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3 Uhr Nachts. Menschenleere Strassen. Nur schräge Gestalten unter dem Mond. Ein alter Bahnhof, in einem der lautlosesten Viertel der ganzen Stadt. Das Licht der Lampen war orange. Ein Hauch von Mondlicht. Der Himmel reichte hinab bis zum Horizont. Sie, 17 Jahre alt, zierlich, mit kurzem, roten Ponyschnitt saß auf der Mauer am Bahnsteig; ein kleiner Lederkoffer baumelte zwischen ihren Knien. Ihre Knie zitterten vor Aufregung.
Sie war abgehauen. Das Zimmer war dunkel gewesen. Vor dem Fenster war ein hoher Zaun. Hinter dem Zaun war ein dunkler Wald. Sie hatte auf ihrem Bett gelegen und halb gespannt, halb rührselig dem Rauschen der Güterzüge gelauscht. Dann hatte sie den Kopf gehoben und zu ihrem kleinen Koffer rübergeschielt. Sie hatte ihn angestarrt, so wie nur ein jemand starren kann, der schon oft gestarrt hat.
Es is wirklich Zeit jetzt, hatte sie gedacht. Sie hatte ihren Koffer genommen und ihn gepackt. Mit Käsekuchen. Fisch aus der Dose. Einem Tetrapack H-Milch.
Bevor sie sich auf gemacht hatte, hatte sie sich vier Tabletten mit Baldrianextrakt in den Mund geworfen und sie mit allen Resten von Bier und Wein, die sie hatte finden könnte hinunter gespült.
Der Koffer fühlte sich lebendig an, in ihrer Hand. Er hatte sie zur Tür gezogen und sie waren die Strasse runter, durch den lockenden Wald, zum Bahnhof gelaufen.
Allein. Nur sie und ihr Koffer.
Ich und mein Koffer, dachte sie dabei und hob den Koffer höher. Komm schon, Koffer.
Die völlige Dunkelheit im Wald machte ihr Angst. Die trübe Licht der Straßenlaternen am Bahnhof noch mehr. Sie war so kurz vorm umkehren gewesen und nur ihrem Koffer machte das nichts aus.
Jetzt saß sie da. Loki saß da und es war spät. Es war spät.
Sie hatte die Güterzüge, die direkt über ihre Strasse rauschten verlassen. Ihre geliebten Güterzüge. Sie war besessen von diesen Zügen und den Gleisen und dem Gedanken auf ihnen durch die Gegend zu ziehen wild und frei wie ein Gaukler aus alten Zeiten. Sie kam sich vor wie eine verdammt echte Aussteigerin. Sie gähnte, summte und verstummte plötzlich. Unter ihr, auf der Strasse, durchschnitten klatschende Schritte auf Straßenasphalt die nächtliche Stille. Sie wandte sich zur Treppe und lauschte.
Die Sirene eines Streifenwagens kam näher. Kam näher und verstummte dicht unter dem erhöhten Bahnsteig. Reifen quietschten. Türen knallten zu. Sie hörte weitere Schritte, einen dumpfen Aufschlag auf dem kalten Asphalt und ein unsanftes Handgemenge. Dazwischen die Stimmen der Polizisten.
Ein erstickter Aufschrei.
"Hände auf den Rücken. Jetzt!" Die Stimme einer weiblichen Polizistin. Dann ihr Partner. "Wenn du nicht sofort -, verdammt -." Keuchen und fluchen. "Halt still, verdammte Scheiße. Ich kann dir auch den Arm brechen."
"Beruhigen Sie sich endlich mal."
Und dann schließlich eine weitere Stimme. Eine junge, frivole Stimme. Eine Stimme die, die Sätze ausspuckte; wild und unschuldig oder nuschelte; hilflos und zerbrechlich. Anziehend und abstoßend. Alt und jung. Stark und schwach. Loki lauschte mit offenem Mund.
"Scheiße, beruhigen? Beruhigen?! Was wollt ihr 'n überhaupt von mir!?"
