in der jeweils linken und rechten Hand und schaut mich fragend an. Neben den blassen Resten von Acrylfarben sind auf ihren Wangen Mehlspuren zu sehen. Auch sie sieht im grellen Licht der Küche anders aus, vielleicht etwas älter? Seit ihrer Geburt muss ich ständig darüber staunen, wie schnell sie wächst. Manchmal kommt es mir so vor, als hätte ich sie gestern erst gestillt.

„Drei“, antworte ich lächelnd. Dann mache ich mich daran, meiner Tochter bei der Teigzubereitung zu helfen, um weitere Mehlmigrationen auf das absolute Minimum zu begrenzen.

 

Es ist bereits nachmittags, als ich Chim zur Haustür hereinkommen höre. Der Regen hat sich verzogen und die Hitze des Sommers schleicht sich wieder durch die Ritzen des Hauses in unsere Wohnung. Ich hänge das letzte Kleidungsstück auf den Wäscheständer und gehe in den Flur.

„Warum hast du so lange gebraucht?“, frage ich Chim verwundert.

Er stellt seinen Rucksack ab und richtet sich schwer atmend auf. Wir wohnen im obersten Geschoss eines Altbaugebäudes und müssen dementsprechend viele Stufen hochsteigen.

„Ich habe noch ein paar Noten bei Georg abgeholt“, antwortet Chim.

Georg ist Lehrer und einer von Chims Arbeitskollegen. Mein Freund leidet unter fürchterlichem Lampenfieber und ist deswegen vor ein paar Jahren statt Pianist doch lieber Musiklehrer geworden. Die Noten braucht er sicher für den Unterricht.

„Ich dachte schon, die Kinderhorde auf der Geburtstagsfeier hätte dich irgendwo festgeschnürt und nicht gehen lassen“, sage ich.

Chim lacht trocken auf. „Nee, Maru wollte mich so schnell wie möglich dort weghaben. Kaum hatte ich sie bei ihrer Freundin abgeladen, drängte sie mich wieder zur Tür. Ich glaube, es ist soweit. Ich bin ihr jetzt peinlich.“ Er verzieht sein Gesicht und beugt sich nach vorne, um seine Schuhe auszuziehen.

„Ich befürchte, ich bin ihr noch viel peinlicher“, erwidere ich seufzend und drehe mich um. „Was meinst du, läuft etwas Gutes im Fernsehen?“, frage ich Chim über die Schulter hinweg, während ich ins Wohnzimmer gehe.

„Ich habe in der Zeitung gelesen, dass heute Abend ein sehr realistischer Film über das Drogenkartell in Kolumbien laufen soll“, ruft er durch die Wohnung zurück. „Ist aber vielleicht ein bisschen zu deprimierend. Und ich muss Maru ja um neun wieder abholen.“

Schwerfällig lasse ich mich auf das Sofa fallen und starre unseren Flügel an, der gegenüber vom Esstisch steht. Sein Lack glänzt matt im Tageslicht, das durch die Fenster fällt. Er ist Chims ganzer Stolz.

„Spielst du ein bisschen für mich?“, frage ich Chim, als er den Raum betritt. „Ich habe dich so lange nicht mehr improvisieren gehört.“

Er hält in seinen Bewegungen inne und schaut mich mit schräggelegtem Kopf an. „Was ist nur los mit dir in letzter Zeit? Ich habe doch erst vor ein paar Tagen mehrere Stunden am Flügel verbracht. Du hast mir selbst gesagt, dass du die neuen Melodien mochtest.“

„Habe ich das wirklich?“ Verwirrt lasse ich meinen Blick über Chims riesiges Instrument schweifen. Wenn ich mich sehr anstrenge, kann ich eine dunkle Erinnerung ausmachen, aber mehr auch nicht. Vielleicht stimmt etwas mit meinem Gedächtnis nicht? Sind das erste Anzeichen von Demenz? Ich schaudere und beschließe, darüber nicht weiter nachzudenken. Sicherlich gibt es am Ende eine ganz einfache Erklärung für meine Zerstreutheit.

„Wahrscheinlich standest du nur etwas neben dir, weiter nichts“, meint Chim, so als hätte er meine Gedanken gelesen, und setzt sich neben mich auf das Sofa. Er weht den Geruch von frischem Waschmittel zu mir herüber, denn unser Wäscheständer steht mitten im Wohnzimmer und die Kleidung hat bereits angefangen, zu trocknen.

Ich schließe meine Augen und atme tief durch. Chim legt seinen Arm um gibt mir einen Kuss. Von einer plötzlichen Müdigkeit heimgesucht, lehne ich meinen Kopf an seine Schulter.

Eine Weile lang verharren wir in dieser Position. Das einzige Geräusch, das zu uns durchdringt, ist das Rauschen der Autos vor unserem Haus.

 

Ich stehe an einer Straße und will sie überqueren. Doch sie ist viel zu breit, dehnt sich aus wie ein Fluss, der über das Ufer tritt. Dadurch erscheinen die Menschen auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig winzig klein. Die weißen Balken des Zebrastreifens haben sich vom Asphalt gelöst und liegen nun asymmetrisch nebeneinander. Regen fällt in Zeitlupe auf uns hinab, einzelne Tropfen schweben an mir vorbei. Es ist dunkel hier, still. Der aufgewühlte Himmel kleidet sich in einem matten Blaugrau.

Ist das ein Traum?

Die Menschen neben mir öffnen langsam ihre Münder und wenden sich mir zu, die Augen weit aufgerissen. Sie sagen etwas, doch ich kann sie nicht hören. Ich versuche, ihnen zu antworten, aber kein Ton verlässt meine Lippen.

Die Welt schweigt.

Und auf einmal fährt das Mädchen auf seinem pinken Fahrrad die Straße entlang. Es fährt auf eine getigerte Katze zu, die auf dem Bürgersteig sitzt. Es fährt, ohne sich auch nur einmal umzuschauen.

Mein Herz beginnt zu rasen. Ich will schreien. Ich will zu dem Mädchen hinrennen. Doch nichts geschieht. Ich verharre wie gelähmt am Straßenrand, denn meine Muskeln gehorchen mir nicht.

