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W E L T E N

 

Für die Mutter mit den sanften Augen und den Papa, der mir sein Blau in das Kinderbett legte.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 
© Julika Sophia Meier, 2014
Alle Rechte vorbehalten
Dieses Werk darf nicht ohne schriftliche Erlaubnis und nicht ohne Mitwissen der Autorin vertrieben, kopiert oder verwendet werden.

 

Zitat

 

Wir kommen weit her, liebes Kind

Und müssen weit gehen

Keine Angst

Alle sind bei dir

Die vor dir waren

Deine Mutter, dein Vater

Und alle, die vor ihnen waren

Weit, weit zurück

Alle sind bei dir

Keine Angst

Wir kommen weit her

Und müssen weit gehen

Liebes Kind.

 

Heinrich Böll

Zitat

 

“Of course it is happening inside your head, Harry,

but why on earth should that mean that it is not real?“

 

Harry Potter And The Deathly Hallows, J. K. Rowling

 

 

 

 

If you enter this world knowing you are loved

and exit this world knowing the same,

then everything that happens in between

can be dealt with.

 

Michael Jospeh Jackson

 

1. Zwischengeschichte

Dunkelheit. Sie hat das Gefühl, nicht atmen zu können. Ihr ganzer Körper zittert, während sie das mit Blut beschmierte Baby in den Armen hält. Tränen brennen auf ihrer Haut, fallen auf ihr Schlüsselbein und auf den hellen Stoff, in den das Neugeborene gewickelt ist. Sie ist so erschöpft.

Wie kann es sein, dass das Glück jeden Winkel ihrer Seele erfüllt und ihre Sinne gleichzeitig vor Angst schwinden?

 

Er sitzt stumm an ihrer Seite und hält sie fest. Seine großen, breiten Hände sind rötlich vom Blut. Er hat versucht, es abzuschrubben, aber ein Schimmer ist geblieben.

Das Baby schreit aus vollem Halse, es windet sich in ihren Armen, als würde es ahnen, dass etwas Schlimmes bevorsteht. Vielleicht spürt es die Bedrohung, die sich in diesem stickigen Raum eingenistet hat und die blanke Panik seiner Mutter. Seit die Sternschnuppenaugen des Neugeborenen das erste Mal das Licht dieser Welt erblickt haben, ist sie da, die Furcht.

"Schhh, meine Kleine. Mama sorgt dafür, dass dir nichts passiert." Ihre Stimme schwankt, bricht. Es ist unmöglich, die Tränen zu stoppen. Sie fließen einfach weiter, ohne Halt. "Wenn du doch bloß diesen blassen Stern nicht im Blick tragen würdest, mein Mädchen", flüstert Hannah und drückt ihr Kind an sich. Schluchzt. Kann nicht verhindern, dass ein gepresster Schrei ihre Lippen verlässt.

Tom entwindet ihr das Baby sanft. In seiner festen Umarmung liegt es mit einem Mal still. Er wiegt es hin und her und schließlich beruhigt es sich, schläft ein – müde von allem.

Hannah beugt sich mit nassen Wangen über das Bündel, küsst es auf die heiße Stirn. "Emily", wispert sie warm, "meine kleine Emily. Du bist so wunderschön." Sie schließt ihre Augen und legt das rechte Ohr an die Brust des Babies. Unter dem Stoff hört sie ein leises bumm, bumm. Bumm, bumm. Überwältigt von diesem Geräusch hört Hannah plötzlich auf zu weinen. Sie hebt die Lider, und Ehrfurcht sammelt sich in ihren Gesichtszügen.

"Mein Licht. Du wirst uns so fehlen."

Erster Teil


Im Universum - zwischen den Sternen der Gedanken

Zwischenspiel

Ihre Seele ist warm.

Ich bin ihr so nah, dass ich die Hingabe greifen kann,

die aus ihr herausströmt wie ein pulsierender Lichtfluss.

Ich spüre ihren Schwindel. Ihre Trance.

 

Perfekt.

 

Langsam ziehe ich sie zu mir.

Schwingungen kommen näher, erfassen mich. Betören mich.

Ich kann nicht denken, was tut sie mit mir …

 

Sofort sirrt etwas um mich herum und blendet mich.

Die Anwesenheit der Gefahr lässt mich wieder zu Sinnen kommen,

fast hätte ich einen Fehler gemacht.

Einen tödlichen Fehler.

 

Diese Erkenntnis durchschießt mich mit überraschender Kälte,

und dieses Mal mache ich es richtig.

Ich weiß wieder, wo wir hinmüssen.

 

Konzentration.

 

Wir verlassen uns. Alles wird zu einem Atemzug,

ich spüre es.

Ich lasse mein Herz zurück.

Dann ... wir schweben.

 

Und unsere Seelen tauchen ineinander.

Erstes Kapitel

"Der Staat ermöglicht dem Volk mindestens eine Reise in die jeweils erwünschte Welt."

Aus: Die legendäre Rede des Corvin Bostwick

 

Ich war doch wirklich zu blöd, einen Yoghurtbecher zu öffnen. Schon leicht resigniert stand ich in der vom frühen Morgenlicht erhellten Küche und besah das Ergebnis meiner Verschüttungskunst. Wenn man drei Anläufe brauchte, um ein Plastikpapierchen von einem Deckel zu ziehen und nebenbei auch noch die ganze Küche mit Yoghurtpfützen überzog, dann war man sicherlich absolut falsch auf dieser Welt. Seufzend begann ich, alles wieder sauberzuwischen – mich eingeschlossen.

Als ich damit fertig war und einen Blick auf meine Armbanduhr warf, war es halb acht. Wenn ich die Schule noch pünktlich erreichen wollte, musste ich wohl oder übel auf mein Frühstück verzichten. Da ich jedoch nicht vorhatte, auf dem Weg dorthin von meinem Hunger gequält zu werden, schnappte ich mir eine reife Birne und begann, sie zu essen, während ich nach meinem Schlüssel suchte. Entweder war es die Süße der Frucht, die mich meinen Schlüsselbund an einem Ort finden ließ, an dem ich zuvor schon tausendmal nachgeschaut hatte, oder ich besaß verborgene Kräfte.

Ich stolperte die Holztreppe unseres Hauses hinunter, hetzte aus der Tür und rannte zur Bushaltestelle, die wieder einmal brechend voll mit Menschen war. Mit verschlafenen Augen blinzelten sie dem Tag entgegen – wenn sie nicht gerade auf ihr Handy schauten.

Als ich mich ein wenig außer Atem zu ihnen stellte, bemerkte ich sofort ihre Blicke. Ich hatte noch nie verstanden, warum ich anscheinend die Aufmerksamkeit der ganzen Welt auf mich zog, aber ich hatte gelernt, damit umzugehen. Also starrte ich zurück. Und das war immer eine Überraschung für sie. Die Meisten wandten sich ab und taten so, existierte ich nicht für sie. Ich fragte mich jedes Mal, ob sie tatsächlich glaubten, ich würde ihnen das abkaufen. Manche aber hielten meinem Gestarre stand, als wollten sie mich ihrerseits herausfordern. In solchen Momenten wunderte ich mich nur über die grenzenlose Langeweile der Menschen.

Zugegeben, ich hatte schon eine Ahnung, warum sie mich so intensiv beobachteten. Denn irgendwie sah ich … anders aus. Meine Augen waren von verwirrender Größe, und meine Mutter hatte mir einmal gesagt, dass auch meine Ausstrahlung speziell sei. Ich wusste nicht wirklich, was ich darunter verstehen sollte – das klang doch alles sehr vage – aber ich wünschte mir zeitweise, in der Masse unterzutauchen, anstatt ständig aus ihr herauszuragen. Ich fand mich nicht besonders hübsch. Und immer, wenn mich ein neues Paar Augen durchdrang, hatte ich das Gefühl, dass es jeden Zentimeter meines Körpers analysierte.

Zum Glück hatten die Leute um mich herum heute nicht so viel Zeit dafür, denn der Bus kam schon sehr schnell nach meiner Ankunft die Straße hinuntergefahren. Ich erwischte einen Platz ganz hinten - dort, wo die Luft besonders stickig war, weil die Hitze der Körper und des beginnenden Sommertages nicht aus den Türen weichen konnte. Damit meine strähnigen Haare nicht so warm auf meinen Schultern lagen, band ich sie zu einem Zopf. Neben mir saß ein Junge mit Kopfhörern, durch die laute, scheppernde Musik drang. Genervt wandte ich mich ab und schaute aus dem Fenster, vor dem die Innenstadt an uns vorbeizog. Die Müdigkeit trübte meinen Blick. Warum hatte ich heute nur meinen iPod nicht mitgenommen? Ich hasste es, das aufgedrängt zu bekommen, was meine Nachbarn hörten. Wie gut, dass es nicht weit bis zur Schule war.

Nach fünf Stationen mit ACDC im rechten Ohr stoppte der Bus schließlich. Ich schwamm mit dem Fluss von Schülern aus der Tür und danach über den Pausenhof in das große, weiß angestrichene Gebäude. Alles um mich herum quasselte und kreischte, was einen beeindruckenden Hall in dem riesigen Raum mit den hohen Wänden hinterließ, sodass mir fast ein wenig schwindelig wurde. Wenigstens war es hier deutlich kühler.

Ich schleppte mich die Treppen hoch und setzte mich dann wie ein paar andere Mitschüler vor den Kursraum auf den Boden. Das hätte ich nicht tun müssen, denn ein paar Sekunden später schon erschien unser heiß geliebter Physiklehrer. Die Gruppe stöhnte mehrstimmig auf und erhob sich mit ihren Taschen.

Im Zimmer hing die Hitze vom Vortag noch schwer in der Luft. Ein paar Mitschüler rissen dramatisch die Fenster auf und rümpften ihre Nasen. Ich gehörte zu denen, die allein von der Tatsache, dass ein neuer Schultag begann, zu geschafft waren, um so etwas wie Energie zu verspüren.

Doch genau darauf kam nun unser Lehrer zu sprechen: Energie. Nachdem die Schüler ihre Sachen auf die Tische gelegt hatten und nun einigermaßen ruhig waren, begann er zu sprechen. Ich wandte ihm mein Gesicht zu und schaute ihn stumpf an. Seine Kleidung hing schlaff an seinem hageren Körper herunter; er trug dasselbe graubraune Hemd wie gestern. Heute hatte er seine Haare wohl wieder nicht bändigen können, denn sie standen ihm zu Berge, als hätte er gerade in eine Stromleitung gefasst. Ich musste kichern. Physiklehrer, Stromleitung ... Ich verstummte, als Herr Core mich mit einem mörderischen Blick bedachte. Oh, er war wohl nicht so blendender Laune.

Das bekamen wir auch in den folgenden zwei Stunden deutlich zu spüren. Unser Lehrer war die Ungeduld in Person, fuhr mindestens die Hälfte des Kurses an und außerdem sah sein zuckendes, rechtes Lid in Kombination mit seinen Elektrohaaren so furchterregend aus, dass meine Sitznachbarin zurückwich, als sich Herr Core zu ihr hinunterbeugte und mit seinem Blick durchdrang, weil sie eine Formel vergessen hatte.

Abwesend schaute ich zu, wie Herr Core uns von seines Erachtens wirklich existentiellen Dingen erzählte. Irgendwann schweifte mein Blick im Klassenraum umher. Die Schüler sahen alle nicht minder gelangweilt aus, als ich es war. Einige kritzelten etwas in ihre Hefte, aber ich ging sicher davon aus, dass es wenig mit dem Unterricht zu tun hatte. Das Sonnenlicht blendete ein paar Schüler und sie versuchten, sich auf ihren Stühlen so hinzusetzen, dass sie wieder halbwegs etwas sehen konnten. Damit hatte ich diese Stunde zum Glück kein Problem. Ich saß direkt am Fenster hinter einem orangenen Vorhang, durch den das Licht nur gedämpft sickerte. Hin und wieder ging ein Windstoß von dem geöffneten Fenster neben mir durch die Vorhänge und kühlte den Raum etwas ab. Ich sehnte mich nach diesen Momenten. Warum hatten wir hier bloß keine Klimaanlagen?

Auf der Tafel standen noch Bezeichnungen aus dem Biounterricht von gestern. Ich betrachtete die schludrige Handschrift unserer Lehrerin und ich fragte mich, wie es gerecht sein konnte, dass sie von uns verlangte, lesbar zu schreiben, obwohl sie selbst nicht einmal ordentliche Druckbuchstaben beherrschte.

"Na, Liora, schon wieder im Land der Träume?", riss mich Herr Core aus meinen Gedanken.

Ich hasste ihn. Engelhaft lächelnd schaute ich meinen Physiklehrer an.

"Ja, das spart Energie."

Seine Augen wurden schmal. Hatte er sich vorhin noch zu einer sarkastischen Frage aufraffen können, wurde ihm jetzt meine rotzfreche Antwort zu viel. Deswegen fügte ich bemüht lässig hinzu: "Ich könnte meinen Energiesparmodus aber auf Nachfrage ausschalten."

"Das würde ich dem Fräulein auch raten", knurrte er. Er schien sich beruhigen zu müssen, denn er schloss die Augen, massierte seine Schläfen und murmelte: "Diese kleinen Monster machen mich noch reif für die Geschlossene."

Ich fragte mich, was das sollte, schließlich hatte er sich für diesen Beruf entschieden. Wenn auch vielleicht in geistiger Umnachtung. Immer mussten sich die Lehrer beschweren, dabei hatten sie doch als Schüler selbst erfahren, was sie erwartete.

Herr Core seufzte. "Hört mir einmal kurz zu, ausnahmsweise, okay?"

Schweigen.

"Wir müssen noch zwanzig Minuten miteinander aushalten, dann ist die Stunde vorbei. Wenn ihr euch benehmt, lasse ich euch auch fünf Minuten früher gehen, in Ordnung?"

Unser Schülerhirn übersetzte dies kurz: "Bei guter Führung schneller frei."

Er dachte also, wir wären bestechlich. Guter Schachzug, denn das waren wir.

Sogar ich versuchte, dem Unterricht zu folgen. Aber als Herr Core die erlösenden Worte "Bis morgen!" mit diesem unvermeidbar bitteren Nebengeschmack aussprach, schwirrte mir der Kopf so sehr, dass ich nicht wie die Anderen euphorisch aus dem Zimmer stürmen konnte, sondern noch immer leicht angegriffen meine Sachen in meinen Rucksack packte.

Der Schultag zog sich. Und zog sich. Er zog sich, bis es zum erlösenden Stundenende klingelte. Ab hier wechselte das Zeitempfinden radikal, denn Pausen verfliegen bekanntlich in Lichtgeschwindigkeit. Vor allem, wenn die Gesprächspartnerin eine gewisse Mina ist.

Mina wusste immer, was sie sagen sollte. Die Wörter sprudelten aus ihrem Mund, stolperten und tanzten. Sie taten vieles, aber sie hielten nie still. Mit ihr war mir nie langweilig. Sie redete nicht nur daher, wie man das vielleicht denken könnte, sie erzählte wirklich interessante Dinge. Geschichten über Freunde von Freunden, über Verwandte dritten Grades oder Erfahrungen, die sie selbst gemacht hatte. Dabei schmückte sie die Erzählung mit ausdrucksstarken Gesten, Blicken und verstellten Stimmen aus, sodass man mitlachen, mittrauern oder mitfiebern konnte. Wenn ich es mir recht überlegte, würde sie bestimmt eine sehr gute Schauspielerin sein.

Früher waren Mina und ich in einer Klasse gewesen, aber jetzt, in der Oberstufe, besuchten wir verschiedene Kurse. Also mussten wir uns nach dem Klingeln trennen. Außer, wir hatten beide Biologie, denn das war der einzige Kurs, in den wir gemeinsam gingen.

Nach sieben qualvollen Schulstunden endete unser Unterricht heute um dieselbe Uhrzeit. Ich wartete am Tor auf sie, während Jungen und Mädchen plappernd an mir vorbeirauschten. Ein paar ältere Schüler standen mit einer Zigarette zwischen den Fingern in der Menge und fühlten sich cool. Rauch kletterte ihre Kleidung hoch und ich fragte mich, wie man bei dieser Wärme draußen überhaupt noch freiwillig heiße Luft in sich aufsaugen konnte.

Autos fuhren auf der Hauptstraße an der Schule vorbei, aus manchen Fenstern drangen Musikfetzen. Die Menschen waren in Sommerstimmung. Blühende Natur, beschwingte Atmosphäre, Abende in Parks, kalte Getränke, Treffen an Seen, Spaziergänge durch Wälder … Die Luft schmeckte nach all dem.

Aber ich mochte den Sommer nicht so gerne. Ich gebe zu, es war nicht konkret der Sommer, sondern seine Hitze. Wenn dieser Feuerball selbst den Asphalt zum Schmelzen brachte und man das Gefühl hatte, nicht mehr richtig atmen zu können – dann wurde ich in der Regel ziemlich ungemütlich. Das wunderte die meisten, denn wegen meiner eher dunklen Hautfarbe dachten wohl alle, ich wäre total der Sommertyp. Dieses Vorurteil hatte ich noch nie verstanden.