"So is gut. Entspann dich."
Ein unterdrücktes Schluchzen. "Ich mach ja nichts. Scheiße."
"Hoch."
"Hilf mir doch mal, ja?"
Loki lief die Treppen runter. Mit weichen Knien.
"So." Sie kam um die Ecke und sah die beiden Polizisten. Halb stehend, halb in ihren Armen hängend der Junge. Um die zwanzig, zierlich und auf den ersten Blick irgendwie halbseiden. Schmuddelig. Loki fühlte sich ihm auf merkwürdige Weise verbunden. Er war nicht jedermanns Fall, keine Frage. Ein bisschen infantil vielleicht. Von oben bis unten eine jungenhafte Erscheinung. Dreckig. Naiv. Renitent. Die komische Pudelmütze auf Halbmast. Alles in allem; das einzig wirklich harmlose Wesen hier in dieser Nacht. Loki selbst ausgenommen vielleicht. Vielleicht aber auch nicht.
Der Junge hörte auf sich zu wehren, unterdrückte das Schluchzen und verfiel in seine Muttersprache.
"Geht das auch in Deutsch?"
Loki riss auf dem letzten Treppenabsatz die Augen auf. Englisch. Die Sprache ihrer Träume.
Reiß dich zusammen, Loki, dachte sie und blieb hinter einer dicken Säule stehen. Hilf ihm, na los, komm schon. Er könnte Hilfe gebrauchen.
"So." Sagte der Polizist. "Jetzt, sag mal. Warum rennst du weg?"
"Ich muss meinen Zug kriegen, Mann. Ehrlich!"
"Warum rennst weg, wenn du die Polizei siehst, hm?"
"Ich hab nichts gemacht. Überhaupt nichts."
"Na komm, reiß dich zusammen. Sag was los ist."
"Hast doch keine Ahnung. Mann, keine Ahnung. Du weißt gar nicht was ich -"
Er fluchte auf Englisch. Der Polizist packte ihn am Kragen. "Hör mal. Reiß dich zusammen. So redest du nicht mit uns! Du sagst jetzt mal wo du den Sack hingeschmissen hast und zwar sofort!"
"Ja aber -, aber welchen Sack? Mann, ich -"
"Du denkst wohl du könntest mich verarschen -, Junge. Den Sack den du in der Hand hattest als du uns über den Weg gelaufen bist. Wo ist der hin?"
"Was? 'n Sack, wieso? Was für 'n Sack denn?"
"Wir wollen das hinter uns bringen, hab ich Recht? Gib mir einen überzeugenden Grund, was du hier machst um die Uhrzeit und es is gut. Hast du das verstanden?"
Der Junge spitzte die Lippen.
"Was machst du hier?"
"Ich hab euch nichts getan. Aber Hey, sag mal, hast du zufällig ein Problem damit das ich nich von hier bin? Ich bin nämlich aus Amerika und da oben, also da -"
"Junge! Gleich verlier ich die Geduld, Sabine. Unglaublich. Mach was, bitte. Sabine?"
"Vielleicht nehmen wir erstmal die Personalien auf." Die Polizistin räusperte sich.
"Das lassen wir für Heute. Ich will nach Hause."
"Ja, also. Na ja."
Eine trockene Pause folgte.
Loki pfiff durch die Zähne wie ein Käuzchen.
Der Junge drehte den Kopf, machte große Augen und für einen Moment starrten sie sich an. Der Junge runzelte konzentriert die Stirn. Loki winkte und hielt den Finger auf den Mund.
"Das ist ein guter Zug von dir, Mann, wegen den Personalien. Ich hohl meine Freundin vom Bahnhof ab." Sagte der Junge, sich mit verschmitzter Miene zu den den Polizisten umdrehend.
"Klingt doch ganz gut."
"Schön wär's." Der Polizist stöhnte ausgedehnt. "Wann kommt sie denn?"
"Müsste schon da sein. Schon längst."
