Cover


1.

Die Worte des Professors in meinen Ohren schienen nicht recht in mein Gehirn dringen zu wollen. Ich bemühte mich wirklich darum, aufzupassen, aber diese Person hatte einfach diese ganz bestimmte einschläfernde Wirkung auf mich. Wovon sprach er? Ich wusste, dass wir Chemie hatten, und eigentlich war dieses Fach sehr interessant, aber bei diesem Lehrer…
Außerdem waren seine Daumen, die in einem unnatürlichen, rechten Winkel zur Hand abstanden, viel zu fesselnd. Träge blinzelte ich und versuchte meine Aufmerksamkeit zu seinem Gesicht zu lenken. Prompt konnte ich mich nur noch auf sein weißes Haar konzentrieren. Wie schaffte er es, mit so wenig Haaren seine Glatze zu verdecken? Vermutlich wickelte er sie wie einen Turban um seinen Schädel.
Ich spürte, dass ich zu grinsen begann und blinzelte rasch zu seinen blauen Augen. Einst waren sie sicher schön gewesen, doch jetzt hing zu viel Haut darüber, so dass man sie nicht mehr wirklich sehen konnte. Mühsam schaffte ich es endlich, wieder zuzuhören.
„… Des Wassers, ohne sie gäbe es kein Leben auf unserer geliebten Erde, wobei ich anmerken muss, dass der Grund für die Anomalie, was von „A“ und „Normalität“, also Nicht – Normales, bedeutet, bei der Dipol – Eigenschaft liegt. Letzte Stunde haben wir die Dipole besprochen, was bedeutet das?“
Die Hände von unseren Klassenbesten, Laurie und David, schossen sofort in die Luft. Ich hatte absolut nichts gegen die beiden, ich mochte sie sogar sehr, aber ich fragte mich wirklich, wie sie es schafften, immer alles zu wissen.
Vereinzelt hob sich noch hier und da eine Hand, einige sahen unter den Bänken in ihre Hefte, andere blickten schläfrig aus dem Fenster und hatten noch gar nicht bemerkt, dass der Professor eine Frage gestellt hatte. Dieser ignorierte Laurie und David, deren Fingerspitzen wild winkten, und wandte sich meinem Tisch zu. Kurz sah er mich an, doch glücklicherweise wanderte sein Blick sofort weiter an mir vorbei und blieb dann an Shaunee, meiner Sitznachbarin und Freundin hängen.
Sofort versteifte sie sich, als der Professor sie mit hoch gezogener Augenbraue anstarrte.
Stotternd begann sie: „Das sind… Atome, die…“
„Verschieden geladen sind!“, zischte ich so leise wie möglich und täuschte einen Hustenanfall vor.
„Also… verschieden geladen sind?“, sagte sie zögernd.
„Ist das eine Frage oder eine Antwort?“, fragte er ein wenig unfreundlich.
Shaunee lächelte ein wenig, als ich sie anstieß. „Das ist meine Antwort, Herr Professor.“
Er nickte und wiederholte ihre Antwort für alle laut. Dann fuhr er zur Erleichterung aller mit dem Unterrichtsstoff fort. Shaunee lehnte sich zu mir. „Hey, danke! Boah, ich war so geschockt, als der mich angesehen hat… Danke!“, flüsterte sie leise und schnell.
Ich nickte und lächelte. Während der Professor wieder den Stoff herunter leierte, versuchte ich gar nicht mehr, aufzupassen. Wenn ich irgendwelche Fragen hatte, konnte mir das Laurie sowieso viel besser erklären. Sie sollte Chemie unterrichten. Bei ihr gab es auch nichts anzustarren, sie war einfach ein normales Mädchen mit leichter Akne, die gut hinter Abdeckmittel und schwarzen Stirnfransen verborgen war.
Als wieder zehn ewige Minuten vergangen waren, erhob sich hinter mir George und öffnete das Fenster, um eisige Luft herein zu lassen. Das machte er in jeder Unterrichtsstunde mindestens zweimal, selbst wenn so wie jetzt, Winter war.
Eisige Luft zog herein und brachte mich zum Frösteln. Ich schnürte meine Weste enger, aber mir wurde trotzdem kalt. Als ich es nicht mehr aushielt, stand ich auf und schlängelte mich zwischen den Reihen entlang zum Fenster, um es zu schließen. Rita warf mir einen dankbaren Blick zu. Ich schloss es gedankenverloren und blickte dann kurz hinaus. Ich blinzelte kurz, als ich die Person, die dort draußen stand, entdeckte.
Die Klasse befand sich im ersten Stock und man hatte einen ausgezeichneten Blick auf die kleine Straße, die neben der Hauptstraße verlief und an der Ecke mit der Pizzeria aus meinem Blickfeld verschwand. Einige Bäume, die zu dieser Jahreszeit allerdings kahl waren, waren am Rand der Einbahn angepflanzt und schützten die Fußgänger im Sommer vor unerträglicher Hitze. Außerdem gab es eine kleine Menge Läden, wie den Bäcker, ein Schuhgeschäft und einen großen Blumenstand. Diese Straße führte, wenn man ihrem Lauf folgte, in die Innenstadt zum Dom und der Fußgängerzone.
Aber das alles war mir in diesem Moment egal. Viel mehr interessierte mich der Junge, der an einen Baum gelehnt dastand und kritisch zu mir blickte. Wer war er? Ich hatte ihn noch nie an dieser Schule gesehen.
Das Gymnasium fasste in etwa achthundert Schüler, hundert davon in meinem Alter. Ich kannte sie alle zumindest vom Sehen, einige beim Namen. Vielleicht war der Junge dort unten ein Austauschschüler! Er sah auch irgendwie ausländisch aus, obwohl ich nicht wusste woran es lag. Soviel ich beurteilen konnte, war er ein wenig größer als ich. Er trug Jeans und eine graue Jacke. Der Wind zerzauste ein wenig das Haar, das gold- dunkelbraun, glatt und gerade so lang war, dass es Stirn und ein wenig Nacken verdeckte. Eine gerade Nase saß in dem schönen Gesicht mit dem ausdruckstarken Kinn. Der Junge presste seine Lippen zusammen und starrte mich aus dunkelblauen, verengten Augen an. Erst da wurde mir bewusst, dass ich ihn anstierte. Ich spürte, dass ich rot anlief. Da rief mich auf einmal der Professor auf.
„Herum zu stehen und aus dem Fenster zu starren ist nicht sonderlich höflich, wenn ich versuche, den Stoff, den ihr alle hier bewältigen müsst, zu erklären und zu vermitteln. Was ist denn dort draußen spannender als hier drinnen, Lex?“, fragte er überheblich und blinzelte mich zornig an.
Der super süße Typ zum Beispiel

, dachte ich wütend.
„Ähm, entschuldigen Sie, ich dachte, ich hätte etwas gesehen“, murmelte ich schnell.
Sofort sprang die Hälfte der Klasse auf, um das vermeintliche Etwas zu sehen, das in Wirklichkeit nur der Junge war. Oh, Mist! Sie mussten ihn doch alle sehen und sofort wissen, auf was ich so gebannt gestarrt hatte. Ich lief feuerrot an und blinzelte nach draußen.
Aber da war niemand mehr.
Ich starrte fassungslos auf die Stelle, auf der der Junge gestanden hatte und wandte mich dann verwirrt um, um zu meinem Platz zu gelangen. Wie hatte er so schnell verschwinden können?
Gerade, als sich alle setzten und der Professor mich aufrufen wollte, um sicherlich zu fragen, was er in den letzten Momenten erzählt hatte, läutete es und ich ließ mich erleichtert von meinen Mitschülern nach draußen schwemmen.
Schnell rannte ich auf das WC, um Fragen der anderen zu entkommen. Ich stellte mich vor den Spiegel und prüfte, ob meine Wangen immer noch feuerrot waren.
Das waren sie glücklicherweise nicht. Aus dem Spiegel blickte mir mein ganz normales ich entgegen. Herzförmiges, ein wenig blasses Gesicht, kleine Stupsnase, einige zarte Sommersprossen auf dem Nasenrücken. Ich strich meine dunkelbraunen Haare glatt, die nicht sehr viel weiter als über die Schulter gingen und alle verschieden lang zu sein schienen. Die Stirnfransen, die ich auswachsen ließ und die mir bis zu den Backenknochen wuchsen, lagen zur Abwechslung mal richtig. Ich blinzelte mich aus meinen großen, schwarzbraunen Augen an und feuchtete meine Wangen an. Kritisch ob ich meine Backen – Stirnfransen und verfluchte die Akne an meiner Schläfe. Naja.
Shaunee, Monique und Mariella stürzten Hand in Hand in Hand in den kleinen Vorraum.
„Was war denn mit dir los?“, fragte Mariella und hängte sich bei mir ein. Ihre blonden, gelockten Haare, die ihr bis zur Taille reichten, flogen nur so durch die Luft und streiften einen erschrockenen Erstklässler. Das Mädchen presste sich an die Wand und stieg dabei einer Sechstklässlerin auf die Füße, die die Kleine böse anstarrte.
„Hier wird’s eng, los, gehen wir“, sagte Monique mit einem Seitenblick auf die fünf Mädchen, die, wie wir es nannten „Gruppenpinkeln“ gingen.
„Genau“, warf Shaunee ein und sagte leise zu den fünf Drittklässlerinnen. „Nehmt lieber genug Klopapier mit! Und Vorsicht, zu fünft wird es in diesen Kabinen wirklich, wirklich eng.“
Sie starrten Shaunee verwirrt an. Sie kicherte und warf ihre glatten, braunen bis zu Brust gehenden Haare zurück. Ich verdrehte die Augen und schleifte Mariella, die an meiner Hand hing, einfach hinaus. Monique beeilte sich, an meine andere Seite zu kommen und sah mich besorgt aus ihren blauen Augen an.
„Was war vorhin los?“
Wir blieben stehen und zwei blaue und ein braunes Augenpaar war auf mich gerichtet.
Ich seufzte. Sollte ich es ihnen verraten? Wem, wenn nicht ihnen? Sie waren meine allerbesten Freunde und waren immer für mich da. Aber was würden sie sagen, wenn ich ihnen verraten würde, dass ich den süßesten Jungen überhaupt vor der Schule gesehen hatte? Diese schönen, kritischen Augen, dieser Typ musste einfach eine sympathische Persönlichkeit haben. Und wehe, er hatte eine Freundin! Es wäre schön gewesen, mit ihm zu sprechen. Woher er wohl kam…
„Halloho! War das da draußen ein Prinz oder wie? Kommt aus seinem Wolkenschloss, steigt hinab und nimmt dich mit“, riss mich Monique aus den Gedanken. Mariella fuhr fort: „Und uns gleich mit! Und jeder bekommt einen eigenen Schönling. Und die sind alle stinkreich!“ Shaunee grinste. „Und wenn wir geheiratet haben, kommt heraus, dass sie dem Teufel Knechtschaft leisten müssen und in Wirklichkeit total hässlich sind.“ Die drei begannen zu lachen. Im selben Moment entschied ich mich dagegen, ihnen von dem Jungen zu erzählen. Ich würde wohl mein uraltes Tagebuch, in das ich schon seit fünf Jahren nicht mehr geschrieben hatte, herauskramen und alles dorthinein schreiben.
Monique bekam sich als Erste wieder ein. „Also, jetzt zum dritten Mal: Was hast du draußen so Tolles gesehen?“
Ich verzog mein Gesicht zu einer Grimasse. „Es braucht nicht wirklich viel, um etwas spannender zu finden als Professor Lockman. Ich habe nur überlegt, ob ich nach der Schule noch in die Stadt gehe.“
Mariella strahlte. „Perfekt! Ich wollte dich sowieso fragen! Kommt einer von euch mit?“
Monique seufzte. „Ich habe meiner Oma versprochen, heute bei ihr zu essen. Tut mir Leid. Ich würde echt gern mitgehen.“
„Also ich geh mit meinem Freund -“, Shaunee stieß ein Seufzen aus,
„- Heute in das neue Café.“
Wir anderen seufzten ebenfalls, allerdings neidvoll, aus.
„Ich. Will. Einen. Freund.“, stieß ich aus. Am besten einen, der so aussieht wie der, den ich vorhin gesehen habe…


„Du hattest wenigstens schon zwei!“, rief Monique.
Mariella seufzte schon wieder. „Kommt schon. Wir haben jetzt Biologie, im Saal. Ich glaube, wir sehen uns sowieso nur wieder diesen Film über die Au an.“
Shaunee nickte und versetzte Monique, die größer war als wir alle, aber trotzdem dünner, einen leichten Stoß, der diese sofort aus dem Gleichgewicht brachte und gegen eine Person taumeln ließ. Erschrocken fuhr ich zusammen. Es war der Chemie – Professor!
„Monique!“, schnaubte er und versetzte ihr einen Blick, der mich vermutlich umgeworfen hätte. Vor unseren Augen schrumpfte sie auf die Größe eines Zwergs zusammen.
„Es tut mir Leid, Herr Professor. Verzeihung! Ich bin ausgerutscht!“, stammelte sie und knetete ihre Hände hinter dem Rücken.
„Ja, in Ordnung, Monique. Ah! Lex! Da bist du ja. Ich wollte dich noch einmal kurz sprechen. Komm bitte mit mir“, er lächelte mich an und sah auf einmal nicht mehr aus wie einhundertundfünfzig sondern nur noch wie hundertzehn. Wie alt er wohl wirklich war?
Schweigend warf ich meinen Freundinnen einen hilfesuchenden Blick zu und bekam nur Mitleid zu sehen. Ich schluckte und folgte ihm still.
Offensichtlich angespannt wurde ich in das Chemie- Labor geführt, dass so ziemlich am anderen Ende der Schule lag. Der Raum war ausgestattet mit allerhand Geräten, und auf jedem Tisch, bei dem je vier Personen Platz fanden, waren Wasserbecken eingelassen.
Der Professor wies mich nach vorne in die erste Reihe und ich setzte mich direkt vor den Tisch des Lehrers. Toll. Hier saß nie jemand. Niemals.
Er setzte sich auf seinen Stuhl, faltete die Hände, wobei seine Daumen immer noch abstanden, blickte mich an und hob seine weißen, buschigen Augenbrauen.
„Lex, ich muss etwas sehr ernstes mit dir besprechen. Ich werde dir zwar jetzt nicht wirklich helfen können, aber das was ich dir sage, wird dir bald einiges erklären“, sagte er sachlich, doch sofort unterbrach ich ihn.
Sicher ging es um meine Unaufmerksamkeit im Unterricht. Mein Gesicht wurde heiß. „Professor Lockman, ich -“
„Nein, nein, warte! Lass mich aussprechen. Ich habe das schon länger geplant. Und nein, es geht nicht um deine Noten, wie du vermutlich gedacht hast. Wieso sonst sollte dich ein Lehrer unter vier Augen sprechen wollen?“ Lockman hielt inne und sah sich im Klassenzimmer um.
Ich senkte meinen kopf und blickte auf meine Schuhe. Gut. Es ging nicht um meine Noten. Aber worum denn dann?
Gespannt blickte ich wieder auf.
Lockman sah mich bereits an und sprach sofort: „Hör mir genau zu. Ich sage das nur einmal, deshalb pass auf. Und zwar besser als im Unterricht. Zunächst einmal… ich verlasse diese Schule.“
Ich blinzelte ihn verwirrt an. Ich hatte diesmal zugehört. Ich hatte diesmal verstanden. Aber…
„Warum erzählen Sie das ausgerechnet mir?“
Lockman ließ ein brummendes Lachen hören.
„Weil sich schon lange etwas in Gang gesetzt hat, das aber nun erst seine Auswirkungen zeigt. Und du steckst tiefer drin, als du glauben wirt. Und stell mir dazu jetzt keine Fragen, so verwirrend das für dich jetzt auch alles klingen mag. Zu gegebener Zeit wirst du alle Informationen bekommen!“ Er lachte wieder, aber in meinem Kopf stauten sich die Aussagen. Wenn der Damm brach… Träumte ich eigentlich? „Vielleicht können sie verstehen, dass ich jetzt äußerst verwirrt bin!“, stöhnte ich und presste meine Hände an die Schläfen.
„Du wirst damit fertig werden. Nur eines musst du wissen: Du musst Vertrauen haben, mag alles noch so seltsam und eigentümlich erscheinen. Ich werde dir helfen. Später. Nochmals: Die Dinge verändern sich und haben alle etwas mit einander zu tun. Überlass nichts dem Zufall. Du musst Vertrauen haben. In dich selbst.“
Ich konnte nicht anders als ihn fassungslos anzustarren. Mein Gehirn ratterte. Und in diesem Moment läutete es.
„Oh, ich muss zu Biologie!“, rief ich aus und sprang auf.
„Ich schreibe dir eine Entschuldigung. Keine Sorge. Vorerst möchte ich nämlich, dass du die beiden Klassensprecher holst. Dann kommst du mit den beiden wieder hierher. Wenn ich dich schon eingeweiht habe, sollst du gleich alles erfahren.“ Er lachte, als hätte er einen Witz gerissen. Ich hingegen bemühte mich, nicht die Augen zu reiben.
„Okay!“, stammelte ich und fegte aus dem Zimmer.
Die meisten anderen Klassenräume waren bereit geschlossen und man hörte gedämpftes Murmeln. Während ich langsam einen Fuß vor den anderen setzte spukte der Satz von Lockman in meinem Kopf umher. Du musst Vertrauen haben. In dich selbst. Ich vertraute mir! Was glaubte der denn?
Vor dem Musikklassenzimmer lungerten noch einige Schüler meiner Parallelklasse. Anscheinend war der Lehrer noch nicht anwesend.
„Hey, Lexi! Schwänzt du? Willst du nicht zu uns rüber kommen? Ich will dir was zeigen!“, feixten zwei Jungs, die ich absolut nicht ausstehen konnte. Ich drehte mich zu ihnen um und lächelte süßlich. „Nein, ich verzichte auf die Gesellschaft von Vollidioten. Aber danke der Nachfrage.“
Jake, der blonde von ihnen, kniff die Augen zusammen und äffte mich nach, aber Luke, der in etwa einen Kopf größer als ich war und schwarze, mittellange Haare hatte, grinste böse und kam schnell auf mich zu.
Ich wurde ein wenig nervös, aber was konnte er mir schon vor seiner ganzen Klasse anhaben? Trotzdem schritt ich schneller vorwärts.
Becki, eine Freundin von mir rief: „Luke, lass den Scheiß!“
Ich drehte mich um und begann dann eilig den Gang entlang zu den Treppen zu laufen. Ich musste nur möglichst schnell zum Biologiesaal. Ein Stockwerk weiter unten und drei Gänge entlang. Ich lachte ein wenig über meine Gedanken, in denen die Angst vor Luke ein wenig anwuchs. Lockman hatte jetzt keinen Platz in meinem Kopf.
Ich drehte mich nicht um, aber ich hörte Lukes Schritte, die sich beschleunigten, sobald ich bei der Treppe angelangt war. Schnell stieg ich hinab und nahm wahr, dass Luke zu rennen begann. Ich tat dasselbe.
„Mensch, Luke!“, rief ich über meine Schulter zurück. Er holte dummerweise auf. „Lass das! Du verpasst Unterricht!“
„Du denn nicht?“, rief er und machte einen Satz nach unten, wobei er drei Stufen auf einmal übersprang. Wären Shaunee, Mariella und Monique dabei gewesen, wären wir einfach stehen geblieben, aber ich war allein und beschleunigte. Ich kam zum Ende der Treppe und lief nach links. Sollte Luke mich wirklich angreifen, konnte ich notfalls zu schreien beginnen. Immerhin befand ich mich in einer vollen Schule! Was lief ich überhaupt weg? Wieso hatte ich Angst?
Ich schlitterte um eine Ecke und drei Sekunden später tat Luke dasselbe. Oh, Mist, er war schnell.
„Nein, ich verpasse keinen Unterricht!“, sagte ich mit einiger Verspätung.
Ich schnellte an der Aula vorbei. Dort saßen ein paar Schüler, zwei Erstklässler starrten schockiert, ein Sechstklässler grinste. Würden sie mir helfen? Nein, dachte ich, nein, würden sie nicht. Würde mir der süße Typ von draußen helfen? Mein Gedanken turnten umher. Mhmmm… Schlecht fände ich es nicht.
Ich riskierte einen Blick hinter meine Schulter und erntete ein flaues Gefühl im Magen. Luke war nur noch drei Meter hinter mir. Siedend heiß fiel mir ein, dass die große Feuerschutztür, von denen es im ganzen Haus einige gab, vermutlich geschlossen war. Sie war schwer und es beanspruchte Zeit, sie zu öffnen. Hoffentlich war sie geöffnet, sonst würde mich Luke bekommen und was auch immer tun. Irgendwie war es seltsam, keinem Lehrer oder Schüler zu begegnen.
Ich bog um die letzte Ecke. Der Gang vor mir endete bei der Glasfeuertür. Sie war geschlossen. Ich hetzte voran, um doch noch ein wenig Vorsprung zu bekommen. Luke fiel ein wenig zurück. Ich konzentrierte mich auf unsere Spiegelbilder. Luke grinste. Sollte ich jetzt rufen? Nein, noch nicht. Ich wollte ja nicht ohne Grund schreiend dastehen und dann tat Luke überhaupt nichts. Ich sah noch einmal zu den Spiegelungen. Und erstarrte. Ich blieb einfach stehen, während mein Verfolger noch weiter taumelte. Normalerweise hätte ich das lustig gefunden. Nicht in diesem Moment. Denn den Spiegelungen zu folge stand der Junge von Chemie direkt hinter mir. Er sah mich von der Glasscheibe heraus mit verengten Augen an. Ich müsste nur meine Hand nach hinten ausstrecken um ihn zu berühren. Tatsächlich war er, wie ich vermutet hatte in etwa einen halben Kopf größer als ich. Ich presste die Lippen zusammen und starrte sein Spiegelbild an. Wo kam er her?
Du musst Vertrauen haben. In dich selbst.
Ich hätte ihn sehen müssen, Luke hätte ihn sehen müssen. Apropos Luke. Mein Kopf ruckte zu ihm. Mit wütendem Gesichtsausdruck stand er auf und stierte mich an. Dann lächelt er, aber nicht etwa nett, sondern böse und gewinnend. Langsam kam er auf mich zu. Fragte er sich denn nicht, woher der Junge kam?
Ich blickte wieder auf die Spiegelung, direkt in die unglaublich blauen Augen des süßen Jungens. Er presste seine Lippen zusammen und schluckte hart. Kurz betrachtete er mich noch aus verengten Augen, dann wandte er sich mit eisigem Blick Luke zu. Dieser schien ihn aber nicht zu bemerken. Er sah sich lieber nach Schülern oder Lehrern um, aber als er keine entdeckte, wandte er sich mir zu. Was wollte er mir schon anhaben, wenn ein Zeuge dabei war? Eigensinnig reckte ich mein Kinn und stellte mich breitbeinig hin. Kurz blickte ich hinter meine Schulter, um zu dem Jungen zu sehen.
Aber er war, wie zuvor auch schon einmal, nicht mehr da.
Mein Herz setzte kurz aus. Wie funktionierte das? Man konnte doch nicht vollkommen lautlos auftauchen und dann gleich wieder verschwinden! Wurde ich verrückt, hatte ich nur halluziniert? Fast, als würde ich ihn entdecken, blickte ich zum Glas. Auch seine Spiegelung war verschwunden, dafür ging eine Tür auf der anderen Seite der Feuertür auf und offenbarte den Biologiesaal und George, der mich erst blinzelnd und dann überrascht ansah. Er sagte etwas und alle aus meiner Klasse schienen sich zu der Tür zu beamen und sich in den Türrahmen zu quetschen. Dies alles geschah, ohne, dass man auf dieser Seite der Tür etwas hörte.
Ich blickte in Lukes Gesicht, der sich siegessicher vor mir aufbaute und so nah zu mir trat, dass ich mich beherrschen musste, um nicht zurück zu treten.
„Wie hast du mich vorhin genannt? Vollidiot? Das war es doch, oder?“
Ich nickte und stemmte meine Hände in die Hüften. „Und ich bereue nicht, das gesagt zu haben.“
Mit den Zuschauern, die alle auf meiner Seite standen, mit Ausnahme vielleicht von Armin, Rick und Bill, die gerade dümmlich grinsten, fühlte ich mich stärker. In dem Moment versuchte gerade Professor Flora, die Biologie- Professorin, sich durch die Menge der fünfundzwanzig Schüler zu schlängeln, die sich mittlerweile auch neben der Tür aufstellten. Monique starrte mich mit offenem Mund an und Mariella kaute auf ihrer Unterlippe. Shaunee nickte mir anerkennend zu. Ich verdrehte die Augen.
In dem Moment hob Luke seine Hand, vermutlich um mir eine zu scheuern, aber da ging die Feuertür auf und Professor Flora stürzte auf den Gang.
„Luke Carl Morbsen! Was tust du da! Direktion! Sofort! Sieh mich gefälligst an! Was machst du denn! Oh, Morbsen, ich werde deine Mutter benachrichtigen! Ab Marsch!“
Sie erschien mir im Moment, auch wenn sie eher zierlich und sanfter Natur war, wie ein Hurrikan. Sie schrie wild und laut. Die vier Türen an den Seiten des Ganges flogen auf und die Schüler und Lehrer kamen heraus, um zu sehen, was passiert war. Es war erstaunlich, wie schnell auf einem Gang Platzmangel herrschen konnte. Neugierige Gesichter reckten sich mir entgegen.
Luke starrte mich wütend an. Was genau hatte er erwartet? Das wäre auch alles passiert, wenn George nicht die Tür in genau dem richtigen Moment herausgekommen wäre. Ein unbeschreibliches Glücksgefühl durchströmte mich. Aber sofort wurde es ein wenig gedämpft.
„Lex Dolsen, mitkommen!“, rief Professor Flora, zwar ein wenig freundlicher, aber bestimmend. Monique kam durch die Feuertür gestürzt und fiel mir um den Hals.
„Mensch, Lexi! Das war knapp! Ein Glück, dass George dich suchen gehen sollte. Gott, was hast du gemacht? Warum hast du nicht um Hilfe gerufen? Ich habe mich schon gefragt wo du warst! Was wollte Lockman? War er streng? Was ist passiert? Du musst mir alles erzählen!“, flutete es aus ihrem Mund. Erst da schien sie die insgesamt fünf Klassen auf dem gang zu bemerken.
„Ähm, wir sprechen später“, piepste sie kleinlaut.
Flora ergriff mich etwas unsanft an der Schulter und schubste mich vor sich her. Luke murmelte die ganze Zeit irgendetwas. Als wir an der Aula vorbei kamen, sprangen die drei Schüler auf und blickten sich schockiert an. Kurze Zeit gingen wir schweigend nebeneinander her, da fiel mir auf einmal etwas ein.
„Frau Professor Flora? Herr Professor Lockman hat mich gebeten, die beiden Klassensprecher zu ihm zu schicken. Er hat gesagt, ich solle auch kommen.“
Prof. Flora blinzelte mich verwirrt an und sagte dann barsch: „Er kann sicherlich kurz warten. Das hier ist wichtiger. Luke, ich hoffe, dass du weißt, dass Gewalt keine Lösung ist. Gewalt könnte deinen Schulverweis bedeuten.“
Luke brauste auf. „Wer sagt denn, dass ich sie schlagen wollte?“
„Es sah ziemlich eindeutig aus“, meinte Prof. Flora.
„Ich hatte andere Absichten!“, knurrte er mit einem vernichtenden Seitenblick auf mich.
Wieder gingen wir schweigend voran, der Weg schien eine Ewigkeit zu dauern. Ich blickte auf die Uhr. Seit dem letzten Leuten waren schon fünfzehn Minuten vergangen?
Als wir drei Treppen weiter oben zu der Tür der Direktion gelangten, blieb Prof. Flora stehen und sah Luke und mir eindringlich in die Augen.
„Es dauert einen Moment. Luke, lass deine Finger von ihr. Lex, provozier ihn nicht“, zischte sie und verschwand hinter der hohen, weißen Tür. Kurz standen wir schweigend da, als Luke sich auf einmal zu mir drehte und flüsterte: „Na toll. Meine Mutter wird ausrasten.“
„Dein Pech!“, gab ich mit unterdrücktem Grinsen zurück. Mich traf keine Schuld, ich hatte nichts zu befürchten.
„Wehe du sagst was Falsches!“, zischte er leise.
„Das hättest du dir vorher überlegen müssen. Man schlägt keine Mädchen!“, gab ich spitz zurück.
„Du bist kein Mädchen!“
Mir blieb die Luft weg. Hä? „Wie kommst du zu dieser absurden Annahme?“
„Mädchen bleiben nicht stehen, wenn sie verfolgt werden“, grummelte Luke und rieb sich den Knöchel. Anscheinend hatte er sich weh getan.
„Ich dachte, ich hätte was gesehen…“ Ich dachte wieder über den Jungen aus der Spiegelung nach. Hatte Luke ihn nicht gesehen? Oder war er nur ein Produkt meiner Fantasie, ein Ebenbild von Chemie? Oder war er überhaupt jemals da gewesen? Auch auf der Straße war er einfach verschwunden…
„Luke?“
„Was?“, schnauzte er unfreundlich.
„Stand hinter mir jemand?“
Er blinzelte mich an, als wäre ich geistesgestört.
„Nein!“
Du musst Vertrauen haben. In dich selbst. Ich schluckte. Wie war das möglich? Ich bin geistesgestört…


