Winterzauber
von Lisa Leroux
E
s war ein herrlicher Freitagmorgen im November und die Sonne schien silbrig glitzernd von einem kleinem Stückchen blauem Himmel herab, der ansonsten mit dichten bauschigen Wolken verhangen war. An dem großen, völlig kahl durchrüttelten Pappelbaum, der im Garten des gegenüberliegenden Nachbarhauses stand und dieses über Längen hinweg überragte, bemerkte sie, dass der über Nacht aufgekommene böige Wind doch sehr stürmig geworden war. Aber in ihre wohlig weiche Fleecejacke gemummelt und einen dicken Schal um ihren schlanken Hals und Nacken geschlungen zog sie unbedacht das schwere Eisentor zu. Dann schwang sie sich auf ihr Rad.
Als sie an jenem Morgen aufgewacht war und mit einem Blick aus dem Fenster der Sonne entgegenblinzelte, hatte sie kurzfristig entschlossen, nach einem kleinen Frühstück raus in den nahen Wald mit all seinen ausladenden Äckerwiesen zu flüchten. Denn heute war ihr Namenstag. Der 19. November. Der Tag der heiligen Elisabeth. Aber alle nannte sie immer nur Betsy. Ja, Betsy Boyz. Das war ihr Name, das war sie. Zwar half sie normalerweise mittwochs und freitags Mrs. Crickston, die etwas unorganisiert und wohl sehr verwirrt versuchte den kleinen Dorfladen zu führen. Ansonsten ging sie ihrer regulären Halbtagsstelle an der hiesigen Schule nach. Es war die erste Stelle, die sie nach ihrem Pädagogikstudium bekommen hatte. Doch nachher würde sie Aunt Augusta, ihre Großtante väterlicherseits, in ihrem noch recht flotten Bentley für einen Ausflug in die Stadt abholen. Es war schon antik, schwarz und noch dazu ein Cabriolet. Das Schmuckstück der Familie. So war es auch Tradition Namenstage auf eine besondere Weise zu würdigen und den Tag vollends zu genießen. Nun fuhr sie also aus dem Dorf hinaus auf einem Weg, der hinter der letzten Häuserzeile angelegt war, vorbei an eingezäunten Koppelfeldern, auf denen zwei Pferde, ein Schimmel und ein honigbrauner Wallach mit hellblondem Schweif, genüsslich grasten sowie einige schnatternde Gänse ihren Unfug trieben. Vereinzelte Wasserlachen machten den Weg zum Parkur. Ein Zeugnis von vergangener Woche. Regen Tag ein, Tag aus. Von Morgens bis Abends. Einmal konnte Betsy weder nach rechts noch links ausweichen, sodass ihr nichts anderes übrig blieb, wie mittendurch zu fahren. Mit zusammengekniffenen Augen rollte sie durch das tiefbraune Schlammloch. Sie hörte, wie Dreckwasser aufspritzte und hoffte insgeheim, dass sie ja nichts davon abbekommen hatte. Weiter vorbei an einem trübselig daliegenden stoppeligen Maisfeld, an dessen Rand noch ziemlich verlassen ein Büschel wilder Margariten wuchs und vom Wind ganz zerzauste Blütenblätter hatte, ging es auf eine steil ansteigende Betonbrücke, die über die viel befahrene Umgehungsstraße führte. Mit aller Kraft in die Pedale tretend kam Betsy heftig außer Atem oben an. Der Geruch eines Hundes stieg ihr in die Nase. Ein Geruch, den sie nur zu gut kannte. Zuhause hatte ihr Vater nämlich irgendwie schon immer Hunde gehalten. So kam es Betsy, die mit den wuscheligen Welpen aufgewachsen war, zumindest vor. Es waren Nordlandhunde, die wegen ihrem Aussehen schon des Öfteren für Furore gesorgt hatten. Und tatsächlich standen oben am Geländer eine junge Mutter mit einem Kinderwagen, dem dazugehörigen Kind auf dem Arm. Ein kleines Mädchen spähte interessiert zwischen den Gitterstäben nach unten. Ein schwarz weiß gefleckter lechzender Bernhardiner starrte Betsy beim Vorbeifahren unentwegt an, so, als würde er sie gleich verfolgen und hinter dem hinuntersausenden Rad hersprinten. Das tat er aber nicht. Vorsichtshalber hatte sich Betsy umgeschaut. Nun wurde ihr aber das Bergabfahren zu viel und Betsy begann kräftig in Schüben zu bremsen. Noch bevor der befestigte Betonweg der Brücke in einen von glitschigem Gras bewucherten Pfad überging, kam sie zum Stehen und stieg ab. Ihr Rad neben sich herschiebend kam sie dem kleinen Wald immer näher. Das noch feuchte Gras streifte ihren