"Dann gehen wir mal zusammen hoch und du zeigst uns welchen Zug -"
"Sieh dir das an! Was hab ich gesagt, Mister, hm? Habt wohl gedacht ihr könnt mich linken und Zack! Mann! Da is sie schon!" Der Junge setzte ein unverschämt begeistertes Grinsen auf und gestikulierte in Richtung Treppe. "Da is sie! Hey! Is sie wirklich!"
Loki stieg die letzten Stufen hinunter. Während sie auf die drei zulief machte sie ein betroffenes Gesicht.
"Was ist denn?" Sagte sie.
"Sie sind seine Freundin? Wirklich? Ja. Schön. Keine Sorge, er wird schon wieder werden. "
"Wir treffen uns hier." Sagte der Junge ernst. Loki nickte zustimmend.
"Guten Abend." Die Polizistin lächelte verständnisvoll.
"Hallo. Ich bin seine Freundin. Loki Mahlovic." Sie stellte sich neben den Jungen. Er legte einen Arm um ihre Schulter, steckte seine Nase in ihre Haare und schnüffelte.
"Ha! Loki, Mensch." Er grinste zutraulich. "So nett, das du auf mich gewartet hast."
Die Polizistin lächelte noch verständnisvoller.
Der Junge nahm den Arm mit einem Anflug von Verlegenheit wieder runter und runzelte die Stirn.
"Also und jetzt? Können wir gehen?" Sagte er.
"Ja, nachdem wir ihre Personalien aufgenommen haben." Die Polizistin warf einen schnellen Blick zu ihrem Kollegen. Er gähnte und machte sich auf zum Auto.
"Kommen Sie. Ich hab euch nichts getan. Ich hab niemandem wehgetan." Der Junge sah mit bestechender Miene zu der Polizistin auf. "Eines Tages werden sie froh sein wenigstens einen gerecht behandelt zu haben. Vor der Himmelsforte, oder woran sie auch immer glauben."
"Könnten sie nicht mal ein Auge zudrücken?" Sagte Loki.
"Ja, komm schon." Sagte der Junge. "Zuckerschnecke."
"Wie bitte? Das hat damit nichts zu tun. Bildet euch das bloß nicht ein. Wir sind durchaus befugt euch laufen zu lassen." Die Polizistin folgte ihrem Kollegen zum Auto. "Beim nächsten Mal sieht das anders aus!" Und weg waren sie.
Loki und der Junge starrten ihnen nach.
"Ach ja, ich bin Chuck, übrigens." Der Junge hielt Loki eine rußige, linke Hand entgegen. "Nenn mich Chucky."
"Hi Chucky." Sie schüttelten sich die Hände. "Und? Was ist jetzt mit deinem Sack?" Chucky lachte auf, ganz seinem Namen entsprechend; nicht gerade feinsinnig. "Mann, den hätte ich fast vergessen."
"Wo is er denn?"
"Da drüben. In dem Busch da. Warte kurz." Er trabte hinüber und verschwand in einem dichten Gestrüpp am Straßenrand.
Loki beobachtete mit zufriedener Miene die Stelle in der er eingetaucht war.
"Hab ihn!" Er tauchte wieder auf, mit etwas Großem, unförmigem unter dem Arm.
"Und? Was ist drin?"
"Ein Auspuff!"
"Und wo hast du den her?"
"Golf oder Mercedes, glaub ich. Weißt du, hier um die Ecke ist so ein Vorstadt-Viertel."
"Hast du das Ding geklaut?" Fragte Loki und runzelte sachlich die Stirn.
"Ja, na ja, ich bin im Ersatzteilgeschäft, weißt du. Der blöde Spießer wacht Morgen mit 'm Sportwagen auf. Ja, wirklich. Ist doch was, oder?"
"Ich finde schon, ja. Kennst du dich aus mit Autos?"
"Ja, klar! Ich meine, geht so."
"Na ja, wenn das stimmt." Loki kicherte.
