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Kapitel 1



Schon wieder so ein grausamer Tag, denke ich, als ich die Augen öffne und den frischen Lavendelduft in meinem Zimmer wahr nehme. Die Sonne scheint, es soll heute über 30 Grad warm werden. Na toll, denke ich mir und gehe zu meinem kleinen, rosa Kleiderschrank, den ich jetzt schon 10 Jahre habe. Ich bekam ihn damals zu meinem fünften Geburtstag von meiner Tante Gudrun. Damals war ich noch glücklich, ich war ein fröhliches Kind, das viel Spaß am Leben hatte.
„Miriam jetzt beeil dich doch mal, willst du das der Bus weg fährt!?“
„Nein“ sage ich, aber ich weiß das, dass eine Lüge ist. Wenn ich es mir aussuchen könnte, würde ich mein Leben lang zu Hause bleiben. Ich ziehe mir mein neues grünes Top, das gut zu meinen grünen Augen passt, und meine lange blaue Jeans, die ich gerade erst in meinem Lieblingsladen gekauft habe, an und stürze die Treppe herunter. Unten erwartet mich ein ganzer Stapel Toastbrot mit Kassler, den ich in meine Tasche stecke.
„Morgen Tante Gudrun“, sage ich und bin schon auf dem Weg zur Tür, als sie mich aufhält.
„Schätzchen ich muss mit dir reden.“ Tausend Gedanken gehen in diesem Moment in meinem Kopf rum. Hat Herr Riesling etwa angerufen, um zu berichten, dass ich mich dermaßen verschlechtert habe? Oder will sie mir mal wieder sagen, dass sie immer für mich da ist? Mit einer wegbewegenden Handbewegung gebe ich ihr zu verstehen, dass ich jetzt unbedingt zur Schule muss, denn ich habe keine Lust mit ihr hier und jetzt zu reden.
„Es ist aber wichtig!“
„Nein“, sage ich und renne die Auffahrt runter zur Straße, wo das kleine Bushaltestellenhäuschen mit dem schwarzen Dach steht. Einen Moment lang glaube ich, dass sie mir folgt, aber als ich mich umdrehe merke ich, dass das nicht so ist.

Es ist 7:50 Uhr und meine Laune verschlechtert sich jetzt zunehmend, denn ich stehe direkt vor der Schule. Ich bin eigentlich sehr gut in der Schule, habe in fast jedem Fach eine 2, außer in Mathe. Mathe ist nicht mein Spezialgebiet, wenn es etwas gibt, dass ich mehr hasse als Schlangen oder Spinnen, dann ist das Mathe.
„Na Miriam gut geschlafen?“ Mit diesen Worten werde ich aus meinen Gedanke gerissen. Franziska stolziert nun breit grinsend mit ihrer besten Freundin Jaqueline an mir vorbei. Anscheinend ist das ja so witzig, dass sie nun so laut lachen, dass sich meine Mitschüler verwundert nach ihnen umdrehen. Franziska und Jaqueline sind die, mit denen ich mich am ehesten aus meiner Klasse anfreunden würde. Nett sind sie ja nicht gerade, doch im Gegensatz zu Lena und Maggie auch irgendwie schon. Ich gehe auf die Tür des Klassenraumes zu. Eine riesige, dunkle Tür mit einer roten Schrift. „Das Horrorzimmer“ steht drauf und ich merke, dass hier etwas nicht stimmt. Gestern war das noch nicht so, denke ich mir. Ich bleibe stehen und betrachte die Tür eine Weile, bis sie auf einmal geöffnet wird und ein riesiges, ekelhaftes, schleimiges Monster auf mich zu rennt. Mich durchzuckt ein Angstgefühl und ich fange an zu schreien, will wegrennen. Aber ich komme nicht weit, denn ich falle direkt in die Arme meiner Deutschlehrerin Frau Peters.
„Um Gottes Willen, was ist denn mit dir los?“, fragt sie ganz beunruhigt.
„D-D-Da“, stottere ich.
„Hey, hey, hey du bist ja völlig verstört.“ Ich fasse es nicht, wie kann sie denn so ruhig bleiben, wenn gerade ein Monster auf sie zuläuft? Merkt die denn gar nicht was hier abgeht? Ich schaue mich noch einmal um und was ich da sehe, verschlägt mir die Sprache. Die Tür, die eben noch schwarz und gruselig war, ist jetzt wie immer: froschgrün. Und das schleimige Monster, das mich eben noch angriff, ist jetzt Felix, der mich anstarrt, als hätte ich eine dreckige Klobürste auf dem Kopf. So langsam begreife ich, dass ich mir das alles nur eingebildet habe. In diesem Augenblick laufe ich rot an, die ganze Klasse steht vor der Tür und lacht. Felix hat den anderen Bescheid gesagt; so ein Mistkerl.
„Miriam, möchtest du mir etwas sagen?“ Frau Peters ist immer noch aufgeregt und schaut mich mit fürsorglichen Augen an.
„Entschuldigung, ich glaube ich habe schlecht geschlafen“ was Besseres viel mir in diesem Moment nicht ein.
„Bist du sicher?“
„Ja, natürlich“ Mit langsamen Schritten gehe ich in die Klasse, setzte mich auf den Einzelplatz, ganz hinten in der Ecke und warte bis es endlich klingelt.
Die letzten 2 Minuten, fühlen sich an wie gefühlte 2 Stunden. Immer wieder habe ich das Gefühl, dass ich angestarrt werde. Und jetzt endlich klingelt es, eine riesen Erleichterung. Frau Reine stürmt in die Klasse, ihre blonden, langen Haare wippen dabei hin und her.
„Good Morning Boys and Girls“
„Good Morning Missis Reine” leiern wir alle gelangweilt hinterher. Englisch mit Frau Reine zu haben, ist ein Traum. Alle sind begeistert von ihr, auch wenn man das an der jetzigen Begrüßung nicht hört. Ich finde sie ist die netteste Lehrerin auf dem ganzen Planeten. Frau Reine unterstützte mich schon von Anfang an, die anderen Lehrer nahmen mich allerdings im Unterricht hart dran. Sie wollten anscheinend mein Wissen testen. Irgendwie hatte ich es in dieser Klasse schon von Anfang an nicht leicht.
Frau Reine stellt ihre Tasche auf den Lehrerpult und hebt dann so schnell ihren Kopf, dass man denken könnte, sie hätte einen Schock.
„Miriam, kommst du mal bitte eben mit vor die Tür?“ oh nein, Frau Reine will sicherlich mit mir über meinen Vorfall reden.
„Ja“ sage ich und folge ihr.
Langsam schließt sie die Tür hinter sich, senkt ihren Blick zum Boden und schaut mich dann mit ernstem Blick an.
„Miriam, ich habe das Gefühl, das dich etwas bedrückt. Möchtest du vielleicht darüber reden?“ Dieser Satz flog so schnell über ihre Lippen, dass ich mir erst einmal den Sinn klar machen muss. Ich überlege einen Moment, ob ich ihr über meine Situation berichten sollte, entscheide mich dann aber doch für ein „Nein“. Frau Reine nimmt das komischerweise einfach so hin. Normalerweise quetscht sie einen so lange aus, bis man ihr alles erzählt hat.
„Gut, ich schlage vor du gehst jetzt erst mal nach Hause“ hat sie das gerade ernst gemeint, oder war das ein Scherz? Innerlich freu ich mich total, raus aus dieser Schule, weg von meinen Mitschülern. Am liebsten würde ich jetzt Luftsprünge machen, aber jetzt ziehe ich erst einmal ein trauriges Gesicht. Frau Reine schaut mich noch einmal mitfühlend an und dann öffnet sie die Tür. Doch einen weiteren Schritt macht sie nicht. Lena und Maggie plappern auf die gutaussehenden Jungen Max und Phillip ein, die aber nicht sehr daran interessiert sind mit den beiden zu reden. Felix sitz mit seinen Kumpels in der hintersten Ecke, die über das Thema- wie soll es auch anders sein- „Mädchen“ reden. Franziska liegt auf dem Lehrerpult. Jacqueline und Susan bewerfen sich mit Papierkügelchen, die sie aus den Seiten des Geschichtsbuches herausgerissen haben. An Frau Reines Gesicht kann man deutlich erkennen, dass sie das nicht von ihrer Klasse gewöhnt ist.
„Ruhe!“ Auf einmal ist es still, totenstill. Es ist so still, dass es mir ein wenig Angst macht. Langsam schleiche ich wieder auf meinen Platz zurück und auch die anderen bewegen sich jetzt in Richtung Stuhl.
„Miriam wird jetzt gehen“
„Echt, cool wo zieht die Schlampe denn hin?!“ sofort erkenne ich die Stimme der Person. Diese raue Stimme kann nur Max haben. Ich merke wie sich meine Kehle zuschnürt und mir die Tränen in die Augen steigen.
„Max du gehst jetzt sofort in den Trainingsraum“
„Alter ey, ich hab doch Garnichts gemacht!“ die Wut steigt in mir hoch und nun kann ich auch schon die erste Träne spüren. Ich will weg hier, einfach nur weg. Mit diesen Gedanken renne ich aus dem Klassenraum. Das Letzte was ich höre ist „Das passt ja, sie wollte ja eh gerade gehen“. Ich renne den Flur entlang zur Aula, ich merke gar nicht wie ich laufe, es fühlt sich alles wie betäubt an. Meine Tränen laufen und laufen. Warum ich, warum?! Warum musste ich in dieses blöde Kaff ziehen? Warum verdammt nochmal? Die 6km bis zu meinem Haus muss ich laufen, um diese Zeit fährt kein Bus. Es dauert ca. eine Stunde bis ich endlich den Flur betreten kann und mich endlich in meinem Zimmer einschließen darf.


Kapitel 2



„Schätzchen was soll denn das? Mach doch endlich die Tür auf und rede mit mir“
Es ist schon spät geworden, draußen ist es schon dunkel und ein Gewitter ist aufgezogen. Ich liege auf meinem Bett und starre das Bild von meinen Eltern an. Der Regen trifft immer härter gegen die Scheibe, bei jeden Tropfen dröhnt es in meinem Kopf. Es gibt so viele Dinge, die ich nicht verstehen kann und auch nicht will.
„Miriam ich hab dir einen Kakao gemacht“ ich sage dazu nichts, denn ich habe jetzt keine Lust auf Kakao, der hilft mir nun auch nicht weiter.
„Miriam wenn du nicht sofort mit mir redest, breche ich die Tür auf!“
„Gudrun ich möchte keinen Kakao und ich will auch nicht mit dir reden. Lass mich in Ruhe!“ schreie ich mit aller Kraft in den Raum und dann wird es still. Hat sie es nun wirklich verdient, dass ich sie anschreie? Sie kann doch nichts dafür, dass es mir schlecht geht. Sie tut alles dafür, dass es mir hier gut geht und ich vergraule sie.
„Miriam ich möchte mit dir reden“ ich erschrecke mich so sehr, dass ich vom Bett falle und mir den Zeh an der Kante meines Schrankes stoße.
„Au!“ der Schmerz schießt mir einmal durch meinen Fuß. Ich erhebe mich, gehe zur Tür und schließe die Tür auf. Ich habe das Gefühl, dass ich ihr das jetzt schuldig bin, nachdem ich so rumgeschrien habe.
„Schätzchen“ Dieses Wort scheint ihr Lieblingswort zu sein, denn seit ich mit ihr zusammen lebe, sagt sie nur noch Schätzchen zu mir. Gudrun nimmt mich in den Arm und zum ersten Mal an diesem Tag, habe ich das Gefühl, das ich etwas wert bin. Sie gibt mir einen dicken Schmatzer auf die Wange und stellt den Kakao auf meinen Nachttisch.
„Ich dachte schon ich bekomme dich gar nicht mehr zu sehen“ Das sagt sie mit einer so traurigen Stimme, dass sofort Schuldgefühle in mir hoch kommen. Genauso wie damals, als meine Eltern starben. Ich erinnere mich nicht gerne an den Tag, der mein Leben veränderte. Ich merke wie Gudrun mich nun besorgt anschaut.
„Du denkst an deine Eltern, oder?!“ Ich nicke ihr zu.
Wie gut meine Tante mich nun schon kennt, sie weiß immer gleich, wenn es mir schlecht geht. Gudrun ist die beste Tante, die man sich wünschen kann. Schlecht sieht sie auch nicht aus mit ihren kurzen, roten Haaren. Es ist eigentlich schade, dass sie noch keinen Mann hat, aber wie würde es wohl sein, wenn sie einen hätte?! Hätte sie dann überhaupt noch Zeit für mich? Über solche Dinge möchte ich mir aber lieber nicht den Kopf zerbrechen, es gibt genug andere Themen dazu. Gudrun und ich setzten uns aufs Bett, und sehen uns an.
„Schätzchen, du weißt sicherlich, dass ich immer für dich da bin. Du kannst mir alles erzählen.“ Sie macht eine kurze Pause, als würde sie darüber nachdenken, was sie sagen soll.
„Schätzchen, ich habe bemerkt, dass du dich hier nicht so wohl fühlst. Möchtest du mir vielleicht sagen, was dich bedrückt?“ Ich weiß nicht, ob ich ihr von meinen Problemen erzählen sollte. Ich weiß nicht, ob ich ihr jetzt alles erzählen kann, ohne dabei in Tränen auszubrechen.
Ich entscheide mich dafür, den wichtigsten Teil für mich zu behalten.
„Gudrun es ist so…ich…naja ich komme mit dieser Gegend nicht so zurecht. Es ist was ganz anderes im Gegensatz zu Köln, verstehst du? Es liegt nicht an den Leuten...“ Und in diesem Moment weiß ich, dass das eine komplette Lüge war. Ich schäme mich total für meine Lüge, denn normalerweise Lüge ich nicht, jedenfalls nicht gewollt.
„ Schätzchen, kann ich dir irgendwie helfen dich an diese Umgebung zu gewöhnen?“
„ Hm…vielleicht könntest du morgen mit mir in die Stadt fahren, das hilft mir nicht mich an die Umgebung zu gewöhnen, aber ich brauche dringend neue Klamotten."
„Na klar, ich kann dich aber nur hinfahren und dich dann später wieder abholen, ich hab noch einen Termin. Möchtest du vielleicht eine Freundin mitnehmen?“ In dem Moment als sie diesen Satz ausspricht, lasse ich meine Kakao Tasse fallen, die ich mir gerade in die Hand genommen habe. Was soll ich denn jetzt nur sagen? Wird sie merken, dass ich sie anlüge? Verzweifelt versuche ich mir nichts anmerken zu lassen.
„Schätzchen, dein schöner Teppich“, schreit sie jetzt und läuft die Treppe runter. Puh, ich hab also noch genügend Zeit um mir was einfallen zu lassen. Wenn ich daran denke, dass sie gleich wieder in mein Zimmer kommt und mich nach einer Freundin fragt, dreht sich mein Magen um. Ich spiele mit meinem Armband rum um meine Nervosität abzubauen, ich denke angestrengt nach, aber mir fällt nichts ein. Ich höre wie es auf der Treppe poltert und meine Tante ins Zimmer stürmt.
„Schätzchen, was machst du denn?!“, schreit sie und schaut auf die große Pfütze Kakao, in der ich gerade stehe. Meine weißen Socken sind nun braun und erst jetzt merke ich wie warm und nass es an meinen Füßen ist. Ich stolpere zurück und verursache damit noch einen größeren Fleck auf meinem blauen Teppich.
„Tut mir leid“, sage ich und nun schaut sie mich mit großen Augen an.
„Du brauchst dich doch nicht zu entschuldigen.“
„Doch.“ Und jetzt fange ich an zu weinen, ich weiß nicht warum oder wieso. Ich lasse es einfach aus mir raus. Gudrun lässt ihren Lappen fallen und nimmt mich in den Arm. Ich fange jetzt noch lauter an zu schlucksen wie vorher.

