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Kalenderzauber
Es war an einem Sonntagabend als ich genervt vom alljährlichen Adventsessen, bei dem sich die ganze Familie bei Oma versammelte, zurück kam. Jedes Jahr das Gleiche, dachte ich. Die alten Tanten, die immer wieder den Spruch: „Ach, bist du schon wieder groß geworden!“, losließen, der neueste Klatsch und eine Menge Essen. Und jedes Jahr bekam ich einen Adventskalender von Oma. Ich hatte mal daran gedacht, dass ich mit 14 vielleicht schon zu alt für so etwas wäre, aber nein, das stimmt nicht! Für manche Sachen ist man nie zu alt. Und eine der Sachen ist eben der Adventskalender. Meine Oma schenkte mir dieses Jahr natürlich wieder den gewöhnlichen Schoko-Kalender von Aldi mit kindischen Weihnachtsfiguren, die ich früher immer abmalen wollte. Es war wirklich alles wie immer. Als ich also nach Hause kam, legte ich den Kalender auf mein Sofa. Noch drei Tage, dann war der erste. Dann würde ich das erste Türchen aufmachen und den köstlichen Geschmack von Aldi-Adventskalender-Schokolade schmecken. Ich freute mich. Doch dann kam alles ganz anders…


„Merry Christmas War Is Over“ lief im Radio als ich am 1. Dezember, einem Mittwoch, aufwachte. Manche Weihnachtslieder gingen mir schon auf die Nerven, aber dieses Lied gehörte zu meinen absoluten Lieblings-Weihnachtsliedern. Ich stand auf und ging geradewegs auf den Kalender, der immer noch auf dem Sofa lag, zu. Ich wusste schon wo ich das erste Türchen finden würde, doch es ließ sich sehr leicht öffnen. So, als hätte es schon mal ein anderer vorher geöffnet. Und was war das? Keine Schokolade! Wahrscheinlich hätte ich meine kleinen Geschwister verdächtigt. Wenn ich welche gehabt hätte. Aber ich konnte mir absolut nicht vorstellen, wer die Schokolade von meinem Adventskalender geklaut haben könnte. Ich beschloss, meine Mutter zu fragen, doch auch die hatte, wie erwartet, keine Ahnung. Übrigens lebte ich allein mit meiner Mutter. Vor Jahren trennten sich meine Eltern, aber ich weiß immer noch nicht, warum. Es war damals ziemlich schlimm für mich. Aber zurück zur Geschichte. Den ganzen Morgen über beschäftigte mich diese Sache. Früher hatte ich die ganze Schokolade immer schon im November gegessen, aber aus diesem Alter war ich definitiv raus und ich wusste ganz sicher, dass ich es nicht gewesen war! Ich öffnete auch das zweite Türchen, weil ich unbedingt wissen wollte, ob überall die Schokolade weg war. Wieder ließ es sich sehr leicht öffnen, doch was war das? Die Schokolade, die mal ein Motiv von einem Mond hatte, war weg, aber etwas Glitzerndes saß auf dem Plastik vor dem Mondbild. Ich kam mit meinem Kopf ganz nah heran, um besser sehen zu können. Ich sah eine winzige Fee, die, wie es aussah, schlief. „Wow!“, staunte ich, „Das sieht sogar richtig echt aus!“ Da schreckte das kleine Etwas hoch, blinzelte und schaute mich schließlich mit großen Augen an. Eine wunderschöne, helle und weiche Stimme fragte: „Hallo, Sina.“ Es dauerte etwas bis ich begriff, was hier gerade passierte. „Woher kennst du meinen Namen?“, fragte ich. Da antwortete die Fee mit ihrer zarten Stimme: „Na, ich bin doch deine Weihnachtsfee! Ich komme jedes Jahr im Dezember zu dir, um dir eine schöne Adventszeit zu bescheren.“ „Aber. Wie? Ich glaube doch gar nicht an Feen! Und wieso isst du eigentlich meine Schokolade?“ „Also erstens glaubst du an Feen, denn sonst könntest du mich nicht sehen. Und zweitens, tut mir leid, aber Feen lieben Schokolade und weil ich heute noch nichts gegessen habe, konnte ich nicht widerstehen.“ Irgendwie kam mir das hier alles sehr bekannt vor. Letztes Jahr hatte ich ein Buch über Feen gelesen, in dem auch ein Mädchen vorkam, das die Feen nur sehen konnte, weil es an sie geglaubt hat. Und etwas mit Schokolade kam auch in der Geschichte vor. Ich beschloss, erst einmal an Feen zu glauben, denn später, nachdem ich sie ausgefragt hatte, konnte ich meine Meinung ja immer noch ändern. „Und was machst du bei mir, wenn du jedes Jahr im Dezember kommst?“ „Wir Weihnachtsfeen sind dafür da, euch Menschen zu beschützen und euch Frieden zu schenken, damit die Weihnachtszeit eben auch schön friedlich bleibt“, erklärte sie, „Außerdem darfst du dir auch etwas von mir zu Weihnachten wünschen. Etwas, was dir niemand sonst schenken kann.