"Dann wird er Morgen durch die Gegend röhren wie 'n verdammter Formel 1 Fahrer." Sagte Chucky und grinste.
"Ja und qualmen wie 'ne Fabrik."
"Ja, so ist das." Chucky nickte langsam. "Hör mal, ich wollte noch danke sagen, das du mich eben gerettet hast."
"Gerne."
"Im Ernst, du solltest Schauspielerin werden."
"Das ist nett, das du das sagst, ich wollte schon immer Schauspielerin werden. Echt schon immer."
"Ja, dachte ich mir. Hör mal... Hast du irgendwas zu essen. Vielleicht? Irgendwas, mein ich?"
"Hab ich, ja. Magst du Fisch? Und Milch?"
"Du hast Fisch und Milch? Scheiße ja, natürlich mag ich das."
"Kuchen?"
"Kuchen!" Bellte er. "Gott, Kuchen, ich liebe Kuchen."
Er beobachtete mit unruhigen Fingern wie sie in ihrem Rucksack nach dem Essen suchte.
"Hier, hab ich selbstgebacken."
"Mann! Kuchen!"
"Ja, original Käsekuchen."
"Käsekuchen?!"
"Käsekuchen."
"Käsekuchen... gibt nichts besseres... -"
Er setzte sich kurzer Hand auf den Boden um zu essen.
"Iss auch was. Loki. Hier, der ist gut." Sagte er und sprenkelte Lokis Knie mit Käsekuchen. Loki schüttelte den Kopf.
"Du bist so dünn, Mann, so blass. Hast bestimmt Hunger."
Er schob sich ein viel zu großes Stück in den Mund und nickte.
"Mann, du glaubst es nicht, hab schon seid... - Scheiße." Er würgte und hustete.
"Spuck 's aus!"
Er schüttelte heftig den Kopf und schluckte das Zeug in seinem Mund mit großer Mühe hinunter.
"- schon seid 'na Weile nichts so gutes mehr gegessen. Wie zu Hause."
"Amerika?"
"Hey! Ja! Woher weißt du das?"
"Hab dir doch zugehört vorhin."
"Alabama, Tennessee, so in der Gegend."
"Kenn ich, ja. Wollte ich auch immer hin nach Amerika."
"Ja? Ich will auch zurück, weißt du... -"
"Und ich habe mir geschworen diese Stadt mit einem Güterzug zu verlassen. Es ist war zwar schon ein oder zwei Jahre her aber ich würde es immer noch sofort tun. Bloß nicht alleine. Ich bin zu schwach auf einen Güterzug drauf zu klettern, - nicht stark genug mich hochzuziehen, weißt du?"
"Klingt doch toll." Er grinste schief und sah sie von der Seite her an. Mit flatternden Lidern und selbstvergessener Miene.
"Ja, wenn sie vorbei fahren. In der Ferne.. -, das ist toll."
"Yeah, die sind echt toll." Er nickte und spitzte die Lippen zu einem tonlosen Pfeifen.
"Das Geräusch, weißt du was ich meine?" Sie zeigte in Richtung der Gleise.
"Klar, das Rauschen in der Ferne... das Rauschen." Dickie legte den Kopf in die Hände und gähnte.
"Hör mal. Loki. Hast du nicht Lust mitzukommen? Das Ding hier loswerden?"
"Verkaufen?"
"Ja, genau. Verkaufen."
"Okay."
Er grinste selig und käseverschmiert.
Sie nahmen die nächste Bahn zum Hauptbahnhof und in einer kleinen Seitenstrasse, nicht weit entfernt vom Vergnügungsviertel blieb Chucky stehen.
"Bleib lieber hier und warte auf mich."
"Ich würde lieber mitkommen als hier 'rumzustehen."
"Ist nicht weit. Geh da in den Schatten."
Loki wartete und nach einer Viertelstunde kam er wieder, ohne Sack, mit fiebriger Miene.
"Und?"
"Vergiss es. 5 verfickte Euro in."