Es dauert über eine halben Stunde, bis ich mich beruhigt habe. Meine ganzen Emotionen haben sich über die Wochen aufgestaut und sind nun aus mir raus gebrochen. Ich fühle mich jetzt ein wenig erleichtert, es kommt mir vor als hätte ich genau das gebraucht.
Ich schmeiße meine neue CD in die Anlage und drücke auf „Play“. Ich setze mich aufs Fensterbrett und starre in die Nacht. Muss das wirklich so weitergehen? Soll ich mein ganzes Leben leiden? Ich versuche diese Fragen auszuschalten und mich auf die Umgebung zu konzentrieren. Draußen wird es schon wieder langsam hell, aber an schlafen kann ich jetzt nicht denken.
Ich öffne das Fenster und genieße die frische Luft. Der Mond scheint hell am Himmel und beleuchtet mein Zimmer. Ich schaue mir die Sterne an und denke nun doch noch einmal über den Tag nach. Wie konnte das nur wieder passieren!? Am liebsten würde ich mich verstecken oder einfach nur wegziehen. Irgendwo hin, ganz egal wohin, einfach nur weg aus dieser Gegend. Vielleicht nach Stuttgart oder nach Berlin, ich liebe große Städte. Nach Köln würde ich allerdings nicht gehen, es würde zu viel in mir aufwühlen. Ich sehe alles noch Glasklar vor meinen Augen, die einzelnen Autoteile auf der Straße verteilt, der Rauch, der aus dem Auto kommt und die vielen Menschen die anhalten und versuchen mich und meine Eltern aus dem Auto zu befreien. Ich merke, wie die Tränen wieder in mir aufsteigen. Ich versuche, an was anderes zu denken, an die fröhlichen Dinge des Lebens, aber irgendwie will mir das nicht so recht gelingen. Ich stehe auf und gehe zu meinem Nachtschrank, um mir ein paar Taschentücher nachzusuchen. Als ich die Schublade öffne, kommen mir hunderte von Kabel entgegen. Mist, ich habe also die falsche Schublade geöffnet. Seit ich diesen Nachtschrank habe, habe ich die gleiche Ordnung. Kabel oben, sonstiges Unten. Irgendwie habe ich das bis heute noch nicht begriffen. Ich öffne die zweite Schublade, nehme mir ein Taschentuch raus und wische mir die Tränen aus den Augen. Ich gehe zu meinem Kleiderschrank, ziehe mir meinen frisch gewaschenen Schlafanzug an und lege mich ins Bett. Draußen ist es jetzt noch heller geworden, ich schaue auf die Uhr. 5:00 ist es jetzt. Ich habe also die ganze Nacht durch gemacht. Ich überlege, ob ich jetzt schlafe oder ob ich die nächsten 24 Stunden auch noch durchmachen sollte. Doch zum Überlegen komme ich gar nicht mehr, denn in diesem Augenblick fallen mir die Augen zu.


Kapitel 3



Mit einem lauten Schrei und Schweiß gebadet wache ich auf. Es ist 14:00 Uhr und die Sonne scheint direkt in mein Zimmer. Ich stelle fest, dass ich schlecht geträumt haben muss, denn eben lief ich noch vor einem Esel davon. Ich steige langsam aus meinem Bett und werfe einen Blick nach draußen. Es weht ein schwacher Wind, die Vögel fliegen mit großem Bogen um das Haus. In einem kleinen angelegten Garten, direkt vor unserem Haus, blühen Sonnenblumen, die ich im Frühjahr angepflanzt hatte. Ich schaue mir die Sonnenblumen noch einen Moment an und dann renne ich die Treppe runter. Ich atme dabei einmal tief ein, denn in diesem Moment fliegt mir ein köstlicher Duft in die Nase. Spagetti, denke ich sofort und renne nun noch schneller. Spagetti ist mein Leibgericht seit ich 5 Jahre alt bin. Ich weiß noch genau, wann ich das erste Mal mit meinen Eltern beim Italiener war. Ich war zehn und ziemlich aufgeregt. Ich hatte zuvor immer in Werbungen gesehen, wie Pärchen in einem Restaurant saßen und sich eigenartig benahmen. Neben ihnen ältliche Messer und Gabel, die immer genau nebeneinander lagen. Sie legten sich ihre Servierten auf ihren Schoß und fingen an, sich irgendein Besteck auszusuchen. Ich fand das völlig verrückt! Es erinnerte mich ein wenig an eine Königin, die sich zu benehmen hatte.
Im Restaurant angekommen war es dann doch gar nicht so schlimm. Nach meiner Bestellung brachte mir ein freundlicher Italiener eine große Portion Spagetti mit Tomatensoße. Die Spagetti schmecken einfach wunderbar. Nachdem wir wieder zuhause waren, wollte ich unbedingt noch mal eine Portion Spagetti.
„Miriam?“
„ Ja, ich bin hier!“ schreie ich, noch bevor ich die letzte Treppenstufe erreicht habe. Ich laufe so schnell, das ich fast von der Treppe falle, kann mich aber dann doch gerade noch am Treppengeländer fest halten.
„Wann soll ich dich hinbringen?“
„Ähm… ich denke, du kannst mich in einer Stunde hinfahren.“ sage ich nebenbei, als ich mir die frisch gekochten Spagetti auf den Teller lege. Ich setzte mich an den grünen, runden Tisch der sogar nicht in unsere blaue Küche passt und fange an zu essen. Die Spagetti und die selbstgemachte Soße von Tante Gudrun schmecken mal wieder köstlich. Am liebsten würde ich nichts anderes mehr essen.
Gudrun guckt mich ein wenig traurig an und fragt mich wie es mir jetzt ginge.
„Toll!“ sage ich in einem überheblichen Ton und schaue dabei an die Wand hinter ihr. Sie soll auf gar keinen Fall mitbekommen, wie es mir gerade geht. Sie würde sich mal wieder zu viele Gedanken machen. Ich weiß noch, wie ich ihr vor einem Jahr erzählte, dass meine Mitschüler mich mobben würden. Meine Tante war so geladen, das sie sofort die Koffer mit mir packte um irgendwo anders hinzuziehen und mit mir von vorne anzufangen. Ich konnte sie gerade noch dazu überreden, zu bleiben, denn ich stand direkt vor einer wichtigen Arbeit, die ich auf gar keinen Fall verpassen wollte. Und außerdem wollte ich meiner Tante nicht alles kaputt machen, dass sie sich hier so hart erkämpft hatte. Ich konnte nicht einfach von ihr verlangen, von hier weg zu ziehen.
Seitdem spiele ich ihr nun vor, dass ich Freunde hätte. Es fällt mir nicht immer leicht, besonders nicht, wenn sie mich ständig fragt, warum meine Freunde mich nicht besuchen.
Manchmal finde ich es schon ein bisschen lustig, dass sie meine Lügen nicht bemerkt, aber die Traurigkeit überwiegt dann immer dieses Gefühl.
Gudrun scheint auch diese Lüge wieder zu glauben und verschwindet wortlos im Wohnzimmer. Ich mache mir erst einmal Gedanken darüber, in welchen Laden ich gehe. H&M, New Yorker, C&A, Orsay und Deichmann. Vielleicht auch noch zu Thalia. Mal sehen wie viel Zeit ich dann noch habe. Ich brauche dringend neue Klamotten denn mein Kleiderschrank gibt leider nicht mehr viel her.

Es ist kurz nach drei und ich sitze mit meiner Tante in ihrem neuen kleinen Auto. Wieder einmal schweigen wir, nur die Musik von Luxuslärm ist zu hören. Wälder und Häuser ziehen an uns vorbei, die Sonne scheint immer noch und ich merke, wie es immer wärmer wird im Auto. Ich mache das Fenster auf und lasse die frische Luft in mein Gesicht wehen.
Ich genieße diesen Augenblick, denn es fühlt sich an, als ob ich von allen Sorgen befreit wäre.
„Was willst du heute eigentlich so machen?“
Und genau mit diesen Worten verfliegt dann auch das Gefühl.
„Ich weiß noch nicht genau. Franziska wollte sich mit mir bei H&M treffen.“, lüge ich ihr wieder einmal ins Gesicht. Mit einem erleichterten Blick schaut sie mich kurz an und konzentriert sich dann wieder auf die Straße. Ich atme auf, denn anscheinend glaubt sie mir auch diese Lüge.
Ich mache das Fenster zu, da ich schon die Eingangstür von H&M sehe.
„Tschüss Schätzchen!“, sagt meine Tante, als ich aussteige. Ich lasse die Tür mit einem leisen Knall zufallen und bin schon auf dem Weg zum Geschäft, als ich ein lautes Hupen hinter mir höre. Ich drehe mich verwundert um und merke erst jetzt, dass ich gar keine Tasche dabei habe. Mist!
Ich renne zurück zum Wagen und merke, wie ich rot werde, denn genau in diesem Moment dreht sich eine Gruppe Jugendlicher zu mir um.
„Hier, die solltest du aber mitnehmen!“, sagt sie mit einem breiten Lächeln.
„Oh ja, danke!“, sage ich etwas gequält und mache die Autotür erneut zu.
Ich schaue beim Laufen zu Boden, damit ich nicht sehen muss, wie mich alle anstarren. Es würde mich schrecklich nervös machen. Ich habe immer ein schlechtes Gefühl, wenn ich Leuten in meinem Alter treffe. Ich habe einfach Angst davor, gemobbt zu werden, es reicht mir schon, in der Schule angemacht zu werden.
Ich gehe in das erste Geschäft und laufe gleich zu den Hosen, die ich gerade dringend gebrauchen kann. Ich schaue mich eine Weile um und habe dann schließlich das Gefühl, dass mich jemand beobachten würde. Ich schaue mich um, kann aber niemanden sehen, der auffällig zu mir rüber schaut. Habe ich jetzt etwa schon Halluzinationen?
Ich gehe weiter durch den Gang und schon ist dieses Gefühl wieder da. Langsam wird es mir zu viel, ich verlasse den Laden und setzte mich erst mal draußen auf eine Bank.
Werde ich wirklich beobachtet oder spinne ich mir etwas zusammen?
Ich hole mein Handy aus meiner Tasche, klappe es auf und schaue auf die Uhr. Zwanzig nach drei, ich habe also noch ungefähr drei Stunden. Ich lehne mich zurück und schaue mich um. Erst jetzt fällt mir auf, dass ich neben einem alten Mann sitze, der mich freundlich anlächelt. Ich erschrecke mich und lasse ein kleines, piepsiges Hallo aus mir raus.
„Guten Tag Kleine, habe ich dich erschreckt? Das tut mir leid.“
„Oh nein, ist schon in Ordnung!“
„Möchtest du einen Keks?”
Ich schaue ihn verdutzt an.
„N-Nein, danke!”
Ich glaub es nicht, erst erschreckt er mich und dann fragt er, ob ich einen Keks möchte?!
Eine Weile sagt keiner etwas.
Ich höre mir die Gespräche der Leute an. Eine Frau mit einem lila Mantel und einer knall gelben Tasche läuft an uns vorbei und redet mit ihrem Mann über das heute so schreckliche Leben. Sie meckert darüber, dass sie kein Geld für neue Schuhe hat. Ich finde allerdings, dass sie gar nicht danach aussieht. Sie sieht ziemlich reich aus mit ihrer großen, goldenen Uhr und ihren nagelneuen 10 cm Absatzschuhen. Und die auch ziemlich teuer aussehen.
Warum denken eigentlich alle, dass es uns so schlecht geht? Uns geht es gut, wir haben was wir brauchen, wir stopfen uns den Magen mit Süßigkeiten voll und können uns neue Klamotten kaufen. Wir haben einfach viel zu viel, um sagen zu können, dass es uns schlecht geht, aber wir tun es trotzdem, weil wir immer wieder vergessen, wie es anderen geht. Da draußen gibt es Menschen die kein Zuhause haben, die sich nichts kaufen können, die kein Essen haben, aber an diese Menschen denken nur wenige.
Ich starre auf meine Füße, denn ich schäme mich ein wenig für die Menschen, die nicht an andere denken.
„Hast du Probleme in der Schule oder zu Hause?”
Erschrocken schaue ich ihn an und merke wie ich rot werde. Er hat recht, aber woher weiß er das? Kann man mir das ansehen?
Bevor ich aber auf seine Frage antworten kann, fängt er an zu erzählen: „Weißt du, ich hatte es in deinem Alter auch nicht leicht, ich hab viele Menschen verloren die mir wichtig waren. Ich weiß zwar nicht, welche Probleme du hast, aber glaube mir, irgendwann wir alles wieder gut!”
Ich lächle ihn an, sage aber nichts und denke über seine Worte nach. Er hat Recht, irgendwann wird alles anders.
Die Uhr tickt, diese Minute wird gleich für immer zu Ende sein und mit jeder Minute werde ich älter und mit mir auch die Zeit.
Der alte Mann steht auf, nimmt seinen braunen Gehstock in die Hand und dreht sich noch einmal in meine Richtung.
„Denk über meine Worte nach! Ich wünsch dir viel Glück!” sagt er mit einem netten Lächeln und geht dann in Richtung Bücherladen davon.
„Danke!”, sage ich mal wieder etwas zu leise und es scheint, als hätte er es nicht gehört.
Der alte Mann geht langsam zum Laden und ich schaue ihm solange hinterher, bis ich ihn nicht mehr sehen kann. In der ganzen Menschenmenge sieht es so aus, als würden die Menschen sich gegenseitig verschlucken.
Ich bleibe noch eine Weile sitzen.
Immer wieder muss ich an die Worte des Mannes denken: Irgendwann wird alles wieder gut!