Die Tür ging auf und riss mich aus meinen Gedanken. Heraus kam Herr Direktor Imago. Er sah übelgelaunt auf Luke hinab und seufzte mir ins Gesicht. Er hatte braunes Haar, einen ordentlichen Mittelscheitel, war schlank und keine Falten. Seine grünen Augen blitzten. Imago hatte den Ruf, gerecht zu sein, Humor zu besitzen, aber immer ziemlich direkt vor zu gehen.
„Also ich will hier weder Ausreden noch Ausflüchte hören. Was zählt, und was euch im Leben weiterbringt, ist einzig und allein die reine Wahrheit. Also, keine Faxen“, sprach er mit samtener Stimme. Begegnete man solchen Menschen normalerweise nicht nur in Magazinen? Er wandte sich mir zu. „Ich will das Vorgefallene aus eurer Sicht hören. Professorin Flora konnte mir nur schildern, was auch sie gesehen hat. Ladys first!“
Ich zwinkerte perplex. „Okay. Ich wurde von Professor Lockman in sein Büro gerufen und dort blieb ich bis nach dem Läuten. Er beauftragte mich, unsere Klassensprecher zu holen und mit ihnen zu ihm zu kommen. Auf dem Weg in den Biosaal… Biologiesaal kam ich an der Musikklasse vorbei. Der Lehrer war anscheinend noch nicht anwesend. Mhmmm… Luke und Jake haben mich angefeixt und ich habe sie… beleidigt.“
Ich hielt inne und sah zu Luke, der mich grinsend anblitzte.
„Dann ging ich weiter und hörte, dass mir Luke folgte… Ich rannte hinunter zum Saal und war fast dort, als ich zur geschlossenen Feuertür kam. Ich -“ Beinahe hätte ich gesagt, dass ich den Jungen gesehen hatte, aber ich wollte nicht, dass mich jemand für krank hielt, also fuhr ich anders fort.
„Ich blieb stehen, weil ich überrascht war. Luke stolperte an mir vorbei, dann drehte er sich zu mir und kam näher… ganz nah… Ich habe mich nicht gewehrt, sondern bin erstarrt. Und in dem Moment öffnete George die Tür des Biologiesaals und erblickte uns. Und da kam Frau Professor Flora.“
Imago und Flora nickten, die Sekretärin, die ich bis jetzt noch nicht bemerkt hatte, kam herbei und brachte den Lehrern Wasser.
„Und nun… Luke… deine Version.“
Auf einmal war Luke wie ausgewechselt. Hätte er mich nicht gerade erst durch die Gänge gejagt, wäre ich auf die „Schüler, der bereut und dem alles peinlich ist“ – Masche hereingefallen. Er warf einen kurzen Blick zu mir und biss sich auf die Lippe.
Was sollte das?
„Jake und ich haben mit dem Rest der Klasse auf Professor Moledie gewartet, als Lex vorbeikam. Wir haben sie gefragt, ob sie schwänzt, und sie hat uns beleidigt. Dann ist sie weitergelaufen und ich bin ihr nach, denn ich wollte ihr noch etwas sagen, wo wir doch schon alleine am Gang gewesen wären.“
Er sah überall hin, nur nicht auf mich.
„Ich bin ihr nachgelaufen, ich glaube sie hatte Angst… Dann ist sie bei der Feuertür stehen geblieben, ich glaube sie hat verstanden, was ich wollte. Auf jeden Fall bin ich nah zu ihr hin.“
„Und dann?“, drängelte Prof. Flora, wofür sie einen strafenden Blick vom Direktor bekam.
„Dann… Sie müssen verstehen, das ist sehr kompliziert. Wissen Sie ich… bin… in Lex verliebt.“
Er blickte mich an wie ein Welpe, der im tiefsten Winter mit ins warme Haus genommen werden will.
Ich war zu schockiert, um zu reagieren. Wie? Das war nicht möglich! Auf gar keinen Fall! Luke verarschte mich oft genug, um mir das zu beweisen. Ich atmete nicht und blinzelte ihn an. Wie noch mal?!?
„Und wieso wolltest du Lex dann schlagen? Deine Hand war erhoben!“
„Doch nicht um sie zu schlagen.“
„Glaubst du vielleicht, wir glauben dir das?“, fragte Flora spöttisch. Ich runzelte die Stirn. Also war dies nicht nur für mich unglaublich. Doch Imago lächelte ein wenig. „Ach ja, die junge Liebe…“
Ich hustete, um einen Schrei zu unterdrücken. Luke spielte seine Rolle weiter. „Lexi?“, fragte er besorgt.
Ich funkelte ihn böse an und kniff meine Lippen zu dünnen Strichen zusammen.
Die Sekretärin verschwand aus dem Zimmer. Flora meldete sich. „Entschuldigen Sie alle bitte, meine Klasse ist unbeaufsichtigt… Lex, wir sehen uns den Film an, komm so bald wie möglich. Ich schicke die Klassensprecher zu Herrn Professor Lockman.“ Ich nickte und wandte mich Luke zu, der sich unauffällig näher zu mir geschoben hatte. Ich musste etwas dagegen sagen. Denn. Das. War. Nicht. Möglich. Und. Absurd. Und. Gegen. Alle. Naturgesetze!!!
„Ähm, Direktor Imago, was Luke hier soeben verkündet hat, ist mir gänzlich fremd und einfach unglaublich. Wir konnten uns nie ausstehen. Niemals.“
Imago runzelte die Stirn.
Luke rang die Hände. „Natürlich, du wusstest ja nichts davon!“
„Natürlich nicht, weil das alles erfunden ist!“
„Es tut mir Leid, aber ich muss dir widersprechen, Lexi, ich mag dich wirklich sehr und…“, sprach er.
„Wie willst du das beweisen?“, fragte ich und funkelte ihn siegessicher an.
Als etwas in seinen Augen aufloderte, wusste ich, dass das die falsche Frage gewesen war. Ich wich ein wenig zurück. Aber Luke legte seine Hände an meine Taille und drückte meinen Kopf gegen seinen. Ich wollte gar nicht wissen, wieso er das so einfach machen konnte. Nun… Sanft drückte er seine Lippen gegen meine und streichelte meinen Kopf. Ganz automatisch erstarrte ich und meine Hände hingen schlaff an meiner Seite herunter.
Ich hasste Luke, er hasste mich, wieso küsste er mich? Meine Gedanken ratterten wieder.
Leicht bewegte sich Luke auf mir. Ich öffnete meine Augen, die ich geschlossen hatte und blinzelte verwirrt. Ich überlegte, ob ich einen Schulverweis bekäme, wenn ich Luke jetzt eine runterhauen würde. Imago räusperte sich. Als wir uns zu ihm drehten, lächelte er.
„Sososo…“, murmelte er und wiegte seinen Kopf.
„Nun, Luke… Ich glaube dir. Aber ich werde in nächster Zeit ein Auge auf dich haben, merke dir das gut. Lex… geh zurück zu Biologie. Auf wieder sehen ihr beiden, und hoffen wir, dass es ein fröhliches Wiedersehen wird.“
Langsam wandte er sich ab und schmunzelte.
Ich war zu perplex um zu reagieren. Zuerst der Junge auf der Straße, dann Prof. Lockman, dann wieder der süße Typ und jetzt… Luke! Mein Gott. Ich spürte fast, wie die Räder in meinem Kopf ratterten und stehen blieben.
„Komm Lexi“, murmelte Luke sanft.
Ich nickte. Ich musste zurück in Bio. Ich musste alles Shaunee, Monique und Mariella erzählen. Ich musste mich beruhigen. Ich musste aufhören zu denken!
Ich war auf einmal unglaublich müde und wollte nur noch nach Hause in mein Bett und schlafen.
Vollkommen verwirrt ließ ich zu, dass Luke meine Hand nahm und mich nach draußen führte. Vor dem Zimmer entriss ich ihm meinen Arm und stürmte zum Mädchen- WC. Ich wusch mein Gesicht mit Wasser, eiskaltem Wasser, und erstarrte dann als ich zurück kam und dort Luke vorfand, der mich angrinste. Wie funktionierte noch einmal die Welt? Wie war mein Name? Ach ja, Lex…
„Ich muss… in Bio“, murmelte ich und rannte fast zum Saal.
Luke ging neben mir und grinste die ganze Zeit. „Du warst ganz schön steif!“, lachte er. „Normalerweise sind die Mädchen, die ich küsse, nicht so verspannt.“
Mein Mund stand weit offen. Was war denn nun mit ihm? War das gespielt gewesen? Oder nicht?
Vor dem Biologiesaal beugte sich Luke zu mir und flüsterte in mein Ohr: „Spiel noch für eine kurze Zeit meine Freundin gut? Nur solange Imago mich überwacht. Dann gehen wir wieder zur alten Tagesordnung über.“
Ich atmete erleichtert aus. Also war alles doch nur gespielt. „Wieso sollte ich das tun?“, fragte ich schnippisch.
Luke beugte sich über mich und blickte mir tief in die Augen. „Überleg mal was passiert, wenn du herausposaunst, dass das gelogen ist. Ich werde weiterhin behaupten, dass ich auf dich stehe, während du schlecht dastehst, als eine kalte Abserviererin. Ich werde solange weitermachen, bis du nachgibst, wir die Szene hinter uns bringen und dann wieder alles normal wird. Aber so dauert es länger. Wenn du die Klappe hältst geht es schneller vorbei. Also?“
Ich starrte ihn aus aufgerissenen Augen an. Was er sagte, drang nicht in mein Gehirn. Ich sollte seine Freundin spielen? Was würden die anderen dazu sagen? Shaunee, Monique und Mariella? Der fremde Typ…
Würde Luke wirklich so hartnäckig sein? Oder gäbe er nach? Ich war sicher, dass er einige Zeit durchhielt. Was würde länger dauern, sein Angebot anzunehmen und die brave Lexi zu spielen, oder ihn durch Ignoranz los zu werden? Und wie würde es auf andere wirken? Wenn ich ihm eine Chance gäbe, hätte ich sicher höheres Ansehen…
Widerwillig und mit zusammengepressten Lippen nickte ich. Ich dachte, ich müsste mich übergeben.
„Gut. Dann küss mich auf die Wange, damit es glaubwürdiger aussieht.“ Angewidert blickte ich ihn an.
„Es ist doch niemand hier!“, flüsterte ich.
„Doch, gerade eben steht die Sekretärin beim Kaffeeautomaten und linst heimlich hierher. Sieh nicht hin.“
Ich atmete zischend Luft ein. Hasserfüllt stellte ich mich auf die Zehenspitzen, legte meine Arme um seinen Nacken und küsste seine Wange. Lächelnd drückte Luke kurz meine Taille und schob sich dann Richtung Musiksaal.
„Mit ein bisschen Übung schaffst du das auch ohne, dass du aussiehst, als hättest du in eine Zitrone gebissen.“
Lachend verschwand er.
Ich schnaubte leise und öffnete die Tür. Auch wenn die Klasse abgedunkelt war, bemerkte sofort jeder, dass ich da war. Verkrampft ging ich zu meinem gewohnten Platz, wo Mariella und Monique mich erwartungsvoll ansahen.
„Und?“, flüsterten sie gleichzeitig. Shaunee war nicht da. Sie war Klassensprecher- Stellvertreterin und somit bei Prof. Lockman. Was hatte er noch sagen wollen? Außer seinen tollen Aussagen. Du musst Vertrauen haben. In dich selbst.
Ich blickte mich um und sah, dass mich erstens jeder ansah und zweitens, dass Kateleen fehlte. Sie war die eigentliche Klassensprecherin.
Prof. Flora kam zu uns und setzte sich in unsere Nähe, sodass wir nicht miteinander sprechen konnten, was volle Absicht war.
„In der Pause“, murmelte ich.
Vom Film bekam ich nicht wirklich etwas mit, dazu waren meine Gedanken viel zu verknotet. In einem Teil meines Kopfes pochte unaufhörlich Kopfweh und deshalb fiel es mir besonders schwer, nachzudenken.
Neben mir seufzte Monique immer wieder und warf sehnsüchtige Blicke auf mich, ich konnte mir vorstellen, wie neugierig sie war. Sollte ich meinen besten Freunden alles erzählen? Oder nicht? Wie war es komplizierter? Ich entschied mich dafür, mein verstricktes Inneres beiseite zu schieben und ihnen das zu erzählen, was alle wissen sollten: Luke war in mich verliebt und wir waren jetzt ein Vorzeigepaar.
Hoffentlich beaufsichtigte uns Imago nicht rund um die Uhr… Siedend heiß fiel mir ein, dass wir auch vor den Schülern ein Paar spielen mussten! Dieser arrogante, idiotische, verblödete, eingebildete, unausstehliche, geisteskranke Vollidiot! Jetzt musste ich lieb spielen, damit er den Kopf aus der Masche ziehen konnte! Trottel! Außerdem musste ich Professor Lockman noch fragen, was er von mir wollte… Und da war ja noch dieses Spiegelbild von dem süßen Typ! Nicht zu vergessen seine reale Erscheinung auf der Straße! Wie konnte man sich innerhalb von einer Stunde derart in einem Netz aus Rätseln verfangen?
Weihnachten war schon vorbei, wenigstens musste ich kein Geld für ein dämliches Geschenk für meinen Scheinfreund Luke kaufen. Ich hoffte, dass ich ihm am Gang nicht mehr begegnete. Vorerst konnte ich die beiden Erscheinungen von dem Jungen auf mein Unterbewusstsein schieben, das einfach Bilder projiziert hatte, weil ich mir so sehr einen Freund gewünscht hatte. Toll, jetzt hatte ich einen. Aber einen ziemlich blöden, dummen, idiotischen, stänkernden, arroganten-!
Das Läuten beendete meine Gedanken. Monique und Mariella hängten sich bei mir ein. Sie lächelten. Monique warf ihre braunen, bis zur Mitte des Rücken gehenden Haare zurück und grinste, ihre blauen Augen unter den Stirnfransen strahlten genauso. Mariella schüttelte wieder ihre langen, langen, blonden, gelockten Haare und sie streiften Thomas, der uns auf einmal äußerst interessiert betrachtete. Natürlich fragten sich nicht nur meine Freundinnen, was passiert war. Vermutlich fragte sich bald die ganze Schule. Ich sah schon die Schlagzeilen der Schülerzeitung: Fünftklässlerin datet ihren Ex – Hasskollegen.
Natürlich würden sie es nicht in der Schülerzeitung bringen. Ich biss mir auf die Lippe. Hoffentlich nicht.
Während wir zurück in unsere Klasse gingen, erzählte ich meinen Freunden und allen anderen, die zufällig mithörten, dasselbe, das ich schon dem Direktor erzählt hatte. Auf dem Weg trafen wir auch auf Shaunee und Kateleen, die schweigend mithörten. Als ich die Klasse betreten wollte, hörte ich meinen Namen, von der Person, mit der ich am wenigsten sprechen wollte. Luke.
Ich setzte ein gezwungenes Lächeln auf und drehte mich um.
Luke – ebenfalls umgeben von Menschen – kam zu mir und zog mich aus der Menge. Lächelnd flüsterte er in mein Ohr, während alle im Gang zu uns linsten und versuchten, zu zuhörten: „Ich habe dasselbe wie beim Rektor erzählt und du?“
„Ich auch“, ich ballte meine Hände zu Fäusten.
„Sei nicht so verkrampft. Hey, ich gehe mit Jake und Oliver in die Stadt, kommst du mit? Wir treffen uns im Schulhof.“
„Eigentlich wollte ich allein mit Mariella gehen, aber meinetwegen. Wohin?“
„Ins neue Café.“
„Oh“, ich blinzelte und tat so als würde ich seinen Arm streicheln. Er machte sofort mit und legte einen Arm um meine Hüften. Vielleicht konnte ich Shaunee fragen, ob sie und ihr geheimnisvoller Freund mitkamen.
„Shaunee und ihr Freund kommen vielleicht auch.“
„Lach ein wenig und halt still. Leg deine Hände in meinen Nacken.“ Widerwillig wie immer tat ich es und lachte tatsächlich ein wenig. Ich kam mir so dämlich vor, wie die halbe Schule dabei zusah, wie Luke sich herunter beugte und mich auf den Mund küsste. Ich hielt einfach still und köpfte ihn in meinen Gedanken. Das funktionierte. Luke legte seine Hände auf meinen Rücken und drückte mich ein wenig. Ich zog ein wenig an seinem Haar, damit er aufhörte. Auch das funktionierte.
Lächelnd stellte ich mir vor, dass ein großer Vogel durchs Fenster kam und ihn zerfleischte.
„Bis später“, murmelte er.
„Tschau, Luke“, sagte ich und schlenderte zurück in die Klasse, in der Hoffung, der große Vogel käme vielleicht wirklich.

