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Das ist der Anfang. Sorry, ich mag klare Ansagen. Brauch ich einfach, sonst dreh ich durch. Wie viel Uhr und wie viele Sekunden ist es noch mal? Nein, scherz. Ich hasse Zahlen. Gewöhnt euch dran, ich bin so. Atmen, Romy, atmen. Ich weiß. Letztens bei You Tube, hab ich ein Interview gesehen. Was bedeutet Liebe für dich? Das war die Frage, die ich meine. Ziemlich tiefsinnig, oder? Das hab ich gedacht. Sehr kreativ für ein Interview. Wow. Sehr, sehr clever. Liebe ist, wenn ich morgens auf dem Sofa aufwache und spüre wie Bounty aufsteht und dabei versucht mich nicht zu wecken. Wenn ich höre wie er durch das Zimmer tapst, auf Zehenspitzen und scheitert beim leise sein, weil er so ungeschickt ist und außerdem auf Turky. Das ist süß. Nicht? Wie auch immer. Ich weiß schon, ich versteh's ja. Wenn man nicht so verdammt sensibilisiert ist auf diesen "Junkies sind keine richtigen Menschen- Kram", dann schon. Das er nach so vielen Morgen, nach so vielen, vielen Morgen an denen er neben mir aufgewacht ist, immer noch sooo rücksichtsvoll ist. Was ich an Bounty liebe? Er kann machen was er will, das ist es. Er kann machen was er will, kotzen, klauen, lügen, morden oder nichts von alle dem und nur rumgammeln und South Park gucken. Er kann sich alles leisten, er kann er selbst sein solange er will oder versuchen jemand anders zu sein. Was ich also an ihm liebe? Nichts und alles. Nichts wie nichts und vor allem alles. Solange ich ihn liebe, liebe ich das an ihm, denn so liebe ich und so liebe ich auch ihn, denn er ist keine Ausnahme, auch wenn er manchmal vergisst zu rudern oder das Ruder verliert, weil er es losgelassen hat. Gib mir das Ruder, Baby! Er wirft es ins Wasser. Das ist Bounty. Denk nach, Bounty! Das Paddel treibt doch weg, verdammt! Okay. So ungefähr. Süß? Man sollte ihn süß finden, das ist meine Meinung aber die ist ja nicht objektiv. Sagt man in meiner Familie. Jeder Topf hat einen Deckel, shit, bin ich ein Wok? Nicht witzig! Nein, es ist viel mehr so. Meine bessere Hälfte ist wirklich meine bessere Hälfte, ohne Phrasenminus, denn Bounty ist genau das was ich liebe und somit das erstrebenswerteste Ideal überhaupt. Also, für mich. Nicht vergessen, ich bin verrückt. Nein, ernsthaft, war mal in Behandlung. Kennt ihr diese Krankheit, bei der man immer Sachen sagt, ohne es zu wollen? Aber, ich verrenne mich, ich weiß. Denn, das hier klingt vielleicht beschwingt aber nein, nein. Es wird nur beschwingt geschrieben, weil ich gerade einen guten Tag habe. Bounty liebt mich nämlich wie blöd. Das ist der einzige Grund. Und das ich noch nichts weiß von all dem Scheiß, der auf mich zukommt. Schulden und so. Ich häng mit drin. Unvorstellbar, oh mein Gott. Wie auch immer. Jetzt ist es soweit.
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Der Zirkus ist in der Stadt. Und das Gefühl, dir wird jede Lüge geglaubt. Und nur einer sieht mehr. Schön wär's. Und Bounty? Er sollte wirklich wieder zu seinem Vater, auch wenn er nicht hin will, im Moment. Trotzdem ist es süß wenn er ihn umarmt und mit verstellter Stimme Sachen sagt wie, "warum hast du mich hässlich und glänzend gemacht, Dad?" "Wer hat das gemacht?" "Du warst es. Ich habe Pickel und ich glänze und ich bin nicht glücklich." Die Beiden lachen dabei und Bounty raucht und legt die Füße mit Socken auf den Tisch. Und er wird wieder zum Kleinkind, na ja, jedenfalls kann er auch so tun als wäre er keins mehr. "Du meinst, du lädst das auf mich?" "Yeah." "Ich bin okay." "Ich auch." Und sein Vater kneift ihm in den Arm und küsst ihn auf die Wange. Das ist eine unkonventionelle Begrüßung, oder? Er und sein Dad. Wenn jemand seinen Vater mit richtigem Namen anredet, dann sagt er immer "du meinst meinen Dad?" und grinst und wackelt mit den Füßen. Falls er gerade auf dem Sofa sitzt und die Füße hochlegt. "Wir dachten es wäre süß ihn mal einen Joint rauchen zu lassen," erzählte er mir mal, sein Dad meine ich. Eigentlich erzählt er diese Story allen Möglichen Leuten. "Wir waren alle Idioten damals, so was mit unseren Kindern zu machen, aber hier, guck ihn dir an, er ist okay, heutzutage." "Ich kann meine gottverdammten Autoschlüssel nicht finden," sagte Bounty bestätigend. "Naja, sorry, ich finde das Auto nicht," sagte sein Dad und beide kugelten sich.