Und endlich dringen erste Geräusche an mein Ohr. Erst klingen sie unzusammenhängend, aber schließlich begreife ich, dass sie zu den Stimmen der Menschen um mich herum gehören. Sie rufen meinen Namen. Durchdringen mich mit ihren Blicken. Kommen näher auf mich zu. Schritt für Schritt, bis sie mich berühren.

Bis sie mich auf die Straße geschoben haben.

>Simi<, rufen sie.

>Du gehörst hier nicht her.<

 

 

2

Ich schlief tief und fest.

Meine Träume waren wie Fluktuationen im leeren Raum.

 

Ich hatte auf alles eine Antwort, nur auf ein Rätsel nicht.

Es kam jedes Mal in mir auf, wenn ich meine Träume betrachtete.

Ihre unbeständige Natur ließ mich voller Sehnsucht zurück.

 

Denn sie vermittelte mir:

 

Ich wusste alles – nur nicht, wer ich war.

Und deswegen wusste ich gar nichts.

 

 

 

Es ist hell draußen geworden, als ich morgens aus der Dusche steige. Die Holzdielen sind bereits von der aufsteigenden Sonne gewärmt worden und knarzen unter meinem Gewicht, als ich das Schlafzimmer betrete.

„Findest du eigentlich, dass ich zugenommen habe?“, frage ich Chim und lasse das Handtuch, in das ich mich eingewickelt hatte, demonstrativ zu Boden fallen.

„Ist das eine Fangfrage?“, erwidert Chim mit einem Lachen im Mundwinkel, während er im Kleiderschrank herumwühlt.

„Ich weiß nicht, ich fühle mich einfach merkwürdig in meinem Körper“, antworte ich zögernd und setze mich auf die Bettkante. „Irgendwie kommt es mir so vor, als müsste ich viel schlanker sein. Habe ich zugenommen, ohne es zu bemerken?“

Chim dreht sich zu mir um. „Ich bin mir sicher, dass du mit diesem Problem nicht die Einzige bist. Sicher fühlen sich einige Menschen so, als müssten sie eigentlich viel schlanker sein“, meint er, beugt sich vor und küsst mich grinsend auf die Nasenspitze.

Lächelnd verdrehe ich meine Augen. „Nein, das ist es nicht. Es stört mich nicht einmal großartig. Es fühlt sich einfach ... falsch an.“ Ich seufze und stehe auf, um mich anzuziehen. „Ach, vergiss es. Ist Maru schon wach?“

„Definiere wach.“ Chim zieht eine Augenbraue hoch und schaut mich vielsagend an, während er sein Hemd zuknöpft. „Als ich gerade in ihrem Zimmer war, hat sie jedenfalls schon ihre Verkleidung für das Theaterstück zusammengesucht.“

„Geht sie nach der Schule nicht zwischendurch nach Hause?“, frage ich, meine Beine umständlich in eine Strumpfhose zwingend.

„Sie hat mich gestern gefragt, ob sie heute Nachmittag bei Amira essen darf.“

„Oh, gerne“, antworte ich lachend. „Da sage ich nicht nein. Einmal weniger kochen.“

Chim schüttelt schmunzelnd den Kopf und greift zur Türklinke. „Das ist wahrscheinlich ein Segen für uns alle.“

Noch bevor ich empört aufschreien kann, ist er auch schon aus dem Schlafzimmer geflüchtet.

 

Anna mag nur fröhliche Musik. Ihr heller Blick huscht rastlos über jedes Instrument, das in diesem Raum steht. Frische Morgenluft strömt durch das offene Fenster; Sonne und Schatten tanzen auf dem Parkettboden. Hin und wieder hört man Vögel singen.

Anna ist vor einem Monat mit einem gebrochenen Bein und blaugrünen Flecken auf ihrem Hals zu uns ins Frauenhaus gekommen. Sie hatte nur einen Koffer und ihren kleinen Sohn bei sich. Nachdem unsere Ärztin sie versorgt hatte, begann sie zu sprechen. Langsam, leise. Die Furcht hatte sich über die Jahre in ihr Gesicht gegraben, in ihre zitternden Hände, in ihre Schultern. Nur mit Mühe konnte sie Worte von ihrer Zunge lösen. Worte, die sich gegen ihren Mann richteten.

Anna hat noch immer Angst vor ihm. Sie zuckt zusammen, wenn Jemand etwas in der Küche herunterfallen lässt. Sie lässt die Vorhänge ihres Zimmers zu und versteckt sich hinter ihrem langen, dunklen Haar. Sie horcht auf, wenn es an der Tür klingelt, obwohl die Adresse des Frauenhauses geheim gehalten wird. Wir holen die Frauen immer an einem vereinbarten Treffpunkt ab.

Ich bin Annas Musiktherapeutin. Heute hat sie ihren kleinen Sohn Timo mitgebracht, der sich nun von ihrer Hand losreißt und auf das Klavier zurennt.

„Guten Morgen, Frau Prasad“, grüßt Anna mich, und der Klang ihrer zarten Stimme wird fast vollständig übertönt von den schallenden Freudenslauten, die ihr Sohn ausstößt.

Ich erwidere Annas Gruß und mache eine Kopfbewegung in Richtung Timo. „Da hat sich wohl jemand schon für das heutige Instrument entschieden.“

„Wir hatten ein Klavier Zuhause“, antwortet Anna mit rauer Stimme. Sie schaut mich nicht dabei an. Nun verstehe ich, warum sie dieses Instrument in den letzten zwei Monaten nie ausgewählt hat.

Stockend kommt Anna in Bewegung. Ich folge ihr gemächlich. Als sie Timo erreicht hat, hilft sie ihm, den Klavierdeckel hochzuheben, um die Tasten freizugeben.

„Jetzt musst du vorsichtig sein, in Ordnung?“, fragt sie den Kleinen, setzt sich auf den Stuhl und hebt Timo auf den Schoß. Dieser nickt begierig und streckt seine Hände nach den schwarzweißen Tasten aus.

