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Allein



Peter hatte sein Leben satt. Er wusste nicht weiter. Er konnte es nicht mehr ertragen. Er musste etwas ändern.
Jeden Tag die gleichen Menschen, die ihn nervten und auf der Straße ansprachen, ob er nicht etwas kaufen wolle.
Einmal hatte er sich in die unergründeten Tiefen einer Diskussion mit einem Gemüsehändler verstrickt. Es ging um Avocados. Der Händler behauptete doch tatsächlich, diese Früchte seien Obst, ganz entgegen von Peters Überzeugung sie seien Gemüse. Dies ist nur eines von zahllosen Beispielen, warum Peter lieber für sich war, anstatt in Gesellschaft.
Täglich lagen neue Werbeprospekte in seinem Briefkasten, obwohl er immer wieder einen „Bitte keine Werbung“ Aufkleber daran befestigte.
Im Radio liefen immer dieselben Songs von irgendwelchen Newcomer Bands, die nach ein oder spätestens zwei Monaten wieder vergessen waren.

Jeden Tag begrüßte Alicia Gwen, seine persönliche Sekretärin, die ausgesprochen attraktiv war und ebenso intelligent ihn, bevor er sich wieder einmal über den anscheinend immer weiter wachsenden Berg von Akten in seinem Büro hermachte.
Rangniedrigere Kollegen meinten sie müssten ihn mit Komplimenten über seine letztwöchige Präsentation überschütten, malten sich dadurch eine Chance aus auch einmal auf die oberste Sprosse der Karriereleiter klettern zu können und vielleicht irgendwann auch nur einen Bruchteil dessen zu schaffen, was er erreicht hatte.
Sie alle träumten davon ein nahezu paradiesisches Leben wie das seine zu führen. Er hatte eine Villa an der Südküste Italiens. Er hatte einen Privatjet. Er hatte eine wunderschöne Frau geheiratet. Und zu allem Überfluss hatte er auch noch das gute Aussehen eines Fehrnseharztes aus einer Soap.

Er hatte es ein für alle mal satt, dass ihn jeder wie etwas besseres behandelte.
Nichts wünschte er sich mehr als die vollkommene Einsamkeit. Aber: Sich umbringen – Nein! Dazu war er ein viel zu stolzer Mensch. Es gab andere Wege…weitaus bessere.

Die anderen werden es nicht verstehen aber ich werde etwas ändern.
Ich werde es besser für mich machen! So kann es einfach nicht weitergehen!
Ich ziehe irgendwo hin, wo mich niemand findet und ich ungestört sein kann!

Er kannte einen Ort, an dem nicht einmal Tiere es wagten zu leben, da regelmäßig mannshohe Todeswellen über den Strand wie hungrige Hyänen über den Kadaver eines toten Tieres herzogen. Dieser Platz lag einige Meilen entfernt. So machte er sich nun schleunigst auf den Weg.
Er raste mit seinem Mustang geradeaus durch die Stadt, als würde er von der berüchtigten Maffia verfolgt werden. Während der Fahrt trennte er sich von seinem Handy, seinem Piepser, und seiner Armbanduhr…wenn man allein ist, spielt die Zeit keine Rolle mehr.
So kam es, dass er an den äußersten Rand der Küste zog.
Peter hauste in dem alten Leuchtturm, der schon zu Zeiten des kalten Krieges gestanden hatte.

Endlich! Ich kann ungestört mein Buch zu Ende schreiben!

Er setzte sich auf die steil aufragenden Klippen vor seiner neuen Unterkunft. Heute war besonders schönes Wetter. Die Sonne brannte heiß vom Himmel und das regelmäßige Rauschen der Wellen erfüllte die Luft. Genüsslich sog er den salzigen Duft des Meeres und den modrigen Geruch von Moos ein.

Hier wird mein Buch mit Sicherheit ein hervorragendes Ende finden!

Er rappelte sich auf und stieg die sich im Kreis nach oben windenden Treppen des Turmes hinauf. Einige Tage vergingen genauso wie der erste. Schönes Wetter und viele tolle Ideen für sein Buch bescherten Peter immer bessere Laune.
Doch dann brach ein schlimmes Unwetter an. Man konnte die Hand vor Augen nicht mehr sehen, so dicht war der Nebel. Der Wind brauste über das Land und durchzog jede Ritze von Peters neuem Heim. Die Wogen des Meeres peitschten die Wände des Leuchtturmes mit geballter Kraft. Es schien fast, als würde er einstürzen unter den immer stärkeren Angriffen des Wassers. Doch er war standfest gebaut und wog sich gegen den gefährlichen Sturm auf.
Als sich das Unwetter gelegt hatte, war die Landschaft verwüstet. Der Leuchtturm jedoch hatte es ohne auch nur einen Kratzer überstanden und prangerte, nun immer noch blinkend, hoch in den wolkenverhangenen Abendhimmel hinauf. Abgebrochene Bäume lagen vereinzelt am Strand, nasse Sandhügel erhoben sich von der Erde. Ein paar tote Fische, welche mit den hohen Wellen ans Ufer gespült worden waren, lagen herum. Peter lief nach oben um nachzusehen, ob alles in Ordnung war, denn sonst hätte er den Versorgungsdienst rufen müssen. Zum Turm gab es keinen Zufahrtsweg, deswegen besaß Peter nun auch kein Auto mehr.
Nichts erinnerte daran, dass einige Meilen entfernt eine kleine Stadt lag. Man hätte meinen können, der Strand mit dem Leuchtturm, dem unberechenbaren Meer, und seinen Abermillionen Sandkörnern sei einen eigene kleine Welt.

