Ich rannte. Meine Beine taten es schon fast von selbst, da sich der Überlebensinstinkt in meinem Verstand breitmachte. Die Straßen waren leer, der Evakuierungsplan war in die Tat umgesetzt worden. Nur ich wieder Mal … ich und mein Beschützerinstinkt. Natürlich musste ich Sebastian beschützen. Nur hatte ich nicht damit gerechnet, dass es so gefährlich werden würde!
Jetzt, da ich durch die Straßen Wiens rannte, wurde es mir bewusst. Der Ernst der Sache war mir erst gestern klar geworden. Die Opferquote hatte mich bis dahin nicht wirklich interessiert. 1.681.469 Einwohner können doch nicht so schwer auszurotten sein! Aber als ich gestern die Salzburger Nachrichten – die Wienerischen gab es mittlerweile schon nicht mehr – gesehen hatte, war schon etwas Panik in mir aufgestiegen. 900.000 Tote! Oder besser gesagt, Zombies … Und jetzt wurde mir bewusst, dass ich auch bald eine davon sein würde. Reichlich spät.
Aber es hätte sowieso nichts geholfen. Sebastian wäre gestorben, wenn ich ihn nicht beschützt hätte! Nun hatte er den letzten Flug nach Australien erwischt, und ich musste mit meinem Leben dafür bezahlen. Meine Familie war in Sicherheit und das zählte. Meine Mutter hatte einen hysterischen Anfall bekommen, wie ich aus der Warteschlange gerannt war, nur um meinen Freund zu retten. Er war nämlich nach einem Streit zwischen uns in unserem Badezimmer eingesperrt gewesen. Ich hatte etwas überreagiert. Aber ich hatte ihn noch rechtzeitig hinter die Absperrung schubsen können, bis diese geschlossen wurde. Die Militärteams hatten keine freien Plätze mehr gehabt. Zehn Menschen mussten zurückgelassen werden. Einer davon war ich.
Ich, Vanessa Weber, 19 Jahre alt, war ein Mensch, der jeden Moment von den Wolfmenschen gefressen werden könnte.
Das Adrenalin in meinem Blut machte mich so zittrig, dass ich schon mindestens zwanzig Mal ausgerutscht war und schon dreißig Mal gestolpert. Meine Knie waren aufgeschürft, meine Jeans zerrissen. Auch meine Handflächen waren verwundet, aber ich spürte den Schmerz nicht. Ich raste wie blind durch die Stadt und ignorierte alles, was mich hätte aufhalten können. Autos waren eilig am Straßenrand geparkt worden, manche mit Dellen und zersprungenen Scheiben. Impfnadeln lagen zertreten am Boden, Pflasterstreifen und Scheren neben ihnen. Ich hatte das Gekreische und Geschreie der verzweifelten Wiener und Wienerinnen noch im Kopf. Alle drängten sich zu den Ärzten, zu den Militärleuten, um geimpft zu werden und nach Australien fliegen zu können. Ich war geimpft worden, hatte mich dann aber aus der Schlange gedrängelt. Um Sebastian zu retten.
Ich bog in die nächste Straße ein. Autos standen kreuz und quer auf der Fahrbahn. Ich kletterte über sie und sprang von Gefährt zu Gefährt. Ich wusste, wo ich hin wollte. Zum großen Einkaufsgeschäft. Die Keller und Garagen waren gigantisch und auch die anderen Stockwerke waren mit genialen Sicherheitssystemen ausgestattet. Die Wolfmenschen würden dort nie hochkommen!
Aber ich musste mich beeilen! Sonst würden sie mich finden und auch infizieren. Die Impfung würde mich zwar für einige Zeit vor der bestialischen Krankheit schützen, aber diese Bestien würden nicht aufgeben, bis ich schließlich auch mutieren würde. Die Wolfmenschen waren hauptsächlich nachtaktiv. Bei Tag liefen sie nur in Gebäuden herum, dort waren sie vor der prallen Sonne geschützt. Ich konnte nur hoffen, dass im Einkaufzentrum noch keine waren! Aber bis dort würden sie in zwei Tagen noch nicht vorgedrungen sein.
Meine Lunge schmerzte. Ich konnte kaum noch Luft holen und mir kam es vor, als wären meine Beine taub. Mein Kreislauf arbeitete nicht mehr so gut, da ich seit gestern nichts mehr getrunken hatte. Und die Leere in meinem Magen spürte ich schon gar nicht mehr!