Die einzigen Dinge am Sommer, die ich mochte, waren die Sachen, die man nur während dieser Jahreszeit machen konnte. Und das Licht. Gelegentlich konnte es mich überfordern, aber überwiegend badete ich darin. Der Winter war grau und schwer, doch wenn im Frühling die ersten Strahlen durch die Wolken brachen, landeten sie sofort leuchtend in meinem Inneren. Besonders liebte ich den Anblick eines Holzfußboden, auf dem Lichtpunkte tanzen.

Plötzlich spürte ich, wie Jemand von hinten seine Hände über meine Augen legte. "Wer bin ich?", erkannte ich Minas Stimme und musste lächeln. Das altbekannte Spiel, mal wieder.

Ich antwortete gemäß unseres Running Gags, welcher sich mit der Zeit entwickelt hatte: "Das interessiert den Kuckuck einen Scheiß!"

Ich hörte sie glucksen – sie konnte immer wieder über dasselbe lachen – dann nahm sie ihre Hände weg und kam hinter meinem Rücken hervor. Wie fast immer hatte sie ihren Lieblingspullover an, den ihre Mutter früher getragen hatte. Er war dunkelblau, sehr alt und viel zu groß, aber sie zog ihn an, so oft es möglich war. Ihre Mutter war gestorben, als Mina erst elf Jahre alt gewesen war. Damals hatte ich noch keinen Kontakt zu ihr gehabt, wir wurden erst ein Jahr später Freunde. Der Pullover war wohl eine Art von Trost, der sie seit damals über den Tag gebracht hatte. Wie ein Kind ein bestimmtes Kuscheltier zum Einschlafen brauchte, kam sie nicht ohne dieses Kleidungsstück aus. Manchmal glaubte ich, dass eine Therapie für sie sicherlich sehr gut wäre. Aber ihr Vater hielt nichts davon.

Trotz alledem war Mina ein lebensfroher Mensch. Das betonte sie auch durch ihre Erscheinung. Sie trug viele Farben auf einmal und Kleidung, die zum Teil gar nicht zueinander passte. Mina war überhaupt kein ordentlicher Typ, aber genau das konnte sie manchmal sehr sympathisch machen.

Heute hatte sie ihre altgoldenen Haare zu zwei Zöpfen geflochten und zu dem Pullover einen roten Rock mit weißen Punkten angezogen. Ihre Beine steckten in einer schwarzen Strumpfhose und blassgelben Halbschuhen, die schon sehr abgenutzt waren. Durch den weiten Pullover sah man ihre magere Gestalt nicht, die eher einem Kind als einer Jugendlichen glich. Darüber hatte sie sich schon oft aufgeregt. Ihre Fingernägel waren hellgrün angemalt, an einigen Stellen war die Farbe schon abgeblättert, obwohl sie den Nagellack erst gestern frisch aufgetragen hatte.

"Was starrst du mich so an?", fragte sie mich theatralisch und schüttelte sich. "Ist mein Make-up verschmiert? Sabbere ich? Habe ich irgendwo einen Fleck? Sitzt ein Vogel auf meinem Kopf? Oh ja! Das muss es sein! Mein Haar ist so durcheinander, dass sich bestimmt ein paar Vögel einnisten können!" Sie tastete nach ihrem Kopf, als suche sie dort nach Bewohnern. Ich grinste nur.

"Nein, heute hast du eine Frisur. Da kann schlecht ein Nest entstehen." Ich machte eine Geste Richtung Haltestelle und sagte dann: "Aber komm jetzt, wir müssen schleunigst los, sonst verpassen wir noch den Bus. Zuhause können wir uns dann ja wieder mit deinen Haaren beschäftigen, okay?"

 

Das taten wir dann doch nicht. Wir machten eigentlich gar nichts – wir saßen nur in meinem Zimmer und redeten. Das Nachmittagslicht fiel durch das Fenster und ließ einzelne Staubpartikel in den Lichtstrahlen tanzen. Ein bisschen Wind hätte mir gerade gut getan, aber Luft hineinlassen wollte ich nicht; sie war draußen sehr viel wärmer als im Raum.

Ich hatte uns kalten Kakao gemacht. Wie früher als Kind drückte ich die Bläschen mit dem Löffel an die Tassenwand, bis sie aufplatzten und das Pulver sich in der Milch verteilte. Zwischendurch kratzte ich ein wenig über den Boden, um etwas vom süßen Pulver zu holen, das zusammengeklumpt und noch unaufgelöst dort lag, um es mir genüsslich in den Mund zu schieben.

Mina erklärte mir irgendetwas über Gedankenlesen. Sie war schon immer sehr an Übersinnlichem interessiert gewesen. Nicht, dass sie an alles glaubte, aber sie war ohne Zweifel fasziniert und sagte mir immer wieder, dass es ja nicht schaden könne, Sachen einfach mal auszuprobieren. Ich ließ es mit mir machen, manchmal kamen erstaunliche Dinge dabei heraus.

"Diesen Trick", erzählte sie mir gerade mit begeistert aufgerissenen Augen und einem Grinsen, das einfach nicht von ihren Lippen weichen wollte, "hat einmal Marc mit mir gemacht. Und es hat wirklich geklappt! Er hat gewusst, an welche Frucht ich gedacht habe!"

Marc, ihr Freund, versuchte immer, Mina glücklich zu machen. Selbst, wenn er dafür stundenlang Gedankenlesen üben musste.

"Was meinst du, soll ich es mal bei dir versuchen? Er hat mir ein bisschen verraten, wie er es geschafft hat, irgendetwas mit Schwingungen ..." Sie sinnierte noch eine Weile über Marcs Talent für Übersinnliches, dann befahl sie mir, an irgendein Obst zu denken.

"Du musst dich richtig konzentrieren! Hundertprozentig! Wie es schmeckt, wie es riecht, wie es sich anfühlt, wie es sich anhört, wenn es auf dem Boden aufkommt, wie es aussieht, einfach alle Eigenschaften und Besonderheiten musst du dir einprägen! Das ausgesuchte Obst muss greifbar sein!"

Ich verdrehte die Augen und zeigte ein ironisches Lächeln. "Natürlich, mein Schatz, ich denke nun hochkonzentriert an eine zermatschte Banane."

Aber dann tat ich es tatsächlich. Ich wollte ehrlich sein – und möglicherweise überraschte sie mich ja auch wie schon ein paar Mal zuvor. In meinem Kopf schwebte nun also ein rotgrüner, saftiger Apfel. Schön knackig und nicht mehlig. Es musste spritzen, wenn man hineinbiss und das süßsaure Fruchtfleisch schmeckte. Dabei bekam ich Appetit. Ich nahm mir vor, mir nach diesem Herumgespuke wirklich einen Apfel aus der Küche zu holen. Fast schon fühlte ich die kühle und glatte Oberfläche meines Lieblingsobstes in der Hand. Etwas rieselte durch meinen Körper wie feiner Sand –

"Liora ...?"

Die Stimme meiner Freundin klang irgendwie brüchig.

"Pssht, ich muss mich konzentrieren", zischte ich, um sie zu ärgern.

Eine kleine Pause folgte. Ich zuckte zusammen, als eine Fliege nah an meinem Ohr vorbeiflog.

"Liora …", erklang es ein wenig ungeduldiger, aber nun hörte ich deutlich die Unsicherheit aus Minas Stimme heraus. Ich öffnete die Augen.

"Was ist? Jetzt bin ich doch voll draußen –"

Ich verstummte. In die Gesichtsfarbe meiner Freundin hatte sich eine ungesunde Blässe geschlichen. Sie starrte auf den Boden zwischen uns. Ich folgte ihrem Blick.

Vor mir lag der Apfel aus meiner Vorstellung und glänzte unschuldig im sonnengetränkten Licht.

 

Zweites Kapitel

"Die Rettung der Menschheit und das Ende der jahrhundertelang währenden Kriminalität und Grausamkeit verdanken wir der Entstehung der Welten."

Aus: 'Die einzige und wahre Geschichte von Ordes', Vorwort

 

Das musste eine Sinnestäuschung sein. Ungläubig blinzelte ich, versuchte, diese Illusion verschwinden zu lassen. Aber der Apfel blieb, wo er war. Mir wurde auf eine merkwürdige Art kalt und eine Gänsehaut breitete sich auf meinem Rücken aus.

Was ging hier vor sich? Der Schock schien meine Gedanken gen Boden ziehen zu wollen, an den Rändern meines Sichtfeldes verschwamm die Welt und ließ mir nur noch einen Tunnelblick, der meinen Kopf in Schwindel versetzte. Ich konnte nicht begreifen, beim besten Willen nicht, was gerade geschehen war. Ein Zittern kroch mir in die Hände, denn die Grenzen meiner bisherigen Realität waren nur noch schraffierte Linien, die verschwanden, sobald ich sie genauer ansah.

Und es war so still. Warum sagte Mina nichts?

Langsam schaute ich auf, suchte ihren Blick und fand die Antwort: Sie betrachtete mich, als wäre ich eine Fremde. Nicht das auch noch, dachte ich benommen. Unfähig, einen vernünftigen Satz zu bilden, beobachtete ich, wie Angst in Mina aufstieg und ihre Gedanken gefangen nahm.

"Was ... ist das? Wie kommt der hier her?" Die Stimme meiner Freundin wirkte mit jedem Wort aufgewühlter. Hektisch rückte sie von dem Apfel ab, die angespannten Schultern schützend hochgezogen.

"Mina …", begann ich, wurde aber sofort unterbrochen.

"Hast du – hast du den etwa hergehext?!"

"Ich habe keine Ahnung! Fest steht nur ..." Ich biss mir auf die Unterlippe, zögerte und atmete schließlich beherrscht aus. "Fest steht, dass ich mir exakt diesen Apfel vorgestellt habe. Und nun liegt er vor uns. Ich bin doch genauso erschrocken wie du!" Ein bisschen stolz staunte ich den Sätzen hinterher, die ich tatsächlich fehlerfrei aus meinem Mund befördert hatte. Nur Mina schien nicht ganz überzeugt zu sein. Noch immer kauerte der Zweifel in ihren aufgerissenen Augen.

"Hör mal", redete ich sanft auf sie ein, während ich mühevoll meine eigene Fassungslosigkeit in den hintersten Winkel meiner Gefühlskammer verdrängte. "Ich schwöre, dass ich selber genauso wenig weiß wie du. Du wärst die Erste, der ich von meinen magischen Fähigkeiten erzählt hätte, das ist dir doch klar." Ich probierte zu grinsen, was kläglich scheiterte und mir auch fehl am Platz vorkam. "Was auch immer das hier bedeutet – ich verspreche dir hoch und heilig, dass ich davon nicht die geringste Ahnung habe."

Nach diesen Worten wirkte Mina ruhiger auf mich. Ihre Stirn hatte sich geglättet, die Anspannung war aus ihren Zügen gewichen und ich konnte in ihnen sogar den Hauch eines Triumphs erkennen.

"Es gibt also tatsächlich so etwas wie Übersinnliches", meinte sie und schenkte mir ein wackliges Lächeln. So schnell war die alte Mina also wieder da. Erleichtert atmete ich auf.

"Scheint so", antwortete ich. Angewidert betrachtete ich den Zauberapfel. "Ich bin dafür, dass wir den wegschmeißen. Der ist doch mehr als seltsam."

Aber Mina war anderer Meinung. "So ein Quatsch", fuhr sie mich an. "Den müssen wir in erster Linie behalten, um Nachforschungen anzustellen – und damit wir uns nicht nachher einreden, das alles wäre nur Einbildung gewesen."

"Du bist verrückt!", schnaufte ich. Allein die Vorstellung, dieses unheimliche Ding auch nur anzufassen, löste bei mir ein Schaudern aus. "Was für Nachforschungen überhaupt? Reinbeißen, um den Realitätswert zu überprüfen?"

"Sehr witzig", erwiderte Mina. Sie hatte Feuer gefangen, das las ich in ihrer Mimik und Gestik, die mit einem Mal viel lebendiger geworden waren. Meine Freundin war kein Mensch, der sich so leicht einschüchtern ließ. War der erste Schock überwunden, war sie nicht mehr zu halten.

"Wenn du Schiss hast – bitte sehr. Ich für meinen Teil würde aber gerne wissen, was du da in die Welt gelegt hast."

"Halt: wer sagt überhaupt, dass ich das war? Du bist doch die Magierin."

Mina verdrehte die Augen. "Jetzt hör schon auf und nimm das ernst!", sagte sie nachdrücklich, woraufhin ich mir aber umso mehr ein Grinsen verkneifen musste, denn ihre Leidenschaft war einfach zu niedlich. Scheinbar war wohl auch ich wieder bei Sinnen.

"Liora, an was genau hast du gedacht? Und wie lange? Wie detailliert? Praktisch wäre natürlich, wenn wir das wiederholen, dann können wir möglicherweise herausfinden, wie du das geschafft hast ..." Sie plapperte noch ein bisschen weiter, ihre Augen wie Häuser, in denen eine große Faszination das Licht angeschaltet hatte. Ich aber war noch immer zu benebelt, um so präzise und logisch denken zu können, wie Mina es gerade tat. Der Anblick des Apfels hatte sich in mein Gedächtnis eingebrannt und löste eine unbekannte Furcht in mir aus.

"Komm schon, Liora, noch einmal!"

Aus dem Konzept gebracht starrte ich sie an. "Was ist los?"

"Du hast mir ja gar nicht zugehört!" Genervt stöhnte sie auf und fuhr sich durch die wirren Haare. Das Dunkelblond schimmerte im heranwachsenden Abendlicht, die Zöpfe hatte sie längst gelöst. "Ich habe dich gebeten, erneut zu versuchen, einen Apfel heraufzubeschwören."

"Heraufzubeschwören – wie redest du denn? Glaubst du, ich wollte das?"

Mina hob abwehrend die Hände in die Höhe und sagte: "Ruhig Blut. War ja nur eine Idee."

Seufzend gab ich mich geschlagen. "Meinetwegen. Du würdest mich ja sowieso in Zukunft damit zu Tode belästigen. Also sollen wir das Ganze einfach nur noch einmal machen? Genau wie vorher?"

"Jap." Sie nickte. "Aber gib dir wirklich Mühe. Sonst macht es keinen Sinn."

Ich schüttelte nur den Kopf und schloss dann die Lider. Okay, redete ich mir zu. Nur eine schlichte Wiederholung ...

Doch bei diesen Gedanken erinnerte ich mich an das gerade erst vergangene Geschehen und stutzte. Wollte ich mir das ernsthaft zurückholen? Noch so einen Apfel erscheinen lassen? Mir wurde schlecht, als ich mir das saftige Obst zurück ins Bewusstsein rief. Ich hatte keinen Appetit mehr darauf. Ich wollte nur, dass ich das Alles geträumt hatte.

Trotzdem – um Mina nicht zu enttäuschen – zeichnete ich erneut gedanklich die Konturen eines typischen Apfels nach, ließ das Bild farbiger werden und konzentrierte mich mit aller Macht darauf. Aber selbst nach drei Minuten gesellte sich keine weitere Frucht neben mein Werk.

Mina war enttäuscht. "Ich verstehe das nicht! Hast du mich vielleicht vorhin ausgetrickst?"

"Nein", antwortete ich empört. "Wie sollte ich das bitte hinbekommen haben?"

Sie zuckte ratlos die Schultern. "Anders kann ich es mir einfach nicht erklären."

Den Rest des Besuches verbrachten wir in einer Art Trance. Keine von uns konnte wahrhaben, was in meinem Zimmer passiert war und so hielten wir krampfhaft an der Normalität fest, indem wir wie immer noch Etwas zusammen kochten. Als Mina schließlich abends nach Hause ging, ließ ich mich erschöpft auf mein Bett fallen. Zum Glück war ich wenigstens den Apfel losgeworden – Mina hatte ihn in eine Tüte gepackt und mitgenommen.

An Hausaufgaben war natürlich nicht mehr zu denken; das erschien mir maßlos unwichtig. Machte eine Magierin Hausaufgaben? Was kümmerte mich die Schule, wenn ich bereits hoch beschäftigt damit war, mir ein neues Weltbild zu schaffen?

Ich ging so früh ins Bett, dass meine Mutter skeptisch die Augenbrauen hob und Anstalten machte, mir die Hand auf die Stirn zu legen.

"Mama, ich hab kein Fieber", wehrte ich sie ab, stand vom Sofa auf, ging zur Wohnzimmertür und streckte die Hand nach der Klinke aus. "Ich bin einfach nur sehr müde, wirklich. Der Fernsehabend war schön. Schlaf gut." Mit diesen wenigen Worten stahl ich mich hoch in mein dunkles Zimmer, in dem Schatten ihre Unwesen trieben. Kaum hatte ich die Decke bis zur Nasenspitze hochgezogen, die Augen geschlossen und mich aus der Wirklichkeit geklinkt, spürte ich auch schon, wie mich der Schlaf übermannte.

In meinen Träumen rannte ich durch eine menschenleere, nachtfinstere Stadt, die nur von Straßenlaternen erleuchtet wurde. Der Schweiß lief mir den Nacken herunter und das Einzige, was ich hörte, war mein Keuchen. Ich schaute mich pausenlos um, das Herz bis zum Hals schlagend, doch die Straßen lagen einsam und verlassen da. Vor was ich flüchtete, vermochte ich einfach nicht zu sagen.