Kapitel 4



Ich bin auf dem Weg zum nächsten Geschäft. Das Gefühl der Beobachtung ist plötzlich nicht mehr zu spüren. Auch meine Laune hat sich auf einmal verbessert, denn die Worte des Mannes haben mir klar gemacht, dass ich nicht traurig, sondern glücklich sein sollte, dass es mir gut geht.
Während ich auf ein großes Gebäude mit der Aufschrift “Thalia” zulaufe, fällt mir ein Mann in einem Hasenkostüm auf. Nanu haben wir schon Ostern?
Ich muss mir ein Lachen verkneifen und bleibe stehen um mir das Specktakel des Osterhasen anzusehen. Er hält einen Korb mit bunten Ostereiern in der Hand und versucht vergeblich sie zu verkaufen. Als er sich umdreht, kann ich auf seinem Rücken die Zahl 30 erkennen und das leuchtet mir sofort ein. Der Mann tut mir jetzt ein wenig leid, aber es sieht schon ziemlich lustig aus wie er mit seinen großen Pfoten durch die Gegend stapft.
In diesem Moment kommt er auf mich zu und ich versuche mich aus dem Staub zu machen.
„Hey Kleine, warte mal!”, ruft er mit einem belustigen Ton. Er hatte also schon Alkohol zu sich genommen. Das merkt man gleich an seiner Art wie er läuft und wie er sich benimmt. Ich drehe mich um und erst jetzt sehe ich dass er nicht alleine ist, sondern ein paar Freunde dabei hat.
„Warum sollte ich?”, sage ich mit einem leicht zickigen Ton.
Der Mann schmeißt die Arme in die Höhe und schreit “Frohe Ostern” .Seine Freunde fangen laut an zu kreischen. Oh mein Gott wie peinlich, hoffentlich denkt niemand, ich gehöre zu denen.
„Okay, pass mal auf ich kaufe dir jetzt ein Osterei ab und dann verschwinde ich okay?”, sage ich ihm und schaue ihm dabei tief in die Augen. Ein Freund des Osterhasentypen fängt laut an zu lachen. So langsam machen mir diese Männer Angst.
Ich greife in meine Tasche und hole mein Portmonee heraus, suche nach einem Euro. Ich halte dem Osterhasen einen Euro hin und suche mir ein Ei aus dem Korb. Ich nehme ein blaues Ei, blau ist meine Lieblingsfarbe.
Ich renne in Richtung Bücherladen und hoffe, dass die Männer keine weiteren Kommentare von sich geben.
„Danke Süße, hättest du vielleicht Lust mit uns mitzugehen?! Du bist so süß”
Mist zu früh gefreut! Wie bin ich überhaupt darauf gekommen, dass sie mich in Ruhe lassen würden? Ich gebe zu diesem Satz keine weiteren Kommentare ab und habe jetzt nur noch den Eingang des Ladens im Auge.
Drinnen angekommen, begrüßen mich Tausende von Büchern. Ich liebe es Bücher zu lesen, sich in eine andere Welt zu begeben. Ich gehe gerade aus, vorbei an Krimibüchern und Historischen Romanen und erreiche dann die Rolltreppe. Oben angekommen sehe ich schon die Jugendbücher. Ich überlege mir schon mal, was ich mir unbedingt noch mal durchlesen möchte und schaue dabei nachdenklich nach unten. Ich laufe mit schnellen gewohnten Schritten auf die Regale zu und merke dabei nicht wie ich direkt in die Arme eines jungen gutaussehenden Jungen laufe, der einen Stapel Bücher in seiner Hand hält.
Als wir aufeinander prallen, fliegen uns die Bücher um die Ohren.
„Kannst du nicht aufpassen?!”, schreit er und ist schon dabei die Bücher wieder aufzusammeln.
„Entschuldigung, ich war wohl etwas in Gedanken. Warte, ich helfe dir.”
Ich bin schon dabei ein Buch in die Hand zu nehmen, als sich unsere Hände berührten. Ein ungewohntes Kribbeln geht durch meinen Körper. Seine Hand ist warm und das gibt mir das Gefühl von Geborgenheit. Weil er seine Hand nicht wegzieht, schaue ich langsam nach oben. Als sich unsere Blicke treffen, geht wieder dieses eigenartige Kribbeln durch meinen Magen. Was ist das, ein Stromschlag?
Ich sehe ihm immer noch tief in seine braunen Augen, ich scheine in diesem Moment alles um mich herum zu vergessen. Ich merke wie wunderschön er aussieht mit seinen braunen Haaren.
„Lass nur, ich mach das schon.”, flüstert er und schaut mir ebenfalls immer noch in die Augen.
Ich löse mich langsam aus seinem Blick und schaue verwirrt nach unten. Was mache ich hier? Ich hocke auf dem Boden und starre einen Typen an, das kann doch nicht wahr sein! Ich stehe auf und auch der Junge erhebt sich jetzt langsam von seinem Platz.
„Darf ich erfahren mit wem ich hier das Vergnügen habe?”
„Miriam. Also ich meine ich heiße Miriam.”
Immer noch verwirrt stehe ich mitten im Laden und schaue nun zu wie der Junge seine Bücher aufsammelt.
„Und wie heißt du?”, frage ich und streiche mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
„Man nennt mich Leon.”,
Er schaut jetzt zu mir hoch und zwinkert mir zu. Immer noch etwas nervös schaue ich auf die Uhr. Mist ich muss los!
Ohne mich zu verabschieden renne ich zur Rolltreppe und raus aus dem Laden. Ich renne und renne. Was mache ich hier eigentlich? Bin ich jetzt völlig verrückt geworden?


Ich sitze vor dem alten Röhrenfernseher und schaue mir eine langweilige Abendshow an. Ich muss immer noch an heute Nachmittag denken. Diese braunen Augen gehen mir einfach nicht aus dem Kopf. So etwas ist mir noch nie passiert, dieses Kribbeln in meinem Magen. Es war wie verzaubert.
„Schätzchen?”
Von meiner Tante hatte ich ziemlichen Ärger bekommen, weil ich zu spät gewesen war. Natürlich hatte ich sie mal wieder angelogen, als sie mich fragte warum ich mir denn nichts gekauft hätte und warum Franziska den nicht mit uns hatte mitfahren wollten.
„Ja, was ist denn?”
Ich erhebe mich vom roten Wohnzimmersessel und gehe in die Küche, wo ich meine Tante beim Kartoffelschälen vorfinde.
„Ich brauche deine Hilfe. Könntest du bitte schon mal die Nudeln in den Topf tun?”
Ich schaue sie verwundert an.
„Was ist denn hier los? Hab ich was verpasst?”
Meine Tante zieht ein böses Gesicht und zeigt auf den Kalender an der Küchenwand. Ich suche nach dem heutigen Datum und traue meinen Augen nicht. Ich hatte völlig vergessen, dass wir von meinen nervigen Cousinen Besuch bekamen. Besser gesagt, ich hatte es erfolgreich verdrängt.
„Oh nein, dann muss ich mich auch noch umziehen. Wie viel Zeit hab ich denn noch?”, sage ich möglichst freundlich.
„Du hast noch ungefähr 10 Minuten.”
Ich reiße meine Augen weit auf und renne die Treppe hoch in mein Zimmer. Mal sehen, was mein Kleiderschrank noch so hergibt. Eine dunkle Jeans, einen weißen Pulli und einen schwarzen Rock. Na toll, es sieht ganz so aus, als ob meine T- Shirts in der Wäsche wären. Also muss ich mir wohl oder übel einen Pulli anziehen.
Ich ziehe mich um und renne dann wieder nach unten.
„Schätzchen, wir haben Sommer!”
Ich will gerade auf diesen dummen Kommentar antworten, aber soweit komme ich mal wieder nicht, denn genau in diesem Augenblick klingelt es an der Haustür. Ich möchte mich jetzt am liebsten hinter dem Sofa verstecken, aber um diesen Abend komm ich wohl nicht herum.
Meine Tante legt ihr Schälmesser zur Seite und geht zur Haustür. Ich folge ihr und stelle mich hinter sie.
Als Gudrun die Haustür öffnet, stürmen Tina und Susan durch die Tür und schreien laut. Genau das macht meine Cousinen so nervig.
Tante Lissi geht auf Tante Gudrun zu, gibt ihr einen Begrüßungskuss und schenkt ihr ein paar Blumen.
„Tag ihr zwei. Ich bin so froh, euch mal wieder zu sehen. Besonders dich, Miriam!”
Sie kommt auf mich zu und gibt mir einen dicken Kuss auf die Wange. Und genau das macht Tante Lissi so schlimm.
„Ich hab dich auch schrecklich vermisst”, sage ich so überzeugend wie ich kann. Hinter meiner Tante treten mein Onkel Dirk und meine Cousine Mira ins Haus. Mein Onkel ist ganz okay. Er ist der einzige Onkel, den ich habe. Meine Cousine Mira ist eigentlich nicht meine leibliche Cousine. Sie wurde adoptiert, weil mein Onkel und meine Tante dachten, sie können keine Kinder bekommen. Aber wie sich dann herausstellte, stimmte dies nicht. Mira ist in meinem Alter. Sie müsste jetzt 16 Jahre alt sein und hat auch schon einen Freund. Sie ist die Einzige, auf die ich mich bei solchen Abenden freuen kann. Die Zwillinge Tina und Susan sind 7 Jahre alt und wie man schon bemerkt hat, ziemlich nervig.
Das Abendessen verläuft wie immer, meine Tante Lissi erzählt mal wieder die Geschichte, wie sich mein Onkel und sie kennen lernten, meine kleinen Cousinen meckern dauernd rum, das sie kein Gemüse essen würden, das von einem Gemüsebeet käme, meine Tante Gudrun erzählt von ihren neuen Freundinnen in diesem Kaff und mein Onkel verhält sich den ganzen Abend über still.
„Komm, wir gehen nach oben!”, flüstere ich Mira zu, als meine Tante anfängt, die Teller zusammen zu räumen. Wir rennen die Treppe hoch in mein Zimmer, vorbei an meinen kleinen Cousinen, die gerade versuchen die Treppe runter zu rutschen.
„Oh man, gut dass du ein eigenes Zimmer hast. Ich beneide dich!”, jault sie, als wir in meinem Zimmer ankommen. Ich schaue sie mitleidig an. Mira muss ihr Zimmer mit den Zwillingen teilen, sie tut mir leid. Mira setzt sich auf mein Sofa und ich auf mein Bett. Eine Weile wissen wir nicht so recht was wir sagen sollen, bis ich merke wie Mira auf den Kakaofleck auf meinem Teppich starrt.
„Was ist das denn?” fragt sie und guckt mich dabei schockiert an.
„Ähm, also da ist mir wohl ein kleines Missgeschick passiert!”
Ich sehe wie Mira mich nun noch schockierender anguckt. Und jetzt fällt mir ein was sie nun von mir denken muss.
„ Also ich hab da meinen Kakao fallen lassen!”
Ich kann nun sehen wie sich in Miras Gesicht ein lächeln breit macht. Sie fängt an zu lachen.
„ Da bin ich aber beruhigt. Ich dachte schon, ich hätte eine Cousine die noch immer nicht auf die Toilette gehen kann.”
„ Wäre das denn so schlimm?”, frage ich sie und nun fängt sie noch lauter an zu lachen.
Tina und Susan stecken ihre Köpfe durch die Zimmertür und schauen Mira verwundert an.
„Was ist denn hier so lustig?” fragt Susan.
„Nichts, nichts!”, sage ich und stehe auf, um die Tür abzuschließen. Ich suche meinen Zimmerschlüssel aus einer kleinen Schachtel raus, die ganz oben auf meinem Regal steht und drücke die Tür mit Gewalt zu, weil Tina und Susan sich dagegen stemmen. Nachdem ich den Schlüssel im Schloss umdrehe wird es wieder ruhig. Es sind plötzlich nur noch die Schritte von Tina und Susan zu hören, die jetzt die Treppe runter rennen. Mit einem kleinen Seufzer von Mira wird diese Stille jedoch wieder unterbrochen. Sie schaut mich traurig an und ich fange mir an Sorgen zu machen, denn wenn Mira ein trauriges Gesicht macht, dann muss schon etwas Schlimmes passiert sein. Ich kenne sie nur glücklich. Immer wenn ich ihr begegne, hat sie ein Lächeln auf den Lippen.
„ Ist alles in Ordnung?”, frage ich vorsichtig nach. Ich schaue ihr in die Augen und muss erschreckend feststellen, dass sie anfängt zu weinen. Ich habe Mira noch nie weinen gesehen. Sie jetzt so zu sehen ist schrecklich für mich. Als sie auch noch anfängt zu schluchzen, muss ich mit weinen und nehme sie in den Arm.
„E-Es ist alles so kom- kompliziert!”
„ Was ist kompliziert?!”, frage ich sie und hoffe das sie mit mir redet. Doch darauf antwortet sie mir nicht. Wahrscheinlich will sie, aber sie kann nicht. Ich löse mich langsam aus ihrer Umarmung und suche in meinem Nachtschrank nach zwei Taschentüchern. Natürlich habe ich Taschentücher in meinem Schrank, das war mir klar. Ich brauchte sie ja selber jeden Tag. Die Erinnerungen der letzten Tage lösen in mir plötzlich eine Welle der Traurigkeit aus und jetzt ist es plötzlich Mira die mich trösten muss und nicht anders herum.
Nach einer viertel Stunde haben wir uns beide wieder beruhigt.
„Ich hab eine Idee!”, sagt Mira, “Lass es uns am See gemütlich machen. Dort können wir uns in Ruhe alles erzählen!”
Ich nicke ihr zu, erhebe mich und schließe meine Zimmertür wieder auf.
„Am besten wir nehmen die Hintertür. Es ist glaube ich nicht so gut, wenn die Anderen uns so sehen!”
Da hat sie wohl Recht, Gudrun würde sich wieder Sorgen machen und auch Tante Lissi würde es nicht gefallen, uns so zu sehen. Um es mal einfach zu sagen: der Abend wäre ruiniert.