Plötzlich rutschte ich auf dem Dach eines VWs aus und schlitterte über die zersplitterte Heckscheibe. Ich knallte mit voller Wucht auf meinen Hinterkopf, ein Schrei entfuhr mir. Schnell presste ich meine Lippen zusammen, um nicht loszukreischen. Ich war so blöd aufgeprallt, dass ich für einige Minuten keine Luft bekam. Vor meinen Augen flimmerte es merkwürdig, dann wurde es schwarz.
„Ist sie infiziert?“
„Nein, ihre Körpertemperatur ist normal. Auch ihr Blut weist keine Anzeichen auf die Bakterien an.“
„Können wir ihr vertrauen?“
„Klar, sie ist ein Mensch.“
„Es gibt Menschen, die von den Wölfe akzeptiert werden!“
„Aber sie wurde vom Militär geimpft. Die Wölfe riechen das Gift und ich glaube kaum, dass sie sie akzeptieren würden!“
„Sie ist also einer von uns?“
Dieser Satz ließ mich aufhorchen. Ich hielt die Augen zwar noch immer geschlossen, aber ich hörte dem Gespräch zu. Ich lag auf etwas Weichem. Meine Glieder schmerzten noch immer von dem Sturz. Wie lange hatte ich geschlafen?
Und die entscheidende Frage war: wo war ich?
Die drei Männerstimmen redeten weiter. Ich beschloss, ihnen zuzuhören, um etwas über meinen Aufenthaltsort herauszufinden.
„…wird sie aufwachen. Wir sollten ihr Zeit geben, sich an die Umstände zu gewöhnen.“
„Sie ist uns nur eine Last am Bein! Wenn wir ins Landeskrankenhaus wollen, können wir nur fitte Leute gebrauchen!“
„Wir können sie doch nicht einfach vor das Haus setzen und den Wölfen überlassen!“
„Nein, aber…“
„Nein, das können wir wirklich nicht! Sie würde nicht weit kommen, mit ihren Verletzungen. Dann würde sie die Wölfe auf unser Versteck hinweisen!“
„Ja, okay, …“
„Außerdem könnte sie uns eine große Hilfe sein! Sie sieht sehr schlank und geschickt aus!“
„JA, OKAY, SIE KOMMT JA EH MIT!“
Ich zuckte zusammen. Alle Blicke ruhten auf mir, das konnte ich spüren.
„Du Idiot, jetzt hast du sie aufgeweckt!“
„Halt die Klappe…“
Ich drehte meinen Kopf und stöhnte künstlich. Langsam öffnete ich meine Augen. Sie waren verklebt, von den Tränen, die ich wegen des Schmerzes vergossen hatte. Ich sah zuerst auf die Beine dreier Männer, die auf dem Boden neben mir auf Decken und Kissen saßen. Ich ließ meinen Blick an ihnen empor wandern.
Einer war ziemlich groß und schlank. Er hatte hellbraune kurze Haare, am Scheitel zu Stacheln geformt. Er sah ziemlich freundlich aus. Seine strahlenden braunen Augen leuchteten und sein Lächeln war mehr als freundlich. Dann saß da ein älterer Mann, um die vierzig. Er hatte dunkleres Haar, war eigentlich ziemlich unauffällig.
Und dann saß da noch der Dritte. Er sah ausdruckslos zu mir hinunter. In seinen tiefen grünen Augen spiegelte sich Hass und Verachtung wieder. Aber nur in seinen Augen. Sein Gesichtsausdruck war vielleicht sogar etwas traurig. Aber sicher nicht wegen mir.
Er sah schnell weg, als sich unsere Blicke trafen. Seine schwarzen Stirnfransen fielen ihm über seine Augen, als er seine Knie an sich heranzog und den Kopf auf seinen Arm stützte. Er war sicher genauso alt wie ich. Ich wusste nicht, woher ich das wusste, aber mein inneres Gefühl sagte es mir. Der mit den braunen Haaren war sicher um die dreiundzwanzig.
Ich richtete mich stöhnend auf, diesmal nicht gespielt. Mein Kopf schmerzte, und mir wurde schwindelig. Ich hob meine Hand um ihn zu reiben, merkte aber, dass sie verbunden war.