In der nächsten Stunde hatten wir Mathe, ein Fach in dem man besser nicht so viel sprach. Die Stunde verging viel zu schnell. Mathematik war nicht unbedingt mein Lieblingsfach, aber wenn man wusste, dass man nach dieser Stunde mit einer gewissen Person in ein Café ging, die man nicht mochte, war der Stoff nicht sonderlich schwer.
Es klingelte und ich ging zu Shaunee.
„Was hat Lockman zu euch gesagt?“
Sie packte ihre Sachen und schnappte ihr Handy. „Nur, wer sein Nachfolger ist. Er spricht mit allen Klassensprechern der Klassen, die ihn haben, ich finde das sehr freundlich und zuvorkommend von ihm.“
Ich nickte und wollte sie wegen dem Café fragen als sie zu mir sagte: „Ach ja, ich geh heute doch nicht in die Stadt, Jim hat mich zu sich nach Hause eingeladen.“ Sie strahlte. Ich lächelte und freute mich für sie. Warum war es nicht jedem vergönnt, eine einfache, normale Beziehung zu haben?
Ich umarmte Shaunee und verabschiedete mich von ihr, dann von Monique. „Liebe Grüße an deine Oma“, rief ich ihr nach.
„Sag ich!“, stöhnte sie und verschwand aus meinem Blickfeld. Ich informierte Mariella darüber, dass wir im Café nicht allein sein würden und sie zog eine Grimasse.
„Also eigentlich… wollte ich shoppen gehen… Bist du mir böse, wenn ich dich mit deinem Freund alleine lasse?“, fragte sie mit großen Augen und entschuldigendem Gesichtsausdruck.
Du musst Vertrauen haben. In dich selbst. Ich schluckte, verstand sie aber. Ich musste meine Rolle spielen. Selbst vor meiner besten Freundin. Natürlich wollte sie sich nicht mit den Idioten treffen, aber eigentlich wäre die Aussicht, nicht allein mit Luke und seinen Speichelleckern zu sein, schöner gewesen.
Ich seufzte und nickte.
Mariella erklärte, während wir zum Spind gingen und uns anzogen: „Weißt du, du hast dort wenigstens deinen Freund, aber ich, ich sitze da und komme mir vollkommen ausgeschlossen vor. Weißt du, ich mag die nicht sonderlich. Ich hoffe du bist mir nicht böse…“ Sie sah mich wieder um Verzeihung bittend an.
Ich grinste künstlich. Wow, war ich eine gute Schauspielerin. Ich hoffte nur, ich musste nicht zu lange schauspielern.
Gemeinsam betraten wir den Schulhof, der mit Stein gepflastert war. Die Rosenstöcke, die der Schulwart so liebevoll pflegte, sahen ein wenig krank aus und die Bäume schienen alle grau zu sein. Mariella verabschiedete sich von mir und hastete dann aus dem Hintereingang einer Gruppe von Parallelschülerinnen nach.
Ich setzte mich auf eine der mit Frost überzogenen Bänke und wartete. Immer weniger Schüler verließen die Schule und warfen mir, wenn sie mich entdeckten neugierige Blicke zu. Wie schnell hatte sich das Gerücht verbreiten können? Auf einmal schlenderte Becki zu mir und setzte ein halbherziges Lächeln auf.
„Hey…“
„Hi, Becki“, antwortete ich müde.
„Also… Du und Luke… Hätte ich nie gedacht. Ihr habt euch doch immer gegenseitig verachtet seit dem Vorfall in der Cafeteria.“
Ich schauderte. Der Vorfall in der Cafeteria beinhaltete Luke, seine Freundin, mich und meinen alten Freund. Ich war so zu sagen der Grund für Lukes Trennung und er für meine von Brian. Ich wollte aber in diesem Moment nicht daran denken.
„Jaah…“, antwortete ich gedehnt.
„Tja, ich geh dann mal, sonst verpass ich meinen Zug. Tschau, Lexi!“, rief sie und schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln. Ich hatte das Gefühl, dass sie wusste, dass alles nur Show war. Sollte ich es ihr verraten? Nein, wieso ihr und nicht Shaunee, Mariella oder Monique? Ich seufzte wieder ein wenig verzweifelt.
Du musst Vertrauen haben. In dich selbst. Der Satz spuckte in meinem Inneren und füllte eine Leere, die mich seltsam emotionslos stimmte. Warum brauchte mein Schaufreund so lange? War nicht ausgemacht gewesen, dass wir uns nach der letzten Stunde trafen?
Ich schloss genervt die Augen. Ich hätte mit Mariella jetzt in dem schönen, neuen Café sitzen können, stattdessen wartete ich in der Kälte auf jemanden den ich hasste. Mein Leben ist besch-


Träge blickte ich auf, als ich drei lärmende Stimmen vernahm, die sich alle in schwarzen Mänteln auf mich zu bewegten.
Der eisige Wind zerzauste ein wenig Lukes Haare, was irgendwie süß aussah. Wenigstens war er nicht hässlich. Ich schüttelte den Kopf, um diesen Gedanken loszuwerden. Luke war unausstehlich. Aus.
Lächelnd stand ich auf. Jake und Oliver blieben drei Schritte entfernt stehen und beäugten mich, als wäre ich ein Tier im Zoo. Anscheinend empfanden sie genauso wie meine Freunde ihnen gegenüber. Die Sache mit Luke und mir war anders… Wir hassten uns mit jeder Sekunde abgrundtiefer.
Der große Vogel aus meiner Vorstellung wurde immer gemeiner, bösartiger und hässlicher. Momentan kreiste er in ein paar Metern Höhe über Lukes Gesicht, in dem ein gespieltes Lächeln aufgezeichnet war. Wie schon zuvor schlang ich meine Arme um seinen Hals und wartete darauf, dass er mich küsste. Lukes Hände waren warm in der Kälte und schlossen mich sanft in eine gespielt liebevolle Umarmung. Seine Lippen waren auch heiß und schmeckten ein wenig nach Kaffee. Toll, mich ließ er hier draußen stehen, während er sich ein angenehm warmes Getränk genehmigte.
Der Vogel stieß hinab und zerfleischte Lukes gestylten Haare. Sofort ging es mir besser.
Ich wand mich aus der Umarmung und flüsterte: „Shaunee und Jim kommen nicht, und Mariella hat Flucht ergriffen. Hätte ich auch gerne getan!“
„Tolle Freunde hast du.“
„Ich weiß, aber ich kann ihnen nicht verübeln, dass sie nicht mitgehen wollen. In ihren Augen tun sie ja nichts Schlechtes. Sie denken ja, dass ich einen Freund habe, den ich mag. Schön wär’s… Und ich kann mit niemandem darüber sprechen! Das geht mich an! Wie lange muss ich noch spielen?“
Luke blinzelte ein wenig verwirrt. „Mhmmm… Zwei Wochen? Dann streiten wir uns wegen irgendetwas und ich bin dich wieder los.“
„Es war deine Idee, du Vollidiot. Hättest du einfach zugegeben, dass du mich schlagen wolltest, hätten wir dieses Dilemma jetzt nicht.“
„Nein, denn ich wäre dann vermutlich nicht mehr an der Schule!“
Ich schnaubte und warf einen kurzen Blick auf seine Freunde, die versuchten, ein paar Worte aufzuschnappen, aber wir sprachen so schnell und leise, dass sie keine Chance hatten. Ich warf Luke einen Blick zu, und er legte seine Hand auf meine Taille, dann drehten wir uns um.
„Gehen wir?“, fragte Luke in die Runde und setzte sich in Bewegung. Der imaginäre Vogel fraß gerade sein Hirn, als Oliver mich fragte: „Hey, wo is’n deine blonde Freundin?“
Ich schleuderte ihm einen Blick zu, der den Eifelturm umgeworfen hätte und antwortete bissig, aber mit strahlendem Lächeln: „Mariella trifft sich mit ihrem Freund.“ Ich wollte es Mariella ersparen, dass Oliver, groß, Muskelpaket, blond, IDIOT, hinter ihr her geierte. Sie hatte jemand Besseren verdient, als Oliver.
„Und Monique?“, hakte Jake grinsend nach. Das war schwerer, da sie täglich herausposaunte, dass sie keinen Freund hatte.
„Ähm… Familientreffen.“ Was keine Lüge war.
Jakes Grinsen erfror. Hehehehe… Bis auf die Hand von Luke auf mir, machte es Spaß, mit ihnen zusammen zu sein. Es wunderte mich nicht, dass sie nicht nach Shaunee fragten, da man schon sehr viel Mut besitzen musste, um mit ihr auszugehen. Einmal hatte sie einem Jungen ihren Eisshake über den Kopf gestülpt, als er eine Bemerkung gemacht hatte, die ihr nicht gefallen hatte. Dieser Jim musste etwas Besonderes sein, wenn sie sich nie über ihn beklagte. Auf einmal wünschte ich, Monique, Shaunee und Mariella wären hier. Mit ihnen hätte ich doppelt so viel Spaß. Ich wünschte, ich müsste ihnen nichts verheimlichen…
Du musst Vertrauen haben. In dich selbst. Freunde waren wertvoll, wurde mir gerade sehr stark bewusst.
Ich blickte auf den Schnee auf der Straße, während die drei Jungs sich über irgendetwas unterhielten, das nicht in mein Gehirn dringen wollte. Der Wind ließ nach und sanft fielen weiße, große Schneeflocken vom Himmel. Luke ließ mich los, und er, Oliver und Jake sprangen herum und versuchten je die größten Flocken mit ihren Zungen zu erwischen. Irgendwie kindisch, aber es schien sie nicht zu stören, dass sie sich so aufführten. Langsam ging ich allein weiter, ich wusste, wo das Café war. Springend folgten mir die Jungs.
Vor mir, am Hauptplatz saßen Menschengruppen zusammen und unterhielten sich. Ich blieb stehen und wartete auf Luke, ich wollte, dass es nicht so aussah, als wäre ich allein hier. Obwohl ich es im Grunde war. Du musst Vertrauen haben. In dich selbst.
Eine besonders große Flocke landete auf meiner Nase. Luke kam und küsste sie weg. Auf einmal war mir zum Heulen zu mute. Ich wollte, dass jemand mit echten Gefühlen für mich sie wegküsste, nicht dieser Trottel, mit dem ich nur zusammen war, damit er an der Schule bleiben konnte.
Du musst Vertrauen haben. In dich selbst. Gab es keinen echten Typ für mich, niemanden, der mich wollte, weil ich eben ich war? Am besten sollte er so aussehen wie… der aus den Spiegelungen. Oder wie ein junger Leonardo DiCaprio.
Jake riss mich aus den Gedanken, indem er einen dicken Schneeball von Oliver ins Gesicht bekam und laut (und barbarisch) aufschrie. Er schoss zurück und traf einen von den Typen, die in Gruppen herumstanden. Der jenige formte Schneebälle und die anderen machten es ihm nach. Kurzerhand machte ich mit, als ich einen Ball ans Ohr bekam. Bald schossen überall am ganzen Hauptplatz Schneebälle umher, da sich jeder wehrte. Es hieß jeder gegen jeden. Dreimal fing Luke Schneebälle direkt vor meinem Gesicht ab, trotzdem blieb ich nicht ganz verschont.
Aus einer Seitengasse kamen nämlich immer wieder Schüsse, die zwar selten waren, aber wenn, dann immer ins Gesicht trafen. Ich wandte mich dem geheimnisvollen Spieler zu und schoss dann blindlings in die dunkle Gasse. Die Mauern waren gelb und weiß gestrichen. Die Gasse führte geradeaus weiter zurück zu der Straße mit der Pizzeria. Am Rand standen drei Mülltonnen. Hinter einer bückte sich gerade der geheimnisvolle Schütze und klaubte Schnee zusammen. Ich zielte sorgfältig, schoss und traf ihn an seinem braunen Schopf. Er richtete sich mit einem Ruck auf. Er trug eine graue Jacke. Mein Herz pumpte prompt schneller. Mein Magen zog sich zusammen. Quatsch, jeder kann eine graue Jacke tragen!, redete ich mir ein.
Er drehte sich innerhalb einer viertel Sekunde um. Seine dunkelblauen Augen fixierten mich, wie ein Jäger seine Beute fixiert. Mir stockte der Atem. Es war der Junge von Chemie und von der Spiegelung. War er nicht ein Produkt meiner Fantasie? War er keine Einbildung? War er echt? War ich vielleicht nicht verrückt?
Du musst Vertrauen haben. In… Kurz freute ich mich, dann erstarrte ich. Warum sah er mich an, als wäre ich schuld an seiner Wut? Man konnte doch nicht wegen seiner Haare so wütend sein! Und warum, verdammt noch einmal, benutzte er nicht den Schneeball in seiner Hand, den er gerade zu Pulver zerquetschte?
In meine Beine kam Leben und ich wich ein wenig zurück. Da rief auf einmal Luke meinen Namen. Kurz blickte ich noch in diese verengten, wunderschönen Augen, dann drehte ich mich schnell um. Luke kam auf mich zu. Schnell wandte ich mich wieder dem wütenden Jungen zu. In meinen Gedanken tat sich ein Loch der Fassungslosigkeit auf.
Er war weg.
Schon wieder.
Lautlos.
Und das schlimmste: Ohne ein Spur im vollkommen glatten Schnee zu hinterlassen.


2.