"5 Euro? Dafür schlachtest du Autos? Die haben dich ja abgezogen."
"Ich weiß, ja. 5 Euro kann man auf der Straße finden. Bin ein Scheiß-Geschäftsmann. Die ficken mich jedes Mal."
Loki sah ihn an und lächelte breit.
"Was denn?" Chuck zog die Augenbrauen hoch.
"Lass uns abhauen von hier."
"Was? Wie meinst du das? Zusammen?"
"Ja!"
"Wirklich? Is ja irre! Wohin?"
"Na ja -"
"Nach Amerika!"
"Ja, ja, ja! Gute Idee!"
"Mann!"
"Oh ja. Ich weiß auch wie."
"Wie?!"
"Also. Wir fahren zum Flughafen und -"
"Mann, du bist echt absolut -"
"Wir warten so lange bis jemand seinen Flug storniert und dann kriegen wir einen billigen Lastminuteflug."
Er johlte wie ein Cowboy.
Sie fuhren schweigend mit der nächsten, mit der letzten Bahn zum Flughafen. Sie hingen ihren Gedanken nach. Ängstlich und selig. Der Flughafen in der Nacht war friedlich und Licht durchflutet. Sie fühlten sich nackt und geborgen, wie im Mutterleib. Sie hätten sich unter den Tischen zusammenrollen können um zu schlafen. Stattdessen hängten sie sich in zwei Wartesitze und hielten Händchen.
"Wie lebst du so in Amerika?" Fragte Loki.
"Ach, ich -, also mal so mal so. Ich bin ein bisschen verwildert."
"In der Stadt oder auf dem Land?"
"Stadt."
"New York?"
"Klar, New York auch."
"Erzähl was, ja?"
"Ich weiß nicht."
"Nicht?"
"Lass uns ein bisschen pennen, ja?"
Chuck wartete stattdessen so lange bis Loki neben ihm schlief und legte ihren Kopf vorsichtig auf die Lehne des Sitzes. Er rieb sich die Hände und sah sich um. Sie brauchten ein bisschen Geld. 100 Mäuse mindestens. Verschiedene Möglichkeiten schwirrten fiebrig in seinem Kopf wie schaukelnde Kinder. Schnorren, klauen, betteln, lügen. Schnorren, klauen, betteln, lügen. Eine Mischung aus betteln und schnorren würde es vielleicht schon machen. Für 's erste und dann musste man weitersehen. Er suchte sich ein halbwegs reiches amerikanisches Paar unter den Wartenden heraus und ging zielsicher auf sie zu. Währenddessen dachte er an ein paar schlimme Sachen, sie ihm in letzter Zeit passiert waren und seine Augen füllten sich mit Tränen.
"Schuldigung, Sir? Madam? Sind sie Amerikaner?" Er stellte sich vor das Pärchen und spürte die Farbe aus seinem Gesicht weichen, während die beiden Amerikaner alarmiert zu ihm aufsahen. Die Frau war kurvig und gutmütig; mit Haut wie Pfirsich und rotbraunen Haaren. Ihr Mann war das männliche Gegenstück. Die beiden hatten eindeutig eine Menge Kinder. Auf dem Zettel an ihren Koffer stand der Name "Wineberg" und aus dem Handgepäck hing ein dicker, rosa Teddybär.
"Ja, allerdings. Du anscheinend auch, was? Was ist los mit dir, Junge?" Sagte Mr. Wineberg.
"Ich brauche Hilfe, weil -."
"Setz dich erstmal. Er soll sich erst mal setzen. Du siehst ja gar nicht gut aus. Hier, nimm Platz und erzähl uns was los ist..."
Die Frau drückte ihn auf den freien Platz zwischen sich und ihrem Mann. Chuck sah von einem zum andern, aufgewühlt und hilflos.
"Hör mal, ich hohl uns mal drei Tassen Kaffee und du erzählst meiner Frau Helen hier was dir auf dem Herzen liegt." Der Mann klopfte Chuck auf die Schulter und machte sich auf zum nächsten Cafe.