Zur meiner Überraschung beginnt Anna, dem großen Instrument eine Melodie zu entlocken. Es ist ein Lied von Schuman, weich, romantisch, süß. Sie wiegt sich leicht hin und her während sie spielt, und Timo lässt seine Hände sinken. Auf sein Gesicht schleicht sich eine Erinnerung, ich kann es von hier aus sehen. Möglichst leise hole ich mir einen Stuhl und setze mich neben die Beiden.

Als Anna kurz darauf die letzten Töne erklingen lässt, jauchzt Timo auf und lässt dann seine Finger auf die Tasten fallen, sodass ein dissonanter Akkord durch den Raum schallt. Anna zuckt zusammen und legt ihre großen Hände um seine kleinen Hände.

„So funktioniert das nicht, Timo“, sagt sie mit einer Spur von Angst in der Stimme.

Ich rücke etwas näher an die Beiden heran und lege meinen Zeigefinger auf das C. Das weckt Timos Aufmerksamkeit. Mit großen, glänzenden Augen schaut er mich an. Wir kennen uns noch nicht so gut, aber hin und wieder sind wir uns schon in diesem Haus begegnet. Er ist ein kleiner Junge voller Neugier und Leben. Man sieht ihm nicht an, was für Schrecken er in seinem Alter bereits mit ansehen musste. Sobald er jedoch seine Mutter für ein paar Sekunden aus den Augen verliert, steht ihm der blanke Horror ins Gesicht geschrieben. Kurz darauf fängt er an, aus vollem Halse zu schreien und hört nicht auf, bis er wieder in ihren Armen liegt.

Ich schlage das C und E mit beiden Zeigefingern an. „Kannst du das?“, frage ich ihn.

Ein paar Sekunden lang starrt Timo nur auf meine Hände. Dann geht ein Ruck durch seinen Körper und er versucht, es mir nachzutun.

„Hey, super machst du das“, sagt Anna, und alle Angst ist aus ihrer Stimme gewichen. Ein entzücktes Lächeln sitzt in ihren Mundwinkeln und entspannt ihre Gesichtszüge. „Versuch es dieses Mal nur mit zwei Fingern. So wie ich, schau mal.“

Langsam entwickelt sich ein musikalischer Dialog zwischen Mutter und Sohn. Ich beobachte diesen Austausch fasziniert, helfe ihnen, schwierige Momente zu bewältigen und höre Anna zu, als sie mir davon erzählt, wie sie Klavierspielen gelernt hat.

Nachdem die Therapiestunde geendet hat, fällt mir auf, dass Annas Haltung aufrechter ist. Sie wirkt geerdet, während sie mir die Hand zum Abschied schüttelt. Und es ist fast so, als wäre in ihren rastlosen Blick Ruhe eingekehrt.

 

„Das hat er nicht.“ Noemi wirft ihren Kopf in den Nacken und lacht. „Ach du Scheiße. Dabei wirkt Chim immer so gefasst.“

„Wenn ich’s dir doch sage. In meinem Freund schlummert ein zutiefst zynischer, garstiger, dreihundert Jahre alter Kobold, der nur zum Vorschein kommt, wenn er es mit besonders grässlichen Menschen zu tun hat.“

„Wenigstens konnte er diese Hexe zum Schweigen bringen“, erwidert Noemi, während sie die Zigarette in ihrem Mund mit einem ihrer glitzernden Feuerzeuge anzündet.

Seufzend stütze ich mich am Brückengeländer ab und betrachte den Fluss unter uns. „Wir hatten danach großartigen Sex.“

Meine Kollegin grinst in sich hinein, nimmt einen Zug von ihrer Zigarette und atmet den Rauch aus. Er schwebt wie eine dünne Wolke über den Fluss davon. Ich schaue nach oben und alles, was ich sehe, ist verwaschenes Weiß. Der Himmel hat sich in den letzten Stunden zugezogen, doch die drückende Hitze ist geblieben. In den Straßen Berlins hängt ein grauer Schimmer. Vielleicht wird es bald wieder regnen.

„Sag mal, Schnecke, wieso trägst du eigentlich keinen Lippenstift heute?“, unterbricht Noemi meinen Gedankengang. „Ist irgendetwas Ernstes vorgefallen? Du siehst so anders aus.“

Verwirrt wende ich mich meiner Freundin zu. In ihrem Gesicht erkenne ich ehrliches Erstaunen. Fast automatisch taste ich meine Lippen mit meinen Fingern ab. Sie fühlen sich trocken an, vertraut, normal. Male ich meinen Mund sonst immer bunt an? Alles verschwimmt vor meinen Augen.

In diesem Moment trägt der Wind den Geruch von Tabak in meine Richtung.

„Oh, tut mir leid“, sagt Noemi schnell und wedelt mit ihrer Hand vor meinem Gesicht herum, „das war eine plötzliche Böe.“

„Macht nichts. Kann ich einmal ziehen?“, frage ich übergangslos.

Das anfängliche Erstaunen in Noemis Gesicht verwandelt sich in Fassungslosigkeit. „Du hasst doch Zigarettenrauch!“ Sie schaut mich mit geweiteten Augen an. Sie sind grün wie das Moos an Felsen in verregneten Ländern. „Seit wann rauchst du bitte? Bist du nicht diejenige, die mir jede Pause einen Vortrag darüber hält, wie schädlich Tabak ist?“

Ich blinzle, schlucke. Ziehe meine Augenbrauen zusammen. „Bin ich das?“

Noemi steht dort mit offenem Mund und antwortet nicht. Ein paar Strähnen ihres rotgefärbten Haares haben sich aus ihrem Zopf gelöst. Ich lasse meinen Blick über ihr Lippenpiercing, die wohlbekannten Lachfalten und das schmale Handgelenk wandern, an dem sie den Armreif ihrer Großmutter trägt. Alles ist wie immer.

Warum bin ich nicht wie immer?