"Naja, da ist schon was dran aber allgemein, bin ich glücklich, das er da ist."
Bounty kicherte verlegen und ein bisschen manisch. Und etwas war in seinen Augen, das nicht gut war aber das wusste damals noch niemand.
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Er sitzt in einem Streifenwagen, wie ein kleiner Junkie und lässt den Blick verstört und unbestimmt schweifen. Große Augen. Baby, denk ich. Mehr nicht. Wenn ich nur daran denke, wird mir schlecht. An ihn denken, macht mich krank. Warum kann er nicht sicher sein, irgendwo. Irgendwie geborgen. Bei mir, in meinem Bauch oder irgendwo anders eingeschlossen. Mutterkomplex? Nein, nein. Er muss nur sicher sein. In einem Zimmer voller Kuscheltiere. Voller liebender Mütter und mütterlicher Väter. Das ist es doch was er braucht, theatralisch und melodramatisch wie er ist und immer bleibt. Ich bin nicht besser. Aber ich liebe ihn. So sehr. So sehr! Ich fluche es und schreie es in meinem Kopf. Es krallt sich fest an meinem Hirn. Meine Liebe tut weh. Ich komme mir vor, wie in einem Supermarktroman, wenn ich allein bin. Wie in einem schlechten 80er Jahre Film. Steril und dekadent. Kaputt und oberflächlich. Aber scheiß drauf, ich spinne nur.
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Das ist doch alles Scheiße, denkt Bounty. Er würde es am liebsten laut sagen. Das wird auch echt nicht besser. Der Abend ist jetzt nämlich im Eimer. Übrigens. Scheiße. Er könnte es natürlich laut sagen. Aber er macht es nicht. Denk an und mich, Baby.
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Ich gehe die Treppe rauf. Nicht in den Himmel. Die Treppe rauf, in die Hölle. Schon eher. Aber schön wär's. Zu seinem Dealer. Hazel.
"Hi", sag ich tonlos. Ich klinge schon nach meinem Baby. Ausgekotzt und ungeschützt.
Hazel Bazel schweigt, so scheiß selbstbewusst, ich hasse das.
"Ich will Schulden wett machen", sage ich. "Kann ich?"
"Jederzeit."
Ich nicke. "Jetzt."
"Komm rein, ich hab Besuch da."
Ich folge ihm in seinen scheiß Loft. Es ist gemütlich und harmlos. Sauber, nicht zu sauber. Nett. Hazel ist ein Mensch. Das macht mich kaputt, jedes Mal. Die Musik, die gerade läuft erinnert mich an meinen Vater. Mein Vater erinnert mich an meine Mutter. Meine Mutter. Nein, nein. Stopp. Das sollte mich an was anderes erinnern.
"Sweet, Lenny, Wick." Hazel deutet im Vorbeigehen auf drei abwesende Typen. Sie trinken Bier und rauchen American Spirit. Sehen nicht aus wie Junkies. Auch nicht wie Stricher. Aber verdammt, der eine, der der Wick heißt, sieht aus wie Hazel.
"Hey", sagt er. "Kann ich mitmachen?"
"Nein", sagt Hazel. "Fick dich selbst, da ist das Klo."
Wick sieht mich fragend an.
"Kostet extra", sag ich. Wick gluckst.
"Ach, tu nicht so", sagt Hazel.
Ficken, denke ich abwesend. Hässliches Word. Mein Baby wird nie gefickt. Nicht von mir jedenfalls. Also wirklich. Nur geliebt.
"Komm", sagt Hazel. Er will es im Schlafzimmer.