„Wo bin ich?“, fragte ich. Meine Stimme klang in meinen Ohren belegt und hallte in meinem Kopf merkwürdig laut nach…
„Hallo, ich bin Manfred. Ich bin Arzt. Ich wurde auch zurückgelassen, so wie du. Wir sind hier in einem Bunker. Hier bei uns leben noch fünf andere Menschen. Wir sind hier also zu acht. Das hier wären einmal Alex“, er zeigte auf den Braunhaarigen, „und Michael“, dann zeigte er auf den Schwarzhaarigen. „Wer bist du?“
Ich musterte alle ganz genau. Dann sah ich zu Manfred.
„Ich heiße Vanessa.“ Mehr brachte ich nicht heraus.
„Vanessa … Ich glaube ich habe dich schon einmal gesehen. Du warst damals aus der Schlange heraus gerannt. Ich war ziemlich weit hinten…“, meinte Manfred und blickte gedankenverloren auf etwas hinter mir. „Warum hast du das gemacht?“
„Ich habe jemanden holen müssen.“
„Warum? Ganz Wien war zu dieser Zeit auf den Straßen“, meinte er und sah mich an.
„Ich habe ihn eingesperrt…“, meinte ich verlegen und wurde rot.
„Ach …“
Wir schwiegen. Manfred wandte seinen Blick nicht von mir ab und ich sah immer alle drei abwechselnd an. Bei Michael blieb mein Blick am längsten hängen. Er sah stur geradeaus. Alex warf ihm immer wieder einen verständnislosen Blick zu, bevor er mich wieder anlächelte.
„Ich glaube, Lisa ist mit dem Essen zurück.“ Manfred erhob sich und sah Alex und Michael an.
„Ich komme mit, Lisa braucht sicher Hilfe beim Kochen … Manfred, kommst du?“, fragte Alex und stand auf. Manfred nickte.
„Michael, du bleibst derweilen bei Vanessa.“
„Was?“ Michael sah entsetzt auf. Er starrte Manfred wütend an. „Ich bleibe nicht hier!“
„Vanessa könnte jeden Moment wieder ohnmächtig werden. Jemand muss auf sie aufpassen! Wir kommen dann wieder und bringen das Essen!“ Manfred sah ihn durchdringend an.
„Aber…“, wollte Michael beginnen, da waren Manfred und Alex schon grinsend aus dem Raum.
Brummend ließ sich Michael auf den Rücken fallen. Er warf mir einen kurzen wütenden Blick zu, dann sah er wieder stur zur Decke. Was hatte der bloß?
„Mir … geht es wieder besser … du kannst gerne gehen…“, meinte ich, um ihn irgendwie aufzumuntern.
„Manfred schmeißt mich raus…“, murmelte er, ohne mich auch nur kurz anzuschauen.
Ich wusste nicht warum, aber diese Feindseligkeit verletzte mich. Warum behandelte er mich nicht wie einen normalen Menschen?
Wir schwiegen. Michael starrte auf die Wand und ich tat es ihm gleich. Dann betrachtete ich meinen verpackten Arm. Ich drehte ihn um zu sehen, wie es um ihn stand. Ich hatte ihn mir bei meinem Sturz unter den Körper geklemmt und vollkommen verdreht. Ich dehnte meine Wirbelsäule. Ihr ging es zum Glück wieder gut. Ich spürte den Verband um meinen Kopf. Durch ihn hatte ich wahrscheinlich ziemlich viel Blut verloren. Ich schloss meine Augen um das Schwindelgefühl zu unterdrücken. Tief durchatmen!, dachte ich mir.
„Leg dich hin.“
Ich öffnete meine Augen und starrte Michael verwundert an.
„Hast du was gesagt?“
„Leg dich hin!“
Wütend sah Michael mich an. Ich starrte ihn noch immer an.
„Dein Kreislauf ist noch nicht stabil! Leg dich hin, sonst kippst du wieder weg!“
Langsam ließ ich mich auf die Matratze fallen. Er hatte doch tatsächlich mit mir geredet! Er hatte ein Gespräch mit mir begonnen.
„Wie spät ist es?“, fragte ich, während ich auf die gelbe Decke starrte.
Michael sah fast unbemerkt auf seine Armbanduhr, während er sich aufrichtete und sich anschließend an die Wand lehnte.