„Es ist nicht so, als würde ich rauchen.“ Ich stöhne auf, streiche mir über das Gesicht und schließe meine Augen. „Irgendetwas stimmt nicht mit mir in letzter Zeit, Noemi, und ich weiß nicht, was es ist. Vielleicht bilde ich es mir ja auch ein. Aber ...“ Ich atme tief durch und öffne meine Augen, um auf die Zigarette zwischen Noemis knochigen Fingern zu starren. „Ich spüre keine körperliche Sucht nach dem Tabak. Zu rauchen würde sich nur ... natürlich anfühlen. Gott, keine Ahnung. Halte ich wirklich Vorträge?“

Noemi schüttelt den Kopf, den Mund noch immer geöffnet. „Das glaube ich einfach nicht. Es würde sich natürlich anfühlen? Wer bist du?“

Hilflos zucke ich mit den Schultern und fange an, nervös mit meinen Haaren zu spielen.

Auf einmal verändert sich Noemis Haltung. „Das kaufe ich dir nicht ab“, meint sie fest entschlossen und verschränkt ihre Arme. „Irgendetwas muss doch passiert sein.“ Sie sieht mich an, wie sie die Kinder in der Kinderbetreuung des Frauenhauses ansieht – aber nur, wenn sie sich sicher ist, dass sie nicht die Wahrheit sagen. Noemi hat nun also beschlossen, mir nicht zu glauben. Das kann ich ihr nicht übel nehmen, schließlich glaube ich ja nicht einmal mir selbst.

„Die einzige Erklärung, die ich habe, ist Demenz“, sage ich schließlich in die Stille hinein.

„Nie im Leben hast du Demenz. Vielleicht bist du müde, zerstreut, erschöpft. Aber ganz sicher nicht dement.“ Sie zuckt ihre Schultern und zieht noch einmal an ihrer Zigarette. Ich folge ihren Bewegungen mit meinem Blick. Noemi zieht ihre Stirn in Falten und kaut auf ihrem Lippenpiercing herum, sagt jedoch nichts. Versucht nur, mich mit ihren Augen zu durchleuchten. Schließlich seufzt sie, nimmt meine Hand in ihre und drückt sie. „Das sind bestimmt nur deine Hormone, Schnecke. Vielleicht kommst du ja sogar verfrüht in die Menopause?“ Sie grinst und boxt mir spielerisch in die Schulter.

Ich tue so, als hätte sie mir wehgetan, und bald lachen wir wieder so unbekümmert wie vorher, fast als wäre nichts geschehen.

 

S.P. – zur selben Zeit und gar nicht weit entfernt:

 

Es ist nachts und der Geschmack von Asche liegt auf meiner Zunge. Ich gleite aus dem Bett, gehe ins Wohnzimmer und öffne die Balkontür. Der Vollmond hängt über der Stadt und die Straßen liegen wie blanke, bleiche Knochen vor mir. Bilde ich mir das ein, oder ist an diesem Ort alles viel zu still und viel zu laut zur gleichen Zeit?

 

„Halt, das ist mein Honig!“, ruft Maru empört in ihrem Bärenkostüm durch den Theatersaal und langt mit der Tatze nach dem Topf, den das andere Bärenkind umklammert hält. „Du kannst mir den doch nicht einfach wegnehmen!“

Aber der kleine Honigdieb lässt sich nicht beirren. Er dreht sich geschwind um und läuft kichernd in das Dickicht, welches am Rande des Podestes als Requisite aufgestellt wurde.

Langsam wandert der Lichtkegel zurück zu Maru. Sie steht mit hängenden Schultern neben einem Baum aus Pappe. „Dabei habe ich doch so lange gebraucht, bis der Topf voll war ... “, sagt sie und lässt sich traurig auf dem künstlichen Gras nieder, mit dem der Bühnenboden ausgelegt wurde.

Daraufhin schließt sich der rote Vorhang und verschluckt Maru. Ich will unbedingt klatschen, aber alle Zuschauer scheinen in stiller Erwartung auszuharren. Auf einmal gehen die Lichter im Saal an und der Leiter der Theater AG steigt mit einem Mikrofon auf das Podest. „Nach einer kleinen Pause geht es weiter, sehr geehrte Damen und Herren. “

Ein Murmeln und Rascheln wandert durch das Publikum. Noemi wendet sich mir zu. „Lust auf ein Zigarettchen?“, fragt sie mich, nur um eine Sekunde später dramatisch die Augen zu verdrehen. „Ich kann nicht glauben, dass ich dich das tatsächlich frage“, meint sie und steht kopfschüttelnd auf, um sich ihre Jacke anzuziehen.

Ich stehe ebenfalls auf, erstarre aber mitten in meiner Bewegung. Ein paar Meter entfernt von uns steht ein Mann mit ergrautem Haar und einem Dreitagebart, die Augen wachsam auf mich gerichtet. Ich kann von hier aus erkennen, dass sich in seine sonnengegerbte Haut Falten gegraben haben. In dem Moment, in dem ich ihn bemerke, hält er den Blickkontakt eine Sekunde zu lang, bevor er blinzelt und sich abwendet. Ich runzle die Stirn und ziehe mir meine Cordjacke über. Hätte er mich nicht angeschaut, wäre er mir nicht aufgefallen, aber nun frage ich mich, was dieser alte Mann hier alleine macht. Niemand sonst scheint zu ihm zu gehören.

Noemi reißt mich aus meinen Gedanken, indem sie mich am Ärmel zupft und lächelnd zur Bühne deutet. Dort lugen zwei Kinderköpfe hinter dem roten Vorhang hervor – es sind Naim und Maru. Naim ist Noemis Sohn und ein kleiner Rabauke mit blau gefärbtem Haar. Nachdem er uns erblickt hat, grinst er spitzbübisch und zieht dann seinen Kopf zurück hinter den Vorhang. Ich winke Maru zu und zeige ihr meinen hochgestreckten Daumen. Sie grinst ebenfalls und verschwindet dann wie Naim in den hinteren Bühnenbereich.

„Was die beiden dahinten wohl treiben?“, fragt Noemi, während wir uns mühselig an den Menschen vorbeizwängen. Die Luft in diesem Saal ist stickig geworden, deswegen atme ich erleichtert auf, als wir durch den Exit gehen und kühle Abendluft über meine Haut streicht.

