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Wenn du dich sonst nicht halten kannst,
so halte dich am Leben




Sie war jung. Vielleicht Anfang 20, als ihr Freund von heute auf morgen einfach ging. Der Abschied war kurz. Kalt. Distanziert. Er packte spärlich ein paar Sachen in den alten Koffer, der lange verstaubt auf dem Schrank gelegen hatte. Geld für Urlaub hatten sie wohl nicht, nachdem sie in ein eigenes Appartment gezogen waren. Dreißig Quadratmeter mit Kochnische und tropfenden Wasserhähnen. Behutsam klemmte er sich den Laptop unter den Arm, bevor er sie mit Augen ansah, die in Gedanken längst schon über den Körper einer anderen glitten. Das Knallen der Wohnungstür erschlug sie. Aber sie weinte nicht.

Ich hatte oft auf meinem engen Balkon gesessen, der, zwischen rotgrauen Häuserfronten eingeklemmt, genau gegenüber des großen Fensters war, in welches sich die tristen Abgase des Elends immer weiter hineinfraßen, bis es mehr und mehr erblindete. An diesem schwülen Tag aber stand es offen und ermöglichte den Blick auf das Szenario. Nicht, dass ich es darauf angelegt hätte, den beiden zuzusehen. Aber wenn man die Wahl hat zwischen einem blassen Stück Himmel, das hinter 20 Stockwerken hervorlukt, einer immer schmutzigen Straße, mit immer gierigen Ratten und einem offenen Nachbarsfenster...ja, was soll man sich da noch groß entscheiden.
Unten entfernten sich seine Schritte in Richtung des Irgends, das ich lange nicht zu Gesicht bekommen hatte.

Die Tage wurden kürzer, die Nächte kälter und bald stellten wir alle Kerzen auf, um der Tristesse einen kleinen Glanz zu geben. Ihre brannten noch spät in der Nacht, wenn ich hinüber sah, weil kein Schlaf mich überkommen wollte. Ihre Schatten tanzten träge durch den Raum und so gerne hätte ich mit ihnen getanzt. Eng umschlungen, Seite an Seite.
Sie weinte nie - doch ich weinte für sie.

Eines Morgens wurde ich von einem lauten Hämmern an meiner Wohnungstür geweckt und alles was ich dachte, war, dass bei jedem nächsten Schlag das Holz aus seinen Angeln kracht und endlich Anlass geben würde, den Vermieter zu einer neuen zu überreden. Eine, die diese moderige Flurluft daran hindert durch jeden Spalt zu wehen.
Es dauerte eine Weile bis ich öffnen konnte, doch sobald ich den Türknauf gedreht hatte, flog mir ein Lächeln entgegen.

Ich weiß nicht, wie alt er war. Wahrscheinlich nur ein paar Jahre älter als ich, doch es schien immer, als hätte er sein Leben längst zuende gelebt. Manchmal sah ich ihn, wenn er auf seinem Balkon saß und die Mauern anzustarren schien, die doch nichts anderes waren, als abgenutzte Restbestände schönerer Tage. Für mich war dieses Wohngebiet die einzige Möglichkeit, meinen Eltern zu entfliehen und ein eigenes Leben zu beginnen. Ich hasste diese eintönige Einöde, aber sie schenkte mir Freiheit, die ich eigentlich mit meinem damals noch treuen Freund verbringen wollte. Wie man sich täuschen kann.
Ihn dort aber schien sie gefangen zu halten, ohne dass er sich dagegen zu wehren versuchte. Wie auch.

Einmal habe ich ihn besucht. Vielmehr, weil ich mir Sorgen machte, weil er doch sonst jede Nacht im Kerzenschein auf der Bettkante saß. Aber in dieser Nacht war es dunkel geblieben, genau wie in der Nacht zuvor.
Zuerst klopfte ich zaghaft, dann immer lauter werdend, denn mit jedem weiteren Schlag, durchfuhr mich die Angst, ihm könnte etwas zugestoßen sein.
Es dauerte lange, bis er die Tür öffnete. Sobald ich das Drehen des Knaufs hörte, spürte ich meine Lippen lächeln und dann sah ich ihn so nah wie noch nie zwischen vielen Bücherstapeln, die den kleinen Flur erdrückten.
Verschämt schaute er mich an, den Blick fragend hinter einem grauen Schleier verborgen, die Wangen feucht.
"Ich bin Julia"

"Tom"
Meine Stimme krächzte aus meinem Inneren hervor wie abgenutztes Schmirgelpapier. War es die Aufregung, oder einfach nur die Tatsache, dass ich so viele Jahre nicht gesprochen hatte? Ich hatte mich nicht getäuscht. Sie war wunderschön. Und ich dagegen fühlte mich unwohl, von Scham bedeckt.

Mit dem Pulloverärmel wischte er sich die Tränen aus dem Gesicht, woraufhin zwei neue sich den Weg in seine Augenwinkel bahnten. Das wiederholte er wieder und wieder, bis er plötzlich aufgab und mir ein entschuldigendes Schulterzucken schenkte.

Plötzlich lenkte mein Körper sich von selbst. Ich trat einen Schritt weiter in die Wohnung hinein, beugte mich zu ihm und küsste die salzigen Tränen. Dann umfasste ich die schwarzen Griffe und schob den Rollstuhl fort. Mit ihm.
Entgegen einer neuen Hoffnung.

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Texte: Alle Rechte liegen bei der Autorin
Tag der Veröffentlichung: 17.11.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für alle Kämpfer

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