„Zwölf.“
„Mittag oder Nacht?“
„Mittag.“
„Meine Mutter ist jetzt in Australien…“
Michael sah mich an. In seinen Augen konnte ich sehen, dass ich die verletzte Stelle getroffen hatte. Ich sah ihn traurig an.
„Was ist mit dir? Ist deine Familie auch…?“
„Meine Mutter ist ein Wolf. Mein Vater hat es nicht ertragen und ist von der Brücke gesprungen. Nur meine Schwester ist nach Australien, und ich bin hier und wurde zurückgelassen.“ Er sah mir noch immer in die Augen. Ich verlor mich in ihren grünen Tiefen, während ich ihm zugehört hatte.
„Das … das tut mir leid…“, flüsterte ich und konnte mich nicht aus dem Bann seiner Augen befreien.
„Ist aus deiner Familie jemand infiziert?“
Ich schüttelte den Kopf, ohne meinen Blick abzuwenden.
„Leute, Essen kommt!“
Michael und ich drehten unsere Köpfe schnell zur Tür. Manfred und Alex kamen mit vier Tabletts in den Raum. Auf jedem stand eine Schüssel mit Suppe und ein Teller mit irgendeinem Braten. Mein Magen rumorte bei dem Anblick.
„Na, Vanessa, du hast sicher Hunger“, meinte Manfred und stellte mir das Tablett mit dem größten Braten auf die Matratze.
„Und wie…“, murmelte ich und machte mich sofort ans Essen. Ich schaufelte den Braten hinunter wie nix und schlürfte die Suppe aus der Schüssel. Als ich fertig war, seufzte ich und ließ mich zurück auf die Matratze fallen. Es war angenehm warm hier unten und kein bisschen stickig. Ich sog die Luft durch meine Nase ein und atmete zischend durch die Zähne aus.
„Geht’s dir wieder besser?“, fragte Manfred und schob sich einen Löffel Suppe in den Mund.
„Mir geht’s prima! Danke, dass ihr mich nicht den Wölfen überlassen habt…“, fügte ich noch dankbar hinzu und setzte mich auf.
„Ich glaube, du wirst uns noch eine große Hilfe sein! Trainierst du?“, fragte Manfred und sah an mir herunter.
„Ja, ich studiere Sport. Ich habe die fünfte Klasse übersprungen … Jetzt bin ich schon im studieren. Falls man das noch sagen kann…“, murmelte ich und sah zu Boden.
„Die Uni wurde schon von den Wolfmenschen erobert.“ Alex lächelte in sich hinein. „Vielleicht lernen sie sich dort das töten…“
Manfred stieß ihn den Ellenbogen in die Rippen und Alex flog das Stück Braten von der Gabel. Beleidigt stocherte er am Boden im Bratenstück herum, um es wieder auf seine Gabel zu befördern.
„Warum bist du so gerannt? Wolltest du irgendwo hin?“, fragte Manfred weiter. Ich stellte das Tablett auf den Boden und sah ihn an.
„Ich wollte zum Einkaufszentrum. Ich dachte mir, dass die Wölfe dort nicht hin können, dass ich dort sicher wäre…“
Michael prustete das Essen aus seinem Mund, als ich von meinem Vorhaben sprach. Ich sah ihn schockiert an und er wischte sich mit dem Ärmel über den Mund. In seinen Augen konnte ich sehen, wie blöd er die Idee fand.
„Was ist?“, fragte ich gereizt und sah Michael beleidigt an.
„Da wärst du dem Tod direkt in die Arme gelaufen!“, meinte er und sah mich aus den Augenwinkeln an. Ich seufzte genervt.
„Es wäre eine Alternative gewesen…!“, meinte ich und sah ihn stur an.
„Eine ziemlich bescheuerte Alternative…“
„Okay, Leute, genug der Streitigkeiten … wir werden morgen aufbrechen“, sagte Manfred und sah in die Runde.
„Aufbrechen? Wohin?“, fragte ich entsetzt. Ich war ja kaum Mal einen Tag hier!
„Wir wollen ins Landeskrankenhaus. Dort sind keine Wölfe, so weit können sie noch nicht vorgedrungen sein … und außerdem ist dort der Geruch nach Impfstoff zu stark, sie würden sowieso nie dort hinein und das Gebäude besiedeln…“, erklärte Manfred und sah dabei auf seine Gabel, die er in den Händen drehte.