 

Der scharfe Duft von Kaugummi wehte zu mir herüber, als Mina mir etwas ins Ohr flüsterte.

"Die hat sie doch nicht mehr alle – wie sollen wir das bitte bis nächste Woche schaffen?"

Gerade hatte unsere Biologielehrerin uns am Ende des Unterrichts die Aufgabe gestellt, innerhalb von sieben Tagen eine Mappe über das Thema Ökologie anzufertigen, und Mina und mich packte natürlich sofort der Enthusiasmus, sich daran zu setzen.

"Ich denke nicht, dass ich damit viele Punkte holen kann", meinte ich seufzend zu ihr, als alle aufstanden und eilig ihre Schulsachen zusammenpackten. Bei mir hatte sich seit gestern eine gewisse Trägheit in den Knochen festgesetzt.

Mina warf mir einen mitfühlenden Blick zu – sie hatte schon oft mitbekommen, dass ich alles andere als gut in Biologie war – dann schulterte sie ihren zerschlissenen Rucksack und lächelte mich aufmunternd an. "Das kriegen wir hin, zur Not helfe ich dir einfach."

Und das würde wirklich etwas bringen. Meine Freundin war ein sehr kluges Mädchen. Das Problem bestand nur darin, dass sie sich nicht anstrengte. Mina fand die Schule langweilig und nervtötend, entsprechend tat sie nur wenig für ihre Noten. Trotzdem sah ihr Zeugnis am Ende des Halbjahres immer wie durch ein Wunder gut aus.

Draußen auf dem Pausenhof mussten wir uns trennen. Ich verabschiedete mich von Mina, dann ging ich in Richtung Schultor. Wie die letzten Tage war es auch heute wieder sehr warm. Der strahlend blaue Himmel flimmerte auf meiner Netzhaut und ich kniff die Augen zusammen. Sonnenbrillen trug ich nicht sonderlich gerne, denn mir schien, sie passten nicht zu mir.

Während ich über den Asphalt schritt, merkte ich, dass ich mich unwohl fühlte. Woran genau das lag, konnte ich nicht sagen – es war ein verschwommenes Empfinden, das sich in mein Rückenmark setzte und von dort aus meine Nervenbahnen durchzog. Unbehaglich schaute ich mich auf dem leeren Pausenhof um; die Schüler waren nach der fünfminütigen Pause zurück in die Klassenzimmer gegangen. Nur Einer nicht.

Verwirrt blinzelte ich und versuchte, gegen das Licht zu erkennen, wer diese Person war, die gerade an der Wand des Schulgebäudes lehnte. Aber es gelang mir nicht. Ich konnte nur erraten, dass es ein Junge war.

Und er starrte mich an. Natürlich, dachte ich automatisch genervt.

Trotzdem war es diesmal anders als sonst. Und mit einem Mal war mir auch klar, was dieses merkwürdige Gefühl ausgelöst haben musste. Der Junge hatte mich schon die ganze Zeit beobachtet!

Inzwischen war ich auf einer Höhe mit ihm und konnte es mir nicht verkneifen, ihn gründlich anzuschauen, da ich jetzt die Chance dazu hatte.

Augenblicklich stockte mir der Atem. Obwohl ich es gerne verhindert hätte, konnte ich nicht anders als stehenzubleiben. Alle Gedanken zersplitterten wie ein Spiegel, den jemand eingeschlagen hatte. Ich konnte mich nicht bewegen. Die ganze Welt stoppte und zeigte mir ihren Mittelpunkt, ihre Schwerkraft. Alles zog mich zu ihm. Als würde ich von einem Strom mitgerissen werden und selbst völlig kraftlos in dem Sog untergehen.

Als wäre der Junge eine Tür.

Was passierte mit mir?

Ich schloss die Augen und brüllte mich tonlos an, jetzt verdammt noch einmal weiterzugehen. Die Macht, die dieser Mensch über mich hatte, jagte mir eine furchtbare Angst ein. Doch stattdessen blitzte noch einmal das erste Bild, was ich von ihm hatte erhaschen können, durch meinen Kopf.

Der Junge hatte eine faszinierende Ausstrahlung. Etwas pulsierte um ihn herum wie ein Schild, doch sobald ich versuchte, es zu erfassen, glitt es aus meiner Wahrnehmung. Seine sattbraunen Augen waren von einnehmender Wachsamkeit, er besaß hohe Wangenknochen und stürmisches Haar, das ihm in die Stirn fiel.

Unter großer Anstrengung wankte ich weiter und unterband mit all meiner Kraft einen weiteren Blick zu ihm hin. Aber ich spürte seine Aufmerksamkeit feurig in meinem Rücken. Er musste mich ungeniert von oben bis unten betrachten.

Irgendwie wurde ich bei dieser Vorstellung wütend. Fast hätte ich mich umgedreht und ihn angefunkelt – aber nur fast. Mit meiner letzten Selbstbeherrschung schaffte ich es, die Bushaltestelle zu erreichen. Dort ließ ich mich auf eine Bank fallen und fragte mich, was zum Teufel gerade passiert war. Mir kam es vor, als wäre ich gestern in eine Parallelwelt gerutscht, in der Surrealität vorherrschte. Ich schüttelte meinen Kopf und fuhr erschöpft mit den Händen über mein Gesicht. Es konnte doch nicht sein, dass innerhalb von zwei Tagen so viel Unerklärliches geschah! Erst wurde ich damit konfrontiert, dass ich anscheinend zu so etwas wie einer Hexe mutiert war, und nun war da auch noch dieser Vorfall mit dem Jungen, der mir völlig fremd war! Ich benahm mich wie ... wie ...

Vor den Kopf gestoßen bemerkte ich, dass ich gar keinen Vergleich kannte. Das alles gehörte nicht zu den Alltagsproblemen eines siebzehnjährigen Teenagers, soweit ich das einschätzen konnte.

Mit einem Mal fühlte ich mich einsam.

Ein wenig in mich zusammengesunken wartete ich auf der Bank. Es war still; die Schüler, welche wie ich keinen Unterricht mehr hatten, waren längst gegangen und in der Straße, in der ich mich befand, kamen fast nie Autos vorbei. Nur der Wind tauschte flüsternd Geschichten mit den Bäumen aus, die blätterrauschend am Gehweg standen. Als der Bus kam, fühlte ich mich wie im Nebel. Mit dem Eindruck, aus all meinen Verankerungen gerissen zu sein, stieg ich ein und fuhr nach Hause.

 

"Jetzt komm endlich zum Abendessen!", rief meine Mutter ungeduldig durch das ganze Haus. Genervt klappte ich das Buch zu, schlug die Decke beiseite und setzte mich auf die Bettkante. Wie oft hatte ich ihr heute schon gesagt, dass ich keinen Hunger hatte? Aber da musste ich wohl jetzt durch. So wie ich sie kannte, gab sie sonst nie Ruhe.

Polternd kam ich die Treppen hinunter, rauschte an meinem kleinen Bruder vorbei, der im Flur auf dem Fliesenboden saß und ganz versunken mit seinem abgewetzten Löwenkuscheltier spielte und betrat die Küche. Dort duftete es verlockend nach Linsensuppe, meinem Lieblingsgericht. Okay, vielleicht hatte ich doch ein klitzekleines bisschen Lust, Etwas zu essen.

Mit einem wissenden Lächeln hieß mich meine Mutter willkommen. Sie hatte ihre gemütliche Kleidung an, weil sie wieder einmal zu Hause arbeitete. Als selbstständige Journalistin verfasste Mama ihre Texte meistens im Arbeitszimmer.

Dampf schwebte über dem Kochtopf und beschlug das Fenster, das direkt hinter der Herdplatte angebracht war. Die Straße, die ich verschwommen durch die Scheibe erkennen konnte, war nachtbelagert und schien verlassen - wir lebten in einer spärlich bewohnten Gegend. Der Tisch, auf dem der schon ein wenig verwelkte Blumenstrauß stand, den Papa Mama vor einer Woche geschenkt hatte, war gedeckt - aber nicht für die ganze Familie.

"Kommt Papa heute nicht mehr?", fragte ich und konnte den Vorwurf aus meiner Stimme nicht heraushalten.

"Nein, er muss arbeiten", antwortete Mama mit diesem Lächeln, das verloren und klein auf ihren Lippen lag, bis es schließlich ganz verblasste. Ich konnte es nicht mehr sehen. Es tat mir weh.

"Das muss er in letzter Zeit aber oft", zischte ich und setzte mich an den Tisch. Im selben Moment tat es mir auch schon wieder leid. Unruhig stand ich auf und nahm meine Mutter in die Arme. "Entschuldige", flüsterte ich in ihre Haare. Sie drückte mich fester an sich, und ich vergrub meinen Kopf in dem dünnen Schal, den sie sich wegen ihrer Halsschmerzen umgelegt hatte. Ich atmete ihren feinen Duft tief ein und löste ich mich von ihr.

Da kam mein kleiner Bruder zur Tür herein. Er brabbelte irgendetwas vor sich hin, und als er uns sah, leuchteten seine blauen Kinderaugen auf. Verschlafen sah er aus mit seinen braunen, verknoteten Löckchen, die er von unserer Mutter geerbt hatte und in den Händen hielt er noch immer das Löwenkuscheltier.

"Genau richtig!", lachte ich. "Du kommst passend zum Essen, mein kleiner Scheißer." Ich nahm ihn auf meine Arme und knuddelte ihn, bevor ich ihn auf seinen Stuhl setzte. Wer weiß, wann er seine große Schwester nicht mehr mochte. Jeder Moment musste genutzt werden.

Ich verbrachte die Zeit am Tisch größtenteils damit, Benji zu füttern und darauf zu achten, dass nicht sein ganzes Essen auf dem Boden landete. Mein Bruder fand es nämlich besonders witzig, in der Suppe herumzupanschen und sie vergnügt aufjauchzend mit ausladenden Gesten in seiner Umgebung zu verteilen. Als meine Mutter helfen wollte, befahl ich ihr, es bloß sein zu lassen, schließlich war sie den ganzen Tag über mit zu vielen Sachen beschäftigt, und ich wollte ihr ein wenig Entspannung gönnen. Außerdem waren wir bestimmt eine gute Unterhaltung für sie. Vielleicht lenkte sie das von der Abwesenheit ihres Mannes ab.

Soweit das überhaupt möglich war.

 

Zurück in meinem Zimmer starrte ich traurig das gerahmte Familienbild an. Damals war ich gerade sechzehn geworden und meine Mutter war mit Benji schwanger. Sogar Papa strahlte in die Kamera. Auf dem Foto sahen wir wie eine richtige Familie aus.

Umso mehr frustrierte es mich, dass man das nun nicht mehr sagen konnte. Mein Vater hatte jetzt dauernd Etwas zu tun, um Geld für uns zu verdienen und wir verbrachten fast überhaupt keine Zeit mehr zusammen.

Als es mir zu blöd wurde, mich weiter mit diesen Gedanken zu quälen, schlüpfte ich in meinen Schlafanzug und kuschelte mich ins Bett. Es tat gut, sich einfach in die Kissen sinken zu lassen und keine Energie mehr dafür aufzuwenden, sich selbst zu halten. Ich knipste die Lampe auf meinem blauen Nachttischchen aus und genoss die schweigende Dunkelheit um mich herum. Sie entfaltete sich langsam auch in meinen Gedanken und machte sie weich wie die Träume, die hinter meinen Lidern warteten.

Heute zeigte die Nacht ihre Sterne. Ich schaute so lange aus dem Fenster und betrachtete das ferne Universum, bis meine Augen brannten und ich sie schloss. Müde vergrub ich mich tiefer im Bett.

Doch kurz bevor ich die Grenze zum Schlaf überwunden hatte, sah ich auf einmal wie aus dem Nichts das Gesicht des Jungen vor mir. Und mir wurde klar, was mich auch an ihm fasziniert hatte, mir aber bisher noch nicht aufgefallen war: Er hatte ebenso so merkwürdig große Augen wie ich.

 

Drittes Kapitel

"Euthis: (Ableitung: vgl. Euthanasie) Nachdem die Seele in eine Welt geswitcht ist, wird ihr Ursprungskörper festgehalten und getötet. So gibt es nach dem Leben in der jeweiligen Welt keine Rückkehr zu Ordes mehr."

Aus: 'Wörter unserer Welt', Seite 47

 

Er starrte mich an.

Ich spürte sie, diese hitzige Aufmerksamkeit in meinem Nacken, dieses fremde Prickeln, das mich durchlief. Es war nicht angenehm, es verwirrte mich. Und das wiederum machte mich sauer.

Hatte er nichts Besseres zu tun?

Verkrampft fokussierte ich die Lehrerin, versuchte, ihren Worten zu folgen. Als das nicht funktionierte, betrachtete ich die Plakate an den Wänden, die von verschiedenen Gruppenvorträgen stammten. Die braune Ledertasche, die auf dem Pult der Lehrerin stand und aus welcher ein Zettelchaos ragte. Den imposanten Baum vor dem Klassenfenster, der bestimmt älter als die Schule selbst war. Die dahinterliegende Stadt. Beim Anblick der vielen Häuserdächer, die ich durch die Äste und Blätter des Baumes erkennen konnte, begann ich langsam, mich zu beruhigen. Ich durfte einfach nicht daran denken, dass dieser Typ hinter mir saß und mich mit seinen Augen sezierte.

Gerade hatte die Englischstunde angefangen, und er war dem Kurs als Neuzugang vorgestellt worden. Meo hieß er. Seltsamer Name, ich hatte ihn noch nie gehört.

Wie am Tag zuvor übte Meo eine Anziehungskraft auf mich aus, die ich schon jetzt wie die Pest hasste. Sie machte mich verletzbar – und sie irritierte mich. Ich mochte Meo nicht. Und diese Emotionen standen mir nur im Weg, das war mir klar, denn ich war ein impulsiver Mensch.

Ich verschränkte instinktiv die Arme, als ich sein Husten von hinten wahrnahm und er wieder in mein Bewusstsein trat. Mein Rücken fühlte sich an, als würde sich etwas sehr Schweres dagegen lehnen und mir die halbe Luft aus den Lungen pressen. Meo hörte einfach nicht auf, mich zu beobachten. Am liebsten hätte ich mich umgedreht und ihn angeschrien, dieses Spannen auf der Stelle zu lassen, aber ich konnte mich zusammenreißen. Vielleicht würde er daraufhin auch nur arrogant lachen, ich hatte keine Ahnung. Schließlich wusste ich nichts über ihn. Nur, wie er aussah, sich anzog – und wie er lächelte. Das hatte er nämlich getan, als die Lehrerin ihn mit ein paar unbeholfenen Sätzen in den Kurs integrieren wollte. Es war ein leeres Lächeln gewesen, als meinte er es nicht ernst. Ich erkannte das, weil der Rest seines Gesichts nicht mitspielte. Es war ohne Regung.

Meo war sehr schlicht angezogen, beinahe unauffällig. Wie jemand, den man in der U-Bahn sieht und nach ein paar Sekunden wieder vergisst – wären da nicht die ständig wachsamen Augen.

Gerade wurde er zur Tafel gerufen. Als er vorne stand und etwas dort aufschrieb, nahm ich die Schrift nicht richtig wahr, denn mein Sichtfeld verschwamm zu einem einzigen Farbenchaos.

Ich blinzelte. Was machte der Junge mit mir? Warum reagierte ich nur so übertrieben auf seinen Anblick? Wütend starrte ich auf die Tischplatte, die mit Sätzen und Zeichnungen der Schüler übersät war. Hing das Ganze hier etwa mit meinem Apfelerlebnis zusammen?

Doch egal wie ich es drehte und wendete; ich verstand diese Welt nicht mehr. Ich wusste nicht einmal mehr, nach welchen Regeln sie funktionierte. Beinahe kam ich mir vor wie eine alte, demenzkranke Frau, die Stück für Stück in einem Nebel aus Unklarheiten versank, der sich unbarmherzig verdichtete. Bis sie sich schließlich selbst nicht mehr wiederfand.

Plötzlich machte Meo eine fließende Bewegung, und ich registrierte zu spät, dass er sich umdrehte. Ich schaffte es nicht mehr rechtzeitig, meine Augen von ihm abzuwenden, damit kein Blickkontakt stattfinden konnte. Und Meo tat genau das, was mich fuchsteufelswild werden ließ.

Er schaute mich an. So intensiv. Und in seine bis jetzt so steinerne Züge sprang das erste bisschen Leben. Dort war nun nichts anderes mehr zu finden als haltlose Neugier.

Zornig ballte ich meine Hände zu Fäusten und knirschte mit den Zähnen. Ruhig bleiben. Es ist gleich vorbei, redete ich mir zu. Doch unbeeindruckt davon schlug mein Herz weiter ängstlich gegen meine Brust, als wolle es ausbrechen. Alles drehte sich.

Seine Blick war so fremd. Etwas zog mich in ihn hinein, sog mich auf –

Und dann war der Moment einfach vorbei. Meo war weg – das heißt, zurück zu seinem Platz gegangen. Irritiert blieb das Karussell, auf das meine ohnmächtige Seele abgelegt worden war, stehen. Ich blinzelte, schon das zweite Mal in dieser Stunde.