"Schieß los." Sagte die Frau. Der goldene Schmuck klimperte häuslich als sie sein Handgelenk tätschelte.
"Ich bin nach hier gekommen um meine Mutter zu besuchen. Sie ist Deutsche und ich wusste immer wo sie wohnt. Hatte bloß nie genug Geld um rüber zu kommen. Ich -" Er verstummte und hob seine zitternde Hand zur Stirn.
"Ganz ruhig. Ist schon gut."
"Ich dachte sie würde -. Ich dachte wirklich sie würde sich irgendwie freuen mich zu sehen aber hat sie nicht. Wie eine Mutter freuen, wissen sie? Ich habe gehofft sie -. Aber sie hat gesagt: Ich hab keinen Sohn. Ich hab keinen Sohn. Ich hab keinen Sohn."
"Schrecklich! Wirklich, das tut mir so leid für dich."
"Ja, sie is irgendwie verrückt, total verrückt. Sie hat mich nicht mal erkannt." Er schluchzte krampfhaft und schirmte sein Gesicht mit seinem rußigen Ärmel. "Und meine Freundin, sie ist die einzige die ich habe. Sie schläft da drüben. Sehen Sie sie? Wir haben keinen Cent mehr um zurück zu kommen. Ich fühl mich so am Ende..."
Die Frau machte ein so mitleidiges Gesicht als würde sie selbst am liebsten losweinen.
"Denken sie nicht, ich will Geld von ihnen. Ich hätte nie gefragt wenn es nicht -." Sagte Chucky mit erstickter Stimme. "Ich musste es nur jemandem erzählen. Ich weiß nicht was ich tun soll."
"Oh, komm her." Sie packte ihn und drückte ihn an ihre Brust. "Du brauchst dringend ein paar Moneten." Sie tätschelte ihm die Wange. "Was meinst du? Reichen 100 Dollar?"
"100 Dollar! M'am, sie sind wirklich großartig!" Chucky brachte ein aufgeweichtes Grinsen zustande.
"So gefällst du mit schon besser. Hier 100 Dollar und einen Kaffee oben drauf."
Ihr Mann war gerade zurückgekehrt und drückte Chucky einen Becher in die Hand. Kein Instand Scheiß. Richtiger, fettiger Kaffee mit Sahne und Karamellsirup.
"Robert, ich hab dem Jungen 100 Dollar gegeben, in Ordnung? Du glaubst nicht was ihm passiert ist. Geh rüber und flöß ihn deiner Freundin ein, Schätzchen." Die Frau umarmte ihn noch einmal.
"Vielen Dank. Das werd ich nie vergessen, das können sie mir glauben." Sie gaben sich zum Abschied die Hand und Chuck machte sich auf den Rückweg zu Loki.
"Loki." Er hielt den warmen Becher an ihre Hand.
"Oh." Sie richtete sich auf. Die fröhlich winkenden Amerikaner am anderen Ende des Flughafens vielen ihr sofort auf. "Winken die da uns zu?"
"Ja. Ich hab das Geld besorgt."
"Wie viel?"
"100 Dollar."
"100 Dollar."
"Willst du wissen wie ich 's gekriegt hab?" Fragte er traurig.
"Du siehst nicht gut aus. Was hast du?"
"Geld besorgt."
"Chuck? Ich liebe dich. Kann ich dich umarmen?" Sie legte ihre Arme um ihn und hielt seinen Kopf umschlungen. Er umklammerte andächtig ihre Taille, küsste überwältigt ihren Nacken und am anderen Ende des Flughafens begannen zwei entzückte Amerikaner laut zu lachen.
"Chuck, ich lieben dich."
Chuck würgte an einer Antwort.
"Können wir ein Paar sein, Chuck?"
"Auf jeden Fall. Loki..."
"Wir sind noch nicht dazu gekommen mehr zu machen als Händchen halten aber ich liebe dich."