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Mein Baby macht währenddessen auf starken Mann im Streifewagen. Ironie, natürlich. Wenn er bloß die Klappe hält. Er macht so gut wie er kann. Wie immer. Ein klägliches Theater. Er hat Angst vor den Bullen. Die hauen ihm eine rein, ab und zu. Ich hasse Bullen! Braucht nur einen Finger krumm machen und schon hat er eine sitzen oder liegt auf dem Boden, den einen Arm kurz vorm brechen und den Mund im Asphalt. Aber um sich zu beherrschen fehlt es ihm ja auch. "Lass mich in Ruhe, okay?" Murmelt er und verkriecht sich in die äußerste Ecke des Sitzes. "Nicht anfassen." Er zieht die Beine an und versteckt sein Gesicht mit fahrigen Händen, hinter seinem Lederjackenkragen. Ich will nichts. Aber was würde ich dafür geben bei ihm zu sein.
+
"Fang an." Hazel sitzt auf dem Bett und schlürft Sekt. "Tanzen."
Ich tanze. Ja, sieht bescheuert aus. Weil ich ein sehr verkrampftes Körpergefühl habe. Für eine Tänzerin. Und überhaupt aussehe wie bei Woodstock, ich meine den Tanzstil.
"Dafür 50 Mäuse? Mach doch mal, was ein Kaninchen so macht. Das würde jede Kioskverkäuferin besser hinkriegen."
Okay. Gefühl. Lass dein Gefühl in deine Arme gleiten. Hat er was gegen Ausdruckstanz?
"Hopsen. Höher. Und nicht so stumpf, du bist ein Häschen, kein Känguru. Bounty macht das besser, übrigens."
Nicht zu fassen. Ich meine, ich trage ein Hasenkostüm, was will man da erwarten? Und Bounty? Bounty hat eben die Essenz des Kaninchens erfasst. Im Innersten tickt es so und so. Ich weiß es ja auch, aber ich kann eben nicht tanzen. Was macht ein Kaninchen? Futter suchen, klar.
"Die Umsetzung fällt mir ein bisschen schwer", sag ich. "Tut mir leid. So besser?"
"Können Kaninchen sprechen?"
10 Dollar Erlass. Ich komme aus dem Schlafzimmer und fühle mich wie ein außerirdisches Stück Pudding. Völlig verwirrt. Kurz vorm kotzen und mein Kopf voller schräger Kacke. Heiß, zitternd und eiskalt.
Zwei der Typen sind weg. Wick ist noch da. Er starrt mich an, als wäre was.
"Was?" Sag ich.
"Was hast du?" Fragt er. Schaf. Mein Herz macht manische Sprünge. Verbring du ne Stunde in diesem Ding.
"Nichts, wieso? Was ist mit dir? Was ist das hier überhaupt?" Sag ich. Klingt verrückt. Ist es auch.
"Du siehst scheiße aus. Hast du Fieber?"
"Frag deinen großen Bruder, der ist hier die moralische Instanz.
Halt dich fern von Leuten, die du nicht kennst", sag ich. "Ich muss hier raus. Tschüss."
+
Erzählst du mir eine Geschichte? Natürlich sagt er das mit verstellter Stimme. Weil er weiß, dass ich das mag. Okay, Bounty. Es war mal ein armer Händlerssohn, namens Hazel. Wenn ich arm sage, ist das nicht auf seinen Reichtum bezogen, der zweifellos ziemlich groß war. Er lebte in einem Schloss, ganz aus Marmor, am Rande der Stadt. Früher hatte er manchmal getanzt. Seine Mutter war Tanzlehrerin gewesen. Er musste also tanzen, weil sie es wollte und er war der einzige Junge in der Gruppe und so weiter. Bei einer Aufführung hatte er die Rolle des Häschens aufs Auge gekriegt. Seine Mutter wusste wahrscheinlich nicht wie quälend das war. Hüpfen, schnüffeln und jetzt tanzen, tanzen! Seid dieser Zeit hatte Hazel eine Schwäche für Hasenkostüme und unfähige Tänzer. Es gibt keine schlechteren Tänzer als Junkies. Also holte Mr. Hazel Bazel sich alle Junkies der Stadt, nahm ihnen ihr Geld ab und lies sie tanzen, wie die Puppen. Die Rolle des mächtigen Tanzlehrers gefiel ihm eben. Wenn er nicht gestorben ist und so weiter... Und so weiter? Das war das Ende? Also nein! Bounty ist schockiert. Meinst du das ernst, Bounty? Natürlich! Okay, dann ein anderes Ende. Jap, bitte. Er kam in den Kerker? Hmm, okay -, das ist gut. Wollen wir schlafen? Cool.