Als Luke mich erreichte, ging ich noch ein paar Schritte in die Gasse. Da waren eindeutig keine Spuren, die von den Mülltonnen wegführten. War er da gewesen? Hab Vertrauen in dich selbst. War ich jetzt vollkommen verrückt? Das konnte nicht sein! Ich hatte ihn gesehen! Mein immer noch beschleunigter Herzschlag war der Beweis. Hab Vertrauen in dich selbst. Ich stürmte zu den Mülltonnen. Erleichtert seufzte ich. Da waren Spuren von Füßen und aufgewühlter Schnee. Im selben Moment stutzte ich. Die Spuren zeigten, dass die Person barfuss gewesen war. Vollkommen unmöglich! Nicht bei minus drei Grad! Nein! Mein ganzer gesunder Menschenverstand sträubte sich dagegen. Nein! Nein! Nein! Nein! NEIN!
Hab Vertrauen in dich selbst. Ich atmete tief ein. Betrachte die Situation von oben herab.
Kurz schloss ich die Augen, dann nahm ich noch einen Atemzug und analysierte die Lage. Das Ergebnis erfreute mich nicht gerade. Jemand hatte barfuss hinter den Mülltonnen gestanden und dort im Schnee gewühlt, höchstwahrscheinlich, um Schneebälle zu formen. Dann, während ich mich nach Luke umgesehen hatte, war die Person lautlos verschwunden und hatte sich in Luft aufgelöst. Toll, ich mache Fortschritte! Jetzt leide ich nicht nur an Verfolgungswahn, sondern auch nach an… abnormalen Vorstellungen.
Ich grinste humorlos in mich hinein.
Luke fuhr mich an. „Komm schon! Es fällt auf, wenn wir so lange weg sind!“
„Wieso, sie könnten doch denken, dass du mich in die Gasse geschleppt hast und über mich hergefallen bist“, antwortete ich spöttisch mit zornigem Blick. Manche Menschen spürten wirklich nicht, wenn manche anderen Menschen allein sein wollten. Meine Worte schienen Luke nachdenklich gestimmt zu haben. Auf einmal blicke er auf, als wäre ihm eine Idee gekommen. Er trat näher und wuschelte ein wenig in meinen Haaren herum, dann in seinen.
„Was soll das werden, wenn es fertig ist?“, fragte und versuchte, meine Haare wieder glatt zu streichen. Verstand er nicht, dass Mädchen es nicht gern hatten, wenn Jungs vollkommen ohne Grund ihre Frisur zerstörten?!?
Mit einiger Verspätung antwortete Luke: „Dann sieht es aus, als hätten wir geknutscht.“
Der grässliche Vogel stürzte sich auf Luke, und ein zweites, genauso hässliches Tier fiel über ihn her und schlug die Krallen in seine Augen. Es war ungemein befriedigend. Widerwillig ließ ich mich dazu herab, Luke einen Arm um die Hüfte zu legen und ihn heraus zu ziehen.
Draußen war die Schlacht noch voll im Gang. Luke rief Jake und Oliver, die gerade drei Zweitklässler niederschossen, und gemeinsam betraten wir das Café am anderen Ende des Platzes. Es war halb voll und wir setzten uns an den Rand, zur Fensterscheibe. Den vorderen Teil des Gebäudes bildete die große getönte Panorama Glasscheibe. Wenn es draußen dunkel war, war dieses Fenster wie ein gigantischer Spiegel. Sonst war alles in braun-, beige- und schwarz- Tönen gehalten. Die Bänke und Sesselbezüge waren aus Leder, die Tische viereckig, schwarz und mit kleinen Tannenzweigen geziert. Leise Musik wabberte durch den Raum, an der Theke standen zwei Frauen, die aus einem Modemagazin zu kommen schienen. Kaum saßen wir, kam eine, die Blonde, und offenbarte wahre Modelmaße, die mich aufstöhnen ließen. Sie bewegte sich elegant und lächelte, als sie uns die Karten gab. Ich schätzte ihr Alter auf einundzwanzig Jahre. Ein kleiner Anstecker verriet, dass sie Sarah hieß. Als sie wieder hinter der Theke verschwand, stand Jake und Oliver der Mund sperrangelweit offen. Luke schluckte und presste die Lippen zusammen und starrte eingehend auf die Karte. Ich kicherte leicht. Ich war mir hundert Prozent sicher, dass Luke sie normalerweise sicherlich angeflirtet hatte. So war aber ich im Weg…
„Hey, Luke, die ist heiß, nicht wahr?“, flüsterte ich so leise, dass niemand außer ihm meine Worte hören konnte.
Er presste seine Lippen noch enger zusammen und ballte seine Hände zu Fäusten. Ich kicherte erneut, was mir einen Stoß auf mein Schienbein einbrachte.
„Nein, Lexi, ist sie nicht, weißt du?“, antwortete Luke mit verkrampftem Kiefer.
Ich blickte wieder in die Karte und entschied mich für eine heiße Schokolade. Wie oft hatte ich schon Kaffee gekostet, und mich doch nie dafür begeistern können? Dasselbe war es mit Tomaten. Ich aß vieles, aber keine Tomaten.
Sarah kam wieder zum Tisch geschwebt und blinzelte mit langen schwarzen Wimpern. „Und? Schon etwas entdeckt?“
„Oh, ja…“, grinste Jake.
Ich ließ ihm keine Chance zum Flirten. „Eine heiße Schokolade, bitte.“
Jake funkelte mich an. „Mach zwei daraus, Süße.“
Sarah hustete.
„Einen Cappuccino.“
„Einen weißen Leonardo.“
„Okay“, sagte Sarah und warf mir einen dankbaren Blick zu. Anscheinend schien sie begriffen zu haben, dass Jake nicht gerade der Traumtyp war.
Oliver grinste ihr nach, als die Kellnerin den Tisch verließ und zur Theke trabte. Als er sich wieder uns zu wandte, erstarb das Grinsen. Peinliche Stille trat ein, in der Jake mich musterte, Oliver dasselbe ein wenig verhaltener tat und Luke den Arm, den er um mich gelegt hatte, dazu benutzte, seine Muskeln anzuspannen und mir so zu bedeuten, dass ich ihn nicht weiter reizen sollte. Aber der Gedanke war so verlockend…
Gerade, als ich wieder sticheln wollte, begann Oliver zu sprechen.
„Wisst ihr, was ich nicht verstehe? Wieso du, Luke, auf einmal auf Lex stehst, und warum du, Lex, dasselbe tust!“
Ich setzte mich gerade hin und sah Luke an. Sollte er doch antworten.
„Ähm… ist wohl so über mich gekommen.“
„Ich lasse mich überraschen“, fügte ich ein wenig gelangweilt hinzu.
Oliver runzelte die Stirn. „Aber… Das ist doch vollkommen unlogisch! Seit einem Jahr hasst ihr euch, und jetzt auf einmal…“
„Oliver, lass es, okay? Ich erklär’s dir später mal“, würgte ihn Luke ab.
Jake betrachtete mich wieder, als wäre ich eine Schaufensterpuppe.
„Was?“, fuhr ich ihn an.
Jake blinzelte. „Nichts. Siehst nur ein bisschen blass aus. Aber sonst… Nichts. Kein Model, aber nicht schlecht.“
Ich wäre fast aufgesprungen und ihm an die Gurgel gehüpft. Stattdessen ließ ich die imaginären Vogel über ihn herfallen, während ich mit bebender Stimme fragte: „Du bewertest mich?“
Jake zuckte die Schultern.
Zum Glück kam gerade Sarah und stellte die Tassen vor uns ab.
„Hier, bitte schön. Getrennt oder zusammen?“
Luke seufzte. „Einen Kakao und den Cappuccino.“
Ich stieß ihn verwundert an und konnte einen erstaunten Gesichtsausdruck nicht verbergen. Luke zuckte mit den Schultern und stieß mich zurück an.
Die beiden zahlten einzeln. Wieso gab Luke Geld für mich aus? Toll, jetzt schuldete ich ihm etwas. Wobei… Wenn er es freiwillig ausgab…
Ich machte einen vorsichtigen Schluck. Die Schokolade schmeckte gut, sie war sogar in genau der richtigen Temperatur gehalten. Auch die anderen nippten vorsichtig. Während Jake und Oliver darüber stritten, was besser schmeckte (Weißer Leonardo oder Heiße Schokolade) murmelte ich wirklich, wirklich leise: „Danke, Luke.“
Ich spürte, dass sich meine Wangen röteten. Ich blickte nicht auf, denn ich wollte Lukes Reaktion nicht sehen. Sicher umspielte gerade ein spöttisches Lächeln seine Lippen oder er machte sonst irgendetwas, was mich meine Rektion bereuen ließ, sollte ich aufblicken.
Nach einiger Zeit, in der ich eingehend das Muster des Bodens und die Füße der anderen studiert hatte, blickte ich wieder auf und fand mich inmitten einer wortkargen, aber gestenreichen Diskussion wieder, die zwischen Luke und Jake stattfand. Oliver behielt mich im Auge und stieß Jake unsanft an, als ich sie bemerkte. Sofort brachte er Luke mit einem Blick zu schweigen und alle drei starrten plötzlich äußerst gefesselt auf das Geschehen draußen vor der Glasscheibe.
Ich runzelte die Stirn. Was sollte das schon wieder? Auch ich blinzelte kurz auf den Hauptplatz und stellte erschrocken fest, dass es bereits ziemlich dunkel war und sich das Glas, wie ich es mir schon gedacht hatte, in einen gigantischen Spiegel verwandelte. In den Spiegelungen entdeckte ich, dass sich das Café mit abendlichen Besuchern füllte, nicht wenige waren von unserer Schule gekommen und sahen uns interessiert dabei zu, wie wir uns in Schweigen hüllten. Ich durchbrach die Stille am Tisch.
„Worum ging es in eurem… Gespräch?“ Ich legte den Kopf schief und machte große Augen.
Zuerst versuchten die drei alles abzustreiten, aber als sie merkten, dass ich unnachgiebig war, seufzte Jake. Fast lachte ich erleichtert auf, dass er doch weich zu klopfen war.
„Also?“
„Wir haben versucht, aus Luke herauszubekommen, wieso du mit ihm zusammen bist. Alleine, dass er sich so sehr sträubt, uns die Wahrheit zu sagen, lässt vermuten, dass er gezwungen wird. Ist das korrekt?“, fragte und blickte mir forschend in die Augen, sodass ich den Drang unterdrücken musste, ihm eine rein zu hauen.
Wie konnte er vermuten, dass ich Luke zwang? Er hatte doch mich dazu gebracht, mitzumachen. Wie eigentlich? Wieso tat ich das? Hatte er einen echten Grund geliefert? Nein. Er hatte gesagt, er würde lange künstlich versuchen, mich zu seiner Schein- Freundin zu machen, bis ich nachgeben würde, nur, wenn ich sofort nachgäbe, dauerte es nicht so lange. Noch dazu würde ich nicht als kalte Abserviererin dastehen. Das waren doch nicht wirklich Gründe gewesen! Wieso hatte ich mich überreden lassen?
Ich blickte in Lukes spitzes Gesicht. Jetzt war es zu spät. Wo hatte ich vor ein paar Stunden mein Gehirn gehabt?
Als Jake mich boshaft grinsend ansah, erinnerte ich mich daran, dass ich mit ihm ein Gespräch führte. Ich rief mir seine Worte in den Sinn.
„Nein, das ist nicht korrekt.“
„Aber es ist nicht so, wie ihr beide tut“, stellte Oliver ein wenig genervt fest.
„Nein“, antwortete Luke für mich und bedachte mich aus den Augenwinkeln.
„Es ist… so ähnlich“, setzte ich drauf, was mir einen Tritt gegen mein Schienbein von Luke einbrachte.
Aber ich ließ mich nicht beirren. „Luke, willst du es nicht deinen besten Freunden erzählen?“, fragte ich scheinheilig. „Sonst tue ich es nämlich.“
Sofort verkrampften sich Lukes Finger und überhaupt alles an ihm schien auf einmal angespannt zu sein. „Hm, ich würde ohne Lexis Hilfe von der Schule fliegen.“
Jake und Oliver glotzten mich an, als würde mir ein dritter Arm aus der Brust wachsen.
„Und wir müssen jetzt für einige Zeit so tun, als wären wir zusammen.“
Ich setzte mich gerade hin und fauchte: „Bist ja selber schuld!“
„Wieso, was ist passiert?“, fragte Oliver.
Ich begann zu sprechen, bevor Luke den Mund überhaupt öffnen konnte. „Luke wollte mir eine wischen, aber Prof. Flora kam dazwischen und brachte uns zum Direktor. Dort behauptete Luke, um nicht von der Schule zu fliegen, dass er mich nur küssen wollte. Und hat es gleich noch mal getan. Er hat mich dazu überredet mit zu machen. Tja, und jetzt müssen wir vor der ganzen Schule so tun, als wären wir zusammen, denn überall kann ja eine Petze lauern.“
Wuchs mir gerade ein neues Auge auf der Stirn, oder wieso gafften Oliver und Jake so?
Luke räusperte sich und bedeutete uns leiser zu sein. Geschockt sah ich mich um, bemerkte aber niemanden, der uns irgendwie verdächtig ansah. Dafür wurde mir jedoch klar, dass es draußen mittlerweile stockdunkel war. Ich blickte auf die digitale Uhr, die an der Wand hing. Sie zeigte an, dass es drei Viertel sechs war. Schnell kramte ich mein Handy heraus und wählte die Nummer meiner Mutter. Sie hob nach dem ersten Klingeln ab.
„Lex?“
„Hi, Mum.“
„Wo bist du, wann kommst du nach Hause?“
„Ich bin noch im Kaffee mit Freunden und nehm’ den Zug um Viertel sieben. Dann bin ich zirka um Halb am Bahnhof.“
„Okay, Schatz. Pass auf dich auf. Ich mache Spaghetti, gut?“
Ich lächelte. „Danke, ich freu mich. Bis später!“
„Ich hab dich lieb. Tschüss!“
„Ich dich auch.“
Luke beobachtete mich fasziniert. „Kleines Gespräch mit Mummi?“, fragte er und tat unschuldig.
Ich würdigte ihn keines Blickes und stand auf, um auf das WC zu gehen. „Bin gleich wieder da“, murmelte ich und stand auf. Kurz drehte ich mich noch zum Fenster- Spiegel. Vielleicht tat ich es aus reinem Impuls, vielleicht war es Schicksal, vielleicht passierte es einfach nur so, auf jeden Fall erstarrte ich sofort.
Hab Vertrauen in… Der Junge stand der Spieglung zufolge bei der Tür. Er trug wieder die engen Jeans und die Jacke. Diesmal sah ich genauer hin. Mein Blick wanderte hinab. Tatsächlich. Er trug keine Schuhe.
Ein eigenartiger Knoten bildete sich in meinem Magen und ich spürte den Puls in meinen Ohren. Das war nicht möglich. Niemand ging im Winter barfuss umher. Niemand. Mein Atem ging flach und ich sah ihn scheu an. Er blickte mich wieder aus verengten Augen an. Wenigstens sah er nicht mehr wütend aus. Trotzdem lag etwas Vorwurfsvolles und etwas Forschendes in diesen Augen. Obwohl ich wusste, dass er nicht dort sein würde, wenn ich mich umdrehte, tat ich es. Beinahe nicht mehr geschockt blinzelte ich zurück zu der Glasscheibe. Auch dort war er verschwunden.
Das nervte.
Hab Vertrauen in dich selbst. Ja, ich gab zu, dass ich verrückt war. Nein, ich zweifelte nicht mehr an dieser Aussage. Nein, ich würde keine Psychiatrie aufsuchen.
Und… Jaah, ich wollte ihn auf jeden Fall noch einmal sehen. Nur, konnte er nicht in der Realität hier stehen? Musste er immer eine Einbildung meiner Fantasie sein? Er war so süß!
Seufzend trat ich den Weg zur überaus modernen Toilette an. Ich betrachtete mich im Spiegel und runzelte kritisch die Stirn. Ich sah genauso aus wie immer. Also sah man nicht, dass ich paranoid war. Vielleicht hatte mir ja jemand Drogen untergejubelt. Aber zu welchem Zweck? Ich schloss die Möglichkeit sogleich wieder aus.
Hab Vertrauen in dich selbst. Schon wieder seufzte ich und band meine Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen. Meine großen Augen blickten mir aus meinem blassen Gesicht entgegen. Mariella hatte es gut. Sie war selten blass, weil sie grundsätzlich schneller braun wurde. Wie hatte meine Bewertung gelautet? Kein Model, aber nicht schlecht? Ein bisschen blass? Ich betrachtete meinen Bauch. Klar, ich könnte ein weniger Chips abends vertragen, aber ich war immer noch schlank. War meine Bewertung nun gut, oder nicht?
Was machte ich mir überhaupt Gedanken über die Meinung eines Vollidioten? Ich wurde bald fünfzehn, war selbstbewusst und hatte den Kommentar von Jake nicht nötig. Trotzig benetzte ich mein Gesicht mit Wasser. Als ich wieder aufblickte, stolperte ich zunächst einmal drei Schritte nach hinten. Hab Vertrauen in… Mein Herzschlag beschleunigte auf die Geschwindigkeit eines Düsenjets und ich hörte, dass ich panisch aufkeuchte. Mein ganzer Körper zitterte unkontrolliert. Hab Vertrauen in… Wie war das möglich? Wahnvorstellungen durften nicht so real sein! Wie konnte der Junge so wirklichkeitsgetreu an der Wand gelehnt stehen?! Natürlich sah ich nur die Spiegelung. Ich schluckte. Ich war mir sicher, dass er verschwunden sein würde, wenn ich mich umdrehen würde, jetzt musste ich mir nur etwas einfallen lassen. Hab Vertrauen in… Würden die Wahnvorstellungen verschwinden, wenn ich ihn ignorierte? Oder musste ich mich selbstständig davon überzeugen, dass er nicht da war? Hab Vertrauen in dich selbst.
Ich entschloss mich zu einer neuen Taktik. Ich blickte nicht vom Spiegel weg und ging rückwärts zu dem Jungen hin. Hatte ihm niemand beigebracht, dass Jungs nichts auf dem Damen- WC zu suchen hatten?
Zuerst sah es aus, als würde er stehen bleiben, er starrte nur verwirrt, dann begriff er und wich schnell aus. Dass er immer Augenkontakt hielt war mir durchaus bewusst, aber ich unterbrach ihn nicht. Solche blauen Augen hatte ich nie gesehen.
Er eilte nach links, ich tat dasselbe, er wich nach vorne, ich folgte. Einmal erwischte ich ihn fast. Doch er duckte sich weg und ich spürte nur Luft zwischen meinen Fingern. Ich hoffte nur, das niemand auf das WC kam und mich so im Raum herum torkeln sah.
Einige Zeit machten wir weiter, während es dem Spiegel- Typ immer mehr Spaß zu machen schien, bis er über das ganze Gesicht grinste.
Dann passierte etwas, dass mich erstarren und mein Blut zum Kochen bringen ließ. Meine Knochen wurden weich und wabbelig, aber meine Starre hielt mich aufrecht. Hab Vertrauen in…
Er lachte.
Und ich hörte es in meinen Ohren. Er lachte hell und laut. Es klang wie… ein ganz normaler Junge, der eben lachte. Ich wusste nicht recht, was ich erwartet hatte und wieso ich so erstarrte. Aber wieso konnte ich ihn auf einmal hören? War es Einbildung? Nein. Niemals. Ich kniff meine Augen zusammen und er hörte auf zu lachen. War er verschwunden? Ich ließ meine Augen geschlossen und konzentrierte mich darauf, normal zu atmen. Das Zittern ergriff wieder Besitz von mir, aber mir war nicht kalt, sondern es war ein Zittern der Aufregung, dass langsam abebbte. Als ich mir beinahe sicher war, dass er nicht mehr da war, weil er nicht mehr lachte, öffnete ich die Augen. Ich blickte genau in den Spiegel. Er war immer noch da und ich keuchte auf. Hab Vertrauen in… Er kam näher und sah mich dabei an. Nicht im Spiegel, so wie sonst, sondern er sah auf die Stelle an der ich stand. Wieso? Wieso war er noch da?
Ich schluckte. Langsam und stockend drehte ich den Kopf zur Seite. Natürlich stand er nicht da und ich blickte zurück zum Spiegel. Da sah ich ihn aber klar und deutlich. In dem Moment beschloss ich, dass ich nicht geistig geschädigt war. Nicht ich war das Problem, sondern er. Er musste irgendwie etwas haben, dass er spurlos und lautlos verschwinden konnte, dass ich ihn manchmal sah und manchmal nicht, dass ich ihn nicht in irgend einer Weise von mir aus kontaktieren konnte.
Eine Armlänge entfernt blieb er stehen und betrachtete mich immer noch.
Ich entschloss mich zu etwas. Hab Vertrauen…
Zitternd fragte ich: „Wieso kann ich dich nicht sehen?“ Es war kaum mehr als ein Flüstern.
Er fuhr ein wenig zusammen, aber dann blickte er mir wieder aus dem Spiegel in die Augen. Er hob eine Augenbraue. Hatte er mich nicht verstanden? War er eine Einbildung? Konnte er deswegen nicht sprechen?
Mein Herz pumpte und ich fuhr mit meiner Zungenspitze über meine aufgerissenen Lippen. Ich öffnete meinen Mund um erneut zu sprechen, aber da antwortete er mit weicher Stimme.
„Willst du nicht mit einer leichteren Frage anfangen?“
Ich sprang einen Satz zurück und begann wieder vor Aufregung zu zittern. Er konnte sprechen! Er war wirklich da! Er war keine Einbildung! Hab Vertrauen…
Ich schluckte hart und zwang mich klar zu denken. Was hatte er gesagt? Eine andere Frage?
„Ähm, wieso kann ich dich sehen und die andern nicht?“, fragte ich wankend, aber ich richtete mich wieder gerade auf und machte einen Schritt nach vorne.
Er stöhnte. „Ich sagte etwas Leichteres! Wie wär’s mit meinem Namen?“
Ich nickte zögernd.
„Okay, also ich heiße Darian. Du heißt Lex, das weiß ich. Ich will nicht unhöflich sein, aber was ist das für ein Name?“
Ich traute meinen Ohren nicht. Scheinbar schaltete sich mein Gehirn ab, aber mein Mund sprach einfach mit eigener Energiereserve weiter.
„Ein ganz normaler. Aber was ist mit Darian? So heißt doch niemand!“
Darian lachte und machte einen beiläufigen Schritt näher zu mir. „Ich heiße so, und ich wage zu behaupten, dass ich jemand bin.“
„Bist du nicht, sonst könnte ich dich sehen und dich berühren und du würdest Spuren hinterlassen… Und wieso trägst du keine Schuhe?“, gab ich zurück. Während mein Mund arbeitete, begann mein Hirn wieder zu laufen, konnte aber keine Erklärung für das Vorfallende finden.
„Hey! Manchmal kannst du mich sehen! Ich kann Spuren hinterlassen, wenn ich will! Und ich trage keine Schuhe, weil ich dich irritieren möchte.“
„Was?!“
„Nein, natürlich nicht, ich trage keine Schuhe, weil ich hier keine brauche. Ich brauche nicht mal die Kleidung, die ich trage, aber ich will nicht nackt rumlaufen.“
„Aber ich kann dich nicht berühren!“
Darian hörte auf zu grinsen und sah mich ernst an. „Weil du es noch nie versucht hast.“
Er streckte seinen Arm aus und nickte darauf. „Trau dich, bin nicht giftig.“
Ich schüttelte den Kopf und versuchte eine gewisse Würde zu bewahren, als ich in den Spiegel schauend seitwärts ging und zögernd die Hand ausstreckte. Ich spinne, ich spinne ja so sehr, ich bin ein Spinner, es gibt keinen größeren Spinner als mich. Der Satz hämmerte nicht gerade unterstützend in meinem Kopf.
Schließlich tat ich einen tiefen Luftzug und berührte die unsichtbare Hand. Hab Vertrauen… Es war sehr eigenartig. Neugierig drehte ich meinen Kopf vom Spiegel weg. Irgendwie war es irritierend, dass ich Darian nicht sehen konnte, er mich aber schon. Seine Hand war warm und glatt, doch einige Unebenheiten waren am Handrücken zu spüren.
Neugierig fuhr ich weiter und bekam den Saum des Mantels zu fassen. Auf einmal begann Darian leicht zu zittern.
Ich ließ in sofort los und sah dorthin, wo ich seine Augen vermutete.
„Nichts“, hörte ich, während er kicherte. „Es sieht nur witzig aus.“
„Kannst du dich nicht irgendwie sichtbar machen?“, fragte ich verzweifelt.
„Keine Chance. Ich habe heute schon einmal meine Tarnung aufgegeben und prompt hast du mich gefunden. Ich wurde gerade noch rechtzeitig unsichtbar…“ In seiner Spiegelung schmunzelte er.
Ich stöhnte auf und runzelte die Stirn. Aber hier war doch sowieso niemand! Wieso eigentlich nicht? Ich war hier sicher schon länger drin und doch kam niemand. Siedend heiß fiel mir ein, dass draußen Luke und Co. warteten. Sollte ich sie noch länger warten lassen? Aber dann verpasste ich ja meinen Zug!
Ich schnaubte und wandte mich wieder Darians (was für ein Name!) Spiegelung zu. „Ich muss langsam aus dem WC hier raus, ich sollte mich auf den Weg zum Zug machen, sonst komme ich zu spät nach Haus.“
Darian sah mir aus dem Spiegel in die Augen und lächelte. „Gut, ich komme mit.“
„Was? Wieso?“
„Da wären wir wieder bei den komplizierten Fragen, also sage ich vorerst nichts, das würde dich nur verwirren.“
„Aber-“
„Nichts aber, du kannst mich sowieso nicht aufhalten.“
Ich schnaubte entnervt. Hab Vertrauen in dich selbst. Vielleicht war ich doch nicht richtig im Kopf. Oder Darian machte irgendetwas mit meinen Augen. Und ich hatte keine Ahnung, was ich davon halten sollte. Sollte ich schreien? Oder lachen? Oder doch lieber weinen? Ich entschied mich dafür hart zu schlucken und einfach zur Tür heraus zu gehen.
Ganz kurz stellte ich noch eine leise Frage, während ich die Tür öffnete. „Können die anderen deine Spiegelung sehen?“
„Ja, sie können mich auch hören. Es sei denn ich… oh, das erkläre ich lieber nicht, zu kompliziert.“
„Dann pass auf“, zischte ich, während ich zu unserem Tisch ging.
Oliver und Luke führten ein angeregtes Gespräch über irgendetwas, aber Jake schien sich nicht beteiligen zu wollen. Er feixte. „Lexi, sollen wir drei großen starken Jungs dich armes kleines Mädchen zum Bahnhof begleiten?“
Die beiden anderen hörten auf zu diskutieren und wandten sich mir zu. Oliver kicherte, aber Luke sagte, vermutlich nur wegen der immer noch zahlreich vorhandenen Schüler hier: „Ich gehe schon.“ Ich warf einen Blick auf die Uhr an der Wand. Wenn ich nicht laufen wollte, musste ich jetzt gehen. War Darian noch da? Ich riskierte keinen Blick zum Panorama- Fenster, sonst sah vielleicht noch jemand hin.
Luke holte mich in die Wirklichkeit zurück, indem er mich anstupste und mir meine Jacke gab. Ein richtiger Gentleman!
Ich lächelte müde verabschiedete mich leise von Oliver und Jake. „Wehe euch, ihr gebt irgendetwas von dem, was wir euch erzählt haben, weiter“, fauchte ich, dann schob mich Luke zwischen den Tischen zur Tür und öffnete sie. Eisiger Wind blies mir ins Gesicht und fast augenblicklich wurde mir kalt. Wie es wohl Darian ohne die Schuhe ging?
Luke zog mich eng zu sich, ob für die Zuschauer, seine Körperwärme oder meine, ich sagte nichts dagegen. Die Gassen und der Platz waren hell erleuchtet. Überall lockte der Geruch von Gebäck und der warme Schein der Lichter forderte auf, zu bleiben. Mein Gesicht brannte vom kalten Schnee, der immer noch unablässig vom Himmel fiel. Wie viel Grad es wohl hatte? Minus Hundert? Luke blieb auf einmal stehen. Verwundert sah ich zu ihm hoch, da hatte er auch schon seinen Mantel geöffnet und mich hinein gezogen. Warum?!
Klar beschwerte ich mich nicht, an seiner warmen Seite, an diesem weichen Shirt, den Arm um mich gelegt, fühlte ich mich geborgen und es war leicht zu vergessen, in wessen Mantel ich da steckte. Aber warum?
Ich flüsterte ganz leise: „Luke, warum tust du das?“
Die Antwort fiel ziemlich einleuchtend aus. „Da vorn steht Flora und quatscht mit… ich weiß nicht, ich glaub einem Lehrer.“