Der Himmel ist fast wolkenlos und die Luft ist angenehm frisch. Vor uns erstreckt sich ein 20 Meter breiter See, der ruhig daliegt. So ruhig, das es fast ein bisschen unheimlich ist. Mira und ich sitzen nebeneinander auf einer Wolldecke, die ich für uns aus der Waschküche geklaut habe. Wir schweigen wieder einmal und hören den Grillen beim Zirpen zu. Meine Gedanken sind in diesem Moment wieder bei Leon. Leon, Leon, Leon, Leon, seine Augen, sein Blick einfach zauberhaft.
Man Miriam was ist nur los mit dir, sonst schwärmst du doch auch nicht für Jungs. Jungs sind dir egal und das sollte auch so bleiben, sonst passiert noch ein Unglück. Ich versuche mich auf etwas anders zu konzentrieren, auf den Vollmond oder auf die Lichter die in der Ferne liegen. Aber so sehr ich mich auch anstrenge meine Gedanken bleiben immer an Leon kleben.
„Schau mal, eine Sternschnuppe!”
Mira zeigt mit dem ausgestreckten Zeigefinger in den Himmel. Ein heller Lichtstrahl zieht sich über den dunklen Nachthimmel, ich schließe schnell meine Augen und wünsche mir was. Auch Mira schließt in diesem Moment ihre Augen.
„Ich hab mich von Janeck getrennt!”
„WAS??? Warum das denn?”
Ich schaue sie schockiert an. Das kann doch nicht sein. Jedes Mal wenn sie bei uns war, schwärmte sie von Janeck und nun soll sie sich also von ihrem absoluten Traumtypen getrennt haben?
Ihre Stimme fängt an zu zittern: „Ich hab ihn mit einer anderen gesehen!”
Und nun läuft ihr bereits die erste Träne über ihre Wange. Sie will weiter erzählen aber ich lege ihr meinen Zeigefinger auf die Lippen “pssh” mache ich und nehme sie in den Arm. Mein Verstand hat mal wieder recht, Jungs sind einfach nur scheiße. Warum können sie nicht einfach mal ihre Pfoten von anderen Mädchen lassen. Entweder sie gehen fremd oder sie sind seit Monaten in eine andere verknallt und benutzen dich als Trostpflaster.
„Vielleicht ist alles nur ein Missverständnis!”, versuche ich sie zu trösten, aber merke gleich, dass ich eher das Gegenteil damit bewirkt habe, denn nun fängt sie noch schlimmer an zu weinen. So langsam steigen auch mir die Tränen in die Augen. Ich muss mich wirklich zusammenreißen. Ich beiße mit aller Kraft meine Zähne zusammen und schließe die Augen. Mira löst sich plötzlich meiner Umarmung und schaut mir mich an.
„ Entschuldigung, du musst mich für völlig verrückt halten, oder?”
„ Nein warum das denn? Hey es ist okay, wenn du mir das erzählst. Ich finde dein Janeck ist ein Arsch. Versuch einfach nicht mehr an ihn zu denken”
Mira tut mir so leid, wie konnte er ihr das nur antun? Sie beschrieb Janeck immer als den liebevollen Typen und meinte, dass man ihm vertrauen kann. Ich kenn ihn leider nicht persönlich, nur von Fotos die Mira mir immer mitbrachte oder über ICQ schickte. Er sieht eigentlich ganz okay aus mit seinen schwarzen Haaren, seinen Hemden und dazu seine dunklen Jeans. Er passte vom Aussehen her zu ihr. Auf Fotos sahen die beiden immer so glücklich aus. Obwohl ich finde das Jungs das aller letzte sind, hätte ich nie gedacht das Janeck so gemein sein könnte.
„ Er hat mir immer wieder gesagt, wie sehr er mich liebt und das er niemals eine andere lieben werde. Nachdem er das immer wieder gesagt hat, küsste er mich leidenschaftlich.”
Wieder füllen sich Miras Augen mit Tränen, aber dieses Mal scheint sie stark zu bleiben, denn sie redet ohne ein Zittern in der Stimme weiter.
„Die Zeit mit ihm war einfach wunderschön, ich bereue keinen Tag. Es hätte auch so weiter gehen können, aber dann musste er ja diese dumme kleine Sandra kennen lernen.”
Mira macht eine kurze Pause und schaut zu Boden. In ihrem Blick scheint sich Traurigkeit aber auch Zorn widerzuspiegeln. Sandra heißt sie also.
Wenn ich die beiden erwischt hätte, ich hätte ihnen die Hölle heiß gemacht.
„Sandra ist erst seit kurzem in Berlin, sie ist neu in unserer Klasse. An dem Tag, an dem ich die beiden erwischt habe, war ich mit Sina verabredet. Wir wollten ins Kino gehen. Janeck hatte mich überredet, mal wieder etwas mit ihr zu unternehmen. Wir sind dann aber doch nicht ins Kino gegangen, stattdessen gingen wir ins Schwimmbad.”
Sie macht wieder eine kurze Pause und ich merke dass jetzt etwas Schlimmes kommen muss, denn ihre Augen füllen sich mal wieder mit Tränen.
„Ich hab mich umgezogen und dann bin ich schon mal raus in die Halle und hab dort auf Sina gewartet, weil sie noch nicht soweit war. Und dann hab ich Sandra gesehen, ich wollte ihr gerade zuwinken, aber da hab ich meinen Freund bzw. Ex-Freund gesehen. Er ist auf sie zugegangen und hat sie geküsst. Es war kein kleiner Schmatzer, es war richtig leidenschaftlich, als wenn die beiden ein Paar wären. Janeck hatte mich dann irgendwann entdeckt. Ich bin weggelaufen, er hinterher. Er sagte mir irgendwas von einer Wette und das er mich liebe. Aber das konnte ich ihm nicht glauben, es tat so weh in diesem Moment, er hat mich so verletzt. Es hat sich so schmerzhaft angefühlt, als wenn mir jemand das Herz rausreißen würde!”
Ich sage in diesem Moment nichts, ich kann nicht denn ein großer Kloß macht sich in meinem Hals breit und lässt nicht zu das ich sprechen kann. Eine Wette? Hatte er das ernst gemeint oder log er ihr auch noch frech ins Gesicht? Was von dem was er sagte kannte man glauben? Ich starre in Wasser, denke noch einmal nach über ihren Ex.
“Du weinst ja!”
Meine Cousine schaut mir ins Gesicht und ich merke wie eine Träne langsam über meine Wange läuft bis zu meinem Mund. Ich fange sie mit meiner Zunge auf. Sie schmeckt salzig, genauso wie mein Leben gerade. Mira umarmt mich, genau das tut meiner Seele gerade gut. Ich würde ihr das jetzt gerne sagen, aber ich kann nicht, immer noch behindert mich dieser Kloß im Hals.
„Möchtest du reden?”
Ich würde ihr so gerne alles erzählen, aber es geht nicht. Meine Tränen fließen immer weiter, wie ein Wasserfall und der Kloß in meinem Hals scheint sich nicht lösen zu wollen.


Kapitel 5



Ich stehe vor unserem großen, mit Fischen beklebten Badezimmerspiegel und versuche mir die Schminke aus dem Gesicht zu wischen. Ich hatte es doch noch geschafft, Mira von meinen Problemen zu erzählen. Ich erzählte ihr von meinen Mitschülern, von dieser Gegend und von der komischen Begegnung mit Leon. Für Mira war die Sache ganz klar, sie sagte: “Miriam du hast dich verknallt.” Aber konnte das sein, was sollte dieses Kribbeln? Waren das etwa die berüchtigten Schmetterlinge, von denen man sprach?
Meine Gedanken springen jetzt plötzlich wieder zu Leon über, seine Augen werde ich wohl nie vergessen. Diese wunderschönen, schokobraunen Augen haben sich in mein Gehirn gebrannt.
“Schätzchen bist du fertig? Ich möchte jetzt gerne auf die Toilette”
Ich renne zur Tür und drehe den Schlüssel im Schloss um. Meine Tante macht die Tür auf und schaut mich verwundert an.
“Was? Hab ich was falsch gemacht?”
Sie starrt mich immer noch an, als wenn ich aus einer anderen Welt kommen würde. Hatte ich eben irgendetwas Schreckliches gesagt? Nun endlich scheint sie sich von meinem Blick zu lösen.
“Nanu, wer sind sie denn?”
Der Blick, mit dem sie mich anschaut, macht mir ein wenig Angst. Was ist mit ihr, hat sie jetzt eine Amnesie oder, oder hat sie etwa …
“Hey, was machst du denn für ein Gesicht? Das war ein Scherz.”
Ich merke, wie ich rot anlaufe. Wie konnte ich nur auf so einen Gedanken kommen?! Ich weiß doch, dass sie dauernd Scherze macht.
“Oh, ja also ich geh dann jetzt wohl mal ins Bett, ich kann nicht mehr so richtig denken” versuche ich mich rauszureden. Ich schleiche mich mit großen Schritten an ihr vorbei und habe jetzt nur noch die Treppe im Auge. Leider, denn ich schaue jetzt nicht mehr, wo ich hingehe und falle über eine blaue Vase. Scheppernd fällt sie zu Boden und zerbricht in tausend kleine Teilchen. Ich falle ein paar Sekunden später und ausgerechnet mitten in den Scherbenhaufen.
“Aua!!!”
Ein stechender Schmerz schießt durch mein Bein. Ich zucke zusammen und fange an mich zu wälzen.
“Schätzchen, oh mein Gott da ist ja Blut!!!”, schreit meine Tante.
Ich nehme sie gar nicht richtig wahr. Mein Bein tut einfach zu weh, um sich auf etwas anderes zu konzentrieren. Doch als ich ein lautes Rumsen höre, schaue ich auf und traue meinen Augen nicht. Meine Tante liegt bewusstlos auf dem Boden. Ich schaue einmal kurz nach rechts. Ich hoffe, dass ich das alles nur geträumt habe, aber als ich wieder in die andere Richtung sehe, merke ich, dass ich nicht geträumt habe. Gudrun liegt da, die Arme weit ausgebreitet mit Augen zu. Na toll und nun? Ich versuche mich zu bewegen, aber der stechende Schmerz hält mich davon ab und ich schaue automatisch zu meinem Knie. Meine Hose ist blutbeschmiert und aus meinem Knie schauen blaue, aber jetzt rote Scherben heraus. Ich bekommen Panik und überlege fieberhaft, wo ich das Telefon gelassen habe. Das ist ein eindeutiger Nachteil an diesen schnurlosen Telefonen, man weiß nie, wo man sie das letzte Mal hingelegt hat.
So muss man suchen: unter dem Sofa, auf dem Sofa, in dem Sofa. Ja, und wenn man ganz ungeschickt ist, kann es auch schon mal sein das man in der Spülmaschine suchen muss.
Ich überlege immer noch und dann plötzlich fällt es mir wieder ein, dass kleine Pinke Telefon liegt auf der Kommode im Flur, also in diesem Zimmer. Ich schaue nach rechts und mein Verdacht bestätigt sich. Aber wie kommt man schon an ein Telefon, das oben auf einer Kommode liegt, wenn man verletzt am Boden liegt? Ich lege mich nun flach auf den Boden, um nachzudenken. Ich muss mir irgendetwas ausdenken, um an dieses Telefon zu kommen. Ich schaue mich im Flur um und versuche etwas Brauchbares zu finden. Mein Blick fällt auf eine Gardinenstange, die meine Tante vom Küchenfenster abgebaut hatte. Die Länge meines Armes passt gerade so, dass ich an die Stange reiche. Ich nehme sie in die Hand und versuche nun das Telefon von der Kommode zu schupsen. Wenn ich mich geschickt anstelle, kann ich das Telefon mit meiner Hand auffangen. Ich berühre es vorsichtig mit der Stange, es bewegt sich um ca. 1 cm. Ich werde nun mutiger und stupste das Telefon nun etwas stärker an, vielleicht etwas zu stark, denn mit einem Ruck fällt das Telefon klirrend zu Boden.
Ich schlage mir mit der Hand an den Kopf. Man Miriam wie doof kann man eigentlich sein. Na ja, einen Versuch war es wärt, aber was nun? Ich schaue zu meinem Knie, eine kleine Blutpfütze hat sich derweil gebildet. Die Scherben müssen sich also tief in mein Knie gebohrt haben, zum Glück kann ich Blut sehen, nicht so wie meine Tante. Die liegt immer noch bewusstlos auf den kalten Fliesen unseres Flurs. Das heißt dann wohl fürs Erste: Warten bis meine Tante wieder aufwacht. Ich versuche an etwas anderes zu denken, als an das viele Blut.
Und wie immer in der letzten Zeit, fliegen meine Gedanken wieder zu Leon. So langsam wird mir bewusst, dass Mira recht hat. Ich hab mich verknallt, zum allerersten Mal in meinem Leben habe ich mich verknallt. Schon komisch das auszusprechen. Aber wie soll es denn weitergehen? Ich hab noch nicht mal seine Nummer, nur seinen Vornamen und den gibt es ziemlich oft auf dieser Welt. Ist mir vielleicht etwas aufgefallen? Nein, oder doch? Na klar er hatte viele Bücher in der Hand und ich glaube kaum, dass er die alle kaufen wollte. Also arbeitet er in diesem Laden. Mich freut diese Erkenntnis, sodass ich vor Freude aufspringen möchte, doch der Schmerz lässt es nicht zu. Ich lasse mich wieder auf den Boden fallen und stoße mir dabei meinen Kopf. Ich pralle so hart auf, dass mir plötzlich schwarz vor Augen wird, das Letzte was ich sehe ist die schwarz, weiße Lampe im Flur die hell erleuchtet ist.