+
Ich lass mich von ihm verarschen für nichts, denke ich während ich die Treppe runter laufe. Er wird mich linken. Er wird uns linken. Du bist dumm, dumm, dumm. DUMM. Ich krame einen kleinen Zettel aus meiner Tasche, sobald ich in der Bahn sitze. 22.03.2012, - 10, schreibe ich drauf. Bringt nichts, ich weiß. Eine endlose Liste, ich weiß, ich sehe es. Aber was wäre ich, wenn ich nicht jung und dumm wäre? Was bliebe dann noch übrig? Lieber nicht antworten. Nichts, nichts, nichts.
Ich habe schon mal einen Abschiedsbrief geschrieben. Wenn mein Baby ihn sehen würde, würde er große Augen machen. Er wäre schockiert. Ich schrieb ihn allein, in meinem Badezimmer, neben dem Klo, mit fast einer ganzen Flasche Wodka im Blut. Oder war's ne halbe Flasche Bier?


Früher hab ich Postkarten geschrieben, habe ich geschrieben. Früher habe ich geschlafen, nachts. Aber seid ich dich kenne, hat sich das geändert, Baby. Seid dem hab ich nicht mehr geschrieben. Keine verklärten Gedanken mehr in schwärmerische Worte gefasst. Seid ich dich kenne, bin ich immer wach.
Dabei wollte ich nur einen Schatz wie dich, zum halten und streicheln. Ich wollte nur Händchenhalten, mehr wollte ich nicht, denn das ist alles für mich.
Du hast gesagt, bitte halt meine Hand.
Du hast mich streicheln lassen und warst mein verschmuster bester Freund.
Wie ein kleiner Clown. Oder wer auch immer.
Wenn du mich ansahst, mit Augen aus, in Champagner schwimmendem Bernstein, trotzdem Grün und sagtest "Mach ich. Ich liebe dich.", dann warst du so rein, du warst die pure Unschuld. Das vergesse ich nicht und es tut immer noch weh, weil es so schön ist und ich mich dumm und schuldig fühle, deswegen. Wie kann ich dich verlassen? Ich weiß es nicht. Ich bin tot.
+
Die Bahn ist leer. Die üblichen Leute, die sich nachts so herumtreiben. Alkoholiker, Penner, Partyleute, einsame Gestalten, die von der Arbeit kommen. Die letzten pennen immer. Das grelle Licht hier drin fängt sie alle, ob sie wollen oder nicht. Ich hab keine Angst. Mein Herz schlägt nicht im Hier und Jetzt.
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Bounty hat Bauchschmerzen. Er hockt verkrampft auf dem Boden und sieht sich Hilfe suchend um.
"Was ist los mit ihm, hä?" Sagt einer der Bullen.
"Hast du Schmerzen?" Sagt der vom Thresen. "Bist du auf Entzug?"
Bounty lässt sich auf den Boden rutschen und kriecht zum Mülleimer. Auf Entzug, denkt er. Bin ich? Bin ich? Weiß ich doch nicht. Wo ist Romy, wieso muss ich kotzen, wer bin ich, ich hab Angst, helft mir doch mal.
"Geh mal einer hin", sagt der vom Thresen.
"Hey! Ist dir schlecht?" Sagt der andere.
Bounty kotzt in den Eimer. Gute Antwort, Baby. Go, go, go! Mansch, manisch, manisch. Ich dreh ein bisschen am Rad , ich weiß aber danke an alle, die sich Sorgen machen.
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Gestern Morgen kam Johnny in die Küche geplatzt. Ich lag mit Bounty auf dem Küchensofa. Er schlief selig, den Kopf auf meiner Brust. Sabberte nur ein bisschen. Ich sah ihn mir von oben an. Mein Freund ist schön, wie ein Mädchen. Sinnlich und dramatisch. Seine Lippen sind trocken und wund. Genau wie meine. Rosa rot. Oh, Welt, du bist so schön und tragisch, also nur schön! Er wachte nicht auf als sein akademischer Bruder ins Zimmer platzte und die Tür fast aus den Angeln riss. Er ist Politikstudent. Bi und trägt ne Brille. Athletisch. Ich starrte ihm entgegen, hatte Lust mich zu verstecken, alter Reflex aber unmöglich mit Bounty auf mir drauf. Eine schlafende Katze darfst du nicht wecken.