„Wahrscheinlich gehen sie nochmal ihren Text durch“, antworte ich, woraufhin Noemi lacht und sich an die Schulmauer lehnt.

„Glaube ich kaum“, erwidert sie, während sie mit zitternden Fingern an ihrer plastikverpackten Zigarettenschachtel herumfummelt. „Naim führt irgendetwas im Schilde, das habe ich ihm angesehen.“ Sie zündet sich eine Zigarette an, nimmt einen tiefen Zug und hält sie mir dann mit einem fragenden Gesichtsausdruck hin.

„Nein, danke“, sage ich. „Wäre dumm, mir das anzugewöhnen.“

„Wo du Recht hast, hast du Recht“, antwortet Noemi, atmet den Rauch aus und steckt die Zigarettenschachtel zurück in ihre Jackentasche. Das schwache Licht der Pausenhofbeleuchtung fällt auf ihr Gesicht. Ich betrachte ihre Augenringe und ihren hektisch zusammengebundenen Zopf, dann lasse ich meinen Blick über die vereinzelten Eltern schweifen, die wie wir hier kurz Luft schnappen wollen. Sie tun sich zu kleinen Gruppen zusammen und versuchen, unbedeutende Gespräche mit flüchtigen Bekannten aufrechtzuerhalten, während sie insgeheim hoffen, dass die Pause schnell vorüber geht und sie zurück in den Saal gehen können.

„Ist eigentlich alles in Ordnung bei euch Zuhause gerade?“ frage ich Noemi schließlich. „Du siehst ziemlich fertig aus.“

„Sowas hört man doch immer wieder gerne“, antwortet meine Freundin mit ihrem üblichen Zynismus und seufzt. „Ich wusste nicht, dass man mir das so ansehen kann.“ Sie nimmt einen letzten Zug von ihrer Zigarette, lässt sie fallen und zerdrückt sie mit ihrer Schuhspitze. „Du hast Recht, ich bin ziemlich müde, weil ich momentan mehr arbeiten muss. Leon bezahlt ab jetzt nur noch den Mindestbetrag des Vatergeldes. Das bedeutet zweihundert Euro weniger im Monat für Naim und mich.“

Ich starre sie an. „Im Ernst?“

Noemi nickt. „Im Ernst.“

Ich atme hörbar aus, verschränke meine Arme und schüttle den Kopf. „Unfassbar. Ich dachte, es ist nicht möglich, dass Leon noch mehr in meiner Achtung sinkt. Aber der Kerl steckt voller Überraschungen.“ Ich drehe mich zu Noemi um und berühre sie an der Schulter. „Sag’ auf jeden Fall Bescheid, wenn du Geld brauchst.“

„So schlimm ist es zum Glück noch nicht“, antwortet sie und lächelt schwach. „Aber danke, Schnecke.“

Ich schüttle den Kopf erneut und schaue auf den Boden, wo noch die Überreste von Noemis Zigarette liegen. „Was für ein egozentrisches Arschloch.“

Noemi ist lesbisch. Durch ihre intolerante Familie hatte sie diesen Teil ihrer Identität erst sehr spät akzeptieren können und sich viele Jahre lang selbst belogen. Doch als Noemi schwanger geworden war, gestand sie sich selbst und ihrem damaligen Freund Leon, dass sie sich nicht von Männern angezogen fühlte – woraufhin er spurlos aus ihrem Leben verschwand. Seine einzige Unterstützung kam all die Jahre von seinem Bankkonto, weil er gesetzlich dazu verpflichtet war. Doch seinen Sohn hat er nie getroffen.

„Lass uns nicht mehr darüber reden, dieses Thema zieht mich nur runter“, meint Noemi.

„Kann ich verstehen. Ich glaube, die Pause ist sowieso bald vorbei“, sage ich mit einem Blick auf den sich langsam leerenden Pausenhof und biete ihr meinen Arm an. Sie hakt sich bei mir unter und geht mit mir zurück zum Eingang.

„Ich finde deinen Lippenstiftaussetzer immer noch komisch“, wechselt sie plötzlich das Thema und grinst mich an. „Weißt du noch, wie du während des Studiums fast jede Woche eine neue Farbe ausprobiert hast?“

Ich nicke zögerlich und grinse ebenfalls, fühle mich aber seltsam dabei. Angestrengt versuche ich mich daran zu erinnern, wo genau meine Lippenstifte Zuhause liegen, damit ich sie gleich morgen benutzen kann. Doch alles, was ich vor meinem inneren Auge sehe, ist ein blutleerer Mund und eine rote Schminktasche, die aus einer Mülltüte herausragt.

3

Um mich kennenzulernen,

musste ich geboren werden.

Um geboren zu werden,

musste ich auseinanderbrechen.

 

                               

 

Ich reiße meine Augen auf und schnappe nach Luft. Das sanfte Licht der Dämmerung fällt durch die Vorhänge des Schlafzimmerfensters und taucht unsere Möbel in ein von rötlichen Schimmern durchsetztes, anthrazitfarbenes Grau. Die Sonne ist noch nicht aufgegangen, die Vögel schweigen noch. Als ich einen flüchtigen Blick auf die neongelb leuchtenden Nummern unseres Weckers werfe, stelle ich fest, dass es fünf Uhr morgens ist.

Mein Herz schlägt schnell, zu schnell. Ich setze mich umständlich im Bett auf und fasse mir an die brennende Brust, atme langsam ein und aus. Ein tiefer Schrecken scheint in meinen Gliedern zu kauern – was habe ich bloß geträumt? Ich drehe mein Gesicht nach rechts und betrachte den schlafenden Chim. Normalerweise beruhigt es mich immer, seinen regelmäßigen Atemzügen zuzuhören, doch aus irgendeinem Grund hilft mir das heute nicht. Ich kann hier nicht liegen bleiben.

Vorsichtig stehe ich auf und verlasse den Raum. Im Flur ist es still und dunkel, nur die Lichterkette an Marus Türrahmen erhellt meinen Weg. Ganz sachte öffne ich die Tür zu ihrem Zimmer und schaue hinein.