“Leon?”
Langsam öffne ich meine Augen. Ich sehe noch etwas verschwommen, denn meine Augen müssen sich erst an das grelle Licht gewöhnen.
“Nein Schätzchen, hier ist deine Tante Gudrun”
Was hatte ich denn eben gesagt, doch nicht etwa …
“Hey freust du dich denn gar nicht mich zu sehen?!”
Ich schaue sie etwas verwirrt an, wo bin ich hier überhaupt? Die schwarz, weiße Lampe in unserem Flur ist verschwunden und auch das Gemälde mit dem Wald und dem Reh ist jetzt nicht mehr zu sehen. Stattdessen hängt an der weißen Wand, die sonst rot ist, ein orangefarbenes Gekrakel, das sich wohl Kunstwerk nennen soll. Komisch, entweder habe ich 1 Jahr lang geschlafen und meine Tante hat renoviert oder ich bin an einem ganz anderen Ort. Ich schaue mich noch einmal um und jetzt kann ich auch wieder normal schauen, denn meine Augen haben sich an das Licht gewöhnt. Ich liege in einem Krankenbett, in einem weißen Raum. In der Ecke hängt ein kleiner Fernseher und neben mir steht noch ein Bett, das allerdings verlassen aussieht. Die Bettdecke wurde feinsäuberlich zusammengelegt und auch das Kissen liegt aufgeschüttelt auf der Matratze. Meine Tante nimmt mich in den Arm und nun kann ich über ihre Schulter hinweg auf einen großen Kleiderschrank schauen. In diesem Moment wird mir klar, wo ich bin. Ich liege im Krankenhaus. Mein Albtraum wird war, ich bin an den Ort zurückgekehrt, an dem ich mir klar werden musste, dass meine Eltern tot sind. Wieder kommen diese schrecklichen Erinnerungen in mir hoch. Der Rauch, meine Eltern, das viele Blut, die schreienden Menschen die uns versuchen zu helfen. Ich fange an zu weinen. Dieser Raum reißt meine Wunden wieder auf.
“Hey, warum weinst du denn?”
Gudrun löst sich aus meiner Umarmung und schaut mich an. Sie streicht mir einmal vorsichtig über die Wange und wischt meine Tränen weg.
“Es wird alles wieder gut, du musst nur eine Nacht hier bleiben. Du hast eine leichte Gehirn Erschütterung und deinem Bein geht’s auch schon wieder besser. Es sah schlimmer aus, als es ist.”
“Gudrun, ich, ich, meine Eltern”
Ich schaue sie verweint an und kann sehen, dass sich ihre Mundwinkel jetzt nach unten ziehen. Dieses schreckliche Kapitel scheint sie schon verdrängt zu haben. Für sie war es auch leichter zu verkraften. Sie hatte zwar ihren geliebten Bruder Stefan und ihre Schwägerin Nicole verloren, aber sie konnte es trotzdem besser verkraften als ich, denn ich war ja live dabei gewesen.
“Pst, ganz ruhig”
Sie nimmt mich jetzt wieder in den Arm und versucht mich zu trösten. Ich drücke sie fest an mich und versuche an etwas anderes zu denken. Wie immer springt mein Gedanke zu Leon und auf einmal werde ich rot. Was wäre, wenn Leon mich jetzt so sehen könnte? So verheult, ein grauenhafter Anblick. Ich löse mich aus ihrer Umarmung und schaue an die Wand. Ich darf nicht weinen, ich darf nicht weinen, ich darf nicht weinen.
“Lass mich bitte kurz alleine ja?!” ich schaue sie dabei nicht an, ich starre immer noch an die Wand, aber ich merke trotzdem, wie sie ein mitfühlendes Gesicht zieht und ohne ein Wort zu sagen den Raum verlässt. Nun sitze ich hier, nur weil ich mal wieder so tollpatschig gewesen bin und ausgerechnet gegen eine Vase rennen musste. Ich weiß jetzt immer noch nicht, wie ich hier überhaupt hergekommen bin. Ist vielleicht die Nachbarin vorbei gekommen oder ist Tante Gudrun wieder aufgestanden? Das muss mir wohl fürs Erste ein Rätsel bleiben, bis meine Tante mir endlich alles erzählt hat. Wahrscheinlich wüsste ich es jetzt längst, aber ich musste sie ja unbedingt rausschicken.
Mein Blick fällt nach draußen auf die großen grauen Türme, die mit Gewalt versuchen ihren umweltschädlichen Rauch in den Himmel zu drücken. Trotz des ganzen Rauches scheint die Sonne am strahlend blauen Himmel. Die Vögel fliegen zwitschernd am Fenster vorbei und suchen sich ihre heiß ersehnte Nahrung. Dieses Bild des Fensters zieht mich so in den Bann, dass ich gar nicht bemerke, wie die Tür aufgeht und ein Bett hereingeschoben wird, erst als die Krankenschwester anfängt zu reden, drehe ich mich um.
“Oh da hat wohl jemand vergessen das Bett wegzuschieben”
Sie geht auf das frisch bezogene Bett zu und fängt an es aus der Ecke zu schieben.
“Warum wollen sie denn da ein neues Bett hinstellen, ist es nicht egal welches dort steht?”
Ich schaue mir das neue Bett einmal genauer an, um einen Unterschied zu finden. Und nach wenigen Sekunden wird mir klar, warum hier ein neues Bett stehen soll.
“Jessica kann noch nicht aufstehen, sie wurde erst vor einer Stunde operiert”
Sie macht eine Kopfbewegung zum Bett, denn sie hat bemerkt, dass ich Jessica nicht gesehen habe. Die Krankenschwester zieht das Bett mit sich nach draußen und kommt nach kurzer Zeit wieder in den Raum, um Jessica mit ihrem Bett an den richtigen Platz zu schieben.
Nach dem die Krankenschwester, Jessica an einen Tropf angeschlossen hat, verlässt sie das Zimmer. Nun habe ich also eine Mitbewohnerin in diesem langweiligen Krankenhauszimmer. Zum einen Teil ist das ja gut, aber zum anderen auch wieder schlecht. Es ist schön nicht so alleine zu sein, aber es gibt auch Momente, in denen man vielleicht mal alleine sein möchte. Und vor allem ich weiß noch nicht einmal, wie Jessica so ist, vielleicht ist sie ja auch zickig und will mir das Leben zur Hölle machen. Ich kann froh sein, dass ich nur einen Tag hier bleiben muss und nicht wie damals einen ganzen Monat.
Es war schlimm für mich meine Eltern zu verlieren, den ganzen Tag in einem Raum zu sitzen und dabei zu hoffen, dass alles besser wird. Ich habe nie angefangen zu hoffen. Ich wollte einfach nur meine Eltern zurück, mein glückliches Leben, die Normalität die, die beiden mir jeden Tag aufs Neue wieder gaben. Es war schon eine schöne Zeit, mein Eltern und ich in einem Restaurant oder in einem Zoo. Besonders das herzhafte Lachen meiner Mutter werde ich wohl niemals vergessen und auch die Witze, die mein Vater ständig machte.
“Weshalb bist du hier?”, flüstert Jessica.
Ich bekomme einen kleinen Schreck. Ich wusste gar nicht, dass sie wach ist.
“Ich hab eine kleine Gehirnerschütterung und ein paar Stellen am Bein. Ich bin mit einem Fahrradfahrer zusammengestoßen und hab mich dabei in einen Scherbenhaufen geschmissen”
Ich habe das Gefühl, das ich sie einfach anlügen muss. Ich habe Angst schon wieder ausgelacht zu werden. Bei meiner Tollpatschigkeit kann man einfach nur lachen, aber genau das ist das Problem, ich kann das Lachen anderer Leute nicht mehr hören.
“Oh das ist ja ziemlich mies, wie heißt du eigentlich?!”
“Miriam, und was treibt dich den hier in dieses Krankenhaus?”
“Der Blinddarm”
Oh, sie musste also operiert werden. Sie tut mir leid und ich versuche nach den richtigen, aufmunternden Worten zu suchen.
“Oh das tut mir leid, aber du bist doch sicher bald raus hier oder?!”
Na toll, aufmunternd war das ja wohl nicht gerade Miriam! Trotzdem schaue ich sie mitfühlend an, um noch etwas gut zu machen.
“Ja ich denke schon, wenn alles gut verläuft, bin ich schon in 4 Tagen wieder raus”, sagt sie gut gelaunt und grinst.
Hatte ich etwas falsch verstanden, sie wurde doch operiert oder etwa nicht? Wie konnte man denn da so gut gelaunt sein? Es wird für immer eine Narbe zurückbleiben. Vielleicht sollte ich sie mal danach fragen, ich setze schon zum Wort an, da klopft es an der Tür und drei Ärzte treten in den Raum. Eine Frau und zwei Männer mit weißer Kleidung begrüßen uns. Die Frau geht zu Jessicas Bett und auch die anderen beiden folgen ihr.
“So …” setzt der Mann mit den braunen Haaren an.
“... erst mal zu ihnen Frau Teske, ich hoffe es geht ihnen jetzt besser” anstatt sie anzuschauen, schaut er die ganze Zeit auf ein Blatt Papier, das er dabei hat.
“Oh ja, es geht mir viel besser”
Wieder dieses glückliche Lächeln auf ihrem Gesicht.
“Tja, wir müssen jetzt erst mal die nächsten Tage abwarten und schauen, wie es ihnen geht”
Bla bla bla das übliche Gerede. Der Arzt schaut immer noch auf sein Blatt Papier und dreht sich nun langsam zu mir um.
“Und nun zu ihnen, ich denke mal Sie wissen bereits das Sie morgen wieder entlassen werden können?! Wir wollen nur sichergehen, dass nichts Schlimmeres ist”
Ich nicke ihm zu, aber bin mir nicht sicher, ob er das auch wirklich gesehen hat, denn er starrt immer noch auf sein Blatt Papier.
“Gut das wär’s dann, auf Wiedersehen ihr beiden”
Dieses Mal geht der Mann mit dem Blatt voraus und die beiden anderen Kollegen im Entenmarsch hinterher. Es sieht schon ein wenig komisch aus, ein bisschen wie eine kleine Familie. Ich schaue Jessica an und sie schaut mich an und auf einmal müssen wir lachen. Ich weiß nicht wieso oder warum, wir müssen einfach nur lachen.

Es ist 22:00 Uhr, Nachtruhe. Jessica und mir verging vorhin das Lachen ziemlich schnell, denn Jessica bekam ein ziehen an der Stelle der Narbe. Ich bekam schon Panik, aber dann fing sie an mich zu beruhigen. Es sei nur so, das sie nicht lachen darf, sonst zieht es halt. Ich wollte ihr erst nicht glauben und rief den Arzt. Der meinte dann auch es sei nicht weiter schlimm, wir sollten nur aufhören zu lachen. Und genau daran hielten wir uns dann auch. Tante Gudrun war auch noch einmal da, um sich von mir zu verabschieden. Sie weiß, dass sie mir im Moment nicht helfen kann und ich alleine mit meinen Problemen fertig werden muss. Sie sagte nicht mehr viel zu mir, nur dass ich schnell wieder gesund werden solle.
In unserem Zimmer ist es stock Dunkel, nicht mal der Mond ist heute zu sehen und beleuchtet unser Zimmer. Es ist still, so still, dass ich mich am liebsten selbst davon überzeugen möchte, dass Jessica noch lebt. Ich höre nicht mal ihren Atem und bewegen tut sie sich auch nicht.
“Ich kann nicht schlafen, lass uns noch ein bisschen reden”
Ihre Stimme beruhigt mich, ich brauchte also morgen nicht neben einer Leiche aufzuwachen. Ich lasse ein kleines “mh” von mir hören und überlege, ob ich ihr von meinem Leben erzählen sollte. Ich bin aber der Meinung, dass ich es nicht tun sollte. Ich möchte kein Mitleid, ich möchte nicht, dass sie nur mit mir redet, weil ich ihr Leid tue. Ich bin dabei ein geeignetes Thema zu finden und dann fällt mir wieder dieses Lächeln von vorhin ein.
“Warum bist du eigentlich so gut gelaunt, du hattest doch gerade erst eine Operation?!”
“Ach weißt du, ich genieße mein Leben. Es gibt Menschen die hassen alles an dieser Welt und wollen sterben, aber dabei merken sie gar nicht, wie schön das Leben ist. Ich liebe mein Leben, ich bin zwar nicht Reich und es läuft auch nicht immer alles rund, aber ich habe ein Zuhause, ich habe Freunde und Familie”
Ich werde wieder einmal rot und bin froh, dass Jessica mich gerade nicht sehen kann. Ich fühl mich ein wenig ertappt, sie hat recht, es gibt Menschen, die ihr Leben hassen und ich gehöre definitiv dazu.
“Du bist auch so ein Mensch oder?”
Als hätte sie meine Gedanken gelesen. Was soll ich ihr den jetzt antworten? Hey, ja ich bin so ein Mensch. Meine Eltern sind gestorben, ich musste in ein Kaff ziehen und ich werde gemobbt, man ich liebe mein Leben?! Nein, das sollte ich ihr nicht antworten, es hört sich eh ziemlich zickig an. Und weglaufen ist auch nicht gerade angebracht.
“Ich hab viel Leid erlebt und es fällt mir nicht leicht, glücklich zu sein”
Geht doch, mein erster perfekter Satz an diesem Tag.
“Ich glaube du möchtest nicht drüber reden oder? Ich hatte auch mal so eine Freundin, sie hat ihr Leben gehasst”
An diesem Satz viel mir ganz besonders das “hatte” auf. Sie hatte also eine Freundin und jetzt nicht mehr.
“Sie wurde in der Schule fertiggemacht, weil sie aus Brasilien kam. Sie hatte wirklich eine gute Seele”.
Wieder dieses “hatte”, was war mit ihrer Freundin?
“Sie wollte nie mit einem Lehrer darüber sprechen, sie war zu ängstlich. Ich wollte ihr helfen, wollte mit Frau Grüner darüber sprechen”
Sie war ängstlich, sie war, sie hatte. Die Spannung, die sich in mir aufbaut, ist kaum auszuhalten.
“Und dann hat sie sich umgebracht, man fand sie mit Tabletten vollgestopft im Park. Für sie kam jede Hilfe zu spät”
Mit der Art, wie sie diese Worte über die Lippen bringt, könnte man meinen es lässt sie völlig kalt. Vielleicht liegt es auch einfach nur daran, dass es schon zu lange her ist. Vielleicht bilde ich mir diese Kälte in der Stimme aber auch einfach nur ein. Vielleicht nimmt es sie sehr mit, bloß ich merke es nicht.
Ich weiß nicht was ich sagen soll, es würde blöd rüberkommen, wenn ich jetzt einfach nur “Es tut mir Leid” sagen würde. Ich kannte diesen Menschen nicht, ich habe dabei keine Gefühle, wenn ich an ihren Namen denke oder sie mir bildlich vorstelle. Ich weiß nur, dass sie ihr Leben wirklich gehasst haben muss, noch mehr als ich es gerade tue.
“Du brauchst kein Mitleid mit mir zu haben, ich bin drüber hinweg. Sie war eine wunderbare Freundin und in meinem Herzen wird sie das auch immer bleiben.”
“Sie muss ihr Leben wirklich gehasst haben”
“Ja, das hat sie, sie musste umziehen, weil ihre Mutter einen neuen Mann kennengelernt hatte. Für sie war es ganz schwer in Deutschland, sie konnte ja noch nicht einmal Deutsch. Wir haben uns immer mit Händen und Füßen unterhalten, es war eigentlich ganz lustig.”
Ihre Stimme ist jetzt wieder klarer und weicher.
“Pst, hast du das gehört?”
Ich schaue sie fragen an.
“Die Schritte!”, flüstert sie mir zu und genau in diesem Moment öffnet sich die Zimmertür.
Ich schließe schnell meine Augen und versuche leicht zu atmen. Wir mussten also so laut geredet haben, dass jemand auf uns aufmerksam wurde. Vorsichtig öffne ich einen Spalt meine Augen und versuche zu erkennen, wer da auf uns aufmerksam geworden ist. Eine Krankenschwester mit blonden, langen Haaren schaut in unser Zimmer. Sie bleibt noch eine Weile an demselben Platz stehen und beobachtet uns. Und dann endlich nach gefühlten 30 Minuten schließt sie die Zimmertür.
“Puh, das war aber knapp”
Ich schaue in Jessicas Richtung, aber nichts rührt sich. Plötzlich fängt sie an zu schnarchen. Na toll, also das heißt dann wohl, das ich auch schlafen muss. Aber ich hab noch gar keine Lust zum Schlafen. Ich fange an zu gähnen und schließe meine Augen. Und dann sehe ich wieder die wunderschönen, braunen Augen die mich durch meinen Traum begleiten. Ich werde dich finden Leon, ist das Letzte, was ich an diesem Abend denke.