"Bounty." Sagte Johnny laut. Bounty zuckte noch nicht mal mit den Augenlidern. "Weck ihn auf."
Ich hob seinen Kopf an, streichelte durch sein Haar, er wachte auf, warf Johnny einen völlig uninteressierten Blick zu und legte sich zurück. Das war unhöflich, dachte ich. Menschenkenntnis fehlt ihm ein bisschen, manchmal. Johnny kochte wie ein Vulkan, warum auch immer, das war meine Einschätzung der Lage.
"Steh auf." Sagte Johnny. "Steh auf damit ich dir eine reinhauen kann."
"Was ist los, wen brüllst du so an?" Bounty rappelte sich hoch und blieb mit großen Augen auf der Sofakante sitzen. "Wir schlafen."
"Du weißt was ich will."
"Nein, weiß ich nicht. Keine Ahnung. Sag's mir."
"Ich will dass du gehst und nicht so schnell wiederkommst. Ja, guck nicht so. Ich weiß ja nicht was dich reitet wenn du meine Freunde beklaust aber Schizophrenie ist es
nicht, stimmt 's?"
Bounty schüttelte den Kopf und machte noch größere Augen.
"Ja, ja, eben, also ist es auch nicht verzeihbar." Sagte Johnny.
"Tut mir leid", sagte ich.
"Bla, bla." Bounty stand auf und machte ein paar mutige Schritte um seinen Bruder herum. "Das war gar nicht so. Deine Bonzenfreunde würden es nicht mal merken wenn ich ihre Autos abziehen würde. Denen ist doch alles egal. Wirklich, ich hab nur ein bisschen Geld genommen. Das kann doch nicht so schlimm sein. Oder? Oder? Schlimm?"
"Kann es, Bruderherz. Du hast keine Ahnung." Johnny schüttelte den Kopf, er war kurz vorm platzen. "Wenn du denkst du kannst dir alles leisten, dann irrst du dich. Das hatten wir doch schon. Wie gesagt, du bist ja nicht minderbemittelt, oder irre ich mich? Warum kannst du dich nicht zusammenreißen?"
"Um meiner Freundin zu helfen!" Bounty setzte eine heldenhafte Miene auf. "Damit meine Freundin nicht in den Dritten Stock eines Zuhälter Lofts schleichen muss und einen schmierigen Typen rammeln, der uns am Ende sowieso verarscht und das für mich! Deswegen, nur deswegen, scheiße. Weißt du, wie sich das anfühlt? Verstehst du das nicht? Du Arschloch, ich dachte du bist mein großer Bruder."
"Großer Held, was? Und Romy? Hat er dir das Geld gegeben?"
Ich starrte nur ins Leere, am ehesten noch auf Bountys Hinterkopf. Hasentanz, dachte ich. Klopfer will nur den Hasentanz, keine Sorge, Johnny. Er lügt nur ein bisschen. Ein kleines bisschen. Bounty drehte sich schuldbewusst zu mir um und dann wieder zu seinem Bruder. "Mann, das ist nicht fair, John. So was brauchst du hier nicht abziehen."
Johnny packte ihn und schubste ihn auf den Flur.
"Bounty, mach was du willst. Such dir nen Pädofilen und lass dich von dem durchfüttern. Mehr hab ich dazu nicht zu sagen."
"Wir haben niemanden. Du bist schon unsere letzte Wahl." Johnny erwürgte jeden Anflug von Humor in Bountys Miene mit einem eisigen Blick.
"Pass auf, Bounty. Sag nichts, sonst knall ich dir doch noch eine."
"Scheiß Schwuchtel." Bounty sah zu ihm hoch, ziemlich affektiert, ziemlich provozierend. "Du stehst auf deinen eigenen Bruder, aber helfen kannst du ihm nicht. Dafür bist du zu -"
Johnny knallte ihm eine, so hart, er fiel um. Er öffnete die Tür und schleifte ihn auf den Hausflur.
