Für Thomas
Ich hätte ihn anrufen können. Der Gedanke daran ihm die Wahrheit zu sagen, über das Leben das er nicht führte, reizte mich, verbarg es doch die Möglichkeit, mein Leben zurück zu bekommen. Hätte ich ihn angerufen, wäre diese Geschichte nie geschrieben worden.
Die Menschen denen wir eine Stütze sind, geben uns Halt.
(Marie von Ebner - Eschenbac
h)
Die Schneespuren seiner Frau
Unsicher betrat er meine Wohnung. Sein unechtes Lächeln, seine zitternden Hände, alles an seiner Mimik verriet mir, dass er auf der Suche nach Antworten war. Er suchte Antworten auf all die Fragen, die er sich nicht zu stellen traute. In seiner Ohnmacht gefangen, überließ er mir das Reden. Wahrscheinlich hörte er mich nicht einmal. Bediente ich mich doch der Art von Worten, die das Ausmaß und die Auswirkung dieser für ihn neuen, doch für mich schon elementaren Wahrheit, zu verstecken versuchten. Der Halt, den wir in den mittlerweile übermäßig gefüllten Whiskeygläsern zu finden gedachten, schwand gemeinsam mit der Hoffnung, sich getäuscht zu haben. Als er ging, musste ich weinen. Nicht etwa, weil ich seinen Schmerz kannte, nein, eher weil ich an diesem Tag begann, meinen Schmerz zu teilen.
Zu jener Zeit war es kalt draußen. Vor der Tür zog ein eisiger Wind durch die Straßen und auch die Felder waren seit langen schon von einer grauweißen Schneedecke überzogen. Wo immer auch die Möglichkeit bestand, flüchtet man an den Kaminofen und versuchte sich auf Vorrat zu wärmen. So grau wie die Welt da draußen, so grau sah es in manchen Herzen aus. Dazu können Sie ruhig meins und auch das meines Besuchers zählen.
Die darauffolgenden Monate und all die täglichen Konversationen, die nächtlichen Telefonate, die spärlichen Treffen änderten daran nichts. Wir gaben und nahmen einander was wir an Wärme bekommen konnten, ohne uns zu berühren. Wir ließen die Zeit für uns arbeiten und sahen nicht, wie stark wir uns an den Schmerz klammerten. Jede Neuigkeit wurde ausgewertet und selbst die Gespräche die wir nicht ihnen, unseren Lieben, widmen wollten, führten zu ihnen zurück. Wir liebten sie in jedem Gespräch. Mehr noch als wir uns selbst liebten.
Was ich ihm, bei unserem ersten Treffen offenbaren musste, wollte er als Unwahrheit verstanden wissen. Er suchte die Lüge in meinen Worten und rannte zurück zu der Lüge seines Lebens, die derweilen zärtlich an meine Vergangenheit gekuschelt, Pläne für die Zukunft schmiedete. Enttäuscht kehrte er zurück, keine Kraft mehr zum kämpfen, zum arbeiten und zu schwach zum weinen. Alles! Nur nicht aufgeben. Und plötzlich war es soweit. Unsere nie ausgesprochene Hoffnung sollte wahr werden. Das Blatt sollte sich wenden und unsere Lieben sollten den Weg nach Hause finden. Nach Hause, dort wo sie hingehörten, in unsere Arme. So kam es, dass er unerwartet neuen Mut fasste. Und auch ich, ließ mich von dem Gedanken verführen von der Person geliebt zu werden, die ich liebte.
Die Tage wurden langsam wärmer, unsere Erinnerungen auch. Überall roch man den Frühling, neues Leben begann zu wachsen, alte Lieben begannen sich zu sehnen. Als hätte es den Winter nie gegeben, zogen wir hinaus. Das wir lächeln konnten, lag nun nicht mehr daran, dass wir ihnen zeigen wollten, wie schön wir sein können, sondern eher an der Vorfreude auf das, was uns so lange verwehrt geblieben war. So lachten und tanzten wir in einige Morgen hinein, stets von der Hoffnung begleitet, dass heute die Heimkehr unserer Lieben erfolgen würde. Doch so oft sie es uns auch suggerierten, nur selten machten sie ihre Worte wahr. Und wenn sie kamen, kamen sie nur um wieder zu gehen. Wir gaben ihnen diese Freiheit, auch wenn es uns das Herz zerriss.
Irgendwann, zumindest sagten wir das, konnten wir damit leben. Tief in unserem Inneren wussten wir, dass wir nicht zurückbekommen sollten, was jeder für sich, lange Zeit, Sein nennen dürfte. Es stimmt gewiss, das es mit jedem Abschied etwas weniger schmerzte. Es stimmt jedoch nicht, dass auch die Liebe dadurch verblasst. Und doch ahnten wir bereits in den wenigen Momenten, die wir mit der Vergangenheit verbringen konnten, dass sich etwas geändert hatte. Vielleicht waren wir es. Vielleicht.
Wir hatten gelernt, das Unerträgliche zu ertragen. Die Zeit sorgte dafür, dass es, zumindest mir, leicht fiel, aus der Ferne zu lieben. Auch mein Besuch sprach nun weniger von seiner Liebe als von sich. Nur als der Herbst nahte und die bunten Blätter in den Alleen unseren Tanz übernahmen, wurde er sentimental. Er erinnerte sich und sah, dass sein Leben nicht mehr bunt war, seitdem sie nicht mehr da war. Es war, wie sein Herz auch, grau, traurig und einsam geblieben.
Meinem Herzen ging es mittlerweile besser. Ich sog all die Farben in mir auf, in denen sich das Leben präsentierte und so kam es wie es kommen musste. Ein letztes Mal noch sollten wir uns sehen, ein letztes Telefonat sollten wir führen und auch letzte Nachrichten sollten verschickt werden. Es war der Tag, an dem ich, den Weg ging, den er bereits Monate zuvor gegangen war. Viele leere, alt bekannte Worte die mir meine Vergangenheit zwischenzeitlich wieder ins Ohr flüsterte hatte, sowie die dunkle, stark an Angst gekoppelte Vorahnung in meinem Herzen, führten mich direkt an den Ort, den ich einst Heimat nennen konnte.
Ich klingelte. Unsicher betrat ich seine, meine, unsere ehemals liebvoll eingerichtete Wohnung. Sein unechtes Lächeln, meine zitternde Stimme, alles an uns, verriet, dass ich eine Antwort gefunden hatte, die ich lange kannte, mit der ich längst lebte. Ich stellte keine Fragen und überließ ihnen das reden. Ich hörte sie nicht. Die Wahrheit, der Halt, alles was ich noch einige Stunden zuvor in seinen Worten und Handlungen zu finden glaubte, schwand gemeinsam mit der Hoffnung, mich wenigsten dieses eine Mal getäuscht zu haben. Als ich ging musste ich weinen. Nicht etwa, weil es schmerzte, nein, eher weil es in diesem Moment aufhörte zu schmerzen.
Ich ging und erinnerte mich einmal mehr an meinen damals noch fremden Besucher, dessen Schmerz ich so lange teilte. Ich wusste immer, dass der Grund seines Besuches, der Grund unserer Freundschaft so vertraut sie heute auch sein mag, einzig und allein dem Moment zu verdanken war, in dem auch er gesehen hatte, was ich sah. Alles, was wir hatten, beruhte auf der Begebenheit, dass er, nachdem er eines Tages den Schneespuren seiner Frau gefolgt war, vor einer Tür zu stehen kam, hinter der sich meine Liebe verbarg und klingelte.
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Tag der Veröffentlichung: 04.10.2010
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