Hosensaum und durchnässte ihre Schuhe bis auf die Strümpfe. Nach wenigen Schritten eröffnete sich ihr der romantische Blick auf das Wasser, ein Wasserrückhaltebecken, das naturschutzgemäß als Vogelrückzugsgebiet ausgezeichnet war. Betsy bezeichnete es als ihren kleinen See. Es war eine Abzweigung des kleinen Dorfflusses, der dem Ort seinen Namen verlieh und der hier am Waldrand sanft entlang floss. Das Rad an einem Baumstamm abgestellt stand sie nun an der mickrigen Uferböschung und atmete tief ein. Das erste, was sie machte, war sich die wollenen Handschuhe von ihren kalten Händen zu streifen, um sich mit einem Papiertaschentuch aus ihrer Jackentasche die laufende und mit Sicherheit von Kälte und Wind ganz rot gewordene Nase zu schnäuzen. Dann blickte sie auf das Wasser, das der Wind unter seiner Macht an der Oberfläche kräuselte und auf Grund der zugezogenen Himmelsdecke ganz grau und trüb wirkte. Kein einziger Sonnenstrahl brach nun mehr durch die Wolkendecke. Doch das interessierte Betsy wenig. Auch nicht, dass ihr Haar von einer kräftigen Bö zerzaust wurde, so dass sie eine locker gewordene Haarnadel aus ihrem Knoten herauszog und sie erneut wieder feststeckte. Sie versank ganz und gar in der Atmosphäre, die sie an diesem Platz hier umgab. Das Element Wasser hatte auf sie schon immer eine beruhigende Wirkung gehabt und hatte es auch in diesem jenen Moment noch immer. Dieser See war ihr ein Ort geworden, an dem sie ein innerer Seelenfriede fühlen und an dem sie ausgelassen glücklich sein konnte. Auch konnte sie hier in eine sonderbare Ruhe flüchten. Gelassen und zufrieden blickte sie sich um, merkte, wie sie es mit einem Mal überkam und sie von innen heraus zu strahlen begann. Kaum spürbar setzte ein Nieselregen ein, der sachte auf die dörren Blätter fiel. Doch als sie ihre Hände ausbreitete, die wieder in den schwarzen wärmenden Handschuhen steckten, erkannte Betsy einzelne winzige feste Schneeflocken. Damit hätte sie nun überhaupt nicht gerechnet. Es graupelte aber tatsächlich. Begeistert über dieses Naturereignis musste sie plötzlich lachen. Voller unverständlicher Freude und Glück streckte sie ihre Arme zur Seite und begann sich im Kreise um sich selbst zu drehen. Unwillkürlich musste sie dabei jauchzen. Es war einfach herrlich. Das Schöne liegt doch manchmal so nah und kann so einfach sein, doch manchmal bemerkt man es gar nicht.
Ein helltoniges Rumpeln ließ sie aufschrecken. Auf der nass gewordenen Erde hatte ihr Fahrrad den Halt verloren und war von von einem leichten Wind umgestoßen. Dies veranlasste Betsy dazu, sich nach einer letzten intensiven Rundschau über den See mit einem äußerst tiefen Seufzer der Zufriedenheit wieder dem Rückweg zuzuwenden. Doch erst nahm sie ihr Rad wieder vom Boden auf, entfernte einzelne dörre Laubblätter aus Speichen und Gepäckträger und wischte etwas Erde von ihrem Lenker. Schade, dachte sie, dass das Herbstlaub nicht länger so bunt an den Bäumen hängen blieb. Es waren immer so hübsche Farbkleckse in der sonst so trüben Natur. Den schmalen Pfad nahm sie nun nicht mehr zu Fuß, wie vorhin, sondern versuchte holpernd darüber zu fahren. Oben auf der Straßenbrücke begegnete sie wieder dem fortwährenden leicht penetranten Hundegeruch. Mit einem kurzen Seitenblick fiel Betsy auf, dass die Landstraße wie leer gefegt war. Ein wirklich höchst seltener Anblick, den sie lediglich an Sonn- und Feiertagen für möglich gehalten hätte. Eine förmliche Stille war eingetreten. Alles in allem schien sonderbar, doch Betsy fuhr weiter. Wieder an den schlammigen Bodenlöchern vorbei dachte sie daran, wie doch eigentlich solche brach liegende Feldwege ein Lebensgang verbildlichen konnten. Es verläuft nie glatt und nie so, wie man es erwartet. Es gibt auch Hindernisse, die man zu überqueren hat, und es gibt mal Auf und Abs. Wie ein richtiges Leben eben. Und das wichtigste oder auch erstaunlichste dabei ist, man schafft es immer wieder, alles irgendwie zu bewältigen.