Schön gewärmt kamen wir zur hellen Halle des Bahnhofs und beinahe tat es mir Leid, dass ich von seiner Seite weichen musste. Aber Moment. Das war Luke. Luke, der Trottel, der mich als Scheinfreundin benutzte.
Ernüchtert trat ich einen Schritt zur Seite. Da fiel mir ein, dass ich mich ja noch irgendwie verabschieden musste, auch wenn es unwahrscheinlich war, dass hier jemand lauerte. Luke schien dasselbe zu denken, aber in dem Moment kam eine kleine Schülerschar zur Tür herein und blickte uns kurz neugierig an.
„Verfolgen die uns?“, schmunzelte Luke.
Ich wollte es schnell hinter mich bringen und stellte mich emotionslos vor ihn, um ihn, wie er es haben wollte, zu küssen. Aber irgendetwas in mir wollte mich daran hindern, vielleicht die Tatsache, dass wir einen unsichtbaren Zuschauer hatten. Dann gab ich mir einen Ruck. Erstens, der Kuss bedeutete nichts, zweitens, was sollte mir mein Hirngespinst namens Darian schon groß machen.
Luke umschlang meinen Körper und drückte ihn gebieterisch, seine Lippen hingegen waren eher sanft. Seltsam.
Ich klopfte Luke leicht gegen den Rücken, dann trat ich einen Schritt zurück. Er strich kurz mit seiner Hand an meiner Wange entlang, dann drehte er sich verwirrt um und verschwand draußen. Ich schluckte.
Langsam stieg ich die Treppen, die mich unter den Gleisen zu meinem Bahnsteig brachten nach unten. Meine Gedanken überschlugen sich und doch ergaben sie keinen Sinn. Was war mit Luke los? Er war viel zu… charmant gewesen! Dieser Kuss… Es wäre so leicht, sich ihm hinzugeben.
Halt! Stopp! Mein Kopf dachte sich schon wieder Sachen aus, die absolut gegen meine Natur waren. Ich hatte jetzt gerade eben ein anderes Problem namens Darian.
Ich konnte nicht sicher sein, ob er da war, und fragen konnte ich auch nicht, wenn ich von den Leuten ringsum nicht für vollkommen bescheuert gehalten werden wollte. Da spürte ich, dass das Handy in meiner Hosentasche vibrierte. Ich holte es heraus und hatte eine neue Mitteilung auf dem Display.
Sie war von… Jake!
Er schrieb: Lex, ich weiß nicht was mit Luke los ist. Was hast du mit ihm gemacht?
Ich runzelte die Stirn. Ich tippte hastig:
Was soll mit ihm sein? Und wie seid ihr so schnell zusammen gekommen?
Ein Aufruf machte mich darauf aufmerksam, dass mein Zug in fünf Minuten abfuhr. Schnell eilte ich zum Gleis und stieg nach oben. Zum Glück war es einer der neuen Züge, sie boten mehr Platz. Ich sah hinein und stellte erfreut fest, dass ich fast die einzige war. Vielleicht konnte ich mich schnell mit Darian unterhalten - wenn er noch da war.
Ich öffnete die Tür und setzte mich auf den Platz, der am weitesten von allen anderen entfernt war. Das Fenster war, wie das im Café, zu einem Spiegel geworden. Irgendwie erleichtert sah ich, dass sich Darian gegenüber von mir fallen ließ.
Wir sind euch nach gegangen. Luke war total sauer darüber. Das ist er sonst nie. Was ist passiert?
Ich runzelte die Stirn.
Wenn ich das nur wüsste…
Dann steckte ich mein Handy in die Hosentasche und konzentrierte mich auf die Spiegelung, die mich äußerst fasziniert anstarrte. Dann verengte er wieder die Augen.
„Warum machst du das immer?“, hauchte ich fast lautlos.
„Alte Angewohnheit…“
„Okay, ich stelle jetzt ein paar Fragen. Du beantwortest sie“, flüsterte ich eindringlich. Hab Vertrauen in dich selbst. Darian nickte und grinste.
„Wie lange willst du mich verfolgen?“
„Solange ich Lust dazu habe. Keine Sorge, ich werde dir immer ein Zeichen geben, wenn ich komme und gehe.“
Mir blieb die Luft weg, aber ich unterdrückte das Keuchen indem ich meine Lippen zu einem schmalen Strich presste. Hab Vertrauen in dich selbst.
„Was wirst du tun während ich schlafe?“
„Ich werde mich zu dir legen und dir eine Nacht bereiten, die du nie vergessen wirst“, sagte er vollkommen ernst.
Diesmal konnte ich das Keuchen nicht unterdrücken. Ich sprang beinahe auf. Dann sah ich aber den Schalk in Darians Gesicht und verengte meinerseits die Augen. „Total witzig. Hahaha.“
„War doch nur ein Scherz. Nein, ich denke, ich werde auch schlafen. Irgendwo.“
Ich nickte. In dem Moment fuhr der Zug los und ich war dankbar für die Maschinengeräusche.
„Was isst du?“
„Ich finde schon etwas, mach dir darum keine Sorgen, und auch nicht um die anderen Bedürfnisse.“
„Wieso verfolgst du mich?“ Vertrauen haben…
Darian blieb stumm. Ich wollte schon auffahren, da antwortete er: „Um die Prophezeiung zu erfüllen.“
„Welche Prophezeiung?“, ächzte ich. Hab Vertrauen in dich selbst.
„Die, die das Schicksal vieler erfüllen wird. Ich kann wirklich nicht mehr sagen, es…“
Ich schnitt ihm mit meiner Hand das Wort ab. Prophezeiung, Schicksal, Unsichtbarkeit, … das war nicht normal, das durfte es nicht geben. Er war ein Freak, niemand benutzte Worte wie Prophezeiung so mir nichts dir nichts. Hab Vertrauen in dich…
Ich sah ihn an, und wieder hatte ich das Gefühl, dass er Ausländer war, allerdings hatte ich nicht die leiseste Ahnung, wieso. Ein Verdacht keimte in mir auf, ließ mein Herz schneller pumpen, mein atmen flach werden, meine Hände feucht. Hab Vertrauen in…
„Darian. Woher kommst du?“
„Ihr seid nicht die einzigen, bei weitem nicht.“ Was meinte er? Hab Vertrauen…
„Darian!“
Er blickte mir tief in die Augen. „Von Nemurok.“ Mein Herz stotterte. Noch nie hatte ich von so etwas gehört. Hab…
„Wo ist das?“
„Nicht das. Der. Der Planet Nemurok liegt…“
Ich hörte nicht mehr zu, sondern klappte zusammen.

Die Schwärze wurde allumfassend.


… Habe kein Vertrauen in mich selbst…


3.

Ich erwachte mit pochendem Kopfweh, eine fremde Frau stand über mir, in der Nähe noch mehr Menschen. Wieso waren sie alle da? Was wollten sie?
Der Zug fuhr immer noch. Hoffentlich hatte ich meine Station nicht verpasst. Meine Zunge lag schwer in meinem Mund, meine Hände und Beine nutzlos. Was… Wo war er? Dieses Hirngespinst! Jetzt war ich tatsächlich in Ohnmacht gefallen, wegen so etwas. Das war… nicht normal. Ich sollte doch einen Psychiater aufsuchen.
Ich sah auf die Anzeige auf dem Display, der in der Mitte des Zugs hängte. Der nächste Halt war die Station, an der ich aussteigen musste! Ich sprang auf, wofür ich ein Stechen verspürte, bei dem ich mich am liebsten wieder auf den Boden gelegt hätte, aber ich blieb stehen.
„Müssen Sie hier aussteigen?“, fragte die Frau, die immer noch meinen Arm hielt. Sie schien nett zu sein, hatte volles, gelocktes, rotes Haar, grüne Augen und ein rundes Gesicht.
Ich nickte. „Wie lange war ich bewusstlos, was ist passiert?“, fragte ich ein wenig träge.
Während mich die Frau zur Tür führte, sagte sie: „Sie sind seit zehn Minuten bewusstlos gewesen, ich habe gesehen, wie Sie zu Boden gefallen sind. Kann ich noch irgendwie helfen? Jemanden anrufen? Mit Ihnen warten? Waren Sie überarbeitet?“ Wenn die wüsste, dass ich paranoid war…
Ich grinste. „Ich habe einfach nur einen aufregenden Tag hinter mir. Danke, Sie müssen nicht warten, meine Mutter kommt mich sowieso abholen.“
Der Zug hielt, die Türen öffneten sich und ich verabschiedete mich. Diese Dame war sehr nett. Vielleicht hatte sie selbst Kinder.
Als ich im Schnee stand und auf meine Mutter wartete, war ich die einzige. Sollte ich ihr von meinem Ohnmachtsanfall erzählen? Sollte ich ihr sagen, dass ich unter Verfolgungswahn litt? Ich seufzte.
Die Welt war dunkel und grau. Ein Wagen mit betrunkenen Jugendlichen fuhr vor. Ich versuchte mich in die Wand zu verwandeln, sie ja nicht auf mich aufmerksam zu machen. Angst hatte ich keine, aber es war trotzdem sehr unangenehm. Sie grölten. Da entdeckte mich einer von ihnen. Er ging gemächlich auf mich zu.
„Puppe, so spät darfste nich mehr hier draußen rumlaufen. Sonst kommen die bösen großen Jungs.“ Er lachte. Ich spürte eine Bewegung neben mir, aber ich sah nichts.
Langsam kamen auch die anderen. „Was’n mit dir? Kommt Daddy zu spät?“ Sie wieherten. Ich ignorierte sie. Einer gab mir einen Klaps auf den Kopf, was mir die Zornesröte ins Gesicht steigen ließ. Was bildeten sie sich ein?
Ein anderer kam näher, er kam mir bekannt vor, vielleicht war er aus meinem Dorf. Er ging im Kreis um mich herum und zog kurz an meinen Haaren. „Hey!“, rief ich und drehte mich um. Was sollte ich tun? Mein Handy herausholen? Um Hilfe rufen? Der, der mir bekannt vorkam blieb vor mir stehen und blies mir seinen vom Alkohol geschwängerten Atem ins Gesicht.
„Was machste so spät hier? Keine Zeit für kleine Puppen. Da kommen nämlich wir!“, gluckste er. Ich sah aber an seinem Gesichtsausdruck, dass er mich erkannt hatte, woher auch immer. Er hob seine Hand und klopfte mir wieder auf den Kopf, als er auf einmal zurückzuckte. Auch die anderen wichen weiter weg.
„Kommt, gehen wir, mit der macht’s eh keinen Spaß“, rief einer und fast fluchtartig gingen sie weg. Die Dunkelheit verschluckte sie.
Was hatte sie vertrieben? Kleine Flocken begannen vom Himmel zu tanzen. Sie waren kaum zu spüren und hinterließen auch keine Spuren. Wo war meine Mutter? Ich würde ihr besser nichts von all dem erzählen, was heute passiert war. Nicht von gerade eben, von meinem Zusammenbruch, von Luke oder von… Darian, dem Alien. Es musste mir wirklich schlecht gehen, wenn ich wegen einer eingebildeten Erscheinung umkippte. Prophezeiungen, pah! Vermutlich wachte ich morgen auf und alles war wie vorher. Ich spielte keine bedeutende Rolle für das Schicksal. Ich war einfach nur geisteskrank.
Ich seufzte und langsam wurde mir wieder kalt. Ich hatte keine Lust, in den Warteraum zu gehen, viel zu sehr beschäftigte mich die Frage, was die Idioten vertrieben hatte. Ich konnte es nicht gewesen sein. Besser stellte ich mir gar nicht vor, was sie mit mir vor gehabt hatten. Hatten sie Gewissensbisse? Nein, sie hatten eher erschrocken gewirkt. Was bitte schön war an mir Furcht erregend? Bestimmt nicht mein Aussehen. Auch nicht mein Geruch.
Ich spürte wieder eine Bewegung neben mir und wandte mich blitzschnell um. Aber da war niemand. Außer…
Ich vergewisserte mich, dass niemand da war. Dann flüsterte ich: „Darian, wenn das eines deiner Spielchen ist, unterlasse es!“
Aber niemand antwortete. Ganz so hirnverbrannt war ich vielleicht doch nicht.
Da fuhr endlich meine Mutter vor. Ich öffnete die Autotür des altersschwachen roten Mazda und setzte mich neben sie.
Sie ließ mich gar nicht zu Wort kommen. „Tut mir Leid, dass ich so spät bin, Schatz, aber ich hab Nudeln gekocht und hab die Zeit vergessen… Wie war dein Tag?“
Ehrlich Mum? Willst du das wirklich wissen? Oder fragst du das einfach, aus der Routine heraus? Die Wahrheit ist: Mein Tag war beschissen. Schule war ganz okay, aber seit Chemie habe ich auf einmal diese Wahnvorstellungen von einem süßen Jungen, der sich unsichtbar machen kann und mich verfolgt. Ach ja, er ist ein Alien und kommt von Nemurok, dass ist ein Planet ganz weit weg. Er verfolgt mich damit sich irgendeine Prophezeiung erfüllen kann, außerdem bin ich im Zug wegen ihm zusammengeklappt. Und er trägt keine Schuhe. Im Winter! Das kann ich niemandem erzählen! Außerdem wäre da noch die Sache mit Luke, ja genau dem Trottel den ich hasse, genauso wie er mich hasst. Ich muss jetzt so tun als ob ich seine Freundin wäre, damit er nicht von der Schule fliegt, ich muss in küssen und so tun als würde ich ihn gern haben, aber das tue ich nicht. Das kann ich auch nicht loswerden! Als nächstes… der Chemie Professor Lockman hat mir erzählt, dass er die Schule verlässt und außerdem hat er sich mit ein paar ganz tollen Sprüchen wie „Du musst Vertrauen haben. In dich selbst“ in mein Gehirn eingebrannt. Und fast hätt’ ich’s vergessen, gerade eben hier war ne Gruppe Besoffener die nur aus Angst gegangen sind, aber ich hab keine Ahnung wovor sie Angst hatten. Ich muss zum Psychiater, ob es dir gefällt oder nicht Mum, deine tolle Tochter ist nicht ganz richtig im Kopf und hat gerade mehr in den Gedanken, als eigentlich drin sein können sollte. Am liebsten würde ich jetzt heulen und im Bett liegen, damit du mich pflegen kannst wie damals, als ich noch klein war. Wobei warte, nein. Ich will keine Mitleid, ich will nur, dass alles, was mir gerade Sorgen macht, sich in Luft auflöst und für immer verschwindet. Das wär’s. Und wie war dein Tag?
„Ach, mein Tag war nichts Besonderes. Ich muss dann nur noch Mathe fertig machen. Und deiner?“, antwortete ich.
Sie seufzte. „Die Arbeit macht mich fertig! Mein Chef ist ein arrogantes Arschloch, das anscheinend nichts besseres zu tun hat, als auf jeden Mitarbeiter einzuhacken, der auch nur den kleinen Zeh ein wenig zu sehr hebt. Se froh, dass du noch nicht erwachsen bist. Da fangen die Probleme erst so richtig an.“
Danach schwiegen wir. Ich genoss die Nähe meiner Mutter, und umso mehr schmerzte es mich, dass es nichts von all dem gab, das mich belastete, das ich ihr erzählen konnte. Meine Mutter sah mir überhaupt nicht ähnlich, aber wir hatten den gleichen Dickschädel. Sie war von drahtiger Statur und hatte kleine, schwarze Ringellocken, die ihr bis zur Taille reichten, ein ovales Gesicht, das keine Sommersprossen besaß und immer gebräunt zu sein schien. Sie hatte grüne Augen, die aber eher klein waren. Außerdem trug sie meist nur Grün, Schwarz oder Braun, ob Kleidung oder Schuhe.
Nach zehn Minuten kamen wir zu unserem Zuhause. Die Lichter im Wohnzimmer brannten, also waren entweder Jenna oder Felix, oder auch beide im Haus. Das Haus war genau genommen eine der sechs Wohnungen in dem Gebäude, aber Mum sagte immer: Erst wenn es nicht mehr ebenerdig ist, ist es eine Wohnung. Also… Das Haus war in einem sonnigen Gelb gestrichen, die Fenster groß und immer sauber. Wir hatten ein großes Wohnzimmer mit modernen Möbeln, vier Schlafzimmer, eine Küche und ein Bad. Außerdem ein Vorzimmer und den Gang, dann noch ein kleiner Raum im Gemeinschaftskeller und ein kleines WC. Es war eine große Wohnung, aber für eine allein erziehende Mutter, einen achtzehn jährigen Sohn, eine fast fünfzehn jährige Tochter, eine neun jährige Besserwisserin (Tochter), zwei Schildkröten, ein Aquarium mit zehntausend Fischen, drei weiße Mäuse, zwei Papageien und eine Ratte war das gerade genug Platz, um nicht zu ersticken. Mein Vater verließ uns, als er mit seinem Auto zur Arbeit fahren wollte und dabei mit einem betrunkenen Lenker zusammen stieß. Ich frage mich oft, warum mein Vater starb und dieser verantwortungslose Alkoholiker lebte. Dies geschah vor acht Jahren, Jenna konnte die Situation nicht einschätzen, da sie ihren Vater nicht gekannt hatte und meine Mutter musste seitdem ganztags arbeiten.
Ich lenkte meine Gedanken zurück zur Wohnung, die ich gerade betrat. Ich hängte meine Jacke zu den anderen und folgte meiner Mutter ins Wohnzimmer, wo wir auch immer aßen. Jenna fütterte gerade die Fische, und Felix, einen der Papageien auf der Schulter, putzte die Küche sauber. Meine Ratte Jack kletterte meine Jeans hinauf, als ich mich setzte und einen Berg Spaghetti in mich hinein löffelte. Währendessen erfuhr ich vom Tag der anderen. Jenna hatte einen Test zurückbekommen (volle Punktezahl) und Felix hatte sich von seiner nichtsnutzigen Freundin getrennt.
„Wurde auch Zeit“, nuschelte ich in mich hinein, dafür bekam ich einen strafenden Blick meiner Mutter. Ich beeilte mich, mit dem Essen fertig zu werden, dann ging ich mein Zimmer um die noch ausstehenden Hausübungen zu machen. Jack, Molly und Gangster folgten mir. Jack, meine Ratte, legte sich auf seinen gewohnten Platz am Fensterbrett, Gangster, der Papagei flog zu meiner Schreibtischlampe und ließ sich dort nieder, Molly, die Schildkröte zog sich zu meinem Bett, zu dem ich eine Rampe gebaut hatte, zurück.
Das Aquarium und die drei Mäuse gehörten meiner Schwester, der andere Papagei und die andere Schildkröte folgten meinem Bruder. Meine Mutter hatte, was sie aber abstritt, eine Schwäche für Tiere, die ausgesetzt wurden. Sollte mich nicht stören.
Während ich mich durch die Aufgaben quälte, bildete ich mir ein, beobachtet zu werden, aber das absurd. Natürlich fühlte man sich nicht allein, wenn drei Tiere fast auf einem draufhockten.
Das einzige Fenster, das es gab, befand sich über meinem Schreibtisch und zeigte auf den kleinen Park hinter dem Wohngebäude. Mein Zimmer hatte blaue Wände und dunkle Möbel. Die Wände waren nicht mit Postern zugekleistert, sondern mit Fotos, die ich gemacht hatte, als ich glücklich war. Ein Teich, ein Frosch, die Sonne, Wolken, Bäume, Wiesen,… natürlich meine Familie und Freunde. Das einzige, was man hier nicht finden würde, waren Pornos und Selbstportraits.
Die Zahlen vor meinen Augen tanzten. Da spürte ich auf einmal einen Luftzug, er war zu schwach für eine Bewegung eines Tieres und die Tür war nicht geöffnet worden. Ich schüttelte den Kopf als ich an Darian dachte (ich war vielleicht geschädigt), als ich seine Stimme direkt hinter mir hörte und sein Atem an meinem Hals strich. Ich fiel fast vom Sessel und stieß einen Laut der Überraschung aus, den ich noch nie von mir gegeben hatte.
„Du musst da eine Klammer setzen.“
Ich fasste mich. „Du bist eine Einbildung, du existierst gar nicht“, sprach ich zu ihm. Dann drehte ich mich um. Natürlich war er nicht da. Aber ich spürte doch die Wärme, die von seinem Körper ausging… Nein. Das war eine Einbildung.
Ich wandte mich mit seltsamer Unruhe meinen Rechnungen zu und kontrollierte seine Aussage. Tatsächlich fehlte hier eine Klammer. Damit waren meine Aufgaben beendet. Ich schloss mein Heft und warf es in den Rucksack, ich fand diese Umhängetaschen nicht so toll, dann ging ich ins Wohnzimmer und sah mich nach Salat für Molly um. Anscheinend befand sich die ganze Familie Dolsen in ihren Zimmern, denn hier war niemand. Ich linste zu Jennas Tür herein und musste lächeln, als ich sah, dass wieder versuchte, ihren Mäusen Kunststücke beizubringen. Bei Felix’ Zimmer musste ich klopfen, hier durfte niemand einfach die Tür aufreißen. Übelgelaunt erschien er.
„Was?“
„Hast du Salat für Molly?“
Wortlos reichte er mir ein bisschen etwas und knallte die Tür vor meiner Nase zu. „Besten Dank auch!“, rief ich wütend und stapfte in mein Zimmer. An der Tür meiner Mutter lauschte ich kurz, aber sie telefonierte gerade, und das war wirklich nicht spannend.
Ich hockte mich auf mein Bett, gab Molly den Salat und sah ihr eine Weile beim Fressen zu, bis ich bemerkte, dass Gangster und Jack nicht wie sonst um Futter bettelten, sondern erstarrt dasaßen. Das taten sie sonst nur, wenn jemand, dessen Geruch sie nicht kannten, im Zimmer war. Ich schloss die Augen. Nein. Darian existiert nicht. Es war beunruhigend, dass mein Gehirn so komplex war, die Wahnvorstellungen nicht nur auf unsichtbare Menschen zu beschränken, sondern auch Tiere Dinge tun zu lassen, die sonst nicht passieren würden. Ich beschloss, mich ins Bett zu legen und zu lesen, bis ich schlafen musste, aber aus irgendeinem Grund war es mir unangenehm, mich in meinem Zimmer umzuziehen, obwohl die Tür nur angelehnt und die Jalousien heruntergelassen waren.
Ich presste meine Lippen zusammen. Was sollte ich gewinnen lassen? Meine Wahnvorstellungen oder die Logik? Ich entschied mich für die Wahnvorstellungen und verschwand mit meiner Jogginghose und einem ärmellosen Shirt im Bad, um mich umzuziehen und meine Zähne zu putzen.
Ich verriegelte die Tür und schlüpfte schnell in die anderen Sachen, dann schminkte ich meine Augen ab und band meine Haare zu einem Pferdeschwanz. Ich putzte Zähne, trug meine Creme gegen Akne auf, die zum Glück unsichtbar war, und warf einen letzten Kontrollblick in den Spiegel. Wieso eigentlich? In meinem Zimmer wartete niemand auf mich. Niemand.
Ich klopfte an Mums Schlafzimmertür und rief: „Gute Nacht, Mum!“
Dann betrat ich Jennas Raum. Jenna lag schon brav im Bett, die Mäuse im Käfig, das Licht des Aquariums gedämmt. Ich drückte ihr einen Kuss auf die Stirn, sie umarmte mich, dann machte ich mich auf den Weg zu der Tür meines Bruders, schlug die Hand gegen das Holz und rief „Nacht!“.
Als ich wieder im Bett lag, die Tiere im Wohnzimmer, war das abendliche Ritual beendet und ich knipste meine Nachttischlampe an, um mein Buch zu lesen.
Nach ein paar Minuten gab ich es auf. Ich konnte mich einfach nicht konzentrieren. Wie auch, wenn ich das Gefühl hatte beobachtet zu werden? Müde stöhnte ich und legte das Buch weg, dann machte ich da Licht aus und lehnte mich zurück. Ich wünschte, ich könnte irgendjemandem von meinen Sorgen berichten, nicht nur Darian, der mir übrigens langsam Angst machte, sondern auch von Luke. Lukes Kuss… hatte etwas in mir angerührt, oder eigentlich viel mehr die Geste danach, als er meine Wange gestreichelt hatte. Warum hatte er so verwirrt ausgesehen? Warum war er wütend auf seine Freunde, als sie ihm nachgeschlichen waren?
Ich gähnte und ließ meine Gedanken schweifen. Es ärgerte mich, dass sie zu Darians Augen wanderten. Doch ich war zu müde, um sie aufhalten zu wollen. Ich war zu schwach, um meine Gedanken im Zaun zu halten. Aber noch bevor ich einschlief, hatte ich das Gefühl, dass jemand über mein Haar strich.