Jedoch eine Welt ohne Freude.

Als diese Unwetter immer öfter kamen, fühlte Peter langsam was es hieß wirklich und wahrhaftig einsam zu sein. Anfangs rief nach einem besonders starken Unwetter noch manchmal der örtliche Versorgungsdienst an und um zu erfahren ob der Leuchtturm noch instand war. Dies hörte sich aber nach einer Zeit auch auf.
Peters Buch war jetzt schon fast fertig geschrieben, aber ihm fiel einfach kein passender Schluss ein. Stundenlang saß er vor seinem Schreibtisch ohne dass er auch nur einen einzigen Buchstaben schrieb. Langsam stieg in ihm ein Gefühl von Ratlosigkeit auf und er füllte sich nutzlos und allein.

„Hallo...? Ist da irgendjemand?“ schrie er oft verzweifelt aufs Meer hinaus, als hoffte er eine Antwort zu bekommen. Ebenso kniete er manchmal sehr lange vor dem alten Telefon und wartete, hoffte, betete, dass jemand anrief. Aber es rief nie jemand an. Genauso wenig, wie er nie eine Antwort auf seine Schreie hinein in den Ozean erhielt.

Diese Verlassenheit macht mich langsam wahnsinnig!
Doch um das zuzugeben und zurück in die Stadt zu gehen, dazu war Peter einfach zu stolz...

Eines grauen Tages, als er wieder einmal von dem Getöse eines morgendlichen Sturms erwachte, sprang er plötzlich auf. Er hielt den Atem an, um auch ja kein Geräusch von sich zu geben, das seine Sinne hätte trüben können.

Was war das? Ich habe doch etwas gehört!

Er sprang auf, zog sich seine Pantoffeln über die Füße und horchte noch einmal auf. Da war es wieder. Dieses Geräusch das einer menschlichen Stimme zum verwechseln ähnlich war. Er sprintete so schnell er konnte die Treppe hinunter. Auf halber Höhe kam er ins rutschen und knallte mit den Schienbeinen gegen das Treppengeländer. Er rappelte sich auf und lief nun zwar noch schnell, jedoch etwas vorsichtiger weiter. Er hatte es noch einmal gehört…unten vor dem Turm. Er stolperte den Rest der Treppen hinunter und riss mit viel Kraft die schwere Eisentür seiner Behausung auf. Das einzige was er sah war aber nur die nächste riesige Monsterwelle, welche ihn mit eisigem Wasser durchnässte.
Er stand wie angewurzelt da. Dabei war er sich doch so sicher gewesen jemanden gehört zu haben. Entzürnt warf er dem sich neckisch hin und her schaukelnden Ozean einen letzten Blick zu, bevor er wieder rein ging.

Nein! Ich lass mich doch von ein bisschen Wasser nicht lächerlich machen! So kann es ich nicht länger weiterleben!

In dem Moment, da er oben in seinem Zimmerchen angelangt war, und die Finsternis in seiner Seele wahrnahm, fasste er einen Entschluss. Er hatte einen Plan. Einen Plan der ihn von allen irdischen Problemen erlösen sollte.
Er drehte sich noch ein letztes Mal, um noch ein einziges Mal auf die immer wieder aufblinkenden Lichter zurücksehen zu können. Dann ging er Schritt für Schritt zurück…immer weiter. Bis seine Füße die nackte Betonwand hinter ihm erreichten. Er stieg rückwärts auf den niedrigen Fenstersims. So stand er für einige Augenblicke da.

Herr über sein Schicksal.
Herr über Leben oder Tod.

Einen letzten Blick auf die schmächtige Ausstattung des kleinen Zimmers gönnte er sich noch. Da an der Wand gegenüber dem Fenster, auf welches er geklettert war, stand sein Schreibtisch. Auf diesem lagen einige Stifte, einige Skripte für sein Buch und seine Kaffeetasse, sowie das uralte Telefon mit Wählscheibe.
Als er es damals zum ersten Mal gesehen hatte, war er sich nicht darüber im Klaren gewesen, wie sehr er sich einmal wünschen würde, das nervtötende klingeln zu hören.

Ein letzter Schritt rückwärts, während er sich in Richtung Meer drehte und er fiel.
Während er flog kam ihm plötzlich ein guter Schlussgedanke für sein Buch, in welchem er über die Schmerzen schrieb, die die Liebe verursachen konnte.

Lässt dich fallen, weich wie Schnee.
Erst wird es heiß, dann kalt.
Am Ende tut es weh!



Naja es war zu spät er hätte gerne noch den letzten Satz geschrieben, aber er war ja schon im Begriff zu sterben.
So ließ er nochmals alles auf sich einwirken.
Der schwarze Himmel, der über ihm thronte wie ein König, der zu einem Sklaven hinabschaut.
Das brodelnde Meer unter ihm, das unerlässlich tödliche Wellen gegen die Klippen schlug.
Der wohltuende Geruch von Salz in seiner Nase.

Das Brüllen und Ächzen des Meeres....

Was war denn das?!

Er hörte gerade noch das Klingeln des alten Telefones, als er sich endgültig dem brausenden Sturm hingab und in den unendlich schwarzen Tiefen des Ozeans verschwand.


Eine Geschichte von Lisa Hirschmann


Impressum

Tag der Veröffentlichung: 07.08.2011

Alle Rechte vorbehalten

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