Nein, es war kein Traum. Aber warum kam es mir dann so vor? Es war, als würde ich langsam, aber sicher den Kontakt zur Realität verlieren. Um mich zurückzuholen, kniff ich mir mit voller Kraft in die Haut.

Ich atmete scharf ein. Ja, das war die Wirklichkeit.

Entzückend.

 

"Hast du schon den Neuen bemerkt?", fragte Mina mich und zupfte ungeduldig an meinem Ärmel. "Ach, was frag' ich, klar hast du das, er ist ja nicht zu übersehen." Sie wuselte aufgewühlt um mich herum und erzählte voller Elan, was Meo schon an dieser Schule angerichtet hatte. Ich hörte nur mit halbem Ohr zu, denn die Englischstunde saß mir noch in den Knochen.

Wir standen auf dem dicht bevölkerten Pausenhof mitten in den viel zu warmen Sonnenstrahlen. Ich wand mich unter der Hitze, bis ich Mina in den Schatten eines Baumes zerrte, in dem es auch nicht gerade kühler war.

"Menschenskinder, artet das hier kurz vor dem Herbst noch aus, oder was?", stöhnte ich nach Minas Ausführungen über Meo und meine Freundin lachte auf. Heute trug sie einen perfekt aufgemalten, knallroten Lippenstift und hatte ihre Haare zu einem dicken Zopf geflochten. Ihre Augen funkelten. Im Gegensatz zu mir liebte sie den Sommer.

"Was hast du denn? Diese Hitze kann von mir aus das ganze Jahr über bleiben."

"Bloß nicht!", stieß ich entsetzt hervor. "Dann werde ich eines Tages mit hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit in dieser Schule verenden."

"Wer wird sterben?"

Léon erschien neben uns mit einem fragenden Gesicht. Er hatte seine schulterlangen Haare ausnahmsweise zusammengebunden und trug wie immer eher dunkle Kleidung. An seinem rechten Handgelenk erkannte ich die mir vertrauten Armbänder, die er im Laufe seines Lebens gesammelt und welche die bisherige Zeit mit ihrem Besitzer überlebt hatten – doch eine Sache war neu.

"Hey, du hast ja ein Lippenpiercing!"

Léon grinste und Mina warf hingebungsvolle Blicke auf das silbern blitzende, runde Ding in seiner Unterlippe. Sie durfte sich noch keine Piercings oder Tattoos machen lassen und wartete sehnsüchtig auf ihren achtzehnten Geburtstag – während Léon schon volljährig war und das auch auskostete.

"Glückwunsch", sagte ich grinsend, nachdem Mina das Piercing tausendfach in den Himmel gelobt hatte. "Es ist gut geworden."

"Das hoffe ich doch auch. Hat schließlich eine Stange Geld gekostet."

"Echt? Wie viel denn? Muss ich etwa sparen?", fragte Mina und hing an Léons Lippen, als er ihr den ganzen Piercingprozess haarklein erklärte. Ich sah, wie sehr er es genoss, nahm jeden seiner warmen Lacher wahr.

Léon und Mina kannten sich viel länger als mich. Ich hatte den heimlichen Verdacht, dass Léon schon lange Gefühle für Mina hegte, es sich aber entweder nicht eingestehen konnte oder einfach nichts kaputt machen wollte. Worüber ich auch froh war. Ich wusste, dass die Freundschaft zu Léon Mina sehr viel mehr als mir bedeutete; denn ich war nur eine entfernte Freundin von ihm.

Das Läuten der Pausenglocke unterbrach uns, und ich seufzte erleichtert auf. "Jungs und Mädels, ich weiß ja nicht, was ihr macht, aber ich begebe mich nun in erträglichere Gebiete."

"Ich habe jetzt Chemie", grummelte Léon vor sich hin und schaute das Schulgebäude vorwurfsvoll an.

"Ja, und sie hat frei." Ich stieß meine Freundin an, die nickte und noch immer leicht verträumt schien.

"Léon, meinst du, dass die es bemerken würden, wenn ich ihnen einen falschen Pass vorlege?", fragte Mina, die tatsächlich noch immer an das Piercing dachte.

Léon ließ ein trockenes Lachen von sich hören. "Ich denke schon, meine Liebe."

"Mensch, wie schade. Dieses Warten ist so langwierig."

"Ja, das hat das Warten so an sich." Schmunzelnd schüttelte ich den Kopf. "Aber wirklich, ich muss jetzt weg. Macht's gut, Leute, bis morgen."

Ich umarmte Mina und Léon, dann schlug ich den Weg zum Gebäude ein. Schülermassen stürmten Satzfetzen rufend an mir vorbei, hysterische Kreischlaute beanspruchten mein überfordertes Trommelfell. Das war beinahe zu viel für mich, denn dazu kamen noch schreckliche Kopfschmerzen, die während der Pause entstanden waren. Doch als ich endlich durch die schwere Glastür ging, empfing mich die lang ersehnte Kühle.

Und da entdeckte ich ihn.

Er stand am Vertretungsplan, die Hände in den Hosentaschen und den Blick – mein Herz setzte aus – direkt auf mich gerichtet. Wut durchströmte mich auf der Stelle, wieso auch immer es mich so rasend machte, dass er mich dauernd beobachtete. Ich presste die Lippen fest aufeinander und schaute ausweichend auf den Schülerfluss, der die Treppe hochplätscherte. Wenn dieser Typ und ich einmal alleine wären, stand aber Hühnchen rupfen auf dem Plan!

Irgendetwas stimmte nicht mit Meo, wurde mir klar. Irgendein Fehler in seiner Formel machte es mir unmöglich, ihn als berechenbar zu empfinden. Mit übervorsichtigen Schritten näherte ich mich der Treppe, nicht ohne Meos Standort genau im Kopf zu behalten und sortierte mich ein. Versteckte mich in der Menge. Kaum hatte ich mich seinem Blickfeld entzogen, ging es mir besser. Es war, als wäre ein betäubender Druck von mir genommen.

Vor unserem Kursraum im Obergeschoss warteten schon ein paar Schüler und redeten miteinander. Ich stellte mich neben ein kleines Grüppchen, das ich flüchtig kannte und ließ mich ablenken. Es tat gut, kurz mit den Gedanken woanders zu sein. Vor allem, weil ich seit dem Erlebnis mit dem Apfel schon zu viel nachdachte und es mir vorkam, als könne ich diesem neuen Gedankenmuster nicht mehr entfliehen. Ich ließ mich also von dem Gespräch treiben und schaute manchmal abwesend im Flur umher, den hin und wieder kleine Fünftklässler kreischend entlangliefen. Leah, ein Mädchen mit einem stetigen, hohen Kichern, wollte gerade etwas über die Hausaufgaben in Geschichte sagen, da stockte sie mitten im Satz und wirkte aus dem Konzept gebracht. Ich folgte ihrem Blick, indem ich mich umdrehte und – erstarrte.

Meo, hier. Mit gemächlichen Schritten näherte er sich unserem Kurs, vertieft in ein dickes Buch.

Das konnte doch wohl nicht wahr sein. Musste sich dieser Typ überall herumtreiben?

In Lichtgeschwindigkeit wirbelte mein Kopf wieder zu Leah herum, die inzwischen ihre unnahbare Miene, die beinahe alle Jungen in unserer Stufe unwiderstehlich fanden, aufgesetzt hatte. Kühl und ein wenig herablassend.

Verbissen versuchte ich, dem jetzt nur noch oberflächlichen Gespräch der Gruppe zuzuhören, aber es funktionierte nicht. Etwas in mir sehnte sich mit einer überraschend sturen Willensstärke danach, einfach loszulassen und diesem Sog nachzugeben …

Moment. Das war ja richtig zum Fürchten. Was geschah nur mit mir?

Plötzlich fühlte ich ein sachtes Tippen gegen meine Schulter. Leahs Augen weiteten sich um das ungefähr Zehnfache.

Himmel Herrgott, lass mich doch bloß einmal in Ruhe. Ich glaube, ich hatte mich noch nie in meinem Leben so langsam umgedreht.

 

"Ja?"

"Also haben wir wohl auch Geschichte zusammen?" Seine Gesichtszüge waren wie gewohnt unbeweglich, als er mich das fragte, aber ich meinte, ein leises Lachen in seinen Mundwinkeln zu erkennen. Es irritierte mich für einen Moment, bis ich meinen Blick schließlich davon losreißen konnte und stattdessen auf sein Buch fallen ließ. Emilys Welt.

Ich wollte ihm entgegnen, dass er das ja am Besten wissen müsse, schließlich beschattete er mich pausenlos. Aber ich biss mir auf die Unterlippe. Diesen Gefallen wollte ich ihm nicht tun.

"Scharf kombiniert", erwiderte ich stattdessen trocken, den Blick in seine Augen sorgfältig vermeidend.

"Wisst ihr was?", hörte ich Leah aus weiter Ferne plappern. "Wenn ich euch jetzt so nebeneinander stehen sehe … irgendwie … habt ihr ein ähnliches Gesicht."

"Na, danke", sprachen wir beide gleichzeitig.

Leah lachte ihr hohes Lachen und ich drehte mich wieder um – ich sah keinen Grund, mich noch länger mit diesem Kerl zu beschäftigen.

Dadurch hatte ich eine gute Sicht auf die Tür zum Flur, in dem wir standen und entdeckte unsere Lehrerin, die gerade ihre Hand nach der Klinke ausstreckte. Ich überschüttete sie telepathisch mit Dankeshymnen und schritt zum Eingang des Kursraumes.

Dort war es wie immer schwül. Ich setzte mich auf meinen Platz und wartete ungeduldig darauf, dass der Unterricht begann. Ich wollte so schnell wie möglich raus aus der Schule. Doch das Läuten ließ noch ungnädige 45 Minuten auf sich warten.

 

Das konnte unmöglich so weitergehen. Die ganze Stunde hatte mich dieser psychisch kranke Junge angestarrt und mich damit in den Wahnsinn getrieben. Was bitte war so fesselnd an mir? Zorn drückte von innen gegen meine Stirn und hinterließ dort grässliche Kopfschmerzen.

Als es endlich, endlich klingelte, stürmte ich mit meiner letzten Selbstbeherrschung aus dem Raum. In sensationeller Geschwindigkeit flog ich die Treppen hinunter und wäre dabei fast hingefallen. Eilig prüfte ich den Vertretungsplan für den nächsten Tag und stellte mit entfernter Freude fest, dass die ersten zwei Stunden morgen ausfielen. Diese Neuigkeit dämpfte die Wut in mir und meine verkrampften Schultern entspannten sich ein wenig. Innerlich fluchte ich unablässig. Was fiel diesem Typen eigentlich ein? Hatte er voyeuristische Züge oder war er ein Stalker? Würde er mir vielleicht nachstellen?

Eine feine Gänsehaut überzog meine Arme, und ich schüttelte den Kopf über meine Paranoia. Was ich mir immer ausdachte! Ich machte es mir nicht gerade leichter damit.

Der Weg bis zur Haltestelle kam mir heute besonders lang vor, weil die Mittagssonne unablässig ihre Hitze zur glühenden Erde schickte. Sie klebte an meiner Kleidung und meinen Haaren, und ich wurde müde vom Gehen. Endlich angekommen, setzte ich mich auf die Bank und lehnte meinen Kopf an die Scheibe. Durch mein Gedächtnis zuckten Bilder, welche ich nur teilweise zuordnen konnte, während ich den hellen Wolkenfetzen hoch oben am Himmel beim Vorbeiziehen zuschaute. Ich war so erschöpft und wusste noch nicht einmal, was mich derart ausgelaugt hatte.

Und da nahm ich etwas im Augenwinkel wahr.

Erschüttert sprang ich auf, als ich Meo neben mir entdeckte. Nur ungefähr zwei Meter war er von mir entfernt und schaute mich an – trotzdem hatte ich das Gefühl, dass er noch viel näher bei mir stand.

"Was machst du denn hier?", kreischte ich hysterisch. Meine überspannten Nerven rissen, so extrem hatte ich mich erschrocken. Alles brach aus mir hervor, als wäre ein Tor in mir geöffnet worden, das ich nicht mehr schließen konnte. "Immer, die ganze Zeit, beobachtest du mich! Hast du überhaupt eine Ahnung, wie ich mich dabei fühle?"

Halt. Ich wollte nichts über mich preisgeben. Das lief falsch. Vor allem, weil ich schon fast den Tränen nahe war. "Verpiss' dich! Ich will das nicht, kapiert? Hau' ab, kannst du nicht einfach abhauen …" Abgekämpft sank ich wieder auf die Bank und musste ernüchtert feststellen, dass Meo keine Miene verzogen hatte. Er sah mich nur unverwandt an, während mein Herz wie wild schlug. Seine intensive Ausstrahlung schüchterte mich ein. Und sein stiller Blick.

"Du interessierst mich."

Wieder dieses beherrschte Auftreten. Er kam auf mich zu, ich schnellte zur Seite und wich ihm damit erneut aus. Die kühle Scheibe der Bushaltestelle berührte meinen Rücken und ich versuchte, mich auf diese Kühle zu konzentrieren. "Wenn du es auch nur wagst, mich anzufassen …", zischte ich.

Kurz schien Meo gedanklich abwesend zu sein, dann huschte ein ehrlich amüsierter Ausdruck in seine Gesichtszüge. "Du hast Angst", schloss er und lachte auf. "Das ist nicht nötig."

Wortlos betrachtete ich ihn. Das war definitiv eine Begegnung der dritten Art.

"Nein, im Ernst, ich bin nur ein Junge, der dich gerne einmal außerhalb der Schulwände treffen würde."

"Du willst mich doch verarschen! Wir kennen uns überhaupt nicht!", schoss es aus mir heraus.

"Dann wird es Zeit, dass wir das ändern", zwinkerte mir Meo zu.

Ich schwieg erneut. Beinahe hätte ich aufgelacht. Das war absurd, dieser Junge war doch verrückt. Niemals würde ich …

"Das Café ist in der Marienstraße. Gleich hier um die Ecke. Du steigst einfach an der nächsten Haltestelle aus –"

"Ich werde nicht –", unterbrach ich ihn, aber er redete unbeirrt weiter.

"… Die Bushaltestelle heißt 'Burgsplatz', nur, damit es zu keinen Missverständnissen kommt. Wäre morgen um zwei Uhr in Ordnung?"

"Denkst du etwa, ich kenne meinen eigenen Schulweg nicht?", fauchte ich, verstummte dann aber. Meine Stimmung wechselte im Sekundentakt von aggressiv zu perplex. Ein wenig aus der Fassung geraten stand ich dort, immer noch an die Glasscheibe gepresst. Ich spürte, wie das Adrenalin in meinem Körper langsam an Macht verlor. Eine Weile war es still zwischen uns. Meo lächelte mich fortwährend an – und ich konnte nicht umhin, sein Gesicht auszukundschaften wie fremdes Land. Nie zuvor war mir so viel Andersartigkeit begegnet.

Fast hätte ich nicht bemerkt, dass der Bus neben uns hielt und ein paar Menschen ausstiegen. Im letzten Moment kam ich zu Sinnen und hastete an Meo vorbei in den Wagen. Der Durchgang schloss sich sofort nach meinem Betreten zischend und ich hielt mich wahllos an irgendetwas in der Nähe fest, um durch den Ruck beim Losfahren nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Dann starrte ich noch immer verständnislos durch die durchsichtigen Bustüren nach draußen. Dort stand Meo und winkte mir zum Abschied zu.

Was wollte der Typ von mir?

 

Selbst Stunden später, als ich Zuhause saß und das vergangene Gespräch immer und immer wieder ablaufen ließ, war ich nicht in der Lage dazu, irgendetwas zu begreifen. Es gelang mir nicht, mein ständiges Gedankenchaos zu ordnen. Ich gab mein Bestes, aber ich war so durch den Wind, dass jeder Versuch umsonst war. Selbst Benji fand, dass ich nicht genug darauf aufpasste, dass seine Spielzeugautos in die richtige Richtung fuhren. In diesem Moment zerrte er mit einem ziemlich säuerlichen Gesichtsausdruck an meinem Hemd, während ich aus dem Wohnzimmerfenster starrte, doch das war mir im Moment wirklich egal.

Natürlich würde ich nicht hingehen. Das meinte mein Verstand und vor allem meine Vorsicht.

Aber meine Neugierde flüsterte etwas ganz Anderes und ich wusste, dass sie irgendwann siegen würde. An manchen Tagen frage ich mich nur, was geschehen wäre, hätte sie nicht gewonnen.

Vielleicht wäre dann alles genauso geblieben wie vorher.

 

Viertes Kapitel

"Die Welt des Wassers wird aufgrund von Überarbeitungen vorübergehend geschlossen. Die Wirte bleiben uninformiert und setzen ihr Leben ungestört fort."

Aus: Weltenplattform, 'allgemeine Informationen'

 

Dieses Café war seltsam.

Es war seltsam, weil es nicht zu Meo passte. Als er mir den Weg zu unserem Treffen beschrieben hatte, hatte ich mir vieles vorgestellt, aber sicher nicht das. Die Wände waren in zahlreichen Farben angestrichen und mit bunten Mustern verziert. Es duftete nach süßen Torten und Kuchen, nach Kaffeebohnen und anderen Leckereien. Die Kellnerin war lebendig, offen und herzlich. Das komplette Gegenteil von Meo.