Langsamer ging es nun wieder durch den Ort. Betsy fuhr lieber auf dem Gehweg, der durch junge Ahornbäume in Steineinfassungen von der Straße abgetrennt war, unter noch etwas knallig rot gefärbten Blättern an den kahlen Ästen hindurch. Ihr gefielen Alleen. Nach dem prächtigen Anwesen der Meadow Mill, was hinter sich die schon lange nicht mehr betriebsame einzige Wassermühle des Ortes hatte, musste sie rechts abbiegen. Davor blickte sie aber noch mal in den dazugehörigen Garten mit seiner kleinen Obstplantage vor dem kastigen mit wildem Wein bewachsenen Haus. Ziemlich unerwartet entdeckte Betsy den alten Mr. Bailey. Er war der Besitzer von Meadow Mill und ließ sich normalerweise so gut, wie nie, unter Menschen blicken seit seine Frau vor fünf Jahren an einem Altersbedingten Schlaganfall aus seinem Leben gewichen war. Aber nun sah er jene Mädchenhafte junge Frau, die er schon des Öfteren beobachtet hatte, wie sie mit ihrem klapprigen Damenrad hinaus auf die Wiesen und wahrscheinlich in den Wald gefahren war, und grüßte sie mit einem munteren „Guten Morgen!“. Leicht verwirrt wusste Betsy im ersten Moment nicht, was sie darauf antworten sollte, und starrte deshalb den alten stattlichen Mann mit seiner sibirischen Ohrenklappenmütze stumm an. Das einzige, was sie tat, war ihm freundlich zuzunicken und darauf zu achten, ja nicht vom Fahrrad zu fallen. Mit einem ruckartigen Schlenker richtete sie ihren Blick wieder der kreuzenden Straße zu und bog ab.
Nun holte Betsy mit ganz taub gewordenen Fingern ihren Wohnungsschlüssel aus ihrer Tasche heraus, schloss Hoftor und nachdem sie das Rad in der Garage abgestellt hatte, auch Haustür auf. Drinnen erwartete sie ungewöhnliche wohlige Wärme, die von den klobigen Heizkörpern herströmte. Es war so warm, dass sogar ihre Brillengläser anliefen und sie für kurze Zeit sozusagen im Nebel stand. Die warme Küche mit dem kleinen Essbereich brachte ihr sofort die vergangene Erinnerung an den bullernden Ölofen in dem Haus ihres Vaters herauf. Bei ihm zu Hause war es immer sehr angenehm warm gewesen im Winter. Manchmal sogar zu warm, dass Betsy, wenn sie nach Hause kam, erstmal ein Fenster aufreißen gemusst hatte. Plötzlich fiel ihr ein, dass sie schon länger nicht mehr bei ihrem Vater zu Besuch war und dass sie ihn ja möglicherweise kommende oder übernächste Woche besuchen könnte. Sie musste mit dem Bus fahren, da ihr kein eigenes Auto zur Verfügung stand. Denn gleich nach dem Schulabschluss zog sie in jene paar Zimmern, die sie mit dem kleinen Gehalt von Mrs. Crickston und dem großzügigen Taschengeld von Pa und Aunt Augusta finanziert hatte. Damals hatte sie die Wohnung noch mit einer fremden Mitbewohnerin geteilt, die dann nach ihrem Examen ausgezogen war und bald darauf auch geheiratet hatte. Um von der Universität der ziemlich nahe gelegenen Stadt nicht allzu sehr entfernt zu sein, bot das kleine Dorf eine in jeder Hinsicht günstige Lage. Die Busverbindungen waren so gut, dass sie kein Fahrzeug gebraucht hätte. Auch jetzt brauchte sie nur ihr Fahrrad, um die kleine Schule und Supermarkt oder Bäckerei im Dorf zu erreichen.