Mein Radiowecker riss mich aus dem Schlaf. Draußen war es noch dunkel und als meine Füße den nackten Fußboden berührten, war mir eiskalt. Bibbernd schnappte ich wahllos in meinen Kleiderschrank und riss ein bequemes Shirt und eine schwarze Jeans heraus. Was man in meinem Schrank nicht finden würde, waren Röcke. Wenn es etwas gab, dass ich hasste, waren es Röcke. Abwesend zog ich mich im Zimmer um, tappte ins Bad und vollzog mein „Wasch- Schmink- Nicht wie aus dem Bett kommend“ – Ritual. Ich stürzte meinen Kakao herunter, kümmerte mich um Molly, Gangster und Jack und packte meinen Rucksack. Jenna kam gerade aus dem Bad (sie durfte länger schlafen, denn sie hatte erst später Schule), Felix schlüpfte in seine Lederjacke und stellte sich griesgrämig neben mich. Mum wuselte zwischen Küche und ihrem Zimmer umher, dann hatte sie sich endlich vorzeigbar gemacht und scheuchte mich und meinen Bruder aus der Tür hinaus. War man mit achtzehn immer so schlecht drauf? Dann wollte ich lieber die achtzehn überspringen…
Wir eilten ins Auto und fuhren in halsbrecherischem Tempo zum Bahnhof. Mum streichelte zum Abschied meine Schulter, bei Felix machte sie das schon lange nicht mehr (sonst würde er sie beißen, glaub ich…).
Schweigend stiegen wir aus und trennten uns am Bahnsteig dort, wo der große Kirschbaum stand. Felix ging weiter zu seinen Freunden und gemeinsam rauchten sie eine Runde. Ich stand allein, jeden Tag ein wenig weiter vom Baum entfernt. Seit drei Jahren stand ich hier jeden Tag ohne Gesellschaft. Seit drei Jahren bog Felix immer zu seinen Freunden ab, während ich ihm nur nachsehen konnte. Ich erinnerte mich daran, wie traurig ich gewesen war, als mein großer Bruder eines Tages nicht mehr bei dem Baum stehen blieb, sondern mir einen Blick zu warf und dann ging.
Aber zum ersten Mal seit langem fühlte ich mich nicht einsam. Wieso? Ich spürte die Anwesenheit eines Körpers, aber selbst, als ich mich umsah, stand niemand nah genug. Kurz war ich dankbar für meine Fantasie, die Darian erschaffen hatte.
Da fuhr der Zug ein. Ich stapfte durch den Schnee, der über Nacht gefallen war, und setzte mich wieder so, dass möglichst wenig Menschen in der Nähe waren. Es war immer noch dunkel draußen, nur ein schmaler, heller Streifen machte auf den Umstand aufmerksam, dass es sieben Uhr morgens war.
Der Himmel war klar, heute also vielleicht kein Schneefall. Einige aus meiner Schulstufe setzten sich in die Nähe, ließen mich aber in Ruhe. Ich starrte geistesabwesend nach draußen, als ich bemerkte, dass mich zwei wunderschöne blaue Augen, von denen ich geträumt hatte, ansahen. Natürlich nur in der Spiegelung.
„Morgen, Lex“, flüsterte Darian und lächelte.
Ich schüttelte den Kopf. Er ist nicht da. Er ist nicht da.
„Willst du nicht mit mir reden? Vielleicht besser so, immerhin bist du gestern ja in Ohnmacht gefallen. Ich hätte zuerst mit etwas einfacherem anfangen sollen. Mhmmm…“, ratterte er in einem Tempo herunter, das ich bei einem Jungen nicht erwartet hatte. Ich schwieg. Es war wirklich peinlich, mit einer Wahnvorstellung einen so schönen Traum gehabt zu haben. Das ich ihn gestern im Café so neugierig angefasst hatte, kam mir auf einmal unwirklich vor. Ich ignorierte Darian, der mich jetzt einfach nur wieder aus verengten Augen ansah. Wie sehr hatte ich mir doch gewünscht, mit ihm zu sprechen. Bitte sehr, jetzt hatte ich die Möglichkeit dazu. Aber ich nutzte sie nicht. Das einzige, das ich sagte war: „Mit Wahnvorstellungen spricht man nicht.“
Dann wandte ich mich meinem Handy zu. Drei neue Mitteilungen, zwei von gestern, eine von heute. Die älteste war von Mariella:
Schatziii, tut mir wirklich Leid wegen heute. Wir können doch morgen auf den Hauptplatz schauen, meinetwegen mit Luke. Sehen uns. Lieb dich. <3
Die zweite war von Jake und ich runzelte die Stirn, als ich sie las.
Luke ist nicht mehr normal. Du bist schuld.
Die letzte Nachricht war noch einmal von Jake, ebenso rätselhaft, mit genauso wenig Information.
Sprich mit niemandem darüber.
Meine Finger waren mir zu gut, um jetzt eine SMS an ihn zu verschwenden. Ich starrte auf den blau werdenden Himmel und auf Darian. Als er bemerkte, dass ich ihn ansah, lächelte er. „Weißt du, dass du manchmal im Schlaf sprichst?“
Ich lief rot an, nickte aber. Meine Schwester und meine Mutter zogen mich damit immer auf. Hoffentlich hatte ich nichts allzu peinliches gesagt. Zum Glück war er nur Einbildung.
„Recht interessante Sachen hast du gesagt“, schnurrte Darian und ich sah ihn an, nicht in der Spiegelung, die immer schwächer wurde, sondern in Wirklichkeit, da, wo ich seine Augen vermutete. Ich spürte die Hitze in meinen Wangen. Ich rang mich doch zu einer Antwort, die er mit seinem Schweigen ganz offensichtlich erzeugen wollte, ab. „Ach ja?“, zischte ich. „Was hab ich denn so Tolles gesagt?“
Kurz blickte ich in die geisterhafte Spiegelung und stellte fest, dass er mich vollkommen ernst ansah.
„Du vermisst deinen Vater und deinen Bruder, Felix, du hast Angst vor der Dunkelheit, du sorgst dich um deine Schwester und deine Mutter. Du bist verzweifelt, weil du jemanden brauchst, dem du alles erzählen kannst. Du hast auch von Luke gesprochen, dann ihn, Jake und Oliver fertiggemacht. Ähm, meinen Namen hast du auch ein paar mal gesagt.“
Die Spiegelung verschwand, als helle, weiße Sonnenstrahlen in den Zug blinzelten. Fand Darian das witzig? Dass ich meinen Vater und meinen Bruder vermisste war verständlich. Ich wollte meinen alten Bruder wieder zurück, der abends, bevor ich immer eingeschlafen war, zu mir gekommen war und mir eine Gute Nacht gewünscht hatte. Ich wollte einen Felix, der sich um seine Mitmenschen sorgte und sich nicht die ganze Zeit in sein Zimmer zurückzog. Und zu der Sache mit der Dunkelheit musste ich zu meiner Verteidigung sagen, dass ich einmal mitten in der Nacht aufgewacht war, während alle Familienmitglieder fest schliefen, und draußen vor meinem Fenster seltsame Gestalten ihr Unwesen getrieben hatten. Bis heute wusste ich nicht, was das draußen wirklich gewesen war. Aber egal. Angesichts meines Traums mit Darian, der der einzige war, an den ich mich erinnern konnte, war ich neugierig aber auch peinlich berührt, was ich sonst noch zu seinem Namen gesagt hatte.
„Was habe ich noch gesagt? Wie oft hab ich deinen Namen gesagt?“, wisperte ich.
Kurze Zeit antwortete Darian nicht, dann sprach er aber leise: „Du hast gesagt, dass ich weggehen soll. Aber später, hast du mich ganz oft gerufen, ich glaube fast eine halbe Stunde lang, bis deine Stimme meinen Namen ruhig ausgesprochen hat. Dann hast du geseufzt und dich von der Wand weggedreht.“ Er machte ein kurze Pause und sagte leiser als bisher: „Dann hast du meinen Namen geflüstert.“
Ich schluckte. Meine Wangen waren heiß. Ich drehte meinen Kopf zum Fenster und versuchte mein Gesicht hinter meinen Haaren zu verbergen. Ich dachte alles nochmals durch, bis mir etwas auffiel. Wutentbrannte Hitze schoss durch meine Adern. Fast schrie ich, doch ich legte meine ganze Wut in meine Hände, wo ich meine Fingernägel fest in meine Handflächen grub.
„Was, verdammt noch einmal, hast du die ganze Nacht lang getan?“, fauchte ich leise. Jemand in der Nähe sah mich an, und ich tat, als würde ich husten.
Darian gab keine Antwort.
„Ich wiederhole mich nur ungern!“ Meine Augen wurden schmale Schlitze. Woher wusste er das alles?! Um das alles zu wissen, hätte er die ganze Nacht neben mir verbringen müssen! Hatte er das etwa?! Scham überkam mich und ich drückte meine Handflächen fester. Meine Muskeln verkrampften sich. Er ist sowieso nur eine Einbildung… nur ein Produkt meiner Fantasie… nicht existent… Aber allein der Gedanke, dass irgendjemand die Nacht in meinem Zimmer, wohlmöglich neben meinem Bett, vielleicht sogar IN MEINEM BETT verbracht hatte, regte mich furchtbar auf. Ich drückte noch fester in meine Handflächen, meine Knöchel traten weiß hervor. Auf einmal schoss ein scharfer Schmerz durch meine Hände und ich spürte flüssige Wärme. Ich richtete meinen Blick auf meine Handflächen und holte tief Luft. Zum Glück hatte ich kein Problem mit Blut, denn aus insgesamt drei Sicheln trat die rote Lebensnotwendigkeit aus. Und nochmals zum Glück hatte niemand bemerkt, dass ich mir soeben mit meinen Fingernägeln Wunden zugefügt hatte.
Es brannte, als ich Taschentücher darauf legte. Aus Wut, Schmerz, Scham und Ärger (alle vier auf einmal waren einfach zu viel) stahlen sich Tränen in meine Augenwinkel. Sollte ich warten, bis der Zug stoppte? Oder sollte ich schnell zur kleinen Zugtoilette laufen?
Eine warme, unsichtbare Hand nahm mir die Entscheidung ab. Kurz zögerte ich, Darian wegzustoßen oder ihn zu treten, was sicher ein Volltreffer gewesen wäre, denn ich vermutete, dass er vor mir hockte, aber dann entschied ich mich dagegen. Darian legte seine Finger auf meine Handflächen. Zum Glück war er unsichtbar. Und reine Einbildung. Ich konnte ihn nicht sehen, aber ich spürte seine Körperwärme und roch seinen Körpergeruch. Das erste, das mir in den Sinn kam, war Zimt, aber sicher konnte ich nicht sein. Fast roch es süßer und leichter… besser…Was dachte ich da?!
Seine Finger brannten auf meinen Wunden aber ich biss die Zähne zusammen. Wenig später wurde ich belohnt, als sich angenehme Kühle auszubreiten schien. Dann passierte etwas Unglaubliches. Fast wäre ich überrascht aufgesprungen oder hätte etwas gesagt. Doch ich hielt still, weil es ein zu großer Schock war, dabei zuzusehen, wie sich die Sicheln schlossen und meine Haut unversehrt zurückblieb. Sollten Vorstellungen, aus Paranoia erschaffen, so etwas können? Nein. Ganz sicher nicht. Wenn noch nicht einmal die besten Mediziner so etwas beherrschten.
Ich durchdachte den gestrigen Tag, während ich aus dem Fenster starrte. Da wurde mir mit der Wucht einer Abrissbirne etwas klar, das mir ein erschrockenes Aufkeuchen entlockte. Darian. War. Echt. Seine Spuren im Schnee. Seine unsichtbare, aber berührbare Hand. Das in Ohnmacht fallen. Die Jugendlichen, die aus Angst geflohen waren. Meine Haustiere. Seine Worte. Seine Wärme. Sein Geruch. Seine Heilkräfte. Darian. War. Echt!
Hier, vor mir kniend ein Alien von Nemurok. Ein echter Außerirdischer! Wie absolut unglaublich! Wie Angst einflößend! Hieß es in den meisten Filmen nicht, dass die Aliens kamen, um zu morden? War ich etwa das erste Opfer?!
Aber wieso verarztete er mich dann?
Wieso hatte er mich vor den Betrunkenen beschützt?
Ich atmete tief ein. Alles erst einmal vom positiven Standpunkt aus betrachten. Aber zu allererst musste ich noch seine Meinung einfangen. Seltsam, das mein Gehirn da mitspielte…
Und ich musste ihn ausfragen! Woher er kam, wie es dort war, wie er hierher gekommen war, wieso, und so weiter und weiter und weiter. Man, war ich aufgeregt! Meine Haut kribbelte vor Aufregung. Ich bin mir sicher, dass ich auf und ab gesprungen wäre, säße ich nicht in einem Zug. Aber ich hatte auch Angst. Irgendwie, auch wenn ich genug Beweise für das Gegenteil erhalten hatte, glaubte ich, dass ich wirklich hirngestört war. Aber irgendwie war das hier auch verdammt real. Und das machte mir ebenso Angst wie ein flaues Gefühl der Aufregung im Magen.
„Darian“, bekam ich erstickt heraus. „Darian, du bist…“ Wie sprach man einen Alien darauf an, dass er ein Alien war? Ich konnte seinen neugierigen Blick aus diesen wunderschönen blauen Augen auf meinem Gesicht spüren.
„Ja?“
„Du… du… du…“, stotterte ich.
„Ich… ich… ich?“, sagte er leise, und ich war mir sicher ein Lachen herauszuhören.
„Alien“, platzte es aus mir heraus, glücklicherweise fast lautlos. Ich hatte auf einmal Angst vor seiner Reaktion.
Er drückte meine Hand kurz fester und ließ sie dann los.
„Ja, Lex.“ Er machte eine Pause. Dann sprach er mit ruhiger Stimme. „Ich erklär’ es dir dann, wenn wir uns ungestört unterhalten können. Ich weiß, dass du Angst hast und vor Neugierde brennst, ich kann es fühlen. Aber ich verspreche, du bekommst deine Antworten. Bitte hab keine Angst“, flüsterte er leise, ganz nah bei meinem Ohr. Ich wich ein wenig aus. Ein Alien!!!
Mein Herz pochte vor Aufregung. Er tut mir nichts… Er will mir alles erklären…
Aber Moment. Wenn alles wahr war, dann… was war mit der Prophezeiung? Und… wenn er die ganze Zeit wirklich da gewesen war… hatte er mich dann heute Morgen beobachtet, als ich mich gedankenlos umgezogen hatte?! Und hatte er mich die ganze Nacht lang betrachtet?
Wie hatte er die Jugendlichen vertrieben? Hatte er ihnen sein wahres Gesicht gezeigt, und seine Spiegelungen waren nur Tarnung? Und was hatte Prof. Lockman damit zu tun? Seine Worte klangen wie ein Warnung in meinen Ohren nach.
Hilfe.