Meine Tochter hat ihre Decke im Schlaf auf den Boden befördert und nimmt wie gewöhnlich mit ihren weit ausgestreckten Armen und Beinen die ganze Matratze ein. Auf ihrer Stirn schimmert nächtlicher Schweiß. Ich muss schmunzeln und schließe die Tür wieder.

In der Küche höre ich nur das leise Ticken der Uhr. Die Stille, die zwischen den Töpfen und Tellern hängt, behagt mir nicht, deswegen mache ich schnell das Radio an, fülle den Wasserkocher bis zum Rand und schaufle mehrere Löffel herb duftendendes Kaffeepulver in eine Kanne. Anschließend setze ich mich an den Holztisch und starre aus dem Fenster. Einzelne Vögel ziehen am apfelroten Himmel vorbei wie schwarze Flecken in meinem Sichtfeld. Fetzen meines Traumes blitzen vor meinem inneren Auge auf, ergeben allerdings kein einheitliches Bild.

Als der Wasserkocher ankündigt, dass er seine Arbeit verrichtet hat, stehe ich schwerfällig auf. Während ich das dampfende Wasser in die Kanne umgieße, betrachte ich meine Hände und fühle mich wie immer an die Hände meiner Mutter erinnert. Mit lethargischen Bewegungen setze ich mich schließlich auf die Fensterbank und warte darauf, dass ich die Pressfiltereinheit der Kaffeekanne nach unten drücken kann.

„... Verunglückte gestern Abend im Straßenverkehr von Neukölln ein neunjähriges Mädchen“, dringt es auf einmal verschwommen zu mir durch. „Laut Polizeiangaben war Maru Prasad mit ihren Eltern ...“

Ich stehe ruckartig von der Fensterbank auf und stürze auf das Radio zu, um es lauter zu drehen. Meine Lungen scheinen in Flammen aufgegangen zu sein, denn ich kann nicht mehr atmen. Elektrische Stöße fahren durch meine Glieder und lassen meine Haut kribbeln. Mit zugeschnürter Luftröhre und zerfurchter Stirn halte ich mein Ohr an die Lautsprecher des Radios.

„Nun zum Wetter“, fährt die Nachrichtenstimme fort. „Die Hitzewelle der letzten Woche scheint langsam abzuflauen ...“

„Nein!“, rufe ich lautstark und richte mich kerzengerade auf. Dann schlage ich mir die Hand vor den Mund und mache einen Ausfallschritt, um nicht hinzufallen. Schwindel wirbelt all meine Gedanken auf.

Seit wann werden die Tagesnachrichten derart abrupt für die Wettervorhersage unterbrochen? Ich bin kurz davor, das Radio in beide Hände zu nehmen und gewaltsam zu schütteln, kann mich aber gerade noch entsinnen und verlasse stattdessen hastig die Küche, um einen zweiten Blick in Marus Zimmer zu werfen.

Ich weiß auch nicht, was ich erwartet hatte vorzufinden, aber natürlich liegt meine Tochter nach wie vor in ihrem Bett und schläft tief und fest. Inzwischen ist die Sonne über den Horizont geklettert und hat die Dämmerung weitestgehend vertrieben, sodass ich Marus Umrisse besser erkennen kann. Die Lavalampe auf ihrem Schreibtisch beleuchtet die im Zimmer verstreuten Zeichnungen schwach. Vor ihrem stickerbeklebten Regal liegt ein Bücherstapel und auf ihrem Drehstuhl haben sich wie immer einige Kleidungsstücke angehäuft. Alles erscheint friedlich und normal.

Vorsichtig nähere ich mich meiner Tochter, bis ich ihre Atemzüge hören kann. Die ruckartigen Bewegungen ihrer geschlossenen Augen deuten darauf hin, dass sie sich gerade in einem Traum befindet. Mit einer Verzweiflung, die ich nicht benennen kann, betrachte ich das vertraute Muttermal unter ihrem Auge, welches sie von ihrem Großvater geerbt hat. Dabei versuche ich mit all meiner Kraft, das Gefühl von Unwirklichkeit zu ignorieren, das den Morgen vor meinen Augen verschwimmen lässt.

Schließlich klaube ich mit zittrigen Händen die Bettdecke vom Boden auf, um sie über Maru auszubreiten. Sie seufzt leise im Schlaf und dreht sich auf die Seite, wodurch ihr ein paar verschwitzte Locken ins Gesicht fallen. Behutsam streiche ich sie beiseite. Ein seichtes Lächeln verweilt kurz auf ihren Lippen und verschwindet so schnell wieder, wie es auftauchte.

Weshalb beruhigt mich heute weder Marus noch Chims Anblick? Es ist, als ob sich die Klauen einer eisenharten Furcht in meine Brust gegraben haben und mich jedweder Logik zum Trotz nicht freigeben. Denn offensichtlich hat der Nachrichtensprecher nicht von meiner Maru geredet. Meine Maru liegt sicher in ihrem Bett und ist so lebendig wie eh und je. Meine Maru ist nicht neun, sondern elf Jahre alt. Und doch fällt es mir noch immer schwer zu atmen, als ich mich umdrehe und ihr Zimmer verlasse.

 

S.P. – zur selben Zeit und gar nicht weit entfernt:

 

Etwas stimmt nicht. Etwas fehlt. Haben sie mich operiert und mir Organe entnommen? Alles fühlt sich falsch an. In diesem Haus ist zu wenig Licht, in den Straßen ist zu wenig Bewegtheit, in meinem Kopf ist zu wenig Musik. Jemand hat diesem Universum etwas gestohlen und ich bin die Einzige, die es bemerkt.

 

Angestrengt versuche ich, mein Handy so in den Händen zu halten, dass ich die Schrift auf dem Display trotz der Sonnenstrahlen erkennen kann. Mit einer gewissen inneren Unruhe scrolle ich durch die Ergebnisse meiner Internetrecherche, aber egal wie gründlich ich suche, ich stoße einfach auf keinen Artikel, der über eine verunglückte Maru Prasad berichtet.