Ich keuchte in meine Decke, als er wieder in die Küche kam. "Tut mir leid," sagte er. "Meine Geduld ist zu Ende. Klingt scheiße, ist aber so. Sag ihm, er kann wiederkommen wenn ich mit dem Studium fertig bin. Dann hab ich mehr Zeit für ihn. Du kannst ja bleiben." Es klang ehrlich, war aber nicht ehrlich gemeint. Höchstens moralisch korrekt. Politisch oder moralisch? Ich blieb nicht. Ich krallte nach unseren Sachen und hastete auf den Hausflur. "Fass ihn nie wieder an, Johnny", sagte ich zum Abschied. Ich mag dich, dachte ich. Aber fass ihn nie wieder an. Bounty lehnte auf demselben Fleck, an der Wand und vergrub den Kopf in seiner Jacke.
"Ich hab das Geld selbst hin gebracht." Seine langen Wimpern waren feucht. "Ehrlich. Ich schwör's dir. 300 Euro weniger. Ich hab nur ungefähr 50 behalten."
"Ist okay", sagte ich leise.
"Vielleicht 60."
Ob ich ihm glaube oder nicht, fragt lieber nicht. Ich küsste ihn zärtlich und flüsterte sanft: "Manchmal will ich du sein und mich einfach besser um mich kümmern. Verstehst du?"
Er lächelte weinerlich. Und das sagt mehr als tausend Worte. Seine lächelnden Lippen, so unpassend lockend und gefallsüchtig sagten, gib mir mehr solche Sachen, ich weiß es zu schätzen. Sehr, sehr zu schätzen, wirklich, wirklich, Banane, Annanas und so weiter. Ich verdiene dich nicht, sagten seine traurigen Augen. Ich verdiene nichts. Ich bin nichts. Tiefer als tief.
+
Ich steige aus der Bahn. Hinter mir ist jemand. Jemand, der mir folgt, das spüre ich. In meiner Tasche umklammere ich mein Messer. Es hat Form und Farbe eines Bountyriegels. Er hat es mir geschenkt und mit Slapstickmiene gesagt "Stich sie alle ab, tu 's für mich, Baby." Dann gegrinst wie dieses Pferd, ach ja, das Honigkuchenpferd. Letztes Jahr, zum achtzehnten Geburtstag. Albern, denke ich jetzt. Letztes Jahr habe ich gelacht. Ich würde nie jemanden abstechen, mit einem Messer das "Bounty-Design-Klapp-Deluxe-Medium-07" heißt.
"Romy?" Höre ich von hinten. Ich drehe mich um. Stolpere fast. Geschwister überall. Meine große Schwester.
"Ach du, " sag ich.
"Oh Gott, kleine Schwester. Wo warst du? Du hättest tot sein können, so verschollen, wie du warst."
"Ja", sage ich. "Ja, ja. Und wie geht's dir?"
"Und dir? Wo hast du deinen Freund gelassen?"
"Er macht gerade Entzug. Ich wollte ihn gerade besuchen."
"Mit Therapie, ja? Ist doch schön für ihn. Um die Uhrzeit besuchen?"
"Ich schleich mich rein, kein Problem."
"Aha. Na gut. Ich komme gerade von der Nachtschicht."
"Ja?"
"Hast du inzwischen auch einen kleinen Job gefunden?"
Ich dreh mich im Kreis. "Also", sag ich. "Ich mache verschiedene Sachen. Aber ich will Zeit für Bounty haben."
"Ach ja, Bounty. Ganz vergessen, wie du ihn nennst. Komischer Typ. Wundert mich, dass du noch mit ihm zusammen bist."
Ich seh sie nur an und nicke. Was ich denke? Nichts, ehrlich gesagt. Höchstens so was wie, kacke, kacke, kacke.
"Und wo wohnt ihr gerade?"
Ich hebe die Schultern. Drehe mich noch mal im Kreis. Zeit schinden. "Im Moment, jede Nacht wo anders. Aber wir kennen jede Menge nette Leute. Das passt schon."
"Dann ist ja gut."
"Ja, glaub mir ruhig."
"Was?"
"Nichts. Bounty hat viele Freunde."
"Du siehst fertig aus. Mit den Nerven, meine ich. Aber das warst du ja schon immer." Das war aufmerksam. Aber wir trennen uns wieder, nicht gerade sentimental. Als würden wir im selben Kinderzimmer wohnen und uns schon längst gegenseitig auf den Keks gehen.
Sie sagt nicht mal, dass ich mich melden soll. Oder das wir mal nach Hause kommen sollen. Oder Gute Besserung an Bounty.
Die Wache sieht verpennt aus. Ich öffne die Tür, gehe an die Theke und klopfe.