Ich sah auf meine abgenutzte Decke. Das Landeskrankenhaus … warum war ich nicht darauf gekommen…
„Und ich darf mit?“, fragte ich. Manfred lachte tief und Alex stimmte mit ein.
„Kind, du gehörst von nun an zu uns! Ganz Wien ist in Australien, ebenfalls Amerika, Grönland, Finnland … wir müssen Wien vor dem Aussterben schützen! Du glaubst doch nicht ernsthaft, neun Leute würden den Zehnten einfach zurücklassen?“ Manfred sah mich mit seinen warmen Augen an. Ich musste lächeln.
„Wir werden die Welt retten!“, meinte ich mit einem leicht ironischen Unterton und Manfred und Alex stimmten wieder in mein Lachen ein. Nur Michael saß regungslos in einer Ecke. Doch als ich ihm einen prüfenden Blick zuwarf, sah auch ich seine Mundwinkel zucken.
Mittag verging schnell. Ich war kein bisschen müde, also blieb ich lange auf. Manfred und Alex quatschten die ganze Zeit, ich hörte ihnen amüsiert zu und Michael saß nur da. Ich verstand nicht, wieso er nicht mehr redete, warum er überhaupt hier war, wenn es ihn nicht freute. Irgendwie tat er mir leid. Elternlos … so einsam. Ich konnte es mir nicht vorstellen, dass meine Mutter ein Wolf wäre! Gott sei Dank war sie noch ein Mensch. Aber ich konzentrierte mich wieder auf das Gespräch von Alex und Manfred.
„…kann man nicht kochen! Wie würde das denn schmecken?!“
„Alex … du kennst dich zu wenig mit Fleisch aus! Man muss es nur richtig würzen, dann kann man alles damit machen!“
„Wer ist hier der Meisterkoch?“
„Wer ist hier Arzt?“
„Was hat das eine mit dem anderen zu tun?“
„Ärzte können auch kochen!“
„Nur im Einzelfall!“
„Ich habe … hatte täglich mit Fleisch zu tun! Ich kenne die Bestandteile…“
„Das hilft aber nicht beim Kochen…“
„Ich habe Medizin und Mathematik studiert! Wenn man alles genau ausrechnet, kommt man auf die Formel, es zu kochen!“
„Das ist idiotisch!“
„Na, na …! Glaub’s mir, das hab ich schon Mal gemacht!“
„Wer’s glaubt…“
Ich hörte den beiden gerne zu. Sie hörten nie auf zu reden, und die Themen die sie hatten, waren immer recht unterhaltsam…
„Vanessa, zählst du die Zeit?“
„Hm?“, fragte ich. Ich hatte gerade nicht aufgepasst.
„Wir machen einen Starrwettbewerb. Du zählst“, meinte Alex und grinste.
„Auf drei. Eins … zwei … drei!“, rief Manfred und beugte sich nach vorne. Er hielt die Augen weit offen und starrte Alex an, der es ihm gleich tat.
Ich zählte die Sekunden. Eins, zwei, drei, vier, fünf …
Nach den ersten zwanzig schoben dich Alex’ Lippen angestrengt zusammen. Manfred verzog keine Miene. Nach weiteren zehn traten Alex Tränen in die Augen, während er sie gequält zusammenkniff, ohne zu blinzeln.
Wir waren bei einer Minute, Alex’ Augen waren mittlerweile schon rot.
„Eine Minute!“, rief ich. Manfred verzog noch immer keine Miene. Da blinzelte Alex und Manfred jubelte los.
„Gewonnen! Ich habe gewonnen!“, rief er und fuchtelte mit den Fäusten in der Luft umher.
„Pah, du gewinnst eh immer!“, rief Alex beleidigt, doch dann fingen beide an zu lachen und ich konnte wieder Mal nicht anders, als einfach mitzulachen. Ich wusste gleich, unter Gleichgesinnten würde ich mich sicher wohl fühlen.
Der nächste Tag. Ich hatte sehr lange geschlafen, das lag wahrscheinlich an meinen Verletzungen. Aber der Schlaf hatte mir gut getan. So gut hatte ich schon lange nicht mehr geschlafen.