Wie kann das sein? Müssten sich die Zeitungen und Nachrichtensender nicht regelrecht reißen um eine derart tragische Geschichte? Warum erwähnt ein Radiosender den Tod eines Kindes, aber sonst kein anderes Medium?

Irritiert stecke ich das Handy zurück in die Hosentasche und lasse meinen Blick über die Spree schweifen, die sich rechts von mir erstreckt. Wann immer sich die Gelegenheit bietet, gehe ich morgens hier spazieren. Der Treptower Park befindet sich direkt um die Ecke unserer Wohnung und ist relativ weitläufig.  

Wie um meine immer wieder auftauchenden Erinnerungen daran loszuwerden, schüttle ich den Kopf und beschleunige mein Schritttempo. Wahrscheinlich habe ich den Namen einfach nur missverstanden. Anders kann ich mir dieses Rätsel nicht erklären.

Gerade als ich das Funkeln der Wasseroberfläche betrachte und mich durch diesen verzaubernden Anblick endlich etwas beruhigen kann, höre ich ein lautes Platschen. Meine Augen zucken in die Richtung, aus der das Geräusch kam, und mir stockt der Atem. Sämtliche Verzauberung fällt von mir ab.

Im nächsten Moment sprinte ich los. Der lauwarme Wind peitscht mir ins Gesicht und wirbelt meine Haare auf. Während ich laufe, streife ich meine Schuhe ab, ziehe mein Handy aus der Hosentasche und drücke es einem verwirrten Passanten in die Hände. „Wir brauchen einen Krankenwagen!“, rufe ich lautstark. Dann bin ich auch schon mit wild klopfendem Herzen über das Geländer geklettert und kopfüber in die Spree gesprungen.

Das Wasser ist erstaunlich kalt. Mit kräftigen Schwimmzügen kämpfe ich gegen die starke Strömung und das Gewicht meiner Kleidung an, während ich seltsam abgerückt den Geschmack von Algen in meinem Mund registriere. Unterhalb der Oberfläche leuchtet das Wasser grünlich. Als ein silberner Fischschwarm mich kommen sieht, stiebt er schimmernd auseinander und verschwindet unmittelbar danach in den nebligen Tiefen des Flusses. Einen Auf einmal höre ich wieder das Platschen in meinem Kopf und werde unwirsch zurück in die Gegenwart gezogen.

Panik sticht in mein Herz. Peile ich überhaupt die richtige Richtung an? Als ich mich vorhin vom Land abgestoßen hatte, trieb der regungslose Mann ungefähr acht Meter von mir entfernt auf dem Wasser, doch die Strömung hätte ihn in den letzten Sekunden problemlos von mir wegtragen können.

Ich tauche also wieder auf, und blinzle, um die Tropfen aus meinen brennenden Augen zu vertreiben. Ein paar Sekunden später habe ich den Mann entdeckt. Er treibt noch immer bäuchlings auf dem Wasser und rührt sich nicht. Die dunkelrote Lache, die seinen Kopf umgibt, wird stromabwärts geschwemmt, und ich spüre, wie sich meine Panik steigert. Vielleicht komme ich zu spät.

Als ich den Mann endlich erreicht habe, verliere ich keine Zeit. Ich drehe ihn auf den Rücken, positioniere mich unter ihn und hebe seinen verletzten Kopf vorsichtig auf meinen Brustkorb. Damit sein Oberkörper nicht zur Seite wegrutscht, wende ich einen beherzten Seemannsgriff an und beginne, das Wasser mit meinen Beinen von uns stoßen.

Der Schock verleiht mir eine unfassbare Stärke, mit der ich es tatsächlich schaffe, uns zum rettenden Ufer zu bringen. Dort angekommen, klettere ich auf den kniehohen Holzsteg, ohne den Mann dabei loszulassen. Mein Atem geht stoßweise und mein Herz zerspringt fast in meiner Brust, aber ich hebe den Mann, ohne eine Pause einzulegen, mit einem festen Griff unter seinen Schultern hoch. Sein bewusstloser Körper und seine vollgesogene Kleidung sind so schwer, dass ich fast auf dem glitschigen Holzsteg ausrutsche und zurück ins Wasser falle. Gerade so finde ich mein Gleichgewicht wieder und hieve den Mann mit einem letzten Ruck auf den Holzsteg. Dabei falle ich aus der Hocke rücklings auf meinen Hintern.

Aus der Ferne höre ich aufgeregte Stimmen, die sich nähern. Der Kopf des Mannes liegt nun in meinem Schoß und in der Sekunde, in der ich ihn das erste Mal richtig betrachten kann, bemerke ich, dass ich ihn kenne. Er war letztens auf Marus Theateraufführung und hat mich mit seinen wachsamen Augen durchdrungen.

Ich schreie beinahe auf und muss all meine Willenskraft aufwenden, um ihn nicht von mir zu stoßen. Mein Körper fängt an, unkontrolliert zu zittern. Das ist zu viel. Ich habe hier und jetzt ein Limit erreicht und bemerke, wie etwas in mir kippt. Ich bin heute nie aufgewacht und träume noch, denke ich benebelt. Das hier kann unmöglich passieren.

Mir bleibt keine Zeit, mich zu fassen, denn im nächsten Augenblick öffnet der Mann seine Augen. Sofort fängt er an, zu husten und hektisch nach Luft zu ringen. Wasser rinnt aus seinen Mundwinkeln, und meine Furcht ignorierend hebe ich seinen Kopf an, damit er sich nicht verschluckt. Ich weiß nicht, ob ich erleichtert oder verängstigt sein soll.

Er setzt sich schwerfällig auf – wodurch mir die Platzwunde an seinem Hinterkopf ins Auge fällt – und versucht, sich röchelnd zu mir umzudrehen. Dabei schwankt sein Oberkörper gefährlich hin und her. Instinktiv will ich ihn stützen, doch der Schock hat mich zu Stein werden lassen. Ich kann mich nicht bewegen, ich kann ihn nur anstarren. Einige Details in meiner Umgebung wirken auf einmal gestochen scharf, fast so, als hätte eine Kameralinse sie fokussiert, während der Rest meines Sichtfelds vor meinen Augen verschwimmt.