Kapitel 6



Endlich wieder zu Hause! Ich betrete unseren Flur und kann einen köstlichen Duft wahrnehmen. Hm vielleicht ist das ein Schokokuchen oder …
“Ich hab dir einen Kuchen zur Begrüßung gebacken” unterbricht Gudrun mich mit meinen Gedanken.
Also doch, Schokokuchen. Es ist schön wieder zu Hause zu sein, ich stelle meine Tasche an der Treppe ab und laufe in die Küche. Meine Tante hat bereits den Kuchen aus dem Ofen geholt und in kleine Teile geschnitten. Ich setzte mich an den grünen Küchentisch, nehme mir ein Stück Kuchen, lege es auf meinen Teller und fange an zu essen. Durch meinen Krankenhaus Besuch ist mir klar geworden, dass es in diesem Kaff gar nicht so schlimm ist.
Ich hab es sogar vermisst, hier zu sein. Die weißen Krankenhauswände geben einem das Gefühl, der Eiszeit. Mit Jessica war es allerdings gut auszuhalten. Der Abschied viel mir ein bisschen schwer, ich hatte sie so ins Herz geschlossen und auch sie sah nicht gerade so glücklich aus, als ich meine Sachen packen musste.
“Ich hab gehört, dass du dich gut mit deiner Zimmergenossin verstanden hast, hast du dir mal die Nummer von ihr geben lassen”
Ich höre auf zu essen, halte das Kuchenstück aber immer noch fest in der Hand. So ein Mist, ich wollte sie doch noch fragen, aber nein ich hab es mal wieder vergessen. Gudrun zieht die Schultern einmal hoch und zieht eine kleine Grimasse. Das ist jetzt schon das zweite Mal, das mir das passiert. Kann nicht einmal was ganz normal ablaufen?! Ich stopfe mir den letzten Rest Kuchen, von meinem Teller, in den Mund und erhebe mich. Ich bin schon auf dem Weg zur Treppe, als Gudrun mir sagt, dass ich nicht nach draußen gehen solle, denn eigentlich müsste ich jetzt in der Schule sein. Ich sage dazu nichts und renne mit meiner Tasche die Treppe hoch.
In meinem Zimmer angekommen, traue ich meinen Augen nicht. Mein ganzes Zimmer ist aufgeräumt. Die Fenster wurden geputzt, mein Bett wurde frisch bezogen und sogar der braune Fleck, auf meinem blauen Teppich, ist wie durch ein Wunder verschwunden. Mein erster Gedanke: ich habe die beste Tante dieser Welt. Ich schaue mich ein wenig um, Wahnsinn sogar der Staub, in der hintersten Ecke meines Zimmers ist verschwunden. Und nun sehe ich etwas das mich noch sprachloser Macht, als dieses blank geputzte Zimmer. Auf meinem Bett liegt ein rechteckiger Gegenstand. Ich schleudere meine Tasche in die nächste Ecke und lasse mich aufs Bett fallen. Langsam klappe ich, das kleine grüne Ding auf und meine Vermutung wird sofort bestätigt.
“Oh mein Gott, Gudrun. Das war doch bestimmt sau teuer!” schreie ich durch die ganze Wohnung.
Am liebsten würde ich jetzt die ganze Welt umarmen, das habe ich mir schon so lange gewünscht. Aufgeregt wippe ich hin und her.
“Ich hab mir das Mal erlaubt, ich mein du bist jetzt 16, da ist es an der Zeit, dass du so was mal bekommst”
Mit einem breiten Grinsen steht sie in der Tür. Ich schaue sie regungslos an. Was hatte sie da gerade gesagt? Ich-Ich bin 16? Ich hatte doch wohl nicht meinen Geburtstag vergessen?! Ich laufe zu meinem Schreibtisch und suche nach meinem Handy. Als ich es in der Hand halte, schaue ich aufs Display und tatsächlich muss ich feststellen, dass ich heute Geburtstag habe. Ich löse meinen schockierten Blick von meinem Handy und schaue zu Gudrun.
“Du hast deinen Geburtstag vergessen, nicht wahr?! Das macht nichts, das kann mal passieren, du warst gestern im Krankenhaus. Komm mal her meine Große”
Gudrun kommt auf mich zu und drückt mich ganz fest an sich. Sie drückt mich so fest, dass ich beinahe keine Luft mehr bekomme.
“Danke, danke für alles”, murmle ich in ihr T-Shirt.
Langsam löst sie sich aus meiner Umarmung und schaut mich an. Sie schaut mich von oben bis unten an und macht ein Gesicht, als wenn sie jeden Moment sagen will “Du bist aber groß geworden”. Ich drehe mich um und gehe auf mein Geschenk zu. Es ist wirklich ein schönes Grün, mein Lieblingsgrün. Ich hatte mein Geschenk schon immer in der Werbung gesehen und war begeistert. Gudrun meinte dann aber es wäre zu teuer und ich solle noch warten, bis ich mein eigenes Geld verdiene. Ich hätte nie gedacht, dass ich es hier und jetzt in den Händen halten könnte. Mit meiner Hand betätige ich den Anschaltknopf und warte was passiert. Auf dem großen Bildschirm erscheint in großer Schrift “Windows” und das Gerät fängt an, Geräusche zu machen.
“Ich hab schon alles fertiggemacht, du kannst also auch schon ins Internet”, sagt sie und zeigt mit dem Mittelfinger auf meinen Notebook. Ich lasse ein kleines “okay” von mir hören und vertiefe mich in mein Geschenk.

Erst fliegt ein T-Shirt und dann zwei und drei, in meinen Schrank. Gudrun musste mich von meinem Notebook wegziehen, damit ich meine Sachen zusammen räumen kann. Ich hatte mir Icq runter geladen, damit ich nicht immer zu Gudrun ins Büro rennen muss. Ich hatte mich ein wenig mit Mira unterhalten. Sie erzählte mir, dass Janeck jetzt immer vor ihrem Fenster steht und sie anfleht, zu ihm zurückzukommen. Mira denkt aber nicht mal dran, ich hab ihr Geraten noch einmal mit ihm zu sprechen, aber sie weigert sich. Ich find nicht so toll, dass sie nicht mal mit ihm redet. Sie sollte sich wenigstens Mal anhören, was er zu sagen hat. Es ist zwar nicht gut, dass er eine andere geküsst hat, aber vielleicht ist das auch alles wirklich ein Missverständnis. Vielleicht hat sie das auch ganz anders aufgenommen, als es wirklich war. Aber wer weiß das schon, ich jedenfalls nicht. So nur noch die Schuhe und dann … Nanu was ist denn das? In meiner Tasche liegt ein kleiner zusammengefalteter Zettel, ich heben es auf und schau es mir genauer an. Es scheint aus einem karierten Block rausgerissen worden zu sein. Ich falte es auseinander und lese laut, was auf diesem Zettel geschrieben worden ist.

Hey Miriam,

ich danke dir, dass ich dir von meiner Freundin erzählen durfte. Ich finde es schade, dass du schon wieder so schnell gehen musstest, also das heißt nicht, das ich dir deine Gesundheit nicht gönne, aber ich werde dich hier schrecklich vermissen. Es war zwar nur eine Nacht, aber du bist mir total ans Herz gewachsen. Ich hoffe wir hören bald mal wieder voneinander! Und bevor ich mich jetzt verabschiede, will ich dir noch eins sagen bzw. schreiben: Kopf hoch!! Egal was du für Probleme hast, sie werden irgendwann gelöst.

Liebe Grüße deine Jessica

PS: Hier ist meine Nummer …



Hm, wann hatte sie das denn geschrieben, ich war doch immer im Zimmer gewesen oder nicht? Nein das war ich anscheinend nicht, sie musste es also geschrieben haben, als ich bei der letzten Untersuchung war. Das ist wirklich nett von ihr, vielleicht werden wir ja irgendwann mal Freundinnen. Ja vielleicht, aber wie wird sie reagieren, wenn ich ihr davon erzähle, dass ich gemobbt werde? Wird sie sich von mir abwenden? Nein das kann ich und will ich mir auch gar nicht vorstellen, warum sollte sie auch?!
“Miriam hast du zufällig mein braunes T-Shirt gesehen?”
Braun, das erinnert mich mal wieder an Leon. Wo er jetzt wohl ist. Wenn er wirklich in diesem Buchladen arbeitet, dann muss er ja dort sein. Vielleicht sollte ich mal nachforschen. Ich setzte mich auf mein Bett und stelle das Notebook wieder an.
“Miriam!!!”
“Nein, hab ich nicht gesehen!!!”, schnaube ich wütend und bin auch schon dabei die Internetverbindung herzustellen.
“Thalia Stade“, geben ich in die Suchmaschine ein und erhalte viele Seitenvorschläge und eine Ortsbeschreibung. Ich klicke die gegebenen Seiten an finde aber keine Mitarbeiter, deswegen gebe ich oben noch “Mitarbeiter” ein. Ich klicke die erste Seite an. Volltreffer, die Mitarbeiter sind sogar mit Foto drin, aber leider finde ich nicht Leon. So ein Mist, also arbeitet er nicht im Laden. Ich weiß ja noch nicht mal, wie alt er überhaupt ist. Vielleicht sollte ich zum Laden fahren, aber was mach ich mit Gudrun? Ich fahre mein Notebook herunter und fange an zu überlegen. Mir fällt aber nichts Gutes ein, also muss ich wohl oder übel einfach vor ihren Augen verschwinden. Ich suche mir meine dunkelblaue Regenjacke aus dem Schrank, ziehe sie an und renne runter ins Wohnzimmer, wo meine Tante gemütlich auf ihrem Fernsehsessel sitz.
“Ich geh mal ganz kurz zum Auto, ich hab noch was vergessen”
Meine Tante scheint wieder einmal nichts von meinem Schwindel zu bemerken, denn sie lässt mich kurz raus. Ich renne nach draußen, in Richtung Garage und hole mein Fahrrad raus. Ich schaue zum Stubenfenster, meine Tante scheint nichts zu bemerken. Wahrscheinlich schaut sie wieder diese komische Telenovela, wie heißt sie noch gleich “Anna und die Liebe”. Ich nutze die Gelegenheit und setzte mich auf mein Fahrrad. Ich fahre durch den Regen, an unserem Haus vorbei. Ich fahre so schnell ich kann. Der Regen spritzt mir ins Gesicht, es fühlt sich an wie kleine Nadeln, die versuchen mich zu kitzeln. Ich fahre immer noch im schnellen Tempo und gucke jetzt nach hinten. Gudrun scheint nicht bemerkt zu haben, dass ich weg bin. Sie wird es spätestens in einer Stunde merken. Um diese Zeit essen wir sonst immer. Ich erreiche nun eine lange Kurve, sie wird mich gleich nicht mehr sehen können. Gut so, nachher fährt sie mir noch hinterher! Das wäre gar nicht gut, dann könnte ich Leon gleich vergessen.