“ Ich überlegte, aber mir fiel im Moment wirklich nichts ein. Die Fee, die übrigens Gabriela hieß, sagte mir, ich solle mir ruhig Zeit lassen, denn ich würde es sowieso erst am 24. bekommen. Am nächsten Morgen begleitete mich Gabriela in die Schule. Niemand bemerkte, dass sie während des ganzen Unterrichts auf meiner Schulter saß, und selbst wenn es jemand bemerkt hätte, hätte er wohl eher sich selbst für verrückt gehalten als mich, weil eine Fee auf meiner Schulter saß. Als ich, oder besser gesagt wir, nach Hause kamen, war ich bestens gelaunt, doch die gute Laune verflog schnell, als ich mit meiner Mutter über meine Mathe-Note stritt. Früher hatte ich immer Papa die schlechten Arbeiten unterschreiben lassen, weil er mit so etwas viel lockerer umging, und meine Mutter hatte davon nichts mitgekriegt, doch seit er ausgezogen war, hatte sich das geändert. Es hatte sich vieles verändert. Ich vermisste ihn. Ich machte mit Gabriela schnell meine Hausaufgaben und dann begann ich, ihr Französisch beizubringen, da wir gerade noch die Vokabeln abgeschrieben hatten. Es machte sehr viel Spaß Zeit mit ihr zu verbringen und der Nachmittag verging wie im Flug. Als es Abend wurde, legte ich mich in mein Bett und Gabriela schlief neben mir auf dem Kopfkissen ein. Ihr leises Schnarchen war wie Musik, von der ich in einen tiefen Schlaf fiel… Ich träumte von einem kleinen Mädchen, was auf dem Teppich in unserem Wohnzimmer saß. Das Mädchen war ich, als ich noch jünger war. Neben mir saß mein Papa und wir bauten einen Turm aus Lego-Steinen. Meine Mama stand hinter uns und filmte uns beim spielen. Dann stand Papa auf, lief in den Flur, wo zwei gepackte Koffer standen, nahm diese und ging zur Tür. Er drehte sich um und winkte. Mama stand plötzlich neben mir und legte den Arm um mich. Eine Träne lief mir die Wange hinunter und die Tür fiel ins Schloss… Davon wachte ich auf. Ich dachte über den Traum nach. Dabei spürte ich einen stechenden Schmerz in meinem Herz. Ich betrachtete Gabriela, während sie seelenruhig weiter schnarchte und auch bald schlief ich wieder ein. In den folgenden Nächten träumte ich immer diesen Traum. Jede Nacht lag ich wach und dachte nach. Ich überlegte, was dieser Traum bedeuten sollte. In der Nacht zum Heiligabend wusste ich es! Als ich mich nämlich zu meiner Fee umdrehte, fiel mir der Wunsch ein, den ich mir noch von ihr wünschen konnte. Etwas, was mir kein anderer schenken kann. Ich wünschte mir meinen Papa zurück. Ich wünschte mir, dass meine Eltern sich wieder vertragen würden. Ich wünschte mir eine Familie, die wieder komplett war. „Und? Ist dir etwas eingefallen?“, fragte mich Gabriela am Morgen des 24. Dezembers mit einem Schmunzeln. „Ja“, sagte ich, „Ja, ich weiß jetzt, was ich mir wünsche. Ich wünsche mir, dass mein Vater zurück kommt.“ Als ich am Nachmittag die Treppe hinunter lief, hörte ich Stimmen aus dem Wohnzimmer. War das…Papas Stimme? Ich lugte um die Ecke. Ja, da saß er. Schnell drehte ich mich wieder um und lauschte. Ich verstand nicht alles, aber er sagte etwas wie: „Es tut mir leid, was damals geschehen ist. Es tut mir so leid.“ Stille. Ich blickte erneut um die Ecke. Und da sah ich, wie meine Eltern sich in den Armen lagen.
Es wurde noch ein sehr schöner Weihnachtsabend. Ich bekam Geschenke, wir aßen und lachten. Mein Papa, meine Mama und ich, eine Familie. Als ich später ins Bett ging, fiel mir ein, dass ich Gabriela schon seit heute Mittag nicht gesehen hatte. Wo war sie? Ich sah im Kalender nach, doch hinter keinem Türchen war sie versteckt. Sie war auch sonst nirgends zu finden. Schließlich schlief ich mit einem komischen Gefühl im Bauch ein. Wieder hatte ich einen Traum. Ich sah Gabriela, wie sie mir winkte und sagte: „Bis nächstes Jahr, Sina.“ Ich winkte zurück. Als ich am nächstens Morgen aufwachte, lag ein Stück Schokolade neben mir auf dem Kopfkissen und ein kleiner Zettel, auf dem in schöner Handschrift ihr Name geschrieben war.
Gabriela


Lisa Neumann

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Tag der Veröffentlichung: 11.11.2010

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