Er sieht anders aus als am Tag der Theateraufführung. Erstens, weil sein nasses Haar jetzt platt auf seinem Schädel liegt und Wassertropfen seinen Nacken hinunterlaufen. Zweitens, weil ich ihm so nahe bin, dass ich die Millionen Sommersprossen auf seinem Gesicht zählen kann. Drittens, weil seine Augen nicht mehr wachsam sind. Sie laufen über vor hilfloser Verwirrung – welche sich ins Unermessliche steigert, als er mich erblickt.

Ich muss schlucken. Der Mann scheint mir etwas sagen zu wollen, aber seine Stimme gehorcht ihm nicht. Er hustet sich die Seele aus dem Leib und würgt kleine Mengen an Wasser hervor. Zwischen diesen verstörenden Geräuschen vernehme ich immer wieder einen mir sehr vertrauten Klang wahr und realisiere schließlich, dass der Mann verzweifelt versucht, meinen Namen auszusprechen. Aber das kann mich nicht mehr aus der Fassung bringen. Ich fühle mich einfach nur noch betäubt.

Das hier muss ein Traum sein, denke ich wieder und wieder. Das hier ist nicht real.

„Si – Simran!“, keucht der Mann mit heiserer Stimme und verschluckt dabei die Vokale in meinem Namen, sodass nur ein Nuscheln zu hören ist. „Du ... Wa –“, fängt er an, wird jedoch gleich darauf von einem weiteren Hustenanfall geschüttelt. Mitten im Hustenanfall beugt er sich über das Wasser und erbricht sich. Ich starre ihn nach wie vor nur regungslos an.

Wie durch Watte dringen Sirenen eines Krankenwagens an mein Ohr. Die aufgeregten Stimmen, die ich eben schon gehört hatte, werden lauter. Keine fünf Sekunden später sind wir umringt von Menschen und keine weiteren fünf Sekunden später schieben uns die Rettungskräfte forsch beiseite.

Ich verschränke schlotternd meine Arme und stehe wortwörtlich nur neben dem Geschehen. Jemand legt mir eine thermoregulierende Decke über die Schultern, dabei ist mir gar nicht kalt.

Zwei Frauen unterhalten sich vollkommen aufgelöst darüber, dass sie angeblich gesehen haben, wie ein maskierter Kerl den Mann mit einem Baseballschläger bewusstlos geschlagen und ihn dann von der Brücke geschubst hat. Ich glaube ihnen kein Wort. Wahrscheinlich, weil sich ein übermächtiger Teil in mir gegen diese Vorstellung wehrt. Doch im Gegensatz zu mir scheint eine Rettungssanitäterin durchaus interessiert an der Erzählung der beiden Frauen zu sein und bittet sie, sich damit an die Polizei zu wenden, sobald diese hier angekommen ist.

In höchster Aufruhr versucht der Mann währenddessen immer wieder, aufzustehen und sich taumelnd zu mir zu schleppen, aber die Rettungskräfte zwingen ihn konsequent, sitzen zu bleiben. Er stöhnt und windet sich unter ihren Griffen. Obwohl Verwirrung seine Gesichtszüge zeichnet, erkenne ich in seinen Augen eine klare Sorge, die mir unter die Haut geht und meine innere Betäubung langsam vertreibt. Noch klingt seine Sprache verwaschen und undeutlich, deswegen kann ich nur erraten, was er mir sagen möchte. Einzelne Wortfetzen dringen zu mir durch, aber sie ergeben keinen Sinn. Vielleicht auch, weil ich viel zu beschäftigt damit bin, die blutigen Flecken auf dem Holzsteg anzustarren.

Dem Mann streifen sie wie mir eine thermoregulierende Decke über. Sie informieren ihn über die Risiken nach einem Schädel-Hirn-Trauma, um ihm zu verstehen zu geben, warum er sich nicht ruckartig bewegen soll. Als ihre Bemühungen keine Früchte tragen, verabreichen sie ihm ein Beruhigungsmittel, das überraschend schnell wirkt. Dann verfrachten sie ihn plötzlich auf eine Liege und transportieren ihn ab.

Ich kenne noch nicht einmal seinen Namen.

Ausgerechnet als ich den Rettungskräften folgen will, fangen die Leute an, auf mich einzureden, waren sie doch vorher zu beschäftigt damit, sich an der spannenden Situation zu ergötzen. Sie überschütten mich mit Lobesreden über meine Wagemut und meine schnelle Reaktionsfähigkeit, doch ich will nichts davon hören. Ich will wissen, in welches Krankenhaus sie den Mann bringen werden und versuche, die Menschengruppe mit einem reservierten Lächeln abzuwimmeln, um noch rechtzeitig zum Rettungswagen rennen zu können.

Als mich ein Mann bei meiner Flucht leicht am Arm festhält, fahre ich ihn beinahe wütend an, erkenne ihn aber im letzten Moment und nehme kleinlaut mein Handy entgegen. „Danke, hatte ich fast vergessen“, murmle ich ihm zu, drehe mich um und laufe los. Der heiße Asphalt brennt unter meinen Fußsohlen. Bis jetzt habe ich gar nicht wahrgenommen, dass ich keine Schuhe mehr trage.

Als ich am oberen Ende des Hangs ankomme, steht weit und breit kein Krankenwagen auf der Straße. Die einzigen Beweise, dass ich dieses merkwürdige Abenteuer nicht halluziniert habe, sind meine triefend nasse Kleidung und die zusammengeknüllte, silbergoldene Decke, die ich so fest umklammert halte, dass meine Fingerknöchel weiß hervortreten. Während ich wie hypnotisiert auf das Ende der Straße starre, das Adrenalin meinen Körper allmählich verlässt und ihn erschöpft zurücklässt, hallt eine Frage in meinem Kopf wie ein Echo nach.

Woher weiß dieser Mann, wie ich heiße?

 

 

 

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 10.07.2020

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Claudia

Nächste Seite
Seite 1 /