Nun machte sich Betsy in ihrem winzigen Schlafzimmer zum Ausgehen fertig, denn jeden Moment würde sie mit ihrer Großtante rechnen können. Und da hörte sie auch schon, wie Augusta angebraust kam. So verrückt, wie sie war, hatte sie doch tatsächlich das Verdeck des Bentleys abgenommen. Betsy schauderte es davor, von dem steifen und vor allem eisigen Fahrtwind zu einem lebendigen Eiszapfen zu gefrieren. Doch als sie zu ihrer mondänen Tante in den Wagen stieg, erinnerte sie sich daran, dass gerade erst letzten Winter moderne Sitzheizungen eingebaut worden waren.
„Hier, Schätzchen, der ist für dich!“, sagte Augusta als erstes, ohne jedoch ihre Großnichte begrüßt zu haben und hielt ihr einen breiten Seidenschal vor die Nase. „Wickel dir den um deine süße kleinen Öhrchen. Wir wollen doch nicht, dass du mir erfrierst, nicht wahr?“
Gutmütig lächelnd meinte daraufhin Betsy, die bereits vollends mit der Art ihrer Tante vertraut war: „Auch dir einen schönen guten Morgen, Aunt Augusta!“ und gab ihr zur Begrüßung leicht einen kindlichen Schmatz auf die Wange. Wie geheißen legte sie sich das Tuch um und hatte dann aber zum weiteren Erzählen keine Chance mehr, denn Augusta trat mit Karacho auf das Gaspedal und düste aus dem Örtchen hinaus, wobei der alte Motor kräftig anfing zu brummen. Betsy saß tief in dem ausgebeulten Ledersitz und schaute, wie Tannen und verschiedene Laubbäume an den Scheiben vorbeizogen. Von einer steifen Kälte war so gut wie gar nichts zu spüren. Das Gebläse auf höchster Stufe voll aufgedreht zog die kühle Luft über ihren Köpfen hinweg. In ihrem schicken Mantel mit Pelzbesatz eingekuschelt und ganz gespannt auf den bevorstehenden Shoppingtag verharrte Betsy die wenigen Minuten in einer bequemen Sitzposition bis sie ihr heutiges erlebnisreiches Ziel erreicht hatten.
Dann in der Stadt stürzten sie sich gleich in ihren Einkaufsrausch und nach Stunden, als sie mit voll bepackten Tüten aus dem letzten Geschäft in die spürbar kältere, aber auch frischere, Luft heraustraten, merkten sie plötzlich, welch einen Hunger sie überhaupt hatten. Und so gingen sie in das nächste Café an dem Marktplatz mit all seinen schmucken Jugendstilhäusern und nahmen einen verspäteten Lunch ein. Nachdem sie ihre Teller wie leer geputzt und ihr Besteck beiseite gelegt hatten, schauten sie noch eine Weile dem regen Treiben draußen auf der gepflasterten Gasse der breiten Fußgängerzone zu und machten sich dann auch bald daran aufzubrechen und verlangten die Rechnung. Als Betsy ihre kleine Geldbörse aus ihrer Tasche herauskramte, legte ihre schon immer sehr großzügig gewesene Tante sofort Protest ein. „Aber nun hör mal! Das bezahle ich doch natürlich. Jetzt stecke dein Geld wieder ein; du wirst es noch für andere Zwecke gebrauchen können. Und heute feiern wir ja schließlich deinen Namenstag! Dann ist es doch klar, dass ich dich einlade.“
„Aber …“, versuchte sich ihre Großnichte zu wehren. „Du hast mir doch schon den sündhaft teuren Wildlederrock und den farblich dazu passenden Kaschmirpullover bezahlt!“
Mit erhobener Hand als ein Zeichen der Abwehr meinte Augusta da nur: „Das waren Geschenke. Und nun keine Widerrede mehr, mein Kleines!“
„Och Tante! Du bringst mich noch zur Weißglut!“ Verzweifelt musste Betsy lachen. Es war doch immer dasselbe. Sie konnte nichts dagegen tun. Einmal, als sie noch auf der Universität war und während ein paar freien Stunden mit Aunt Augusta Kaffee getrunken hatte, war es sogar so, dass sie beide so lange hin und her diskutiert hatten, wer nun das bisschen Geld für die zwei kleinen Tässchen erübrigen sollte, sodass ein netter feiner Herr am Nachbartisch dies mit seiner Rechnung einfach übernahm. Anscheinend hatte er es satt, dieser Lappalie
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 31.03.2014
ISBN: 978-3-7438-3350-0
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