Ich setzte mich auf. Neben mir lag ein schnarchender Alex und in der Ecke hockte Michael, der ebenfalls zu schlafen schien. Nur Manfred war nicht da. Ich überlegte, ob ich mal die Gegend erkunden sollte, immerhin kannte ich von meiner derzeitigen Umgebung nur diesen Raum hier … und diese grauen Wände hatte ich schon viel zu lange angestarrt. Also stand ich auf, achtete darauf, dass mir nicht gleich wieder schwarz vor Augen werden würde, und trat von der Matratze auf den kalten Steinboden. In der Ecke neben der schweren Eisentür standen meine Schuhe. Ich bückte mich und zog sie über meine Füße. Nachdem ich aus der angelehnten Tür geschielt hatte, trat ich in den schmalen Gang. Hier gab es noch drei andere Türen, auf einer war ein rotes Kreuz zu sehen. Was das wohl bedeutete? Aber ich traute mich nicht, nachzusehen, irgendwann würde ich es schon erfahren.
Ich drehte mich zu einer der drei Türen. Ich hörte Stimmen aus dem dahinterliegenden Raum. Vorsichtig öffnete ich das schwere Metallteil und spähte hinein. Ich erkannte einen Rotschopf, der – wie ich mit Schrecken feststellte – um die vierzehn Jahre alt war, und ein blondes Fräulein in Militärhosen und einer riesigen Schusswaffe in der Hand. Das passte irgendwie alles nicht zusammen, kam mir vor. Ich öffnete die Tür noch ein bisschen weiter. Köpfe drehten sich in meine Richtung, und ich sah Manfred, der mich anlächelte.
„Wie geht es dir?“, fragte er wie ein Krankenhausangestellter und ich lächelte zurück.
„Ich glaube, mir geht es wieder gut! Die Medizin hat geholfen“, beantwortete ich seine Frage. Er nickte zufrieden und klopfte mit der Hand neben sich auf eine alte Couch. „Setz dich!“
Ich näherte mich der Sitzgelegenheit und ließ mich darauf nieder. Das Sofa quietschte, als ich mich setzte.
Nun hatte ich alle Anwesenden gut in meinem Blickfeld. Ich sah in die Runde und alle Blicke waren auf mich gerichtet.
„Das ist Vanessa! Sie wurde ebenfalls zurückgelassen und gehört von nun an zu uns“, stellte Manfred mich vor. Die Blonde lächelte und stand sofort auf. Sie kam mit eleganten Schritten auf mich zu, was so gar nicht zu ihrem Kleidungsstil passte …
„Hi, freut mich, dich bei uns begrüßen zu dürfen! Mein Name ist Tamara, aber die meisten nennen mich Tam!“
„Hi!“, grüßte ich zurück, als sie mir die Hand reichte und außerordentlich fest zudrückte, was schon wieder irgendwie dazupasste, und irgendwie wieder überhaupt nicht …
Dann kam der Rotschopf. Er hatte dieselbe Frisur wie Alex, und fast dasselbe Lächeln.
„Hallo, ich bin Brad!“, sagte er und schüttelte ebenfalls meine Hand. Ich nickte und lächelte zurück.
„Kommst du nicht von hier, oder wieso hast du einen englischen Namen?“, fragte ich und Brad lächelte.
„Ich bin ursprünglich wirklich aus Amerika, aber ich lebe seit meinem fünften Lebensjahr hier in Wien, da meine Eltern eine Weltreise machen und mich nicht mitnehmen wollten, also lebe ich seit her bei meinem Onkel. Na ja, jetzt nicht mehr, jetzt ist er ein Wolf …“
Schon wieder jemand, dessen Angehörige infiziert worden waren …
„Das tut mir Leid …!“, meinte ich, doch Brad winkte ab.
„Ich konnte ihn sowieso nie leiden …!“, grinste er, und ich war schon fast schockiert über diese Leichtigkeit, über so etwas hinwegzusehen.
Mein Blick fiel auf einen stämmigen und muskulösen Burschen, blond und braungebrannt. Der stand jetzt ebenfalls auf und kam auf mich zu. Sein sanftes Lächeln verriet mir, dass er nicht so gefährlich war, wie er aussah.