Ich fahre auf die Menschenmenge in der Stadt zu, ich bin immer noch viel zu schnell aber das interessiert mich nicht. Ich will zu Leon, jetzt sofort. Es ist wie eine Sucht, eine Krankheit. Ich kann nun den Laden in der Ferne sehen.
“Passen sie doch auf!!!”, schreit hier und da mal eine Person, aber auch das interessiert mich nicht.
Ich will ihn einfach nur Küssen, ihn an mir spüren. Mich vergewissern, dass ich mir ihn nicht ausgedacht habe. Plötzlich verlangsam ich mein Tempo und halte an. Was ist, wenn er mich gar nicht sehen will, wenn ich mir diesen Moment einfach nur ausgedacht habe? Eine Welle der Angst durchfährt mich und ich bekomme Panik. Was habe ich mir eigentlich dabei gedacht von zu Hause wegzulaufen?! Gudrun wird sich schreckliche Sorgen machen, wenn sie merkt, dass ich weg bin. Ich schaue nach hinten. Es regnet immer noch in Strömen, das hält die Leute aber nicht auf, Einkaufen zu gehen. Viele laufen mit Regenschirmen durch die Gegend, bunte, karierte, gestreifte Regenschirme tummeln sich in dieser Straße. Von oben sieht es sicherlich wie ein Kunstwerk aus. Für einen Moment vergesse ich plötzlich meine Sorgen und achte nur noch auf die bunte Gasse, auf die Menschen die sich einen Weg durch das Gedrängel suchen.
Ich schaue in den dunklen Himmel, lasse mir den Regen ins Gesicht spritzen. Es ist ein angenehmes Gefühl, vor allem in diesem Monat. Ich habe das Gefühl, das ich all meine Sorgen, mit diesen Regentropfen wegspülen kann. Aber so ist es natürlich nicht, sie werden bleiben, vielleicht nicht für immer, aber für längere Zeit. Gudrun hat einmal zu mir gesagt: “Probleme sind neue Herausforderungen, die dein Leben interessanter machen” also sollte ich diese Herausforderungen annehmen und sie nicht verdrängen.
Ich schaue nach vorne und dann wieder nach hinten. Welchen Weg soll ich einschlagen? Soll ich auf mein Herz oder doch lieber auf meinen Verstand hören? Ein vorbei gehendes Liebespaar bewegt mich schließlich dazu, auf mein Herz zu hören. Ich steige wieder auf mein Fahrrad und trete kräftig in die Pedale. Ich habe immer noch Zweifel, ob ich jetzt das Richtige tue. Es sind nur noch wenige Meter bis zu meinem Ziel, mein Herz schlägt jetzt schneller. Gleich wird sich entscheiden, ob alles nur ein Traum war oder nicht.
Ich sehe wie eine Frau, Bücher zu Recht legt, sie ist also eine Mitarbeiterin dieses Ladens. Sie muss wissen, ob Leon hier arbeitet. Mein Puls erhöht sich jetzt noch mehr, denn ich stehe bereits vor der netten Frau, die eine ziemlich große Brille auf ihrer Nase hat. Sie dreht sich um, direkt fallen mir ihre grünen Augen auf, in denen sich das Licht spiegelt.
“Kann ich helfen?!”, fragt sie mit einer ziemlich hohen Stimmen.
Ich bin in diesen Sekunden so fasziniert von ihrer Stimme, dass ich gar nicht merke, wie sie mit der Hand vor meinem Gesicht rumwedelt.
“Oh … Ähm … also ich hab da mal eine Frage. Arbeitet hier zufällig ein Leon?”
“Nein …”
Ich kann in diesem Moment, meine Enttäuschung nicht verbergen, ich
ziehe meine Mundwinkel so weit runter, dass ich Angst haben muss, mein Mund sucht sich ein neues Gesicht.
Die Frau mit den grünen Augen schaut mich besorgt an, sie hebt ihre Hand, fasst sich ans Kinn und macht ein nachdenkliches Gesicht. Ein kleiner Funken Hoffnung, kommt in mir auf. Ich beobachte sie eine Weile, wie sie da steht, immer noch die Hand ans Kinn gefasst. Über was denkt sie denn so lange nach? Es ist mir langsam ein wenig unheimlich, denn sie bewegt sich nicht einmal, nur ihr Lieder schlagen ab und zu mal, zu und auf. Jetzt scheint sie sich aus ihrem kleinen Traum zu lösen, ihr Mund öffnet sich langsam. Mein Mundwinkel zieht sich nun langsam wieder nach oben. Vielleicht kennt sie ihn doch.
“Ich kenne einen Leon, er ist der Sohn meines Chefs”
Am liebsten möchte ich bei diesen Worten die ganze Welt umarmen, sie kennt ihn also. Ich muss ruhig bleiben, ihr nicht zeigen, dass ich mich freue. Nachher denkt sich noch was Falsches, aber gibt es da eigentlich was Falsches zu verstehen?!
“Wo finde ich ihn denn?”
“Oh. Also ich glaube du hast gerade Glück, Leon ist gerade hier um seinen Vater zu besuchen, das macht er öfters”
Ist das Schicksal oder doch nur ein dummer Zufall? Träume ich gerade oder stehe ich hier wirklich, pitsch nass im Regen? Ich kann es nicht glauben, gleich werde ich Leon sehen, ich darf ihn umarmen. Vielleicht habe ich auch gleich einen Freund, die Begegnung kann ich mir einfach nicht ausgedacht haben, das geht einfach nicht. Ich will schon in den Laden laufen, als mich wieder dieses schlechte Gefühl überrumpelt. Das, was du hier gerade denkst, Miriam, ist einfach nur Schwachsinn. Du hattest noch nie einen Freund und willst plötzlich behaupten das Küssen gelernt zu haben?! Also wirklich, wenn ich das durchziehe, wird es richtig peinlich! Ich kann doch nicht einfach so hingehen und sagen “Hey, Leon ich muss dir was sagen. Ich liebe dich über alles auf dieser Welt und möchte mit dir gehen” nein das wären absolut die falschen Worte. Aber was ist nun, soll ich wieder umdrehen und alles war umsonst? Nein das kommt gar nicht infrage, ich gehe da jetzt rein. Ob mein Verstand es will oder nicht.
Ich trete mit großen Schritten durch die Tür, laufe wieder einmal an den Krimibüchern und historischen Romanen vorbei. Dieses Mal nehme ich aber nicht die Rolltreppe zu meinen Lieblingsbüchern, sondern laufe an der Rolltreppe vorbei. Direkt zur Kasse, wo gerade eine weitere Frau, Bücher verkauft. Ich stelle mich an die Schlange an und warte. Diese 5 Personen Schlange kommt mir gerade recht, dann kann ich noch einmal über mein Vorgehen nachdenken. Vielleicht sollte ich hier nicht stehen, vielleicht sollte ich abhauen, geht es mir immer wieder durch den Kopf. Ich kämpfe gegen meinen Verstand an, immer wieder dieses schlechte Gewissen. Will mir mein Verstand damit etwas sagen, will es mich warnen? Ich denke darüber nach, aber mir fällt darauf keine Antwort ein. Jetzt sind es nur noch 2, die vor mir stehen und mein Puls erhöht sich. Ich muss das jetzt tun, einfach nur so um mein Herz zu erleichtern. Ich beiße die Zähne zusammen und drängele mich vor.
“Hey, sag mal spinnen sie, sie können doch nicht einfach vordrängeln!”, schreit mich eine schlecht gelaunte Kundin an.
Sie hat Sorgenfalten auf ihrem Gesicht das sehe ich sofort, oder sind es normale Falten?! Na ja auf jedenfalls hat sie jede Menge davon.
“Entschuldigung, es ist ein Notfall”, brülle ich ihr jetzt ins Gesicht.
Ich stelle mich vor die nette Kassiererin, die jetzt gar nicht mehr so nett aussieht, und flehe sie an, mir zu sagen, wo ich Leon finde.
“Geradeaus, dann links und dann die Tür zum Personalraum. Im Flur dann wieder dritte Tür links”, sagt sie mit einem bösen Ton und schaut mich auch so an.
Ich achte gar nicht mehr auf sie und renne nun zur Tür des Personalraumes. Mein einziger Gedanke ist jetzt “Leon”, ich muss zu ihm, wieder spüre ich diese Sehnsucht nach ihm. Ich stehe jetzt an der Tür und überlege, sollte ich wirklich in diesen Raum treten? Und vor allem was soll ich sagen? Vielleicht … vielleicht sollte ich mich erst einmal Entschuldigen, das ich ihn umgerannt habe. Das habe ich ja noch gar nicht gemacht, genauso sollte ich das machen. Ich lege meine Hand auf den Türknopf und wieder ist dieses schlechte Gewissen da. Aber dieses Mal überlege ich nicht mehr, sondern drücke den Türknopf nach unten und gehe in den Raum. Dieser Raum entpuppt sich als Flur mit 6 verschiedenen Türen. Natürlich, ich bin ja auch noch nicht da, das habe ich völlig vergessen in der Aufregung. Ich gehe auf die dritte Tür von links zu und auf einmal höre ich ein seltsames Geräusch. Es hört sich an, als wenn da jemand reden würde. Hm … wahrscheinlich Leon und sein Vater. Ich lege mein Ohr an die Tür und horche. Schnell wird mir klar das, das nicht Leon und sein Vater sein können, denn hier spricht eindeutig eine Frau und ein Mann. Die eine Stimme erkenne ich sofort, sie gehört Leon. Ich würde sie überall wieder erkennen. Aber wer war nun die Frau? Seine Mutter, eine Art Sekretärin oder so was, oder vielleicht doch eine Kollegin? Ich möchte auf gar keinen Fall in eine Besprechung platzen und schaue durch das Schlüsselloch. Pech gehabt, der Schlüssel steckt, also muss ich wohl doch reingehen. Ich atme einmal tief aus und ein, lege meine Hand auf den Türknopf und drücke ihn runter. Ich klopfe vorsichtshalber noch einmal an und betrete dann den Raum. Was ich jetzt sehe, verschlägt mir für eine ganze Weile die Sprache. Tausend Gedanken gehen in meinem Kopf rum. Wie kommt sie hier her? Warum ist sie hier? Meine Augen beantworten die Frage “Warum ist sie hier” ganz von selbst. Ich stehe nun mitten in der Tür und habe meinen Mund weit offen stehen. Leon hat sie fest umschlungen und guckt nun auch wie sie, gerade ziemlich verwirrt zu mir rüber. Auf seiner Wange ist roter Lippenstift zu erkennen und an seinem Hals hat er einen Knutschfleck. Das ist also die schreckliche Antwort auf meine Frage, Jessica hat was mit Leon. Ich kann es einfach nicht fassen, war sie nicht erst noch im Krankenhaus, sie muss sich doch schonen?! Ich dachte ich könnte mich mit ihr anfreunden, ich dachte sie wäre ein netter Mensch und stattdessen hintergeht sie mich. Warum treffe ich immer die falschen Menschen, warum? Jessica löst sich nun langsam aus ihrer Starre und erst jetzt fällt mir auf das ihre Bluse aufgeknöpft ist. Sie wollten doch nicht etwa, hier? Wie widerlich, nie hätte ich das von ihm erwartet.
“Miriam, was machst du denn hier, wie kommst du überhaupt in den Personalraum?”
Ich fasse es nicht, auch noch quiek freundlich. Leon scheint sich nun auch endlich aus seiner Starre zu lösen und räuspert sich.
“Miriam darf ich vorstellen, das ist meine Freundin Jessica, aber wie ich gerade feststellen musste, kenn ihr euch ja schon”
Mir bleibt die Luft weg, am liebsten würde ich jetzt wegrennen und heulen, aber ich will dieses eine Mal stark bleiben, nur dieses eine Mal.
Leon fährt sich einmal durch seinen Nacken und setzt sich auf den nächstbesten Stuhl. Ich bin immer noch völlig sprachlos und kann nichts sagen, ich stehe immer noch mit offenem Mund in der Tür.
“Ähm … ja was willst du eigentlich hier?”
Plötzlich bin ich wieder ganz bei mir und schaue ihn an.
“Ich-Ich wollte mich entschuldigen, weil du-ich, ich dich angerempelt habe”, stammele ich doch noch etwas unsicher.
“Oh, ja das ist ja nett von dir, du hast mich nur im falschen Moment getroffen. Und wie siehst du eigentlich aus, du bist ja voll kommen nass.”
Genau das habe ich mir gedacht, das er das jetzt sagen würde. Er geht aus dem Raum, wahrscheinlich um mir eine Decke zu holen, ich nutze die Gelegenheit, um mit Jessica zu sprechen.
“Warum bist du nicht im Krankenhaus?”
Vielleicht ist meine Stimme gerade mit einem bösen Unterton unterlegt, aber das macht mir nichts.
“Ich hab mich selbst entlassen. Ich musste Leon einfach sehen, er ist so süß. Meine Mutter weiß nichts davon, ich bin einfach abgehauen.”
“Du riskierst also dein Leben für dieses Ar …, deinen Freund? Das kann doch nicht dein Ernst sein oder?! Ich fasse es nicht, und deiner Mutter hast du auch nichts gesagt. Weißt du eigentlich, wie viel Sorgen sie sich machen wird”
Sofort wird mir klar das man genau das gleiche auch von mir behaupten kann. Ich bin auch einfach so los gefahren, ohne Bescheid zu sagen. Wenn sich hier eine Schämen muss, dann wohl ich.
“Sag mal geht’s noch, schrei mich doch nicht so an, kannst du mich denn gar nicht verstehen?! Ich liebe Leon”
“Aber da muss man nicht sein Leben für Riskieren”
Darauf sagt sie nichts. Es wird still und diese Stille hält, solange an bis Leon wieder da ist. Er drückt mir eine Wolldecke in die Hand und ein paar Klamotten.
“Die Klamotten hab ich noch gefunden, zieh sie dir an. Ich mach dir erst mal einen warmen Kakao. Du kannst nach nebenan gehen”
Ich tue, was er sagt, und gehe nach nebenan. Ich würde es sowieso keine Sekunde länger in diesem Raum, mit den beiden aushalten. Ich ziehe mir ein grünes Hemd und eine dunkle Jeans an. Eigentlich sehe ich gerade gar nicht so schlecht aus. Ich habe gedacht, dass ich wie eine Irre in diesen Klamotten aussehen würde. Aber da hat mich mein Gedanke getäuscht, genauso wie mein Herz. Mein Verstand hat mir das Richtige gesagt, aber kann ich eigentlich davon ausgehen, dass mein Verstand das richtige ist?! Vielleicht soll das hier auch alles so sein, vielleicht hilft es mir später in irgendeiner Weise weiter. Ich weiß zwar noch nicht in welcher, aber vielleicht gibt es mir später Kraft, wenn ich Liebeskummer haben sollte. Ich weiß es nicht, ich lasse die Zukunft einfach auf mich zukommen. Ich schlüpfe noch schnell in meine Schuhe und gehe dann wieder zu Leon und Jessica. Ich bleibe hinter der Tür stehen und horche.
“Hey, Schatz ich liebe dich. Jetzt schau doch nicht so böse, sie geht doch bestimmt bald weg”
Ich fasse es nicht, die beiden wollen mich also auch noch loswerden. Na gut, die beiden haben es ja nicht anders gewollt, so schnell werden die mich jetzt nicht mehr los.
“Ich weiß doch, dass du mich liebst, unsere Begegnung vorgestern, das war einfach wunderschön. Ich hab mich sofort in dich verliebt. Und dann musste dieser blöde Blinddarm dazwischen kommen.”
Ihr Gemaule ist ja kaum noch auszuhalten. Welcher Typ lässt sich den bitte auf so eine egoistische Kuh ein. Warum fallen eigentlich alle Typen auf solche Mädchen herein, das verstehe ich einfach nicht?!
Ich kann jetzt ein lautes Schmatzen hören. Na lecker, jetzt küssen die beiden sich auch noch. Dann sollte ich sie doch mal unterbrechen.
“Hi, bin wieder da. Oh Entschuldigung ich hab ja gar nicht gesehen, dass ihr euch küsst”, sage ich mit einem etwas überheblichen Ton.
Jessica löst sich von Leon und funkelt mich böse an. Sie weiß genau, dass ich es gesehen hab und dass ich das extra mache. Aber das stört mich nicht, soll sie doch ruhig was Schlechtes von mir denken. Mit ihr bin ich sowieso fertig, sie braucht nicht mehr bei mir ankommen.
“Hey, ähm … macht doch nichts … setz dich doch”.
Jessica guckt Leon böse an, auch sie scheint jetzt schon mit mir fertig zu sein. Leon scheint meine Anwesenheit auch nicht zu begeistern, ich glaube durch mich wird es Streit zwischen den beiden geben. Jessica steht am Fenster und beobachtet mich, Leon geht zu einem Stuhl und setzt sich. Eine Weile ist es still, jeder Musstert jeden. Die Augen sind dabei besonders auf mich gerichtet. Ich hab meine Augen allerdings immer bei Leon, der mir jetzt immer unsympathischer wird. Hab ich mich wirklich so in diesen Menschen getäuscht, kann das sein? Oder liegt es einfach nur an Jessica, dass er so komisch ist?
“Tja … also es ist schon ziemlich spät. Möchtest du nicht vielleicht nach Hause. Ich mein du bist doch nicht mit dem Auto hier und da wäre es doch besser, wenn du noch im Hellen nach Hause fährst. Nachher wirst du noch überfahren”
Jessica scheint mich also wirklich loswerden zu wollen, jetzt versucht sie es auch noch auf die “Ich mach mir Sorgen” Nummer. Aber nicht mit mir, ich habe schon meinen Trumpf in der Hand, den ich jetzt gleich schön ausspielen werde.
“Nein du brauchst dir keine Sorgen zu machen, ich kann auch im Dunkeln Fahrrad fahren. Was ist eigentlich mit dir, willst du hier sterben?! Du musst wieder zurück ins Krankenhaus, soll ich deine Mutter vielleicht mal anrufen, damit sie dich abholt?!”
Sie schaut mich böse an, damit hat sie bestimmt schon gerechnet, aber gehofft hat sie es nicht. Nein ganz sicher nicht, mit ihrem Blick verschlimmert sie die ganze Sache allerdings noch, denn Leon kann ihren bösen Blick sehen. Er funkelt sie nun böse an und danach zieht er ein flehendes Gesicht.
“Das ist sehr nett von dir, aber ich werde sie besser hinbringen, und zwar sofort”
Leon steht auf und packt Jessica am Arm, die jetzt ein schmerzverzehrtes Gesicht zieht. Er zieht sie mit schnellen Schritten zur Tür und merkt dabei nicht, dass er ihr wehtut.
“Hey, ich hab gar nicht gesagt, dass ich wieder ins Krankenhaus will. Ist das nicht meine Entscheidung?”
“Nein ist es nicht. Ich bin dein Freund und ich entscheide jetzt, dass du ins Krankenhaus gehst”
Ich kann es nicht fassen. Was ist nur aus Leon geworden? Kann ich mich so in ihn getäuscht haben?
Ich dachte er wäre der liebevolle, einfühlsame Freund, den man sich nur wünschen kann. Und jetzt das hier!
“Was ist? Willst du etwa hier bleiben?”
Leon schaut mich wieder mit bösem Blick an und hat Jessica immer noch fest im Griff.
“Nein, nein natürlich nicht”
Ich bin noch so geschockt von seiner Art, dass ich die Welt um mich herum völlig vergesse.
“Na dann beweg dich. Du willst ja sonst nichts, oder?!”
“Ähm …Nein”
So viel Kühle schwingt plötzlich in seiner Stimme mit, dass ich ein wenig
Angst bekomme. Schnell folge ich den beiden in Richtung Ausgang. Die Schlange hat sich nun endgültig gelöst, die Kassiererin scheint dankbar dafür zu sein, denn sie schaut nun glücklicher aus, als vorher.
“Tschüss” Leon dreht sich noch nicht einmal um, während er diesen Satz ausspricht. Er ist nur damit beschäftigt, Jessica aus dem Buchladen zu ziehen. Ich folge den beiden noch ein paar Meter und bleibe dann stehen. Mein Traum hat sich in einen Albtraum verwandelt. Ich liebe einen undankbaren Menschen. Am liebsten würde ich mich jetzt auf den Boden legen und weinen, einfach nur weinen. Mit dieser Begegnung hab ich mir mein eigenes seelisches Loch gegraben, aus dem ich so schnell nicht mehr rauskommen werde. Ich setzte mich auf einen roten Ledersessel, der in der Ecke des Ladens steht, und stütze die Hände in mein Gesicht. Ich werde gleich aufwachen, ja das werde ich. Dann werde ich aufstehen, meinen Eltern einen guten Morgen wünschen und ganz normal zur Schule gehen. Ich werde mit meinen Freundinnen ins Kino gehen und ich werde mich mit den angesagtesten Typen ausgehen und alle werden neidisch sein. Es wird alles wieder so sein, wie es einmal war, es wird keinen Kummer mehr geben. Ich atme einmal tief ein und wieder aus und schließe dann die Augen. Wenn ich jetzt bis drei zähle und dann die Augen öffne, wird mein Herz wieder leicht wie eine Feder sein.
“Eins … zwei …”
“Kann ich helfen?!”
Wieder diese faszinierende Stimme, die mich aufhorchen lässt. Ich hebe mein Gesicht und schaue direkt in die Augen der Verkäuferin, der ich vorhin schon einmal begegnet bin.
“Nein, ich glaube nicht”.
“Aber du weinst. Bist du sicher, dass es dir gut geht?!”
“Klar, ich bin mir sicher”
Ich versuche meine Traurigkeit zu überspielen und tue so, als wenn ich nicht glücklicher sein könnte.
“Okay, aber wenn es etwas gibt, was ich für dich tun kann, dann melde dich bitte”
Seit wann interessieren sich Verkäuferinnen für das seelische Empfinden anderer?! Ist so was jetzt modern? Ich nicke ihr zu und versuche noch ein gezwungenes Lächeln hinzubekommen.
Es wird sich nichts ändern, niemals. Ich werde in meiner Traurigkeit versinken. Vielleicht habe ich jetzt so viel Pech, weil ich früher zu viel Glück hatte. Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Ich stehe auf und verlasse den Laden, ohne dabei noch einmal in Richtung Personalraum zu schauen.
Es hat aufgehört zu regnen. Auch die anderen scheinen das schon bemerkt zu haben, denn jetzt tummelt sich hier eine reinste Menschenmasse. Ich schnappe mir mein Fahrrad und fahre dann aus der Stadt heraus. Es wird langsam dunkel. Die Sonne scheint sich hinter dem Horizont verstecken zu wollen.