"Ich liebe dich wirklich auch, Loki, wirklich."
Im Flugzeug. Gedämpftes, graues Licht. Draußen die Morgendämmerung. Chuck und Loki hielten Händchen während das Flugzeug ein wenig unbeholfen an Höhe gewann.
"Ich muss dir noch was sagen." Sagte Chuck.
"Was denn?"
"Ich hab kein Geld."
"Weiß ich doch."
"Keine Wohnung in der Stadt. Überhaupt keine Wohnung. Keine Arbeit. Keine Verwandten. Keine Freunde. Ich bin ein ziemlich armes Arschloch."
"Oh, nein, Chuck..."
"Ich wohne im Wald."
"Im Wald?"
"In einem Trailer, im Wald und die Leute wollen nichts mit einem wie mir zutun haben."
Loki grinste. "Mit uns. Mit uns will keiner was zu tun haben."
"Ich wusste du magst es." Er grinste schief. "Du wirst es lieben."
"Wir sind echte Aussteiger."
"Du wirst mein Haus lieben. Ich sag 's dir. Der Garten ist voller Lampions. Im Dunkeln leuchtet der halbe Wald, weil der halbe Wald ist mein Garten. Ich hab einen Fernseher im Garten und ein Telefon und ich habe ein Bett. Und es leuchtet wie im Märchen. Wie im Märchen."
"Wir könnten tanzen..."
"Aber wir werden nichts zu essen haben..."
"Wir werden fasten."
"Ja und tanzen. Ich hab ein Radio! Und weißt du was, wir werden mir dem Güterzug fahren. Wir werden durch ganz Amerika fahren!"
"Vielleicht werden wir dabei drauf gehen..."
"Was?" Chucky gähnte und schüttelte den Kopf. "Gott, ich bin so müde. Das war vielleicht 'ne Nacht. Weiß du was das erste ist was ich mache wenn wir ankommen?"
"Was denn?"
"Ich schmeiße meine Scheiß-Sozialversicherungskarte in den Mülleimer und meinen Ausweis auch."
"Was? Ernsthaft?"
"Dann nehmen wir meinen Wagen und fahren nach Hause."
"Du hast ein Auto?"
"Klar und wenn ich einen Führerschein hätte würde ich den auch wegschmeißen."
"Du hast keinen? Mann, is ja irre. Das gefällt mir. Wozu auch? Amerika ist ein freies Land."
Chuck beugte sich rüber zu ihr und küsste sie auf den Mund.
"Wir sind ein abgefahrenes Paar." Sagte er.
"Absolut abgefahren. Chucky?"
"Ja."
"Du bist das schönste und traurigste das es gibt auf dieser Welt für mich."
"Wirklich?"
"Du bist so was wie ein Engel."
"Loki! Bitte, ich bin verkommen, sag so was nicht zu mir. Wenn jemand ein Engel ist dann -."
"Jeder der dich wirklich kennt würde mir zustimmen. Das ist mein Ernst, Chuck."
"Eine Memme. Nicht mal erwachsen."
"Sanft und rein."
"Ich bin ein Lügner. Ich bin armselig. Loki."
"Und noch mehr."
"Gott. Liebst du mich wirklich so sehr?"
"Liebe ist gar kein Ausdruck."
Er sah sie mit großen Augen an. "Weißt du, also, das hatte ich gehofft, wenn ich ehrlich bin. Ich glaube niemand sterbliches verdient solche Liebe aber ich bin ne Flasche, Loki, hab sie mir immer gewünscht."
"Ich hab noch massenweise davon. Hatte ich schon immer. Und du brauchst sie. Das ist das schönste auf der Welt." Lokis Augen füllten sich mit Tränen.
"Oh, nich weinen." flüsterte Chuck lächelnd und schüttelte aufgelöst den Kopf. "Loki, Loki, Loki...."
Das Flugzeug stieg weiter und höher. Der Horizont leuchtete rot in der Ferne.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 11.10.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
für Chucky

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