Irritiert saß ich auf meinem Stuhl am runden Metalltisch und wartete. Wartete auf jemanden, der höchstwahrscheinlich gar nicht kam.

Die Kellnerin erschien in meinem Blickfeld, strahlte mich an und ich lächelte automatisch. "Ein Cappuccino mit viiiiiel Milch!" Sie stellte die Tasse in einer schwungvollen Bewegung vor mir ab. "Bitteschön. Noch einen Wunsch?"

Fast fiel es mir schwer, dieses erwartungsvolle Gesicht enttäuschen zu müssen, aber dann rief ich mich zur Besinnung und schüttelte den Kopf. Das Mädchen mit der pinken Schürze verschwand, und ich lehnte mich zurück.

Ich wusste nicht, was mich letztendlich dazu getrieben hatte, doch hierher zu kommen. Vielleicht waren es die Bilder gewesen, die mich seit heute Morgen verfolgten: erst Meos Gesicht, dann ein grelles Weiß, das mich nicht blendete, sondern ausfüllte. Ich wusste, dass es etwas zu bedeuten hatte. Ich wusste es, weil Meo mich anzog wie die Freiheit den Gefangenen. So merkwürdig das auch klingen mochte.

Ich schlürfte mein heißes Getränk und stöhnte beinahe genussvoll auf. Das schmeckte unverschämt gut! Noch nie hatte ich von einem vergleichbaren Cappuccino gekostet – es war wie ein Feuerwerk auf der Zunge. Verwirrt setzte ich die Tasse ab und starrte die braune Flüssigkeit darin an. Mir hatte doch hoffentlich niemand irgendwelche Drogen hineingemischt? Misstrauisch schaute ich mich um. Und plötzlich fand ein kompletter Stimmungswechsel bei mir statt.

Meo kam zur Tür herein.

Sofort zog es mich fast körperlich zu ihm und ich musste mich zwingen, sitzen zu bleiben, um nicht auf ihn zuzugehen. Das war doch nicht normal!

Heute trug er eine schwarze Kordhose und ein himmelblaues Hemd, das ausgewaschen wirkte. Seine dunkelbraunen Haare standen widerspenstig vom Kopf ab. Und obwohl ich mich dafür verachtete, war ich glücklich darüber, dass er gekommen war.

Kaum hatte er meinen Tisch erreicht, schenkte er mir ein Lächeln und setzte sich mir gegenüber. "Hey", begrüßte er mich, während er geräuschvoll seinen Stuhl näher heranzog. Kein Wort darüber, dass ich mich für das Treffen entschieden hatte, obwohl ich ihn gestern so hatte stehen lassen.

"Hi", erwiderte ich. Es fiel mir schwer, zu denken. Dieser Moment ähnelte meiner ersten Begegnung mit Meo. Seine Anwesenheit durchdrang jede Pore meines Körpers, und nur mit Mühe nahm ich die Umgebung wahr.

"Ich sehe schon, du hast die Spezialität des Hauses bestellt - Glückwunsch zu deiner Wahl", meinte Meo mit einem Kopfnicken in Richtung meines Cappuccinos und schnappte sich die Getränkekarte. Dabei entdeckte ich einen silbernen Ring an seinem Daumen, der schon veraltet schien und mit feinen, kreisförmigen Linien geprägt war. "Ich bin bis heute nicht darauf gekommen, was sie da hineintun. Aber es muss ein Zaubermittel sein."

Beim vorletzten Wort zuckte ich unwillkürlich zusammen, denn ich reagierte auf das Thema Magie nun wirklich sensibel.

Meo hob seine Augenbrauen. "Alles okay?"

Ich nickte mit einem qualvollen Lächeln, gleichzeitig vertrieb ich die Erinnerungen aus meinem Gedächtnis und versuchte, einen vernünftigen Satz zu bilden. "Kommst du hier öfters vorbei?"

"Ja. Schon seit Jahren. Es ist ein wundervoller Platz."

"Ich hätte nicht gedacht – also, dass das Café – zu dir passt. Es ist so fröhlich", meinte ich leise, und anstatt seinem Blick zu begegnen, starrte ich die Knöpfe seines Hemdes an.

"Oh, wieso das?", fragte er mich und lachte auf. "Sehe ich so ernst aus?"

"Na ja … Es ist eher so, dass du unheimlich auf mich wirkst." Kurz traute ich mich, ihm richtig in die Augen zu sehen, nicht wie sonst nur flüchtig. Und – schlug sofort wieder die Lider nieder. Doch es war bereits zu spät. Fremde war in meine Brust gewandert und vergrub dort ihre Saat.

"Unheimlich also?" Ich merkte, dass er das witzig fand. Ich nicht.

"Ja", antwortete ich plötzlich angriffslustig. Ärger wallte sekundenschnell in mir auf und hielt mich fest im Griff. Noch nie hatte ein Mensch solche Stimmungsschwankungen in mir ausgelöst. "Ganz richtig, unheimlich! Und ich glaube, das ist eine ziemlich natürliche Reaktion auf so ein Verhalten, wie du es an den Tag legst."

In seinen Gesichtszügen wuchs ein Ausdruck der Belustigung und verblich kein bisschen, während er mich stillschweigend betrachtete, als wäre ich Teil einer höchst unterhaltsamen Fernsehshow.

"Genau das meine ich", fauchte ich. "Könnte Monsieur das bitte lassen?"

"Wo soll ich denn sonst hingucken?"

"Zu dem Mülleimer da drüben – keine Ahnung!", brauste ich auf. "Aber nicht permanent zu mir!"

"Okay, okay …" Meo biss sich auf die Lippe, wahrscheinlich, damit dieser unverschämte Ausdruck der Belustigung nicht in ein Grinsen ausartete. "Wie gesagt – du brauchst keine Angst zu haben."

Ich schnaubte. "Da wäre ich mir nicht so sicher. Ein bisschen Angst ist manchmal ziemlich gesund, besonders, wenn Gefahr im Anmarsch ist." Die Arme verschränkt musterte ich meine Tasse, welche nur noch halbvoll war, und seufzte dann. Mein Ärger war wieder einmal so schnell verflogen, wie er gekommen war. "Warum bist du eigentlich auf unsere Schule gewechselt?", versuchte ich, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. "Es ist mitten im Schuljahr."

"Ich und meine Familie mussten überraschend umziehen", antwortete er knapp. Ich schwieg abwartend, doch er blieb stumm. Wollte er mir etwa nicht mehr erzählen?

Wie bedauerlich, wie außerordentlich bedauerlich. Aber damit kam er mir nicht davon..

"Warum das denn?", fragte ich ihn scheinheilig, während ich im Augenwinkel registrierte, dass sich ein junges Pärchen an den Tisch neben uns setzte.

Meo warf mir einen Blick zu, der bei anderen Menschen vielleicht warnend sein sollte, bei mir aber keinesfalls zog. "Wegen der Arbeit meines Vaters."

Interessant, er war scheinbar der Typ, dem man jedes Wort einzeln aus dem Rachen graben musste. Aber ich hatte Kraft, Geduld und Zeit. Ich würde dieses kleine Machtspielchen gewinnen, vielleicht auch als kleinen Racheakt.

"Und woher kommt ihr?"

Als er weiter auf die Tischplatte starrte, hatte ich Mühe, ein Lachen zu unterdrücken. Wo war der selbstsichere Meo hin?

Sticheleien im Kopf zurechtlegend hätte ich fast nicht mitbekommen, dass er wieder aufschaute.

Ich muss zugeben, für einen kurzen Moment sah er tatsächlich ein wenig gefährlich aus. Aber dann fasste er sich und lächelte mich geradeheraus an.

"Ordes."

"Bitte?"

"Ich habe mir schon gedacht, dass du nicht weißt, wo das liegt", meinte er spöttisch.

Hm. Das war nicht nach Plan gelaufen. Schade eigentlich, ich hatte diesen Rollentausch genossen. "Sind Sie so gnädig und erläutern mir den Standort Ihrer Heimat genauer?"

Meo machte eine wegwerfende Handbewegung. "Das ist weit weg von hier."

Ich sah ihn stumm an, die Arme noch immer verschränkt.

Er beugte sich zu mir vor, dabei fiel ihm eine kurze Strähne in die Stirn und ich bemerkte, wie gut er duftete. Frisch. Sauber. Er war mir plötzlich sehr nahe, und ich konnte eine schmale Narbe auf seiner Stirn kurz unter seinem Haaransatz sehen. Sie beruhigte mich, denn sie war so wunderbar – unperfekt.

"Sehr weit weg, Madame Liora."

Ich weiß, ich hätte trotzdem nachfragen sollen. Aber ich konnte nicht. Da war sie wieder, diese Andersartigkeit an Meo, die ich nicht einschätzen konnte. Die ihn für mich zu einer Black Box machte.

Und warum hatte er keinen Akzent?

Er lehnte sich zurück und kostete seinen kleinen Sieg aus, indem er mich gründlich betrachtete. "Und du? Schon mal die Schule gewechselt?"

"Nein."

Wortlos starrte ich ihn an. Darin wurde ich immer besser. Inzwischen fürchtete ich mich auch nicht mehr so vor der Fremdheit in seinen Augen – sie fühlte sich jetzt eher wie ein Teil von mir an. Was mir wiederum zu denken gab.

Innerlich triumphierte ich, als er meinem Blick auswich. Doch da bemerkte ich, dass er nur die Kellnerin ansah, die gerade hochmotiviert mit Block und Stift in den Händen angerauscht war.

Meo bestellte sich denselben Cappuccino wie ich. Bis dieser ihm gebracht wurde, unterhielten wir uns über relativ belanglose Themen. Ich stellte fest, dass er ein eigentlich ziemlich normaler Teenager zu sein schien – da waren keine Anzeichen früherer Psychiatriebesuche oder mentaler Labilität zu finden. Keine Anzeichen dafür, dass dieser junge Gentleman, der mir gegenüber saß, eine Vorliebe dafür hatte, sich besonders intensiv mit einem Menschen zu beschäftigen, auch wenn dieser das vielleicht gar nicht wollte. Wahnvorstellungen schien er ebenfalls nicht zu haben.

Doch trotz meiner absolut professionellen Erstanalyse war da etwas an Meo, das ich nicht ergründen konnte. Der Typ war mir einfach zu glatt. Egal, was er von sich berichtete, ich konnte mich an nichts festhalten. Mehr und mehr kam mir der Verdacht, dass er nicht der war, der er zu sein vorgab.

Dass er log.

"Soooo! Vorsicht, heißer Kaffee!", kam es von links. Die Kellnerin stellte die Tasse vor Meo ab, lächelte uns noch einmal euphorisch zu und ging dann wieder ihrer Wege. Kaum hatte Meo den ersten Schluck getrunken, rollte er dramatisch mit den Augen und schaute mich gespielt weggetreten an. "Also, ganz ehrlich, wenn die hier nichts mit Drogen zu tun haben, dann muss es Hexerei sein!"

Schon wieder dieses lästige Zusammenzucken. Und Meo hatte es bemerkt. Na, wunderbar.

"Kann es sein, dass du eine Phobie vor allem hast, was mit Magie zu tun hat?"

"Wie kommst du denn darauf?", schoss ich sofort zurück, aber nur weil ich Angst hatte. Dieser Junge war verdammt wachsam, und ich wusste nicht, ob mir das gefiel.

"Gute Menschenkenntnis." Meo lachte mich offen an. "Wirklich."

Misstrauisch raffte ich mich zu einer Antwort auf. "Nein. Es gibt keine Magie."

Meo nickte und lächelte reserviert. "Natürlich." Er hob seine Tasse erneut hoch und sah mich gedankenverloren an. Ich wich diesem Kontaktversuch aus und schaute aus den wandhohen Fenstern am Eingang, durch die ich die Straße beobachten konnte. Die Menschen schlenderten in kurzer, luftiger Kleidung durch die Stadt und mir fiel auf, wie sehr ich mir wünschte, einfach so mit ihnen zu gehen. Mit einem Eis und einem Kaltgetränk in der Hand. Ohne die Fragen in meinem Inneren, die für mein instabiles Weltbild verantwortlich waren.

"Und was machst du in deiner Freizeit so?", wechselte ich wieder einmal das Thema.

"Ich treibe gerne Sport. Ich jogge oft", hörte ich ihn sagen und ich musste schmunzeln. Eigentlich war er ja schon ein ziemliches Klischee von Typ. Seine athletische Figur, das Geheimnis, das er aus sich machte und die Blicke, die er teilweise drauf hatte, ähnelten alle den Merkmalen meiner, nun ja, von Frauen belagerten Schulkameraden. Es würde mich nicht wundern, ginge er noch ins Fitnessstudio.

Meine innere Stimme flüsterte mir jedoch trotzdem mit erstaunlicher Vehemenz zu, dass Meo alles andere als gewöhnlich war. Wie zur Bestätigung sagte er im nächsten Moment: "Ich fühle mich dabei frei."

Überrascht schärfte ich meinen Blick auf ihn. Doch es war, als hätte er nach dem letzten Satz hastig die Tore zu seinem Inneren zugeschlagen. Er strahlte etwas Abweisendes aus. Wie eine Jacke, an der Regen einfach abperlt. Und ich verkörperte natürlich die Tropfen. Was sonst.

Vorsichtig sprach ich in die kühler gewordene Stille: "Und gibt es noch etwas, was dir Spaß macht?"

Es hätte mich nicht erstaunt, wenn er dies verneint hätte. Momentan sah er nicht wie ein Mensch aus, der sonderlich viel Freude am Leben hatte. Aber er antwortete, fast ohne einen Muskel zu bewegen: "Ja."

Und mehr nicht.

"Ist irgendetwas?", fragte ich genervt. "Dann sag' es mir bitte."

"Was sollte sein?", formulierte er die Gegenfrage, während ich beobachten konnte, wie er sich langsam wieder entspannte. Oder es zumindest versuchte. Angestrengt runzelte er die Stirn, und unwillkürlich mochte ich diese Miene an ihm – wie ich mir widerwillig eingestehen musste. Er schien nachzudenken.

"Ich habe einfach ein wenig Rückenschmerzen. Aber mich würde interessieren, was du so in der schulfreien Zeit treibst."

Ich zuckte mit den Schultern. "Dies und das. Lesen, Musik hören. Das Übliche."

"Aha", machte Meo. "Und jetzt bitte noch einmal die ehrliche Version."

War ich etwa ein offenes Buch? Aus dem Konzept gebracht erwiderte ich: "Na ja, eigentlich mache ich nicht viel. Ich bin ein wissbegieriger Mensch, ich lese gerne. Das ist wahr! Auch, dass ich Musik höre. Ziemlich viel. Eigentlich nur. Und hin und wieder treffe ich mich auch mal mit Freunden."

"Und sonst nichts?"

"Nein. Ich habe keine Zeit für Hobbies."

"Keine Zeit?" Erneut zog Meo die Stirn kraus. Dieser Anblick beruhigte mich, er kam mir seltsam vertraut vor.

"Ja." Tief holte ich Luft und sagte: "Ich muss mich jeden Tag um meinen Bruder kümmern, meine Mutter unterstützen. Weil mein Vater ... oft sehr lang arbeitet."

"Oh. Das ist nicht schön."

"Doch!", meinte ich schnell. "Ich liebe meinen Bruder ja, und er ist süß."

"… Aber du hättest trotzdem gerne mehr Zeit für dich", sprach Meo meine Gedanken aus. Es war wirklich unfassbar. Hatte er, wo er doch gerade dabei war, während des Beobachtens auch noch mein Gehirn inspiziert?

"Ja, das stimmt", antwortete ich.

"Hast du denn mit deinem Vater schon darüber geredet? Schließlich ist das auch seine Aufgabe."

"Ja, aber gebracht hat es nichts. Er meinte, es ginge momentan nicht anders. Ich könne ja liebend gern mit ihm tauschen, sagte er zu mir und damit war für ihn die Sache gegessen. Er versteht mich einfach nicht."

"Das klingt aber nicht fair."

Ich seufzte. "Ist es auch nicht. Aber was soll ich denn machen? Meine Mutter mit Benji alleine lassen?"

"Dein Bruder heißt also Benji? Das ist ein schöner Name."

"Ja, meine Mutter hat ihn in einem Buch gefunden."

"Was für ein Buch?"

"Oh, den Titel hat sie mir nie verraten. Sie macht daraus ein Riesengeheimnis. Sie meinte einmal: "Das ist wie mit den Pusteblumen. Man darf den Wunsch nicht aussprechen." Sie glaubt wahrscheinlich, dass der Zauber sonst verloren geht."

Erstaunt hörte ich mir zu. Erzählte ich das wirklich gerade einem wildfremden Typen, der mir nicht einmal richtig geheuer war?

"Okay." Er lachte. "So sind viele Frauen. Glauben an Hokuspokus."

"Hokuspokus?" Ich bedachte ihn eines bösen Blickes.

Er hob abwehrend die Hände und grinste. "Nicht ernst nehmen - ich finde Hokuspokus auch gar nicht so abwegig."

"Jetzt kommen wir schon zum dritten Mal auf dieses Thema zu sprechen. Das muss eine höhere Bedeutung haben."

"Was für eine höhere Bedeutung? Denkst du, dass da Magie im Spiel ist?"