Der Zug bremste und fuhr in die Station ein. Die Schüler und Erwachsenen gingen hinaus, mit ihren Sorgen, ihren Wünschen, dabei wussten sie nichts von dem Jungen, der dabei stand und alles eingehend betrachtete. Wie das alles wohl für ihn aussah?
Ich ging schweigend die Treppen zur Eingangshalle hinunter. Der Boden war spiegelglatt von dem vielen geschmolzenem Schnee, ich ging langsam, um mich aufrecht zu halten. Es war mir egal, dass ich vermutlich zu spät in die Schule kommen würde. Momentan war mir alles egal. Meine ganze Aufmerksamkeit galt Darian. Wo war er gerade? Was dachte er?
Kurz passte ich nicht auf und rutschte aus. Bevor ich vollends das Gleichgewicht verlieren konnte, packten mich von hinten zwei Arme und zogen mich wieder hoch. Ich spürte die Wärme und roch den Zimt. Sofort war mir klar, wo Darian war und ich wusste auch zirka, was er sich dachte. Er ging hinter mir her und behielt mich im Auge, damit ich keinen Hechtsprung hinlegte. Und dachte sich vermutlich, wie tollpatschig die Menschheit- insbesondere ich- war. Ich erlaubte mir ein Lächeln und ging die Stufen nach oben.
Alle eilten und rannten, und ignorierten dabei mich, während ich langsam Richtung Park schlenderte. Es gab viele Wege zur Schule, der durchs Grüne war der Längste, Stillste und Schönste.
Ich hatte nicht vor, Schule zu schwänzen, ich wollte einfach nur kurz Zeit haben, um meine Neugierde wenigstens ein bisschen zu stillen.
Unauffällig sah ich mich um. Wir waren allein, bis auf eine alte Frau, die langsam am anderen Ende des Parks einen kleinen Hund spazieren führte.
„Warum musst du dich nicht so beeilen?“, fragte Darians Stimme neben mir, total unerwartet.
Ich versuchte ihn anzusehen. Was natürlich nicht gelang, also sah ich auf den Boden, der vom Schnee geräumt worden war.
„Ich muss dir vor der Schule noch unbedingt ein paar Fragen stellen.“
Ich hörte ihn unterdrückt lachen. Was war so lustig? Ich fragte es laut. Oder eben leise, aber nicht nur flüsternd.
Darian antwortete mit einem unsichtbaren Schulterzucken, dass ich aber fast spüren konnte.
„Dein Verhalten.“
Ich verdrehte die Augen, aber ich zwang mich zur Konzentration. Das neben mir war ein Außerirdischer. Oh mein Gott. Was sollte ich nur zuerst fragen?!
„Das, was ich von dir in den Spiegelungen gesehen hab… ist das deine echte Gestalt?“, fragte ich mit bebender Stimme. Ich zweifelte nicht daran, dass er ein Alien war. Niemand auf er ganzen Welt konnte sich unsichtbar machen.
„Das ist in etwa meine echte Erscheinungsform. Wir unterscheiden uns nicht gravierend von den Menschen. Ich meine, wir haben auch auf unserem Planeten Menschen also…“, erzählte er, als hielte einen Vortrag darüber, dass man Kunststoff nicht essen kann. Okay, er sah also auch anders aus.
„Was ist anders? Kann ich das mal sehen?“, fragte ich und hüpfte vor Aufregung nun wirklich einmal kurz. Man, war ich vielleicht peinlich.
„Keine Sorge, du siehst das schon noch früh genug“, antwortete Darian mit einer seltsamen Kälte in der Stimme. Wie Trauer, oder Bedauern… oder Schuldgefühle…
„Wir haben auch andere… Fähigkeiten,“ unterbrach er meine Gedanken, bei denen sich mein Magen noch mehr verknotete.
„Was denn für welche?“, fragte ich leise.
Ich hörte ihn leise lachen. Ich spürte, dass er etwas mit mir machte. Mein Körper wurde schwer und träge. Vor meinen Augen verzog sich das Bild und ich musste blinzeln, weil sich Müdigkeit wie Blei auf meine Augenlieder legte. Ich gähnte und taumelte. Meine Gedanken wurden… langsam… ich wollte nur noch ins Bett…
Genauso schnell wie die Müdigkeit gekommen war, verschwand sie wieder.
„Mach das ja nie wieder!“, fauchte ich und ging ein wenig schneller.
Darian lachte nur. „Ich kann noch einige andere Dinge. Hier würdest du es wohl als Magie bezeichnen.“
Mir blieb die Luft weg. Toll, gaaanz toll. Ich hoffte, er benutzte seine… Fähigkeiten nicht mal gegen mich. Mir schossen Bilder von Harry Potter und etlichen anderen Filmen (schon klar, das war überhaupt nicht wahr) durch den Kopf, in denen Magie angewandt wurde. Diese fiesen Flüche und Sprüche, bei denen es den betroffenen Personen dann immer ganz schlecht ging… Brrr.
„Okay, nächste Frage: Was machst du, während ich im Unterricht hocke?“, lenkte ich mich selbst ab. Unbewusst war ich schneller gegangen und betrat bereits den harten Betonboden des Gehsteigs. Er war spiegelglatt. Mit atemberaubender Präzision trat ich auf eine besonders rutschige Stelle und verlor mit absolut unglaublicher Tollpatschigkeit mein Gleichgewicht. Schon wieder. Und nochmals fing Darian mich auf und half mir, mich wieder halbwegs sicher hinzustellen, ohne, dass ich mir im nächsten Moment die Nase brach.
„Ähm, danke“, sagte ich und registrierte, während ich rot wurde, dass Darian lachte.
Endlich, als er sich wieder beruhigt hatte, antwortete er.
„Ich plane, wie ich die Weltherrschaft übernehmen kann und es meinen Freunden ermöglichen kann, ebenfalls auf die Erde zu kommen. Die Menschheit wird versklavt, wir zerstören den Planeten und leben als Parasiten von euren Ressourcen und so weiter…,“ sagte er ganz beiläufig. Aber mein Herz begann zu rasen.
Ich keuchte auf und prallte von ihm weg. Ich hatte es gewusst! Meine Güte! Ich musste so schnell wie möglich weg! Ich musste… alle warnen! Hilfe! Wohin sollte ich gehen? Die Schule war um die Ecke, aber doch noch zu weit weg… Kein einziger Mensch befand sich auf der Straße! Arrrgh! Okay, dann musste ich einfach laufen und mich so weit wie möglich von diesem Alien entfernen…
Ich hätte mir nicht zugetraut, so schnell weg zu sprinten, aber ich hatte eben gerade einen Adrenalinstoß. Mit meiner Tasche auf dem Rücken und der dicken Winterjacke war das Laufen nicht sonderlich erfreulich, aber es funktionierte. Ich lief und lief und lief und hatte wirklich Hoffnung, die Schule erreichen zu können! Ich konzentrierte mich darauf, auf keine vereisten Stellen zu treten und schaffte es sogar erstaunlicherweise. Wo war wohl der Alien? Verfolgte er mich?
Wie gesagt, ich konzentrierte mich auf das Eis und lief und lief und lief… und wurde gestoppt…
Ich wollte schreien und kratzen und beißen, aber Darian wandte seine Magie an und machte meinen Körper bewegungsunfähig. Ich wäre umgefallen, wenn er mich nicht aufgefangen und zu Boden gelassen hätte. Da saß ich nun am Boden, mit Todesangst vor einem Alien, der seinen Plan die Weltherrschaft zu übernehmen gerade mir erzählt hatte (warum erzählten mir überhaupt alle irgendwas? Darian, Prof. Lockman, Luke…) und fror mir den Arsch ab.
Irgendwie hatte ich das unbestimmte Gefühl, dass Darian neben mir kniete (ach ja, und dass ich schreien, schreien, SCHREIEN wollte, es aber nicht konnte). Auf einmal spürte ich, dass seine Hand mir auf die Schulter griff. Was wollte er? Mir meine Lebensenergie aussaugen?
Aber seine Hand war leicht und warm. Irgendwie wurde mir am ganzen Körper wärmer und eine seltsame Ruhe ergriff von mir Besitz. Sicher war er das, aber…
„Hör mir zu Lex, das war nur ein Witz. Ich will nicht die Weltherrschaft übernehmen oder irgendetwas von dem Blödsinn tun, okay? Es war nur ein Scherz. Beruhige dich. Ich verspreche dir, dass ich dir oder irgendjemandem nichts tun will. Okay?“, flüsterte er eindringlich.
Ich spürte, dass die Ruhe von mir abfiel und dass ich mich wieder frei bewegen konnte. Sofort wurden meine Wangen heiß. Ich musste rot wie eine Tomate sein. Trotzig schüttelte ich Darians Hand ab und sagte kalt, um gewissen Stolz zu wahren: „Fass mich nie wieder ohne Erlaubnis an. Ach ja, und spar dir deine Scherze.“
Ich zweifelte keineswegs an seinem zweiten Geständnis, dem wahren Geständnis. Aber ich war so sauer. Ich war sauer auf ihn, weil ich wütend auf mich war, dass ich, wie ein dummes Kleinkind, seinen Worten sofort Glauben geschenkt hatte. Natürlich war das nur ein Scherz gewesen.
Trotzig stapfte ich weiter. Der Tag fing ja wirklich super an. Wenigstens wurde meine Neugierde ein wenig von meiner Wut gedämpft. Warum nur musste sich der Alien mir zeigen? Konnte ich nicht einfach ein ganz normaler Teenager mit ganz normalen Teenager Problemen sein? Und zu allem Übel kam ich auch noch zu spät zu Zeichnen, einem Fach, das ich wirklich gern hatte.
Ich bog um eine Ecke und konnte nun meine Schule sehen. Es war ein älteres Gebäude, das stetig zu wachsen schien, je öfter ich hierher kam. Die Fassade war von einem verwischten Hellblau, und zahlreiche Bäume standen auf einem kleinen Wiesenabschnitt. Obwohl ich es nicht gerne zugab, liebte ich diese Schule mit den vielen verwinkelten Gängen, in denen man sich als Erstklässler nur schwer zurechtfand, diesen Geruch, der einfach einzigartig nach Schule roch. Aber was ich an der Schule am meisten liebte, war die Bibliothek. Sie befand sich im obersten Stockwerk und man hatte eine atemberaubende Aussicht auf den Hauptplatz der Stadt mit seinen vielen Geschäften. Außerdem war es einer der wenigen Räume, in denen es einen Parkettboden gab. Wenn man sich ein Buch aus der gigantischen Büchersammlung ausgesucht hatte, konnte man in einen kleinen Nebenraum gehen, wo eine Couch und mehrere bequeme Sitzkissen und andere Sessel standen. Einmal hatte ich dort sogar schon geschlafen, bis mich der Bibliothekar aufgeweckt hatte.
In der Schule gab es auch eine kleine Cafeteria, an der die bei jedem beliebte Sall und ihre Tochter Diana Süßes und warme Speisen verteilten. Auch dort gab es viele Tische und Sofas, aber die Fenster zeigten auf die Hauptstraße und es war selten ruhig. Die meisten Schüler bevorzugten (zum Glück) Salls Cafeteria und die Aula.
Ich hatte es nicht gemerkt, aber ich war beim Spind angelangt. Schnell zog ich Jacke und Schuhe aus und schlüpfte in meine Hausschuhe. War Darian da?
Kurz blickte ich auf die Uhr. Bis jetzt war ich nur zehn Minuten zu spät. Trotzdem sah ich keinen einzigen Schüler und wagte es, Darian zu rufen. Klar waren meine Gefühle ein wenig verletzt, aber jetzt gab es wichtigeres.
„Darian, bist du da?“, flüsterte ich, während ich den Weg zum Zeichensaal antrat, der im vierten Stock, neben der Bibliothek, war.
„Ja.“ Seine Stimme kam von meiner linken Seite. Er klang nachdenklich.
„Also noch mal, wo bist du, während ich Unterricht habe?“ Seltsam war es, dass ich ihn nicht sehen konnte. Noch seltsamer, dass ich den schwachen Hauch von Zimt (oder so ähnlich) neben mir roch.
„Ich gehe in die Bibliothek, um dort mein Wissen über die Erde zu erweitern.“
„Warum sprichst du so geschwollen?“, fragte ich und kicherte.
„Lex, hör mal, wegen vorhin… Das tut mir Leid, ich will dir wirklich nichts tun. Und es tut mir auch Leid, dass das alles so plötzlich und schnell geht“, hauchte Darian. Ich war mir sicher, dass er mich ansah und auf eine Reaktion wartete. Aber warum entschuldigte er sich jetzt?
Ich schluckte. „Ja, ist schon in Ordnung. Ich will mich nicht mit dir streiten oder so, also, ich entschuldige mich auch wegen meines Verhaltens.“ Es fiel mir schwer das auszusprechen, da ich nicht der Typ war, dem eine Entschuldigung leicht über die Lippen ging. Aber ich wollte mich auch nicht mit Darian streiten, weil ich Angst vor seiner Reaktion hatte. Ich schluckte noch einmal, um das schlechte Gefühl zu vertreiben.
Ich stieg schweigend die Stufen hinauf und blickte dabei starr zu Boden. So merkte ich gar nicht, dass ich vor dem Zeichensaal stand.
„Darian?“, fragte ich, um zu überprüfen, ob er da war.
„So ist mein Name“, kam es von meiner linken Seite als Bestätigung.
Ich wies mit meiner Hand auf die große Flügeltür zur Bibliothek. „Da findest du eine Menge Bücher. Wenn es dir zu mühsam wird, alles durch zu blättern, kannst du auch einen der Computer benutzen. Vorausgesetzt, du weißt, wie man einen Computer benutzt. Ach ja, und um zwölf Uhr kommt der Bibliothekar, Prof. Raimarer. Erschreck ihn nicht, gut?“
„Danke, Lex. Ich gebe dir ein Zeichen, wenn ich wieder da bin“, antwortete er. Ich konnte zwar nicht hören, dass er wegging, aber kurz schwang die große Tür auf, dann schloss sie sich mit einem kaum wahrnehmbaren Quietschen.
Ich seufzte und öffnete die weiße Tür zum Zeichensaal. Niemand bemerkte mich, da es sowieso laut zuging. Solange wir unsere Kreativität entfalteten, durften wir Musik hören, singen, essen, reden… Darum war es das Lieblingsfach der meisten.
Erst als ich nach vorne ging und ich Prof. Elbenstein anlog und sagte, dass mein Zug Verspätung gehabt hatte, wurde ich von meinen Freunden und Mitschülern entdeckt.
„Bestzeit!“
„So früh!“
„Es hat schon lang geläutet!“
„Hast mit deinem Freund rumgeknutscht?!“
Die Klasse war erfüllt von den Sprüchen von Armin, Rick, Bill und Pete.
Ein strafender Blick vom Professor an die vier brachte sie aber zum Verstummen.
Schon ging der normale Tumult wieder los und ich quetschte mich zwischen den Reihen zu Shaunee, Monique und Mariella durch. Dann ließ ich mich an meinem gewohnten Platz zwischen Monique und Annika nieder. Ich blickte zur Tafel, an der das neue Thema unseres Unterrichts stand. Ich erstarrte. Individuelle Gestaltung eines Portraits.
Während ich Begrüßungen an meine Freunde murmelte, stieg ein eigenartiges Gefühl in mir auf. Ich wandte mich an Annika. „Individuelle Gestaltung eines Portraits. Heißt das, dass wir jemanden zeichnen und dann verändern sollen?“
Ich blickte auf ihre Zeichnung. Mit einem Bleistift waren bereits die groben Umrisse eines Mädchens mit Vampirzähnen erkennbar.
„Ja, Elbenstein hat gesagt, es soll eine Person sein, die wir kennen. Anhand der Eigenschaften der Person sollen wir dann Charakterzüge im Gesicht herausheben oder dazu dichten. Ich nehme meine Cousine. Sie nutzt immer alle aus und gibt nie zurück, daher die Vampirzähne. Ich meine, Vampire geben das Blut, das sie trinken doch auch nicht zurück, oder?“ Sie kicherte und wandte sich dann ihrem Blatt wieder zu.
Ich lehnte mich zurück und fragte meine Freunde, was sie zeichneten. Shaunee fertigte eine äußerst gelungene Skizze (es gibt niemanden, der besser zeichnen kann als sie) von einer alten Frau an, die sehr viele Falten im Gesicht hatte. „Das ist meine Mum“, sagte sie und betrachtete die Striche auf dem Papier liebevoll. „Sie arbeitet zu viel und ist echt geschafft. Sie braucht eine Pause. Wenn ich sie ansehe ist es, als würde ich mit einer alten Frau sprechen.“ Das ergab Sinn, denn eigentlich war ihre Mutter eine junge, hübsche Frau.
Monique zeichnete ihren kleinen, siebenjährigen Bruder mit einem Heiligenschein und den Hörnern eines Teufels. Dazu brauchte ich keine Erklärung.
Mariellas Blatt war noch ziemlich leer, aber sie erklärte: „Ich zeichne meinen Ex. Und zwar mit Schlangenaugen und Vampirzähnen, wie Annika. Er ist ein Arsch.“
Die Geschichte kannte ich schon. Am Valentinstag hatte Josh, so hieß der Arsch, Mariella in ein Restaurant eingeladen. Kaum hatte er ihr ihren ersten Kuss abgeluchst, schon stand seine äußerst erzürnte zweite Freundin in der Tür. Mariella und sie hatten Josh beide eine gewischt und waren, ohne die Rechnung zu bezahlen, zusammen Rache schwörend nach Hause gegangen.
Naja.
Also, was sollte ich zeichnen? Mindestens zehn Minuten lang saß ich einfach nur da und dachte nach. Luke zu zeichnen wäre nicht klug, da ich mich sicher nicht beherrschen könnte und ihm irgendeine schlechte Eigenschaft anheften würde. Vielleicht sollte ich meinen Bruder malen und herausheben, dass er seine Familie im Stich ließ!
Lieber doch nicht. Ich holte mein Handy und die Kopfhörer heraus und drehte den Musik- Player an. Ein Inspirierender Hauch Musik konnte doch nicht schaden. Einige Zeit saß ich da und lauschte den Tönen Linkin Park, Timbaland und Nelly Furtado, dann begann eine neue Playlist sich selbst abzuspielen und ich lauschte den Klängen von One Republic „Good Life“. Wie von selbst setzte ich auf einmal den Bleistift aufs Papier und beobachtete verblüfft, wie sich die scheinbar unnötigen Striche, Bögen und Linien zu einem Gesicht formten. Zuerst das ausdrucksstarke Kinn mit dem kleinen Grübchen, dann die Wangen. Während ich die gerade Nase zeichnete, wurde mir klar, wie tief sich Darian in meine Gedanken eingebrannt hatte. Obwohl ich bis jetzt fast immer nur die Spiegelungen gesehen hatte, konnte ich sein Gesicht bis ins kleinste Detail wiedergeben.
Als ich die Augen von der groben Skizze in feine Züge umwandelte, stieß ich zittrig Luft aus. Natürlich verengte Darian auf diesem Bild seine Augen, wie schon so oft. Ich zauberte einen leicht spöttischen Zug in den linken Mundwinkel von ihm und ließ die Haare so aussehen, als wäre er gerannt, oder als hätte der Wind einmal kräftig hinein geweht. Als ich noch einmal zu den Augen kam, wischte ich etwas listiges hinein.
Die Songs, die aus meinem Lautsprechen drangen waren auf wiederholen gespeichert. „Good Life“, „Marchin on“ und „Secrets“ wechselten einander ab. Die Zeit hatte für mich keine Bedeutung, alles was zählte, war, alle Darians Emotionen in sein Gesicht zu bannen. Nach einiger Zeit hatte ich wirklich Darian vor mir. Spöttisch, listig, geheimnisvoll, konzentriert, wachsam, vorsichtig, aber auch sanft und verletzlich. Ich atmete schneller, als ich mir überlegte, ob ich ihm das Bild zeigen sollte. Was würde er denken? Was sollte ich denken? Ich hatte gerade einen Alien in allen Einzelheiten wiedergegeben, und ich war mir sicher, dass ich Luke nicht so leicht zeichnen konnte. Ich schluckte und lächelte kurz, weil ich stolz auf das Bild war. Ohne aufzusehen, stellte ich den Musik- Player ab. Sofort herrschte Totenstille. Moment mal. Es herrschte Stille, obwohl wir gerade Zeichnen hatten? Unmöglich! Erschrocken blickte ich auf. Und noch erschrockener fuhr ich zusammen, als ich fast die ganze Klasse um mich herumstehen und mich anblicken sah.
Eigentlich sahen sie nicht unbedingt alle mich an, viele glotzten auch auf meine Zeichnung. In dem Moment schob sich Prof. Elbenstein in den Vordergrund. Er sah aus, als würde er aus Freude gleich aus dem Fenster springen. Bevor er sich mir zuwandte befahl er: „Alle gehen auf ihre Plätze zurück und lassen ihre Emotionen spielen, so wie Lex hier gerade.“ Allerdings lächelte er dabei so glücklich, dass die Aufforderung nicht ganz so… eben wie eine Aufforderung klang.
Monique stieß mich an. „Das ist einfach unbeschreiblich! Wie hast du das gemacht? Und vor allem, wer ist das?“
Ich riss erschrocken meine Augen auf. Mist. Wie sollte ich eine Erklärung dafür finden, gerade jemanden so ins Detail genau gezeichnet zu haben?!
Schon sprach mich Prof. Elbenstein an. „Wow, Lex! Du hast wirklich Talent! Das ist ein wundervolles Kunstwerk! Wer ist das?“
Ich presste die Lippen zusammen. „Das ist… mein Cousin. Er wohnt sehr weit weg und ich sehe ihn nur sehr selten. Als ich klein war, war er mein bester Freund.“
Prof. Elbenstein lächelte. „Ah, die junge Liebe!“
Ich schüttelte den Kopf. „Nein, nein, nein! Das ist mein Cousin! Bäh! Ich vermisse ihn einfach als normalen Freund. Übrigens habe ich einen richtigen Freund.“
Hmmm… Es wäre ganz und gar nicht „Bäh“, wenn Darian mein Freund wäre… Wenn er kein Alien wäre! Warum ich das letzte sagte, wusste ich selbst nicht. Aber in Elbensteins Blick las ich kurz etwas, das mich zutiefst erschütterte. Ich las so etwas wie Ich weiß, dass du einen Freund hast. Wie viele Menschen wussten, dass ich mit Luke „zusammen“ war? Hatte Direktor Imago allen Lehren erzählt, dass sie aufpassen sollten, ob ich mich vielleicht verriet?
„Aha, na gut. Dann muss das eine sehr wichtige Freundschaft sein. Jemand der mit so vielen Details und Emotionen zeichnet, muss wirklich fähig sein, zu empfinden. Aber der eigentliche Grund, warum ich mit dir sprechen will ist, dass das Bild so gut ist, dass ich es gern zu den internationalen Künstlerwettbewerben schicken würde. Du bekommst deine Zeichnung selbstverständlich wieder, aber erst in einer Woche. Eigentlich war der letzte Termin zum Verschicken der Zeichnungen gestern, aber wenn ich es persönlich hinbringe… Also was sagst du? Du hast wirklich Chancen, zu gewinnen!“ Während Elbenstein das sagte, trat ein Leuchten in seine Augen, dass Bände davon sprach, wie oft er gewonnen hatte. Tatsächlich, als hätte er meine Gedanken gelesen, sagte er: „Bis jetzt haben sieben meiner Schüler teilgenommen, vier kamen unter die ersten drei und einer siegte. Es wäre schön, noch einen siegreichen Sieger zu haben.“
Ich überlegte nicht lange. „Klar nehme ich teil. Wann muss ich das Bild abgeben?“
„Füge noch die Farben hinzu, dann kopiere es. Gib mir dann das Original, das werde ich dann einschicken. Ich brauche die Kopie für meine Bewertungen.“
„Okay.“
„Wenn du irgendwelche Fragen hast, komm zu mir.“
Ich nickte, dann stand Elbenstein auf und drehte seine Runde, um sich die Werke der anderen anzusehen.
Monique stupste mich an. „Wow, du kannst echt toll zeichnen. Und du hast überhaupt nichts anderes mitbekommen. Annika sah sich deine Zeichnung an und rief Suse und Lena, dann ging alles ganz schnell. Alle haben immer mehr Leute gerufen und du hast nicht einmal was gemerkt!“ Sie lachte, dann sah sie mir besorgt in die Augen. Sie flüsterte jetzt. „Lex, du hast keinen Cousin, der so aussieht. Du hast mir alle gezeigt, auf Fotos, weißt du noch?“ Vor Nervosität begannen meine Hände zu zittern. Ich blickte auf die Zeichnung. Sie war wirklich schön, und wow, schon jetzt, ohne Farbe hatte ich das Gefühl, wirklich in Darians Augen zu sehen. Ich seufzte, weil mich warme Schauern überliefen. Hoffentlich sah man mir das nicht an.
„Ich bitte dich, es niemandem zu sagen.“ Dann, ohne sie anzusehen oder auf ihre Antwort zu warten, stopfte ich mir die Kopfhörer in die Ohren und drehte voll „Underground“ von Avril Lavigne auf. Mir war zwar nicht egal, was Monique jetzt dachte, aber ich wusste, dass sie als echte Freundin nichts sagen würde.
Kurz schloss ich die Augen und beruhigte meinen Atem, dann lebte ich wieder nur für die Musik und mein Bild. Während ich nach den Stiften griff und dabei nochmals die Konturen von Darians Gesicht nachfuhr, stellte ich mir vor, wie sich seine Haut im Gesicht anfühlte.
Ich zeichnete und zeichnete und zeichnete, bis ich zu Darians Augen kam. Mir fiel auf, dass ich keine Farbe für sein blau hatte. Mit dem Handy in der Hand und der Musik im Ohr ging ich nach vorne zum Lehrertisch, um nach Farben zu fragen.
Elbenstein wies auf eine gigantische Buntstiftsammlung. Noch nie hatte ich so viele Blautöne gesehen. Während ich einige Stifte auswählte, die in Frage kamen, spürte ich die Blicke meiner Mitschüler, aber ich hatte nicht die geringste Lust, mich in irgendeiner Weise ablenken zu lassen.
Mit fünf Stiften kehrte ich zum Platz zurück und mischte die Farben, um die richtige zu erhalten.
Als es zur Pause läutete, blieb ich sitzen und versuchte Vergleiche für Darians Augen zu finden. Es gab keine passende, nicht auf dieser Welt. Man könnte sagen, dass sie ein wenig die Färbung eines Sommerhimmels hatten, aber das hätte nur einen Bruchteil erfasst. Da wären noch ein Wasserfall, ein Regenbogen, eine Wolke, und keines traf wirklich zu. Wahnsinn.
Es läutete wieder zur zweiten Zeichenstunde (wir hatten zum Glück immer Doppelstunden) und ich vollendete das volle Schwarz der Wimpern.
Fast hätte ich die Zeichnung geküsst, weil ich stolz darauf war. Sie war fertig. Ich blickte auf und lächelte leicht. Annika und Lena betrachteten das Bild und schienen ihre Münder nicht mehr schließen zu können.
Als ich aufstand und mit der Zeichnung zu Prof. Elbenstein ging, kam ich an Shaunee vorbei. Sie schnurrte in mein Ohr: „Stell mir deinen Cousin mal vor. Der ist heiß.“ Sofort wurde sie von Mariella unterbrochen. „Ich finde eher, dass er süß ist. Unglaublich süß.“
Während die beiden darüber diskutierten, ob er jetzt süß oder heiß war, legte ich die Zeichnung auf Elbensteins Platz. Er lächelte verträumt. „Kopiere es, Lex und bring’ es dann wieder her.“ Elbenstein gab mir seine Kopierkarte und scheuchte mich zur Tür hinaus.
Ich spazierte zur Tür hinaus und warf einen Blick zur Bibliothek. Was Darian wohl gerade machte? Sollte ich ihm das Portrait von ihm zeigen? Besser nicht…
Der Kopierer stand in der Aula, also machte ich mich auf neugierige Blicke gefasst, denn in der Aula saß immer irgendjemand. Aber als ich dort ankam, war niemand da. Seltsam.
Ich legte das Papier auf den Scanner und entschied mich für zwei Kopien. Eine für den Professor, eine für mich. Leise summte ich ein Lied, als ich auf einmal ein Räuspern hinter mir hörte.
Langsam drehte ich mich um. Hinter mir stand Prof. Lockman und lächelte. „Ah, Lex. Ich habe gehört, dass es eine Auseinandersetzung gab. Schade, dass du trotzdem nicht mehr gekommen bist.“
Oh, Shit! Das hatte ich total vergessen! Oh, nein!
Anscheinend konnte man meine Gefühle in meinen Augenlesen, denn Lockman lachte und sagte: „Macht nichts. Ich weiß, dass du momentan sehr viel Stress hast, nicht wahr?“
Er griff nach der Kopie. Toll, noch ein Lehrer, der sie sich ansah. Ich hatte eigentlich mit so etwas wie Lob gerechnet, doch er gab mir die Zeichnung ohne ein Wort zurück und lächelte leicht, als hätte er vorher gesagt, dass die Sonne scheinen würde, und es wäre passiert.
„Schön, schön, alles fügt sich“, brummte er, dann verschwand er um die Ecke.
Was zum Teufel meinte er? Was fügte sich? Ich erinnerte mich an seine Worte, als hätte er sie mir an eine Pinnwand geklebt. Du musst Vertrauen haben. In dich selbst. Ich hatte kein Vertrauen, nicht mehr so richtig, seit ich im Zug zusammengeklappt war.
Aber was sollte ich mit meinem Vertrauen anfangen?
Ich seufzte und resignierte. Das war einfach zu verwirrend, ich wollte gar nicht tiefer in dieses Rätselgestrüpp eindringen.
Schnell eilte ich zurück zum Zeichensaal. Als Darian meinen Namen murmelte, hätte ich fast erschrocken geschrieen. Aber ich war intelligent genug und beließ es bei seinem Namen. „Darian!“, flüsterte ich. Keine Antwort. Wo war er? Oder hatte ich es mir eingebildet? Da hörte ich wieder meinen Namen, ganz leise. Ich wandte den Kopf in die Richtung, aus der seine Stimme gekommen war. Die Bibliothek! Die Tür stand ein wenig offen.
„Lex…“
Ich schlich mich zur Tür und linste durch den Spalt.
„Darian!“, flüsterte ich.
Vorsichtig betrat ich den Raum und schloss den Flügel. Ich lauschte wieder und hörte jemanden laut Luft holen.
Ich ging in die Richtung.
„Lexi…“, flüsterte Darian wieder. Ich wandte mich dem Sessel, auf dem der Bibliothekar normalerweise saß, zu. Niemand war da, aber das hatte ja nichts zu bedeuten.
Ich entdeckte Darian nur durch Zufall.
Hinter dem Sessel und dem Tisch des Professors stand an der Wand auch ein Regal. Das Regal reichte, wie alle anderen auch nicht, nicht an Decke. Mir sprang ein neongelber Einband in die Augen, der nicht so recht ins Regal passen wollte. Und da sah ich die Finger. Ich hätte sie nicht bemerkt, wenn ich nicht gerade extra vorsichtig und aufmerksam wäre.
Man sah drei Finger einer Hand, die sich an das Regal klammerte. War das Darian?!
„Bleib…“, flüsterte er. Die Art, wie er es flüsterte kam mir bekannt vor, aber es fiel mir nicht gleich ein.
„Ich hatte nicht vor, weg zu gehen, du Trottel“, zischte ich. „Man kann dich sehen.“
Aber er reagierte nicht. Warum lag er auf dem Regal? Warum war er nicht unsichtbar?
„Komm mal runter!“, flüsterte ich. Wieder keine Antwort.
„Halloho! Darian, komm runter!“
„Nicht gehen…“
„Ich gehe ja nicht!“ Warum kam er nicht herunter? Ich musste ernsthaft mit ihm über seine Verstecke sprechen. Ich legte die Zeichnung und die Kopien auf den Tisch, dann zog ich den Sessel an das Regal und stellte mich darauf.
Als ich Darian erblickte, erstarrte ich. Jetzt wusste ich, warum er so komisch gesprochen und nicht geantwortet hatte. Er schlief!
Ich hatte selten zuvor schlafende Jungs (insbesondere schlafende Aliens) gesehen und wusste nicht recht, ob ich ihn jetzt aufwecke sollte oder nicht.
Seine Brust hob und senkte sich bei jedem Atemzug. Er hatte seine Beine leicht angewinkelt, der eine Arm lag auf seiner Brust, der andere umklammerte immer noch das Regal. Die Haare standen zerzaust in alle Richtungen ab. Der Geruch von Zimt lag wieder in der Luft. Mit geschlossenen Augen und entspanntem Gesichtsausdruck sah er ganz süß aus, und verletzlich. Er seufzte im Schlaf und flüsterte leise: „Bleib…“ Sprach er im Schlaf, oder war das jetzt echt? Vorhin war es im Schlaf gewesen, das wusste ich, aber jetzt?
Darian öffnete die Hand, die das Regal umklammert hielt und legte sie neben seinen Körper, als wollte er nach etwas greifen.
Ich schluckte. Jetzt konnte ich ihn beim Schlafen betrachten, so wie er es bei mir gemacht hatte. Aber ich hatte ja noch Unterricht… Egal, eine Zeichnung war sowieso schon fertig.
Moment mal, ich betrachtete lieber einen Alien beim Schlafen als zu zeichnen und mit meinen Freundinnen zu quatschen?
Ja.
Etwas in meiner Brust verknotete sich, aber es fühlte sich schön an. Und ich wusste, dass ich glücklich war.