Der Typ, der gerade in Akten blättert wartet zehn Sekunden bis er zu mir aufsieht. Das ist strange.
"Ich glaube, mein Freund ist hier. Luis Bount?"
"Jaaa -" sagt der Mann und greift nach seiner Computermaus. "War hier. War. War hier."
"Haben sie ihn gehen lassen?"
"Ins Krankenhaus gehen lassen, haben wir ihn. Zur Beobachtung. Er fing an zu hyperventilieren. Ihm war ein bisschen schlecht. Bist du seine Freundin?"
"Ja, ja, klar."
"Dann wartet er bestimmt schon auf dich. Der Junge hat sich sehr nach dir verzehrt. Meine Freundin hier, meine Freundin da."
"Okay. Lassen die mich auch zu ihm?"
"Die werden froh sein, das sie ihn loswerden. Nimm ihn mit nach Hause. Vorausgesetzt du hast ein Zuhause. Wenn du keins hast, würde ich ihn lieber abschreiben, für die nächste Zeit."
Ich gehe raus. Die einsame Treppe runter, über die er getragen wurde. Kalkweiß im Gesicht. Kalter Schweiß. Mit verstörtem Blick und stotternd nach mir fragend. Nach mir fragend? Wirres Zeug redend mit zitternder Stimme. "Nicht in den -, nicht in den -" Ganz Ruhig, mein Freund. Einsteigen. Vorsicht, der Kopf. Zu spät. Vielen Dank. Da hinten, in die Ecke. Wenn du kotzen musst, sag Bescheid, verstanden? Schüttelfrost. Angst.
Und er kommt sich vor wie scheiß Tiny Tim.
+
Ich renne die Straße runter, das Krankenhaus ist nur die Straße runter. Nicht weit, gar nicht weit. Beruhigend, was? Bin gleich da. Meine Lungen platzen. Das nennt man Kondition. Ihr denkt jetzt vielleicht, Mann, die muss fett sein. Nein, nein, keine Sorge. Wann bin ich das letzte mal so lange gerannt? Als wir abgehauen sind vor diesem Gorilla. Wie, wie, wie hieß der noch mal?
Ich breche in die Tür wie ein Schneeflug. "Kann ich helfen?" Schreite vorbei an der Schwester, in ihrem Kasten, den Gang runter zur Treppe. Keanu Reeves in Matrix, oh ja. Walze die Treppe hoch. Immer noch keuchend. Nach rechts. Ich finde ihn. Wieder nach Rechts. Reine Intuition. Kinderstation? Zurück. Sie könnten ihn überall aufbewahren. Leere Gänge. Grünliches Neonlicht. "Bounty?" Rufe ich mit dünner Stimme und beginne wieder zu rennen. Ich werfe Blicke in jedes Zimmer, im vorbeilaufen. Nein, nein, nein, nein, nein. Da nicht, da nicht, da nicht. Fuck, Fuck, Fuck, Fuck! "Fuck! Wo bist du? Wo ist er?" Meine Stimme klingt wie ein Piepsen. Atemlos. Sinnlos. Ich laufe wieder runter in die Eingangshalle. Kalte Schauer. Ich stolpere zu der Schwester, hinter ihrem Fenster.
"Also, doch. Kann ich helfen?"
"Ich muss zu meinem Freund."
"Mal sehen. Kommt drauf an, wer das ist. Aber ich hab so eine Ahnung, wer dein Freund ist." Sie zwinkert mir zu. Das ist ein Kompliment, oder? Mein Freund sieht gut aus. Zu gut. "Name?"
"Luis Bount, Bounty -" Hey, stopp. Seid wann stottere ich? Irgendwie nicht gut. Ich könnte mich hier zusammenrollen, unter dem Drehstuhl der Schwester.
"Ich gucke mal. Aber das ist er doch, oder?" Sie klickt in ihrem Programm. "Ja, das ist er. Das Gelbfieber, im Drogenzimmer. Also Morgen früh können sie kommen. Heute lassen sie ihn lieber hier. Eigentlich kann ich sie zu niemandem lassen."
"Wo ist sein Zimmer. Ich bleibe hier. Sie haben doch eben gesagt -, hey, ich will zu ihm, okay?""
"Ja, na ja."
"Bitte, ich flehe sie an. Ernsthaft. Ich nehm den Laden auseinander." Das war's. Die Matrix holt euch alle, früher oder später. Ganz ruhig, Romy. Das wird schon wieder, okay?