"Vielleicht", erwiderte ich ruhig.

"Aber eben meintest du –"

"Vergiss', was ich gesagt habe. Möglicherweise bin ich mir doch nicht ganz so sicher."

Anerkennend nickte er. "Das sind große Worte. Ich meine, dafür, dass du das vorher so vehement abgestritten –"

"Ich hab gesagt, vergiss' es."

"In Ordnung."

Stille verstärkte die Spannung, die mit einem Mal über uns schwebte. Dann legte Meo genau die Frage in den Raum, die ich am liebsten nie gehört hätte. Aber das war nun wirklich mein alleiniger Verdienst.

"Warum bist du dir nicht sicher?"

"Na ja", druckste ich herum und biss mir zweifelnd auf die Unterlippe. "Manchmal gibt es doch so Momente – du weißt schon."

"Nein, nicht wirklich." Die bekannte Reglosigkeit hatte wieder Besitz von Meos Mimik ergriffen.

"Ach, wie soll ich das ausdrücken? Eben ... so Momente, in denen ... Dinge passieren."

Jetzt löste Skepsis seine Reglosigkeit ab. "Was für Dinge?"

Ich hielt es nicht mehr aus, stöhnte und vergrub mein Gesicht in den Händen. "Egal. Es ist egal."

"Nein, finde ich nicht. Jetzt hast du mich neugierig gemacht." Ich hörte seinen Stuhl knarzen und schob vorsichtig zwei Finger beiseite. Meo hatte sich interessiert vorgebeugt.

"Du wirst mich auslachen."

"Ganz sicher nicht."

"Dann wirst du mich für verrückt halten."

"Das vielleicht schon eher." Er grinste breit.

Ich schüttelte den Kopf. "Ich habe es bestimmt einfach nur geträumt und mache mich gleich lächerlich. Im Grunde ist es auch nicht der Rede wert."

Was für eine Lüge. Nicht eine Stunde verging, in der ich das Geschehen nicht immer und immer wieder durchkaute und mir wünschte, es herauszuschreien. Mina wusste nämlich auch nicht mehr weiter und ich sehnte mich nach einer anderen Meinung.

"Wenn das so wäre, würdest du dich nicht so anstellen."

Auch wieder wahr. "Meinetwegen", gab ich mich geschlagen. "Aber versprich mir, dass du mich danach nicht in ein Irrenhaus einweist!"

Er schmunzelte. "Versprochen."

"Also. Das Ganze ist diesen Mittwoch passiert. Ich war mit einer Freundin zuhause und wir redeten. Irgendwann erzählte sie etwas von einem Spiel, dass sie einmal mit ihrem Freund gespielt hatte: Sie dachte konzentriert an ein Obst, und er erriet, an welches sie dachte. Dasselbe wollte sie nun mit mir probieren. Also stellte ich mir einen Apfel vor –" Ich brach ab. "Du, vielleicht sollte ich es doch nicht erzählen, das ist total bescheuert."

"Hey, ich kann mich vor Spannung kaum noch halten!"

Ich musste feststellen, dass das ziemlich der Wahrheit entsprach. Meo hatte sich sehr weit nach vorne gebeugt, den Kopf in die Hände gestützt und die Augen wie im Bann auf mich gerichtet. Selten hatte mir jemand so hingebungsvoll zugehört. Ein Grinsen schlich sich auf meine Lippen, und ich sprang über meinen Schatten.

"Na gut. Jedenfalls hatte ich nichts anderes als diese Frucht im Kopf und bekam richtiggehend Lust darauf, denn ich mag Äpfel wahnsinnig gerne. Dann war da ein seltsames Rieseln in meinem Körper, und als ich die Augen öffnete, lag vor mir dieser Apfel."

Schweigen. Meo hatte seine Lider gesenkt und sah für meinen Geschmack zu ernst aus. "Bist du dir sicher?", fragte er schließlich leise und schaute mich wieder an.

Ich verdrehte die Augen. "Nee, das habe ich mir einfach ausgedacht, um Aufmerksamkeit zu bekommen."

Abschätzig lehnte er sich zurück, verschränkte die Finger ineinander und sagte: "Okay."

Überrascht betrachtete ich ihn. Das war alles?

"Du glaubst doch jetzt nicht wirklich, dass ich dir das abkaufe."

Empört schnaufte ich auf. "Hör mal! Du wolltest, dass ich dir das erzähle –", begann ich, mich wütend zu echauffieren, aber Meo unterbrach mich.

"Ist schon in Ordnung. Ich denk' mal drüber nach."

"Ich denk' mal drüber nach", äffte ich ihn nach und guckte beleidigt. "Das finde ich nicht fair."

"Was hast du denn erwartet? Dass ich es für glaubhaft halte, wenn du mir erzählst, du hättest aus deiner Fantasie einen Apfel hervorgezaubert?"

"Nicht so laut!", zischte ich, als er die letzten Worte für meinen Geschmack ein wenig zu nachdrücklich gesagt hatte, und das junge Pärchen uns beide schon recht befremdet anstarrte.

Aber im Grunde hatte er recht. Man musste es einfach mit eigenen Augen gesehen haben. Traurig dachte ich an Minas Reaktion. Wie hatte ich überhaupt den Mut gefunden, das Meo zu erzählen? Zudem hatte ich erst gestern das erste Mal mit ihm gesprochen!

"Aber gehen wir mal davon aus, dass es stimmt", meinte Meo mit seinem Stirnrunzeln. Aha? Was war das nun für eine Wendung? "Dann muss es ja so etwas wie Magie geben."

"Genial, Einstein."

Er überhörte meinen Kommentar und fuhr fort: "Was hast du noch einmal gespürt? Ein Rieseln?"

"Ja. Fast wie eine Gänsehaut, nur in mir."

"Hast du es noch einmal versucht?"

"Mehrmals. Aber es funktionierte nicht mehr."

"Hm, woran könnte das liegen?"

Ich verschränkte meine Arme. "Sag mal, wieso beschäftigt dich das so? Schließlich hältst du mich doch sowieso für eine Lügnerin."

Etwas verrutschte in seinem Gesicht, und wenn ich es nicht besser gewusst hätte, wäre ich fast davon ausgegangen, dass Meo erschrocken war. Doch innerhalb von Millisekunden war bei ihm alles wieder am angestammten Platz. "Ich habe doch gesagt, ich denke darüber nach."

"Na dann. Fühl' dich frei, weiter zu sinnieren."

"Vielen Dank", antwortete er mit einem ironischen Lächeln. "Wo war ich noch einmal? Ach, genau." Er räusperte sich. "Was war bei den nächsten Versuchen anders als beim ersten Mal? Hast du Unterschiede bemerkt?"

"Na ja, das Rieseln war nicht mehr da."

"Und sonst noch etwas?"

"Ich ..." Tief atmete ich durch, ließ meine Schultern sinken, strich mir die Strähnen aus dem Gesicht. Es fiel mir schwer, mich so genau an dieses verdrängenswerte Ereignis zu erinnern. "Ich … Mir war übel."

"Also hattest du auch keinen Hunger mehr, oder?"

Ich zog die Stirn in Falten, blinzelte. "Nein …?"

Zufrieden nickte Meo und ein selbstvergessenes Lächeln stahl sich auf seine Lippen. "Habe ich es mir doch gedacht."

"Was? Was hast du dir gedacht?" Jetzt hatte mich Meo erfolgreich verwirrt.

"Wenn das, was du erzählt hast, wirklich wahr ist … dann habe ich eine Erklärung. Als du das erste Mal an den Apfel dachtest, hattest du große Lust darauf. Du wolltest ihn. Aber wegen des Schocks danach war klar, dass du ihn noch nicht einmal mehr ansehen konntest. Du wolltest ihn nicht mehr. Und das ist der Punkt."

Sprachlos saß ich da, die Hände untätig im Schoß. Bitte was?, dachte ich nur.

"Und damit ich mich selbst überzeugen kann – du hast bestimmt inzwischen mitbekommen, dass ich ein neugieriger Mensch bin – möchte ich beim nächsten Versuch dabei sein", eröffnete er mir.

Dieser Kerl war doch nicht mehr ganz frisch im Kopf. Ich lachte hart auf, aber nicht aus Belustigung. "Das heißt, du willst mir dabei zusehen, wie ich etwas herhexe?"

"Falls du es denn drauf hast, ja."

"Aber ich kann dir doch nicht versprechen, dass es noch einmal klappt!"

"Dann probiere meine Theorie aus. Kann doch nicht schaden."

Ich schwieg. Drehte meinen silbernen Armreif hin und her. Strich über ein Muttermal auf meinem Handgelenk. Wippte mit dem Bein auf und ab.

Aber warum nicht? Eigentlich hatte ich nichts zu verlieren. Bis auf meine Würde vielleicht.

Ich holte tief Luft. "Also gut", sagte ich, wissend, dass ich mindestens auch nicht ganz so frisch im Kopf war. "Abgemacht. Wann sollen wir es tun?"

Meo verzog seinen Mund zu einem Grinsen, dann fragte er: "Jetzt?"

"Jetzt?", echote ich fassungslos und dämpfte sofort meine Stimme. "Bist du wahnsinnig? Doch nicht hier!"

"Na gut, fahren wir eben zu dir nach Hause", antwortete er schulterzuckend und hörte einfach nicht auf zu grinsen. Dann drehte er sich auch schon um und winkte der Kellnerin.

Ich schüttelte den Kopf und murmelte nur: "Ein Mann der Tat."

Das konnte ja was werden.

 

Fünftes Kapitel

"Die Erde ist unser Zuhause."

Aus: Die legendäre Rede des Corvin Bostwick

 

"Hier wohnst du? Nicht schlecht." Meo legte den Kopf in den Nacken und starrte unser Haus an. Es war weiß gestrichen und hatte einen kleinen Balkon über unserem Vorgarten, welcher wiederum eigentlich überflüssig war, weil wir mitten in im Waldgebiet wohnten. Die Fenster, eingerahmt von alten, hellblauen Fensterläden, reflektierten blitzend das Sonnenlicht. Ich liebte den Efeu, der an manchen Stellen an der Häuserwand emporkletterte. Er ließ unser Haus nicht ganz so neu aussehen, sondern irgendwie – verwachsen.

Ich öffnete den hüfthohen Lattenzaun, hinter dem Gras in die Höhe wuchs und betrat den verwilderten Vorgarten. Wir hatten es dank Papas Arbeit wirklich gut getroffen, aber manchmal fragte ich mich, ob der Preis, den wir dafür zahlten, nicht zu hoch war. Und das meinte ich nicht im materiellen Sinn.

"Na dann, immer herein in die gute Stube." Ich schloss die ebenfalls weiß angestrichene Haustür auf und bedeutete Meo, mir in den geräumigen Flur zu folgen. Es war mir ein wenig unangenehm, dass er nun mitten in meinem Zuhause stand – immerhin kam er einem Fremden näher als einem Freund. Meine Verklemmtheit erschien mir aber auch albern, und so versuchte ich, mir nichts weiter anmerken zu lassen. Ich zog meine Turnschuhe aus, ging in die Küche und rief über meine Schulter hinweg: "Hast du Durst? Oder Hunger?"

Meo, der noch mit seinen Schuhen kämpfte, antwortete: "Ein bisschen Wasser könnte nicht schaden."

Ich drehte den Hahn auf, füllte rasch zwei Gläser, wandte mich um und stieß fast mit Meo zusammen. Das warf mich für einen Moment aus dem Konzept – ich nahm seinen Duft erneut wahr und spürte die Wärme seines Körpers – doch innerhalb von Sekunden hatte ich mich wieder gefangen.

"Bitte", sagte ich, drückte ihm sein Wasser in die Hand und verschwand aus der Küche.

Meo ging eilig neben mir her. "Mit Kühen?", fragte er amüsiert und hielt das Glas in die Höhe, während er mit erstaunlicher Präzision die Treppenstufen erwischte. Mist. Ich hatte die Fensterläden nicht aufgeklappt und musste ihm im Halbdunkel wohl aus Versehen Benjis Glas gegeben haben.

"Ja. Kennst du die nicht? Sind im Moment der letzte Schrei."

"Muss ich mir merken", grinste Meo. "Sag' mal, gehst du immer so schnell?"

Ich stieß meine Zimmertür auf sah ihn an. "Hat den Vorteil, dass man relativ zügig sein Ziel erreicht."

"Manche Dinge kann man aber nur langsam schaffen", erklärte er mit einem altklugen Gesichtsausdruck.

Ich verdrehte die Augen. "Ja, es freut mich, dass Einstein wieder unter uns weilt. Sind Sie nun bitte so genial und betreten mein Zimmer?"

Er gehorchte, holte dabei aber auch seinen unverschämt neugierigen Blick hervor. Es schien, als würde er den ganzen Raum in sich einsaugen. Angenervt ließ ich mich auf mein frisch bezogenes Bett fallen und schaute ihm zu. Er durchquerte das Zimmer mit sorgfältigen Schritten, dann setzte er sich auf meinen Schreibtischstuhl.

Mein Zimmer war nichts Besonderes. Es lag ganz oben – ich wohnte direkt unter dem Dach. Ich hatte es schlicht eingerichtet und keine Poster an den teilweise schräg liegenden Wänden hängen. Im Gegensatz zu meinen Freunden hörte ich bis auf ein paar Ausnahmen eher Klassik, vieles im Radio hatte nämlich nur noch wenig mit Melodien zu tun. Und Poster von Chören wollte ich mir nun nicht wirklich über das Bett hängen. Außerdem verstand ich nicht, wie man von Bands oder Stars ein Fan sein konnte. Das wirkte immer ein wenig befremdlich auf mich.

Auf meinem Schreibtisch herrschte wie immer Unordnung. Schulmappen und eine riesige Zettelwirtschaft regierten ihn; sie warfen faszinierende Schatten auf das Chaos und wurden von der Sonne aus meinem Fenster beschienen. Es war direkt davor eingebaut, sodass ich einen guten Blick auf die Straße und den dahinterliegenden Wald hatte. Der Himmel heute war so hellblau, dass er mich blendete, wenn ich ihn ansah.

Meine schnell verworfene Kleidung von heute morgen hatte ich in den Schrank hinter meinem Bett gestopft, aber er stand einen Spalt offen und ein roter Ärmel hing heraus.

Alles in allem konnte man sagen, dass ich definitiv nicht auf diesen Besuch vorbereitet war.

"Das Labor steht bereit. Meister, sagt mir, was ich zu tun habe."

Er betrachtete mich eine Weile, dann fragte er: "Was wünscht du dir schon richtig lange?"

Ich zuckte mit den Schultern. "Zeit", versuchte ich, zu scherzen. "Nein, ich weiß es nicht. Wirklich nicht. Ich habe alles, was ich brauche."

"Keine neueste Technik? Keine alten Kinderträume von Puppen?"

Ich schnaubte. "Vielen Dank, nein."

"Etwas für deine Mutter?", fragte er leise.

Okay, da hatte er ins Schwarze getroffen.

"Oder Benji?"

Natürlich. Wie hatte ich das vergessen können?

"Warte. Lass' mich überlegen", sagte ich hastig. Mama brauchte dringend ein Wellnesswochenende, aber das konnte ich schlecht herbeizaubern. Vielleicht konnte ich sie mit einem Abendessen überraschen? Auch eher schwierig.

Ich polte um auf Benji. Was wünschte ich meinem Bruder dringend?

Einen Papa. Eine fröhliche Mutter.

Ach, verdammt. Ich hatte nichts, was sich verwirklichen ließ!

Meo schien zu bemerken, dass ich mir das Hirn zermarterte, also sagte er schließlich: "Ich habe noch ein Ass im Ärmel. Denn Essen funktioniert immer. Was liebst du davon?"

Oh, was für ein Geniestreich! Ich war absolut verfressen. Ich wusste gar nicht, was ich mir zuerst vorstellen sollte. Aber dann entschied ich mich für ein Erdbeereis mit Sahne.

"Okay, jetzt ist es wichtig, dass du dir ganz genau vorstellst, wie es aussieht, schmeckt, in was für einem Becher es ist –"

"Ja ja", unterbrach ich ihn. "Das ist mir alles klar. Wie lautete noch einmal deine Theorie?"

Aber anstatt mir eine Antwort zu geben, stellte er mir eine Gegenfrage: "Könntest du gerade Tonnen von diesem Eis essen?"

"Ja", sagte ich standhaft und musste dabei ein wenig grinsen.

"Okay, es wird klappen. Mach es wie vorher und wünsche es dir. Mit all deiner Kraft."

Dann sagte er nichts mehr.

Also schloss ich die Augen und redete mir Ruhe zu. Ich fühlte die weiche Decke, auf der ich saß. Spürte durch meine geschlossenen Augen die Helligkeit in meinem Zimmer. Spürte die Wärme. Dann, irgendwann, ich wusste nicht, wie lange es gedauert hatte, war ich bereit.

Ein rosafarbenes, süßes Erdbeereis mit einer cremigen Sahne, die an den Berührungsstellen mit dem Eis teilweise gefriert. Ich schmeckte es auf meiner Zunge, kalt und schmelzend. Der Becher war durchsichtig und hatte eine glatte Oberfläche, sah einer Blumenvase ziemlich ähnlich.