„Ich bin Thomas, kannst mich Tom nennen“, meinte er nur und ich lächelte zur Begrüßung. Dann kam eine kleinere Frau auf mich zu, jünger als Manfred, aber älter als ich. Sie wirkte neben Tom wie ein Zwerg, aber als sie vor mir stand, waren wir auf derselben Augenhöhe.
„Hi, ich bin Lisa! Ich koche hier für uns alle und helfe Manfred meistens, diese Bande hier unter Kontrolle zu halten, weil wir ja alle eigentlich ziemlich jung sind. Du bist Vanessa?“, fragte sie und ich nickte. „Willkommen Vanessa!“
Zum Schluss sah ich mich nach dem fünften um, da Manfred ja erzählt hatte, sie wären vor meiner Ankunft zu acht gewesen, doch ich sah niemanden mehr.
Manfred hatte bemerkt, dass ich nach jemandem Ausschau hielt und sagte deswegen: „Simon ist noch nicht da, er ist draußen und sichert schon mal die Umgebung, damit wir sicher losstarten können.“ Ich nickte, da rumorte mein Magen. Ein paar Anwesende lächelten und Lisa meinte sofort: „Ach Liebling, warum hast du nicht gesagt, dass du hungrig bist?“, und huschte aus dem Raum, um gleich darauf mit einer Schüssel Müsli den Raum zu betreten. Ich griff danach und lächelte sie dankbar an.
Nach etwa einer Viertelstunde betrat Alex den Raum und begrüßte alle Anwesenden. „Morgen Leute!“ Alle grüßten zurück und wir begannen zu reden.
„Habt ihr eure Sachen schon gepackt?“
„Sehr lustig Manfred …“, kommentierte Brad Manfreds Frage.
„Ja ja, ich meine Matratzen und Decken, du kleiner Idiot. Du brauchst mich nicht an unsere miesen Verhältnisse erinnern.“
Ich musste über die Umgangsweise lächeln.
„Tam, du siehst dann Mal nach Simon, du weißt, dass er nicht so gut mit einer Pistole umgehen kann …“, forderte Manfred Tamara auf, welche sofort einem Befehl folgte und sich aus dem Staub machte.
„Lisa, du hast die Küche schon bereit, oder?“
„Klar Manfred, alles bereit.“
„Gut!“, meinte der Arzt. „Wir werden um elf aufbrechen, damit wir spätestens um zwei beim Krankenhaus sind. In der Mittagssonne gehen die Wölfe, wie ihr wisst, nicht gerne spazieren, also nützen wir das aus.“
Die Tür öffnete sich, und Michael betrat den Raum.
„Hey Michi! Gut gepennt?“, rief Brad und Michael verpasste ihm im vorbeigehen einen nicht sehr sanften Klaps auf den Hinterkopf. Manfred ignorierte den jammernden Jungen und redete einfach weiter: „Sobald wir im Krankenhaus sind, werden wir uns nach Lebensmitteln und Medikamenten umsehen, ich muss noch weitere Gegenmittel für die Infektion zubereiten, falls es jemanden erwischen sollte.“ Die Gruppe nickte, nur Michael hatte sich an ein Regal gestellt und machte sich einen Kaffee. Es schien ihn nicht zu interessieren, was Manfred sagte.
„… bereit, Vanessa?“ Ich schnappte nur mehr das Ende von Manfreds Frage auf und sah ihn sofort an.
„Bitte?“
„Ob du bereit bist, Vanessa. Das wird ein schwieriges Abenteuer, zum Krankenhaus zu gelangen. Wir dürfen keine langen Pausen machen, sonst sind wir den Wölfen ausgeliefert.“
„Wir könnten sie zwar eine Weile aufhalten, da wir zwei ausgebildete Soldaten bei uns haben, aber wenn sie das Blut ihrer Artgenossen riechen, kommen sie alle und verteidigen sich gegenseitig.“
„Also sind sie ja eigentlich menschlicher als wir Menschen …“, murmelte Alex, aber alle ignorierten seinen Kommentar.
„Haben alle mitgekriegt, wie es heute ablaufen wird?“, fragte Manfred noch einmal, und alle nickten, ausgenommen Michael. Doch der wurde, wie immer, nicht beachtet.
Irgendwie ignorierten sie sich gegenseitig die ganze Zeit, aber dann auch wieder nicht … komischer Haufen.