Okay? Ja, halt die Klappe.
"Wenn du ihn findest, dann soll es so sein. Zimmer 266. Stock A, Gang B."
Ich laufe los. "Nein, nicht die Treppe hoch!" Ruft sie. Ich sehe mich verwirrt um. Keanu Reeves, aber so was von. Die Schwester zeigt nach rechts. Gang B. "Zimmer 266!" Ruft sie mir nach.
Ich bleib stehen und hämmere gegen meine Stirn. 266. 266? 267? Nein, nein. Ich finde ihn. Da ist es. Zimmer 266. Ein provisorisches Zimmer, neben dem Zimmer für die Schwestern. Licht brennt. Fliesen an den Wänden. Nur ein schmales Bett. Das Zimmer ist abgeschlossen. Ich marschiere durch das Schwesternzimmer, ohne mich umzusehen. Es ist leer. Völlig leer. Die Tür zu Bounty ist offen. Ich reiße sie auf und schließe sie hinter mir. Bounty liegt zusammengerollt auf der Seite und zittert wie wild. Ich lehne mich über ihn. "Romy?" Flüstert er. "Hier", sag ich leise. Er ist heiß und nass von kaltem Schweiß. "Ich friere", sagt er. "Die haben meine Sachen weggenommen." Er greift nach meinem Arm und zieht mich zu ihm. "Bleib hier, ja?" "Ja." "Hilf mir. Die sind alle nicht ganz dicht hier."
"Du hast Fieber", sag ich. "Du hast Fieber, wie Sau." "Ich muss hier raus, sofort. Bitte." "Aber du hast Fieber." "Romy, bitte, komm schon. Ich bin nicht wirklich krank. Bin ich nicht. Wirklich. Das ist nur -. Ich mein's ernst. Ich habe nichts." Ich ziehe ihn hoch. "Doch." Seine Sachen hängen nur über dem Stuhl, überhaupt nicht versteckt. Scheiße, das wäre dumm, denke ich. Sehr dumm. Ich bin zwar dumm, aber sehr dumm?
"Wo wollen wir denn hin?" Sag ich und halte seinen Kopf vor mein Gesicht, wie in diesen Filmen, wo am Ende einer stirbt und seine letzten Worte sind, verzeih mir, mein Freund, vergiss mich nicht, sag meiner Mutter, ich liebe sie und bitte sie, mir zu verzeihen. Ja, mach ich, sobald die Rache vollzogen ist. Das einzige, was meine Tränen trocknen kann, sind die Innereien deiner Mörder. "Wo willst du denn hin?" Frag ich.
Er sieht mich an, durch glasige, große Augen. Durch mich hindurch. Sein Gehirn arbeitet. Er weiß es nicht. Er ist nicht hier. Er ist ganz woanders. Zu seinem Dad, denke ich. Zu seinem Bruder, zu seinem Dad, unter die Brücke, hier bleiben. "Wir bleiben hier. Ich bleib hier bei dir. Leg dich wieder hin." "Ich kann nicht, aber geh nicht weg", krächzt er und lässt sich zurück ins Bett drücken. Ich krame eine Wolldecke aus dem Schrank, neben der Tür. Er ist so jung, denke ich. So weich. Babyspeck. Oh, nein, nein, nein. Er ist neben mir. Ich krieche zu ihm unter die Decke. Seine Hände und Füße sind eiskalt. Seine Wangen knallrot. Wir umarmen uns. Seine Wange an meiner Brust, meine Wange an seiner Stirn. Er rollt sich vor mir zusammen. Ich denke an Fiebertabletten und über 41 Grad. Warum habt ihr ihm nichts gegeben, denke ich. Ihr Schweine. Solche scheiß Wichser hier. Die mögen ihn nicht. Warum ist er so schwach. Er hat Schmerzen. Ich denke an seinen Atem, schwer und jung, an meinem Hals. Ich denke an ihn. Und es tut weh. Nicht weil es schmerzhaft ist. Es ist wie Wasser. Groß, fließend für immer, bis zum Ende zumindest und es erdrückt dich fast. Ich bin nur müde, tschuldigung. Ich muss nur ein bisschen schlafen, dann geht's wieder. Meine Nerven, ja, ja. Aber ich war ja schon immer so. Ein schönes Gefühl, gekannt zu werden.

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Ende der Geschichte.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 28.08.2012

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