Es war überhaupt nicht anstrengend, daran zu denken. Es war so leicht.

Und da … spürte ich das Rieseln. Ich riss die Augen auf.

Vor mir auf der Matratze stand ein perfekter Eisbecher.

In Wellen strömte der Schock durch meinen Körper, Adrenalin ließ mich wie elektrisiert aufstehen und zurückstolpern. Von der vorherigen Ruhe war nichts mehr zu bemerken.

Hatte ich das wirklich gerade hergezaubert?, dachte ich atemlos. War dieser Eisbecher wirklich da? Oder bildete ich ihn mir nur ein?

Obwohl ich genau dieselbe Situation schon einmal erlebt hatte, war es für mich nun noch heftiger. So endgültig und real. Denn dieses Werk aus meiner Fantasie war da. Ich erkannte es, sah den sanften Schatten, den es auf der Matratze hinterließ, direkt dort, wo die Decke endete.

Es hat funktioniert. Es hat funktioniert, funktioniert, funktioniert. Oh, scheiße – ich kann zaubern!

Fassungslos wandte ich den Kopf Meo zu, der mich vom Schreibtisch aus voller Ernst anschaute. Wie im Café nach meiner Erzählung. Und plötzlich wusste ich, dass er mir von Anfang an geglaubt hatte.

"Es scheint, als besäßest du magische Fähigkeiten." Seine Stimme war ungewöhnlich ruhig.

"Scheint, als …?!", wiederholte ich hysterisch und es klang bescheuert ängstlich. Wie konnte das bloß funktionieren? Und warum blieb Meo derart gelassen? "Ich will wissen, was du denkst", verlangte ich und versuchte, wenigstens ein bisschen Würde und Sicherheit in den Satz hineinzubringen. Es scheiterte jedoch kläglich. Der Nachhall meiner zitternden Stimme klang spöttisch in meinen Ohren.

"Beruhige dich doch erst einmal. Vielleicht hilft dir dabei ein Eis?"

Ich kam mir vor wie im absolut falschen Film. Nicht einmal eine Antwort konnte ich formulieren, so bestürzt war ich.

"Okay, das war fies." Er stand auf und ging auf das Bett zu. Angeekelt beobachtete ich, wie er den Becher hochnahm und ihn mit scheinbar großem Interesse auskundschaftete. Normale Menschen hätten dieses erkennende Aufflackern in seiner Mimik nicht bemerkt, aber ich konnte Gesichtsausdrücke schon als Kind sehr gut deuten.

Ich registrierte, dass Meo ganz und gar nicht neugierig war.

Und es konnte nur einen Grund dafür geben: Er wusste, was hier geschehen war.

 

Aus einem Impuls heraus nahm ich Meo das Eis aus den Händen, stellte es ab, packte ihn am Arm und zerrte ihn quer durch mein Zimmer. Dann machte ich Halt und starrte in den Spiegel, der an meiner weiß gestrichenen Tapete lehnte. Eigentlich hatte ich mir immer ein deftiges Orange für die Wände gewünscht, aber meine Eltern hatten mich mit irgendwelchem Reinheits-Quatsch zugemüllt und gewonnen. Seltsam, dass mir das ausgerechnet jetzt einfiel.

Ich heftete meinen Blick auf Meo und verglich mich dann mit ihm.

Meine braunen Haare fielen in Wellen über meine Schulter, meine Wangen waren gerötet und meine schmale Statur stand im deutlichen Kontrast zu Meos starkem und großem Auftreten.

Wenn ich euch jetzt so nebeneinander sehe … irgendwie … habt ihr ein ähnliches Gesicht.

Leah hatte Recht. Es stimmte. Unsere Augen hatten beide diese verblüffende Größe. Doch was mich noch mehr irritierte, war, dass ich dieselbe unerklärliche Andersartigkeit, dieselbe Ausstrahlung auf Menschen bei uns feststellen konnte. Sie war gerade beinahe sichtbar, pulsierte um uns herum wie ein Energiefeld. Ich hatte das noch nie so deutlich bemerkt wie jetzt.

Langsam drehte ich ihm mein Gesicht zu.

"Wer bist du?", flüsterte ich.

Er antwortete nicht. Mein Herz schlug beinahe schmerzhaft schnell, und weil ich so aufgewühlt war, wurde auch mein Atem immer hektischer. Meos sauberer Duft strömte durch meine Lungen und löste einen sanften Schwindel in mir aus. Im Braun seiner Augen entdeckte ich vereinzelte, grüne Sprenkler. Und da spürte ich mit einem Mal eine Berührung an meiner Hand. Sofort durchschoss mich tiefes Vertrauen. Ich blinzelte. Meos Augen drangen vor in mein Innerstes. Ich wollte das nicht und wehrte mich mit aller Kraft dagegen. Aber alles in mir flatterte gegen meine körperliche Hülle und wollte ausbrechen … sofort –

"Ich muss jetzt gehen. Wann sehen wir uns wieder?", fragte er mich, die Stimme fast so leise wie meine Gedanken.

"Da muss ich erst – ich meine – kannst du morgen?", stammelte ich und verfluchte, dass ich so beeinflussbar war. Wäre er doch bloß nicht so nah und würde mich mit dieser gefährlichen Kraft in unbekannte Welten ziehen.

Meo lächelte. "Ja. Ich komme vorbei." Er drehte sich um und ging auf die Zimmertür zu. Ich hatte keine Kraft, ihm zu folgen, dabei zog es mich wie verrückt zu ihm.

"Okay. Bis dann", brachte ich hervor, dann verließ Meo auch schon den Raum. Kaum hatte sich die Tür mit einem Klacken geschlossen, ließ ich mich entkräftet auf das Bett sinken, auf dem noch immer dieser seltsame Eisbecher stand. Wieso musste Meo so schnell wieder abhauen? Er hatte doch gerade erst mitbekommen, wie ich Eis aus meiner Fantasie hervorgebracht hatte!

Erschöpft saß ich auf meiner Matratze, bis ich bei einem rastlosen Gedanken ruckartig aufstand, zum Fenster wankte und auf die still daliegende Straße schaute.

Aber Meo war nicht mehr zu sehen.

 

 

Sechstes Kapitel


"Der Traum vom Fliegen, ein Leben lang Wirklichkeit! Die Welt der Vögel. Neu bewohnbar. Level: 8"

Aus: Videowerbung, Archiv

 

Müde führte ich die Kaffeetasse zum Mund. Der Dampf schlug mir ins Gesicht, und ich schloss die schweren Lider. Meine Augenringe brannten vorwurfsvoll.

Diese Nacht hatte ich ungefähr fünf Stunden geschlafen. Viel zu wenig für ein Wochenende, meiner Meinung nach. Und das war alles Meos Schuld. Seufzend stellte ich die Tasse ab, stand auf, schlurfte zum Kühlschrank und holte mir einen Apfel heraus. Auf dem Weg zurück zum Tisch konnte ich mein Gesicht in einer getönten Schranktür sehen und stöhnte auf. Heilige Mutter Gottes. Schnell verdrängte ich meinen im Bademantel dahinwandelnden Anblick und ließ mich auf den Stuhl fallen.

Heute Morgen hatte mich meine Mutter liebenswerter Weise nicht geweckt, sondern war mit Benji losgefahren, um einen kleinen Ausflug zu unternehmen. Das hatte auf dem Zettel vor meiner Tür gestanden. Papa schnarchte noch immer in seinem Zimmer, weil er nachts wieder so viel gearbeitet hatte. Und ich hing mitten im Tag.

Etwas bedrückter Stimmung sah ich durch das Küchenfenster. Schlafmangel führt nämlich auch zu depressiven Verstimmungen, das hatte ich schon vor längerer Zeit herausgefunden. Draußen war, wie seit einigen Wochen schon, Sonnenschein und Vogelgezwitscher, sogar der Baum wirkte glücklich, wie er sich grün im Wind hin und her wog.

Ich hatte das Bedürfnis, mich zu übergeben.

Falsch, falsch, falsch, hämmerte es in meinem Kopf. Schließlich schien alles so normal und heil. Und normal war nun wirklich nichts mehr, geschweige denn heil. Es war, als hätte jemand in mein Leben gegriffen und es komplett umgedreht.

Das Einzige, was mich davon abhielt, mich sofort wieder ins Bett zu verkriechen, war das Treffen mit Meo. Er hatte nicht gesagt, wann er kommen würde, also musste ich jederzeit bereit sein.

Nachdem ich den Apfelkitsch in den Mülleimer geworfen hatte, riss ich meinen Mund auf und gähnte herzhaft. Dreimal. Blinzelnd fand ich den Weg ins Badezimmer und begann dann, meine Kleidung abzustreifen wie eine alte Haut. Vielleicht würde mich eine kalte Dusche etwas wacher machen.

Und tatsächlich. Kaum wickelte ich mir ein Handtuch um meine triefend nassen Haare, sah die Welt gleich besser aus. Ich konnte mich sogar mit dem Wetter anfreunden. Trotzdem empfand ich dieses typische Unwirklichkeitsgefühl, wie immer, wenn ich extrem müde war, und eine innere Unruhe machte mich ganz hibbelig.

Nach dem Duschen, wartete ich. Zuerst kam Mama mit Benji zurück - dann passierte ungefähr eine Stunde lang überhaupt nichts. Mein kleiner Bruder war in irgendein Spiel vertieft und verlangte, nicht gestört zu werden. Nicht, dass er schon reden konnte, aber Körpersprache sagte manchmal viel mehr aus als Worte.

Gelangweilt saß ich in meinem Zimmer, während meine Haare trockneten, die zuvor dunkle Flecken von der Nässe auf meinem blauen Jeanshemd hinterlassen hatten. Ich föhnte sie fast nie. Ich mochte es, wenn es sich so frisch anfühlte, weil ich sonst weiß Gott kaum jemals einen kühlen Kopf behielt.

Lesen, fernsehen, malen, nichts tun, nichts tun, nichts tun. Ich musste schon aufpassen, dass ich nicht in die Löcher fiel, die ich in die Luft starrte. Das war sehr ungewohnt.

Eigentlich war es ja schon ziemlich dreist von Meo. Ging der davon aus, dass ich hier ausharrte, um ihn dann irgendwann, wenn es dem Herrn genehm war, brav und voller Freude in Empfang zu nehmen? Wie ein Hund sein Herrchen?

Ich spielte mit dem Gedanken, einfach rauszugehen. Oder Mina zu besuchen. Die hatte mich nämlich schon mit Nachrichten bombardiert und brannte darauf, alles über Meo und mich zu erfahren.

Aber da lugte überraschend Mamas Gesicht in mein Zimmer herein.

"Magst du mit uns zusammen essen?", fragte sie lächelnd. "Papa ist auch da."

Endlich etwas zu tun! Ich nickte und sie verschwand wieder, ehe ich die Chance hatte, noch etwas zu sagen.

 

Unsere Küche war groß. Sie hatte eine moderne Einrichtung und alles, was das Herz begehrt. Früher gab es für Mama fast nichts Schöneres, als am Herd zu stehen und ein leckeres Essen für uns zu kochen. Doch diese Zeiten waren vorbei, sie existierten nur in meiner verschwommenen Erinnerung. Genauso wie das ausgelassene Lachen meiner Mutter. Jetzt lächelte sie nur noch stumm. Selten sah ich sie bedingungslos fröhlich.

Aber an diesem Tag schienen sich Mama und Papa sehr gut zu verstehen. Sie kicherten und küssten sich manchmal wie frisch verliebt kurz auf den Mund. Ich hatte noch nie verstanden, warum es anderen Kindern peinlich war, wenn ihre Eltern zärtlich zueinander waren. Für mich bedeutete es so viel Positives: Frieden. Gute Stimmung. Keine Strenge. Und vor allem kein Geschrei. Denn das war das Schlimmste.

Wenn Papa schrie, dann wurde ich aggressiv. Mama weinte eigentlich nur, sie wurde nicht wirklich laut. Ich hasste Beides aus tiefstem Herzen. In solchen Situationen musste ich es immer schaffen, vier Ohren mit zwei Händen zuzuhalten. Meine und die meines kleinen Bruders. Ich hasste es ebenfalls aus tiefstem Herzen, weil ich den Blick von Benji bei den Streits nie vergessen würde. Voller Angst und Traurigkeit. Das sollte kein Kind erleben.

Doch jetzt war es ruhig. Papa erzählte von seiner Arbeit, und niemand wurde sauer. Ich hörte ihm sogar zu. Das schien ihn zu freuen, denn er blühte so sehr in seinem Bericht auf, wie ich es selten erlebte.

Mein Vater war eine spezielle Person. Ich fragte mich oft, ob ich seine Impulsivität geerbt hatte. Er war nämlich ein stark von seinen Gefühlen geleiteter Mensch. Das konnte zwar richtig blöd, aber auch mitreißend schön sein. Ich liebte ihn trotz all seiner Macken und Fehler, das war selbstverständlich nicht abzuschalten. Aber ich hatte schon oft den Wunsch gehabt, dazu fähig zu sein, Papa abzulehnen. Nur ein wenig. Damit er lernte, dass er mit seiner Familie nicht alles machen konnte.

"Dödöööda! Brupp", gab da Benji von sich, und ich musste auflachen. "Ganz richtig", pflichtete ich meinem Bruder bei und zog eine wichtigtuerische Grimasse.

Der verständnislose Blick meines Vaters traf auf meinen. Das reizte mich natürlich, noch mehr zu lachen. Ich biss mir auf die Unterlippe und fragte ihn bemüht sachlich: "Was meinen Sie denn dazu?"

Er schüttelte nur lächelnd den Kopf und schaute auf seinen Teller, doch dann schien er es sich noch einmal anders überlegt zu haben. "Ich bin auch ganz Ihrer, also Benjis Meinung. Das ist doch sehr vernünftig! Dödöööda! Brupp", näselte er, hob das Kinn an und machte ein langes Gesicht. Eine Sekunde herrschte vollkommene Stille. Selbst der Kleine links von mir hatte aufgehört, zu kauen. Dann wieherten meine Mutter und ich los.

Es wurde ein sehr lustiges Mittagessen.

 

Als wir aufräumten, erwähnte ich beiläufig, dass ich verabredet war. Mir war wohler, wenn meine Eltern davon wussten. Warum auch immer.

Ich musste nicht mehr lange in meinem Zimmer warten, denn um zwei Uhr klingelte es. Ich sprang wie elektrisiert auf und rannte aufgelöst in den Flur. Meine Mutter bedachte mich mit einem wissenden Blick und ich dankte ihr im Stillen, dass sie nicht fragte. Weil ich nämlich selbst so wenig Antworten hatte.

Kaum hatte ich die Tür aufgerissen, vereinnahmte mich Meos Ausstrahlung auch schon wieder. So ein Mist aber auch. Musste ich wirklich immer diese Anziehungskraft spüren? Das fühlte sich auf Dauer so an, als würde ich in zwei Hälften gerissen werden. Nicht, dass er die Erde war und ich zu seinem Mond wurde, für immer gefangen in einer von Meteoriten gespickten Umlaufbahn.

"Wohin gehen wir?", erkundigte ich mich ein wenig atemlos.

Er trug ein graues Hemd und dieselbe Kordhose wie gestern. Amüsiert schüttelte er seinen Kopf, als er mir antwortete: "Dir auch einen guten Tag. Und ich verrate doch nicht das Ausflugsziel! Dann ist ja die ganze Überraschung hin."

"Na dann, nichts wie los! Ich mag keine Überraschungen", erwiderte ich, hob meine Tasche hoch und machte die Haustür hinter mir zu.

Er ging vor und ich hörte gerade noch, wie er leise auflachte.

 

"Du hast ein Auto?"

"Nein, das ist das von meiner Mutter", erwiderte Meo. "Sie leiht es mir."

Es war alt und schwarz – keine Ahnung, von welcher Marke. Sein Lack war zerkratzt und das Blech zerbeult, doch irgendwie hatte der Wagen einen gewissen Charme. Sein Innenraum roch nach Leder und Zigarettenrauch.

Ein wenig befangen ließ ich mich von ihm durch unbekannte Straßen einer mir eigentlich vertrauten Stadt fahren. Die Fahrt über schwiegen wir größtenteils, aber das tat mir ganz gut. Mein Kopf war schon randvoll mit Gedanken.

Schließlich kamen wir bei einem Park an. Auf einem verwitterten Schild las ich das Wort Stadtwald. Jetzt erinnerte ich mich – als ich klein gewesen war, hatten meine Eltern oft Picknicke hier veranstaltet. Und eine Sache hatte ich mir ganz besonders eingeprägt: Dieser Park war riesig. Als Kind hatte ich mir immer vorgestellt, er wäre grenzenlos. Ich sah die aufregende Fantasie auch jetzt vor Augen: Die Birken, Eichen und Tannen besiedelten die ganze Welt und in ihren schwankenden Kronen konnte man über ein grünes Meer blicken.

Meo stellte den Wagen auf einem großflächigen Platz ab, der dicht umringt von Bäumen war. Neben unserem Auto standen noch drei weitere Autos auf der Lichtung.

"Dieser Ort ist echt schön", sagte Meo und würgte den stotternden Motor ab. "Ich habe mir überlegt, dass wir einen Spaziergang machen könnten. Was hältst du davon?"