Nachdem aus allen Zimmer die Schlafmatten zusammengerollt waren und alles in Rucksäcken und Taschen verstaut war, wurde alles nach oben ins Haus getragen, das schon von Tam und Simon – den ich immer noch nicht kannte – gesichert worden war.
Während ich mit den anderen die Treppe hinaufstieg, dachte ich über die Reise zum Landeskrankenhaus nach. Würden wir wirklich vor Einbruch der Dunkelheit dort ankommen? Wir waren ja noch nicht einmal im richtigen Bezirk, also fragte ich mich, wie sie es schaffen wollten, in drei Stunden dort zu sein, zu Fuß. Da waren überall die Absperrungen, die Autos, und natürlich die Wölfe, die zu Mittag zwar in den Häusern verkrochen waren, aber trotzdem da waren und eine Bedrohung darstellten. Es gab sicher Ausnahmen, die sich auf den Straßen rumtrieben …
„Stellt eure Rucksäcke da ab“, wurden wir von Manfred aufgefordert. Ich sah mich im Haus um. Es war verstaubt, die Familie, die zuerst hier gelebt haben musste, war wohl nicht sehr sauber gewesen …
„Und wir wollen das echt alles zu Fuß zurücklegen?“, hörte ich Brad fragen.
„Ja, müssen wir wohl. Aber bis zum Krankenhaus ist es nicht weit, und wenn wir Glück haben, finden wir eine leere Straße, über die wir auch mit einem Auto fahren können“, meinte Manfred nur, bevor er sich an Tam wandte. „Ist Simon okay?“
„Ja, ihm geht es gut, keine Zwischenfälle.“
„So weit so gut, wir können uns auf den Weg machen.“ Er gab Tam ein Zeichen, und sie lief hinaus und rief ihrem Kollegen etwas zu. Manfred drehte sich um und lächelte uns alle an.
„Also Leute, seid ihr bereit? Wir werden jetzt losgehen, hat jeder alles dabei?“ Bestätigendes Nicken war zu sehen, also nickte auch Manfred einmal zufrieden, ehe er mit mir zu sprechen begann: „Und du bist wirklich fit genug? Wenn es dir zu schlecht geht sollte dich Tom tragen …“
„Nein nein, es geht schon!“, winkte ich mit rotem Gesicht ab. Das war ja wirklich nicht nötig, immerhin war ich nicht so schwach wie ich vielleicht aussah …! Manfred schien meine Gedanken förmlich zu hören und grinste mich verstehend an.
„Na gut, ab jetzt werde ich dich nicht mehr wie ein ‚Fräulein‘ behandeln. Wir müssen alle starke Soldaten sein, Weicheier werden nicht geduldet und notfalls zurückgelassen.“ Ich sah ihn schockiert an, doch er lachte nur. „Das war ein Scherz, aber wir müssen fit genug sein, um das durchzuhalten. Wenn jemand in Schwierigkeiten ist, helfen wir unter Einsatz unseres Lebens, das musst auch du, sonst wirst du wirklich rausgeschmissen.“
Ich schluckte. Wollte ich wirklich für einen von ihnen mein Leben lassen …? Klar, wir waren die einzigen zehn verbleibenden Überlebenden in ganz Wien, aber trotzdem … ich kannte keinen von ihnen richtig, noch wollte ich mein Leben jetzt schon beenden.
„Hör zu, wenn du jetzt zweifelst will ich dir eines sagen: ich würde sofort mein Leben für einen dieser Idioten geben, auch für dich, mein Spätzchen. Wir sitzen alle in einem Boot, wenn einer ins Wasser zu fallen scheint, beginnt es zu schwanken, und wir könnten alle untergehen, wenn ihn nicht einer versucht, sein Schwanken auszugleichen und ihn wieder in die Mitte des Bootes zu ziehen. Und wenn beide dabei untergehen, dann muss man das eben akzeptieren.“ Seine Aussage schien etwas brutal, wenn nicht sogar grotesk, doch ich verstand, was er damit sagen wollte.
Ich sah Manfred lange an, und dann erwiderte ich sein warmes Lächeln. „Du hast Recht, ich werde mich an eure Gruppe anpassen und versuchen, niemandem zur Last zu fallen und euch zu helfen!“
[TO BE CONTINUED]
Tag der Veröffentlichung: 21.06.2011
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