Kapitel 7



Gudrun war sauer, sogar mehr als sauer. Sie hat mir Sachen an den Kopf geworfen wie “Du dummes Ding” oder “Du bist zu nichts zu gebrauchen”. Sie wollte wissen, wo ich war und was ich dort wollte. Ich habe ihr gesagt, dass ich ein Buch kaufen wollte, weil mir langweilig ist. Das war mal wieder eine Lüge. Eine Lüge, weil ich Angst habe, dass sie zu viel von meinem Leben weiß. Nun sitz sie in ihrem Fernsehsessel und schmollt vor sich hin. Ich kann sie nicht ansprechen, nicht jetzt. Gudrun ist wirklich die beste Tante, die man sich nur wünschen kann, aber sie kann mir meine Eltern nicht ersetzen und das soll sie auch nicht. Sie kann mir nicht den Schmerz und die Traurigkeit nehmen, auch wenn sie das liebend gerne tun würde. Ich muss mit meinen Problemen alleine zurechtkommen, auch wenn ich sie gerne vergessen würde. Das Leben muss weiter gehen, auch wenn ich es gerne beende, würde. Bei diesen Gedanken füllen sich meine Augen wieder einmal mit Tränen. Und wieder einmal denke ich an Leon. Leon. Leon der süße Typ aus dem Buchladen. Warum habe ich mich so in ihn getäuscht?! War es die wundervolle Begegnung, die mir so den Kopf vernebelt hat? Kann das wirklich sein? Ich kann es nicht glauben, dass ein Mensch, mit so wunderschönen Augen, so gemein sein kann. Er hat mir das Herz gebrochen, das er erst aufgewärmt hat und dann ganz langsam und schmerzvoll zerstückelt hat. Dass es ausgerechnet Jessica sein muss, macht die Sache nicht besser. Aber was habe ich mir den gedacht?! Dass ich Jessica schon nach einem Tag vertrauen kann? Dass ich sie schon so gut kenne? Ja, das habe ich gedacht. Und diese Erkenntnis tut weh. Ich schäme mich dafür.
“Es tut mir Leid”
Meine Tante steht weinend in der Tür und schaut an die Zimmerdecke.
“Es tut mir so leid. Dass was ich vorhin gesagt habe, das … das war einfach unfair. Aber weißt du, ich weiß einfach nicht mehr was ich mit dir machen soll. Du redest nicht mit mir, ich hab das Gefühl, das du dich vor mir verschließt.”
Gudrun fängt an wie ein Wasserfall auf mich einzureden. Sie löst sich aus ihrem Blick und geht auf mich zu, will mich umarmen. Aber ich will nicht, nicht jetzt, nicht hier. Ich renne aus meinem Zimmer und knalle die Tür hinter mir zu. Ich weiß, dass es ungerecht ist, aber ich kann nicht anders. Es tut mir leid, dass ich sie so verletze, aber ich kann mich jetzt auch nicht entschuldigen. Die Tränen laufen und laufen. Ich versuche mich zusammenzureißen, nicht mehr an meine Probleme zu denken. Nicht an Leon und Jessica, nicht an meine Eltern und auch nicht an Mobbing zu denken. Aber es gelingt mir nicht, die Tränen laufen einfach weiter. Ich mache die Haustür auf und renne in den Hinterhof. Ich zittere am ganzen Körper, muss mich am Zaun festhalten. Mein Atem geht schnell und ungleichmäßig. Das wollte ich nicht. Ich wollte nicht noch mal weinen, ich wollte glücklich sein, mein Leben genießen. Jetzt stehe ich hier, am Ende meiner selbst und weiß nicht, wie ich aus dieser Lage wieder herauskommen soll. Wenn ich jetzt einen Wunsch freihätte, würde ich die Zeit zurückdrehen. Zu der Zeit, als alles noch in Ordnung war, wo mein Leben noch einen Sinn hatte. Aber es geht nicht, ich werde niemals so eine Chance bekommen, niemals. Ich muss mich damit abfinden, dass mein Leben ein einziger Trümmerhaufen ist und es auch bleiben wird. Ich muss damit leben, ob ich will oder nicht.
Ich gehe weiter, bis zum alten Schuppen. Die holz Wände sehen morsch aus und auch die grün gestrichene Tür scheint schon so einige Jahre hinter sich zu haben. Ich habe diesen Schuppen noch nie betreten, ich habe mich dafür nie interessiert. Die Umgebung war mir egal. Die erste Zeit habe ich mich drinnen verkrochen, hab mich in meinem Zimmer eingeschlossen und geweint, gehofft, dass sich doch etwas ändert. Aber es hat sich nichts geändert, zu mindestens nicht zum Guten.
Ein wenig unentschlossen gehe ich auf die Tür des Schuppens zu. Aus der Nähe sieht sie noch schlimmer aus, als ich befürchtet hatte. Wenn man sagen würde “Die Bretter sind morsch” wäre das um einiges untertrieben. Ich versuche ganz vorsichtig die Tür zu öffnen, trete dabei aber leider ein Brett heraus. Auch beim zweiten Anlauf kann ich die Tür nicht ganz ohne kleinen Schaden öffnen. Auch im Schuppen sieht es nicht viel besser aus, alte kaputte Holzmöbel stehen in fast jeder Ecke. Vier große Heuballen türmen sich bis an den letzten Balken des Schuppens. Alte, verrostete Geräte liegen mitten im Weg herum und auch die Wände scheinen nicht die Neusten zu sein. Ich trete näher in den Raum hinein und drehe mich einmal um mich selbst, um den Raum etwas besser zu betrachten. Überall hängt Staub an den Wänden und Balken, es sieht aus wie eine 2cm dicke, graue Schutzschicht. Auch die Spinnen scheinen hier ein perfektes Zuhause gefunden zu haben. Ich gehe auf die Heuballen zu und merke nicht, dass ich direkt auf einen Kasten zulaufe. Mit einem lauten Knall schlage ich gegen den Kasten und fliege im hohen Bogen in einen großen, losen Heuhaufen. Natürlich, wie soll es auch anders sein, falle ich zuerst mit meinem Gesicht und habe auch noch meinen Mund weit offen stehen, sodass ich eine ganze Portion Heu schlucken darf. Sofort spucke ich das Heu wieder aus, drehe mich auf den Rücken und starre an die verstaubte Decke. Werde ich den nur vom Pech verfolgt?! Egal was ich mache, es endet immer in einer Katastrophe. So werde ich doch nie jemanden finden. Wer will schon so ein tollpatschiges Mädchen, das in der Schule gemobbt wird und die ganze Zeit nur am Heulen ist?! Ich zumindest würde mich nicht auf so eine Person einlassen. Und wie war noch mal der Spruch?! Scherben bringen Glück. Ja, das haben wir ja gesehen! Wut und Traurigkeit spiegeln sich in diesem Moment in mir. Am liebsten würde ich etwas gegen die Wand schlagen, meiner Wut freien Raum lassen. Aber irgendeine Stimme in mir sagt mir, dass ich lieber ruhig bleiben sollte. Trotzdem springe ich auf und renne mit energischen Schritten in Richtung Tür. Bin schon fast bereit die Tür zuzuschlagen, als mir ein kleines, goldenes Kästchen auffällt, das genau da liegt, wo ich gerade eben noch gestolpert bin. Ich überlege, ob ich jetzt lieber gehen sollte oder doch einen Blick in dieses verlockende Kästchen werfen sollte. Da ich diesem Kästchen einfach nicht wiederstehen kann, entscheide ich mich dafür zu bleiben. Einerseits möchte ich jetzt sofort reinschauen, andererseits habe ich ein wenig Angst. Ich weiß, nicht wieso ich dieses Gefühl in mir trage, warum ich ausgerechnet bei einem Kästchen Angst habe. Ich weiß nur, dass ich keine Enttäuschungen mehr ertragen kann. Mit langsamen Schritten gehe ich auf das goldene Kästchen zu, es scheint schon sehr alt zu sein. Hier und da hat es schon ein paar Risse. Vorsichtig drehe ich den Schlüssel, der auf dem Deckel, im Schloss steckt. Es macht ein kleines Geräusch und dann kann ich es öffnen, zögere aber noch einen Moment. Mal wieder fahren mir diese Gedanken durch den Kopf. Sollte ich das tun? Was ist, wenn wieder etwas passiert?
Doch dann fasse ich meinen ganzen Mut zusammen und reiße den Deckel auf. Ich weiß nicht, was erwartet hatte, aber das, was ich jetzt sehe, war offenbar nicht in meinen Gedanken dabei gewesen. Der komplette Kasten ist mit Schmuck gefüllt. Silberne, goldene Ketten, bunte Broschen und ein wunderschönes, silbernes Amulett, das mir sofort ins Auge springt, befinden sich darin. Ganz vorsichtig nehme ich das Amulett heraus und betrachte es etwas genauer. Es ist wunderschön verziert, Blumenranken suchen sich den Weg nach oben. Und auf der Rückseite steht ein Buchstabe, der mir ein wenig den Atem raubt.Ein großes „G“, der Anfangsbuchstabe unseres Familiennamens. Wieder kommen Erinnerungen an gute Zeiten hoch. Ein Picknick im Park, ein Besuch im Museum. Viele Erinnerungen habe ich allerdings nicht mehr, zu viel Zeit ist vergangen, doch vergessen werde ich sie niemals. Deine Eltern vergisst du nie, auch wenn du es versuchst, sie werden immer ein Platz in deinem Herzen haben. Egal ob du sie hasst oder liebst. Egal wie oft man Streit hatte, egal wie viel Zeit vergangen ist. Sie haben dich gezeugt und auf die Welt gebracht. So werden sie immer ein Platz in deinem Herzen haben. Ganz vorsichtig öffne ich das Amulett, es scheint schon sehr alt zu sein, denn an den Kanten hat sich Rost gebildet.
Der Anblick auf das nun geöffnete Amulett versetzt mir einen weiteren kräftigen Stoß in meine schon vorhandene Wunde. Oft habe ich den Blick in alte Fotoalben vermieden, aus Angst ich könnte zusammenbrechen und nicht mehr aufstehen, aus Angst die Watte um mich herum könnte sich in Luft auflösen. Und nun sitze ich hier, weiß dass ich mich damit schon längst hätte konfrontieren müssen. Doch was bringt das jetzt? Ich bin kurz davor, nichts mehr zu empfinden. Vielleicht ist es besser so?! Vielleicht sollte ich überhaupt nichts mehr fühlen, dann könnte mich nichts mehr verletzten. Dann könnte ich das alles hier ertragen, ich könnte weitermachen wie bisher. Doch will ich das überhaupt? Nichts fühlen … Das bedeutet auch, nicht lieben. Nicht zu merken, wenn man Glück empfindet. Mit Tränen in den Augen stehe ich auf, halte das Amulett immer noch fest in der Hand. Wie soll es nun weitergehen?

Es regnet immer noch, die ganze Nacht hat es nicht aufgehört. Das Wetter scheint sich meinen Gefühlen wieder einmal anzupassen. Ich hatte mitten in der Nacht noch ein langes Gespräch mit Tante Gudrun, ich musste ihr Versprechen, dass ich so etwas nie wieder tue. Sie nahm mich jede 2 Minuten in den Arm und tröstete mich. Denn der Eimer mit Wasser in meinen Augen war noch reichlich gefüllt. Wir sprachen uns aus, redeten noch eine ganze Weile über meine Eltern. Zum ersten Mal erzählte ich ihr von meinen Schuldgefühlen und von den anderen restlichen Gefühlen drum herum. Doch zwei Themen lies ich wieder einmal aus „Mobbing“ und „Leon“. Aber trotzdem ging diese Nacht ohne große Lügen zu Ende. Gudrun machte uns wieder einen Kakao, wir saßen noch bis in die frühen Morgenstunden, in eine Decke eingehüllt vor dem Fernseher. Es ist schön zu wissen, dass es einen Menschen gibt, auf den man sich voll und ganz verlassen kann. Sie hatte es sogar geschafft, dass ich für kurze Zeit all meine Sorgen vergaß. Nicht mal der Name „Leon“ schwirrte in meinem Kopf herum.
„Miriam können wir los fahren?! “
Und schon beginnt wieder der ganz normale Alltag. Gudrun redete in der Nacht so lange auf mich ein, bis ich zu ihrem „Angebot“ einfach nicht Nein sagen konnte. Und so geht es heute zum Markt und das ausgerechnet in einer der Straßen des Buchladens. Also muss ich mir wohl oder übel etwas einfallen lassen, um nicht in diese Straße gehen zu müssen.
„Miriam, jetzt beeil dich doch bitte“
„Jaaa! Ich komm doch schon“ langsam schleiche ich die Treppenstufen herunter und hoffe noch immer das ihr im letzten Moment noch etwas dazwischen kommt. Vielleicht sollte ich … nein, das ist zu schmerzhaft und einmal reicht vollkommen. Aber irgendwas muss passieren, damit ich nicht in diese Straße muss.
„Schätzchen, wie wäre es mit ein wenig Begeisterung? Ich bringe dich raus aus dem Haus. Keine Langeweile mehr“
Ich versuche es mit einem breiten Grinsen und schon schaut Gudrun zufrieden aus. Trotzdem schleiche ich weiterhin vor mich hin und behaupte mir tut mein Knie plötzlich wieder weh. Meine Tante hatte heute Morgen in der Schule angerufen und behauptet es ginge mir gar nicht gut und so habe ich jetzt das Glück, das ich erst mal von meinen Mitschülern ferngehalten werde. Was sich trotzdem nicht sonderlich gut auf mein Zeugnis auswirken wird. Endlich am Auto angekommen, werde ich auch schon von Gudruns Lieblingsmusik begrüßt. Eine einzige Kassette befindet sich in ihrem alten Auto und diese wird jeden Tag rauf und runter gehört.
„Hast du abgeschlossen?“
Gudruns lächeln verschwindet, als sie meinen genervten Blick, als Antwort, bemerkt.


Impressum

Tag der Veröffentlichung: 16.08.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
An alle, die an das Gute im Leben glauben.

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