Ich hielt sehr viel davon und so begaben wir uns auf einen Kieselweg, an dessen Rändern links und rechts das Gras wucherte. Es kamen uns fast keine Passanten entgegen. Der leise Wald wurde von der Mittagssonne beschienen und tauchte die Wege vor uns in helles Licht. Es ließ mich sicherer fühlen, an einem Ort meiner Kindheit zu sein und mit jedem Schritt erfüllte mich ein bisschen mehr Frieden.

Doch plötzlich zog mich Meo vom Weg hinunter, mitten in den Wald hinein, und mit dem Frieden war es vorbei.

"Was ist denn jetzt los?", zischte ich perplex und riss meinen Arm aus seinem Griff.

"Mir ist gerade eingefallen, dass ich dir hier etwas Großartiges zeigen kann!"

"Ah ja? Selten solche Romantiker wie dich getroffen."

Er biss sich auf die Unterlippe und lachte in sich hinein. "Liora, du bist wirklich die schlagfertigste Person, die mir je begegnet ist. Und ich habe schon viele Menschen getroffen." Er kam einen halben Schritt näher und legte seine Hand auf meine Schulter. "Bitte gib' den aussterbenden Romantikern wie mir eine Chance. Bei dir weiß ich, dass ich mich nicht lächerlich machen werde."

Ich schüttelte seine Hand ab. "Wie lange kennst du mich schon, Meo?"

Das Braun seiner Augen glühte wie Feuerholz und anstatt mir auf die Frage zu antworten, flüsterte er nur ein Wort.

"Bitte."

Ich verdrehte die Augen. Das war mir wirklich zu viel Drama. "Na gut!", erlöste ich uns von dieser Situation. "Aber wehe, du blamierst dich. Ich will etwas sehen, was es wert ist, sich durch dieses widerspenstige Gestrüpp zu schlagen."

Wir gingen für meinen Geschmack zu weit, die Blätter deckten meiner Meinung nach zu viel Licht ab, aber es lohnte sich.

"Wie hast du den gefunden?", staunte ich.

"Ich gehe doch gerne joggen. Auch in solcher Umgebung. Wie gesagt, ich fühle mich dabei frei."

Wir standen am Rande einer unscheinbaren Lichtung und starrten einem Baum entgegen, der stolz in der Mitte der Waldwiese seine Wurzeln geschlagen hatte. Seine Äste kletterten hoch nach oben, verhakten sich mit anderen und wirkten kraftvoll. Der Stamm war ungefähr zweieinhalb Meter breit, die holzige Haut blätterte an einigen Stellen schon ein wenig ab. Imposant und schutzgebend – das war der Baum vor allem. Aus einem Impuls heraus rannte ich zu seinen dicken Wurzeln und setzte mich auf eine von ihnen. Meo folgte mir gemächlich, dann ließ auch er sich neben mir nieder. Weil ich mich in der plötzlichen Nähe nicht wohlfühlte, klaubte ich ein gelbgrünes Blatt vom Boden auf, drehte es zwischen meinen Fingern und untersuchte es angestrengt.

Plötzlich fühlte ich seine Hand auf meiner. Eine Gänsehaut breitete sich schlagartig bei mir aus, damit hatte ich nicht gerechnet. Ich hob den Kopf und schaute ihn an.

Du sollst mich doch nicht anfassen, weißt du nicht mehr?

Der Sog war stark. Ein Wind schien mich zu erfassen und in der Luft zu zerstreuen, völlig willkürlich. Aber all meine Teilchen verschwanden in seiner Haut. Wenn ich doch nur in seine Seele tauchen könnte …

Trage mich … Fliege …

Die Gedanken in meinem Kopf erschreckten mich am Rande, weil ich sie und ihren Ursprung nicht kannte. Aber ich kümmerte mich nicht viel um sie – denn ich wünschte mir in diesen Momenten nur, dass dieser seltsame Schwindel endlich ein Ende nahm. Und das kam überraschend schnell.

Nämlich, als Meo mich küsste.

 

Anfangs bemerkte ich nicht, dass er näher gekommen war. Bewusst wurde mir das nur durch die sanfte Berührung seines Atems auf meiner Haut. Wie ein warmes Streicheln.

Ich zuckte zusammen. Meine fremden Gedanken wurden lauter.

Entfalte mich … Zeig' mir den Weg, von dem ich abgekommen bin … Ich habe mich verirrt, hilf mir ...

Ich kapitulierte und schloss meine Augen, denn der Schwindel nahm die Überhand. Will ich das wirklich?, fragte ich mich – doch die Frage war ein kleines Staubkorn in einem eindrucksvollen Sturm. Ich hörte sie nicht. Ich fragte nur stumm.

Mein Bewusstsein schmolz zu einem inneren Kern zusammen. Ich war vollkommen ruhig, auf einen Schlag. Ab dem Moment, in dem seine weichen Lippen meine trafen. Ich löste mich von meinem alten Leben. Meo war meine Schwerkraft, mein Universum. Ich würde ihm überallhin folgen.

Und das tat ich dann auch.

 

Alles wurde dunkel.

 

 

Zweiter Teil


Im Körper - Wir öffnen unsere Augen und sind blind

Zwischenspiel

 

 

Das ist nicht fair.

Ich balle meine Hände zu Fäusten und muss beobachten,

wie die Männer sie mitnehmen. Einfach so.

Als wäre sie ihr selbstverständlicher Besitz.

 

Am Fenster steht Hannah und

sieht ihrer Tochter nach.

In ihrem Blick hat sich Vergangenheit schlafen gelegt,

als sie ihr Kind ein zweites Mal verliert.

 

Mein Herz bekommt Risse, so voll ist es.

 

Nein. Das darf nicht sein!

Emotionen sind gefährlich,

das weiß ich doch.

 

Ich wende mich ab.

Sage mir immer wieder, dass ich niemanden liebe.

 

Und doch flüstert es in mir: "Lügner …

Eines Tages wird dich dein volles Herz umbringen."

 

 

Siebtes Kapitel


"Heute ist sie gegangen. Von jetzt auf gleich ist sie diese halbe Ewigkeit von hier zu ihnen geflogen. Ich habe das Gefühl, dass ich die Kälte um mich herum vernichten muss. Sie ist an allem Schuld. Sie und das, was sie mit den Menschen anrichtet.
Sie hat mir mein Kind genommen.
Ich hasse mein Schweigen, es verätzt mich innerlich."

Aus: 'Memoiren der Hannah'

 

"Emmi …"

Eine zarte Berührung an meiner Wange.

"Bist du wach?"

Ich wollte den Kopf schütteln, damit ich in Frieden weiterschlafen konnte, bis mir einfiel, dass sich das widersprechen würde. Also öffnete ich meine Augen.

Grelles Licht blendete mich, sodass meine Augen schmerzten. Ich blinzelte, bis ich etwas erkennen konnte.

Wo war ich?

Ich lag auf einem Bett mit weißer Bettwäsche. Überall an mir waren Schläuche befestigt, führten unter meine Haut. Aber der leere Raum, in dem ich mich befand, sah überhaupt nicht nach Krankenhaus aus. Er war kahl und die Wände grau, wie bei einem Keller. Rechts und links von mir standen insgesamt fünf Infusionen. Der Geruch von abgestandener Luft drängte sich in meine Nase und blieb dort so hartnäckig, dass es mir unmöglich war, ihn auszublenden.

Und an der Seite meines Bettes saß eine mir völlig unbekannte Frau.

Ich fuhr hoch, dabei hatte ich Schmerzen am ganzen Körper. Alles an mir fühlte sich fremd an. Meine Glieder waren schwer und schlapp. Als wäre ich aus einem Tiefschlaf erwacht und hätte verlernt, meine Bewegungen zu koordinieren.

"Shhh, beruhige dich. Ich erkläre dir alles", sagte die Frau. Ihre Stimme klang gedämpft. Beinahe konnte ich mir einbilden, mich unter Wasser zu befinden, so verzerrt nahmen meine Ohren Geräusche wahr. Ich versuchte, meine Sinne zu beruhigen und die Reize, mit denen ich konfrontiert wurde, zu filtern, aber das Ergebnis war, dass mich nur weitere Eindrücke gnadenlos überfluteten.

Irgendetwas war grundlegend falsch. Mit jedem Herzschlag schoss mehr und mehr Panik in meine Blutbahnen. Abwehrend schüttelte ich den Kopf, dabei verschwamm mein Blickfeld leicht. Mir wurde klar, dass ich erst einmal mein Gedächtnis auffrischen musste. Vielleicht konnte ich mir das ja irgendwie erklären.

Doch – was war überhaupt geschehen? Meine Gedanken waren schwerfällig, und als mir die Sache mit Meo einfiel, gewann meine Panik an noch mehr Macht. Hatte er mich etwa entführt?

Die Erinnerung an den warmen Sommertag mit ihm im Wald schien weit, weit entfernt.

"Du bist in Sicherheit … Liora. Hab' keine Angst."

Ich wendete mich abrupt der Frau zu, die ich fast vergessen hatte. Da sie meinen Namen so zögerlich aussprach, erinnerte ich mich daran, dass sie vorher "Emmi" gemurmelt hatte. Meinte sie damit mich? Aber das war doch nicht ich…?

Ich musste ihr anscheinend wohl oder übel zuhören.

Vorsichtig betrachtete ich sie. Die Frau war trotz ihres Alters eine Schönheit. Sie hatte ihr dunkelbraunes Haar zu einem langen Zopf geflochten, der seitlich über ihre Schulter fiel. Einige Strähnen darin blitzten grau auf. Wie ich hatte sie eine dunklere Hautfarbe, die ihre blattgrünen Augen besonders aufleuchten ließ. Diese erinnerten mich an etwas, das ich irgendwie nicht benennen konnte – die Frau kam mir einfach bekannt vor. Mir fiel auf, wie wolkenlos ihr Lächeln war.

"Hallo", sagte sie da und legte so viel Wärme in ihren Blick, als würde sie mich schon seit Ewigkeiten kennen. "Ich bin Hannah."

 

Dass mein Zuhause sehr weit weg war und es ihr sehr leid tat, erfuhr ich als Erstes. Sie sagte es immer wieder und sah dabei selbst ziemlich verzweifelt aus. Es wirkte hilflos, wie sie den Reißverschluss ihrer weiten Jacke beständig ein kleines Stück auf- und wieder zuzog.

"Aber wie komme ich wieder zurück?", fragte ich kleinlaut. Mein Herz hatte sich inzwischen wieder beruhigt und auch meine Gliedmaßen fühlten sich stärker an. Außerdem sah ich wieder scharf und mein Hörvermögen hatte sich gebessert. Trotzdem waren meine Sinne noch immer hoffnungslos überfordert mit der Situation.

Hannah schüttelte den Kopf und schwieg. Ich stierte sie verständnislos an, bis ich langsam begriff.

"Das kann ich dir nicht sagen. Aber es sieht nicht gut aus", antwortete sie schließlich und vermied es, mich direkt anzusehen.

"Es sieht nicht gut aus", wiederholte ich ihren Satz flüsternd und sank Stück für Stück in mich zusammen. Wo war ich hier nur hineingeraten? Passierte mir das tatsächlich, oder war es am Ende gar nicht real? Ich starrte meine Hände an, aber sie waren klar umrissen und nicht das kleinste bisschen verschwommen.

"Liora, du bist nun in der Wirklichkeit; so schwer das auch zu verstehen ist. Und in deinen Traum zurückzukehren, das – das ist in der jetzigen Situation –" Sie hob ihre Schultern und Arme, nach Worten suchend.

"Moment.“ Kälte beschlich meine Glieder. „Wollen Sie damit sagen, dass ich bisher in einem Traum gelebt habe?"

Eine Weile war sie unentschlossen, doch dann nickte sie zögerlich. "So ähnlich. Das ist alles sehr komplex, viel komplexer, als du es dir jetzt vorstellen kannst, Liora. Aber mit der Zeit wird dir einiges aufgehen."

"Das glaube ich nicht", sagte ich mit einer zu hohen Stimme. "Warum sollte ich Ihnen vertrauen? Wie kann mein Leben ein Traum sein? Das ist doch absurd!" Der Keller vor meinen Augen begann, komisch zu schwanken. Wie das Meer auf stürmischer See, wenn man durch das Bullauge schaut. "Was ist eigentlich mit Meo?", fragte ich hastig. "Kennen Sie den?"

"Erst einmal: Duze mich doch bitte." Ein schiefes Lächeln bemühte sich auf ihre Lippen. "Und ja, Meo kenne ich sehr gut. Ich denke, er wird auch bald hier auftauchen."

Dass ich ihn wiedersehen würde, verringerte den Sturm hinter meinem Bullauge nicht gerade. Angst, Wut, Verwirrung – alles tanzte auf den Schaumkronen der Wellen. Ich erinnerte mich an den mehr oder weniger unfreiwilligen Kuss. An diese starke Kraft, die an mir gezerrt hatte. Mir wurde schlecht. Ich hatte keine Ahnung, was da passiert war – und nun war ich hier.

"Wollen wir dich einmal von all diesen Instrumenten befreien?", fragte Hannah und teleportierte mich damit vom unheimlichen Meer zurück in den Kellerraum. Ich nickte dankbar. Sie stand auf und beugte sich über mich, dann schnürte sie die erste Infusion mit einer Klammer ab. Während sie mit ihrer Arbeit fortfuhr, nutzte ich die Gelegenheit und versuchte, mehr über diese verquere Situation zu erfahren.

"Wozu sind die ganzen Dinge eigentlich da?" Ich erschauerte, als sie mir einen Schlauch aus dem Arm zog. "War ich in Lebensgefahr?"

"Nein, das nicht. Auch das ist sehr kompliziert."

"Und wann kapiere ich diese komplizierten Sachen endlich?"

Sie warf mir einen Blick zu. "Das hängt eigentlich von dir ab. Wie viel Wahrheit du verträgst." Mit einem Ruck entfernte Hannah etwas von meinem Kopf und ein scharfer Schmerz fuhr durch meinen Körper. Was war das denn bitte gewesen?

"Ich möchte gerne jetzt sofort alles erfahren", verlangte ich, während ich beobachten konnte, wie Hannah etwas aus ihrer Hand in ihrer Jackentasche verschwinden ließ. Wahrscheinlich das Ding, was an meinem Kopf befestigt gewesen war.

Sie lachte kurz freudlos auf. "Das mute ich dir nicht zu. Wir machen das in Etappen, in Ordnung?"

Ich zuckte die Schultern. Was für eine Wahl hatte ich schon?

Nach einer kleinen Tortour war ich vollkommen frei und das fühlte sich eindeutig besser an, auch wenn einzelne Stellen meines Körpers noch immer wund waren.

"Ich muss jetzt leider gehen, Liora. Aber vorher habe ich noch etwas für dich." Hannah zog meinen alten Teddy unter dem Bett hervor, dem ein Auge fehlte, und ohne den ich früher nicht hatte einschlafen können. Gerührt starrte ich ihn an. Ich machte mir noch nicht einmal die Mühe zu fragen, wo sie ihn herhatte und warum sie von ihm wusste.

"Danke", flüsterte ich und drückte das Kuscheltier an mich.

"Wenn du etwas brauchst, betätigst du einfach den roten Knopf, der hier am Bettgestell eingelassen ist, okay?"

Ich nickte und gähnte ausgiebig. Müdigkeit trieb mir plötzlich Tränen in die Augenwinkel. War etwa ein Schlafmittel in den Infusionen? Aber Hannah hatte mich doch von ihnen befreit … Ich gähnte erneut. Es war mir egal. Alles war mir in diesem Moment egal. Hauptsache, ich konnte endlich diesem Wahnsinn entkommen.

"Du wirst hier nicht herauskommen können, aber das ist zu deiner eigenen Sicherheit, vertrau' mir. Nach einer Weile wird sich aber auch das ändern."

Als sie merkte, dass mir die Augen zufielen, sah ich sie lächeln.

"Schlaf gut, du hast eine lange Reise hinter dir", sagte sie und strich mir über den Kopf. "Wir sind hier, mach dir keine Sorgen, Emmi."

Hat sie mich gerade wieder so genannt?, dachte ich benebelt, doch dann senkte sich schon eine unverkennbare Schwere über mich und ich schlief erschöpft ein.

 

Ich wachte nachts auf. Zuerst wollte ich das Licht auf meinem Nachttisch anmachen, bis ich bemerkte, dass ich in pure Leere griff. Und das war auch der Moment, in dem ich mich erinnerte.

Die Tränen kamen sofort. Sie schossen mir über die Wangen, und ich brach in hysterische Schluchzer aus. Es machte mich fertig, dass die Deckenlampen nicht mehr an waren, denn so konnte sich meine Angst noch breiter machen, als sie es sowieso schon tat. Die Nachtwände rückten näher, engten mich ein.

Wo bin ich bloß?, hallte es pausenlos durch meinen Kopf. Ich sehnte mich wie nie zuvor nach meiner Familie.

Blind tastete ich nach meinem Teddy und presste ihn gegen mein Gesicht. Versuchte, den bekannten Geruch einzusaugen. Aber er war nicht da. Er roch nach nichts, ich fühlte nur das alte Fell an meiner Haut und die heißen Tränen, die in den Stoff sickerten.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 18.03.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Diesen Roman widme ich meinen Eltern.

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