4.

Das Regal war hoch genug, dass man mich von unten nicht sah, und trotzdem war noch genug Platz zu Decke, dass ich oben sitzen konnte. Was würde Darian denken? Wenn er wach wurde? Sollte ich nicht lieber verschwinden?
Aber es war so schön, neben ihm zu sitzen. Manchmal murmelte er Worte wie „Lex“, „Lexi“, „Bleib da“, „Geh nicht weg“ oder er seufzte einfach nur. Was träumte er da? Warum sagte er meinen Namen?
Was ich mir nicht eingestehen wollte, war, dass wenn Darian meinen Namen sagte, etwas in mir ganz warm wurde. Hey, das war ein Alien verdammt. Nix da mit Gefühle entwickeln.
Nach einiger Zeit beschloss ich, zurück zu Zeichnen zu gehen. Ich hätte schon vor fünfzehn Minuten dort sein sollen. Ich stützte meine Hände auf beiden Seiten ab, um auf den Sessel springen zu können. Ich wollte schon springen, da spürte ich eine Berührung auf meiner Hand. Ich sah hin und stellte fest, dass mein Herz gerade verrückt spielte, weil Darian im Traum nach meiner Hand gegriffen hatte. Diese hauchzarte aber bestimmte Berührung brachte mich vollends aus der Ruhe. Seine Hand war weich und warm, während meine sicher ganz kalt wurde.
Nein, Lex. Nicht, sagte etwas in mir und ich hörte darauf. Ganz vorsichtig befreite ich meine Hand aus seinem Griff und sprang schnell vom Regal, bevor ich es mir anders überlegen konnte. Als ich vom Sessel stieg, kam ich falsch auf und knickte ein.
„Auuu!“, entfuhr mir und ich rieb meinen Knöchel. Hoffentlich war Darian jetzt nicht wach. Da hörte ich ein leises „Wuuusch“ und spürte einen zarten Luftzug. Ich roch den Zimt, spürte ein leichtes Beben und brauchte gar nicht zu fragen, um zu wissen, dass Darian wach war. Ich blickte auf und sah nichts. Warum machte er sich immer unsichtbar!? Ich seufzte leise.
„Hast du dir weh getan?“, fragte Darian besorgt und ich glaube, er kniete neben mir.
„Nein“, sagte ich ein wenig eisig. Ich empfand es als persönliche Kränkung, dass er sich nicht sichtbar machte. (Ja, ich war eingeschnappt)
Anscheinend hatte Darian meinen Unterton gehört, denn er fragte: „Was ist denn passiert?“
„Nichts ist passiert“, knurrte ich. Er stöhnte.
„Was machst du überhaupt hier? Hast du nicht Unterricht?“
„Tschüss!“, schnappte ich, sprang auf und humpelte zur Tür. Schlafend gefiel er mir wesentlich besser. Da wollte er wenigstens, dass ich blieb.
„Hey, Lex, warte, dein Fuß! Was ist denn?“, rief er mir hinterher. Ich blieb stehen, aber nicht seinetwegen, sondern, weil ich die Zeichnungen vergessen hatte. Am besten ich zeichnete noch etwas, dass ihn begriffsstutzig aussehen ließ.
Ich schnappte die Blätter und wollte wieder verschwinden, aber seine Stimme hielt mich zurück.
„Okay, ich hab begriffen, dass du sauer auf mich bist, aber weder weiß ich warum, noch, was ich dagegen tun kann, also… Lass mich wenigstens dein Bein heilen“, sagte er sanft.
Ich presste meine Lippen zusammen und drehte mich zu ihm um, zumindest glaubte ich, dass ich mich zu ihm wandte, denn ich konnte ihn ja nicht sehen! Ich schluckte und ballte meine Hände zu Fäusten, dann setzte ich mich auf den Boden.
„Mach dich sichtbar“, bat ich leise.
„Lex, ich…“
„Mach dich sichtbar“, wiederholte ich ein bisschen flehender.
„Aber…“
„Bitte, bitte mach dich sichtbar, Darian!“, flehte ich jetzt wirklich. Es bedeutete mir doch mehr, als ich dachte, jemanden anzusehen.
„Warum?“, fragte er erstaunt.
„Weißt du, wie es ist, sich mit jemandem zu unterhalten, den man nicht sehen kann? Wenn man nicht versteht, warum der andere die ganze Zeit unsichtbar ist? Wenn das alles zu viel wird, und es wenigstens eine kleine Erleichterung wäre, den anderen zu sehen? Nein, das verstehst du nicht!“, rief ich und stand wieder auf. Das dabei ein Stechen durch meinen Fuß schoss und ich mich gerade noch am Tisch festhalten konnte, ignorierte ich.
Ich setzte meinen Vortrag fort. „Hör mal, verschwinde, okay? Du hilfst mir nicht im geringsten! Ich weiß nicht, warum du da bist, ich weiß nur, dass alles komplizierter wird und ich nicht mehr klar denken kann! Also geh!“ Ich rief in den leeren Raum und erhielt keine Antwort, was mich aber nur noch mehr verzweifeln ließ. Alle meine Gefühle brachen jetzt in der Form von Tränen aus. Und weil das einfach nur deprimierend und peinlich war, humpelte ich, während ich die Zeichnung und die Kopien zerriss, in den zweiten Raum der Bibliothek, in dem ich mich schluchzend auf die Couch fallen ließ. Die Fetzen von Darians Portrait lagen überall am Boden. Gut, dass ich sie zerrissen hatte. Ich wollte ihn nicht sehen.
Die Sonne schien herein und tauchte den Raum in goldenes Licht. Bei dem ruhigen Anblick beruhigte ich mich langsam und streckte mich auf dem Sofa aus. Ein Klingeln machte mich darauf aufmerksam, dass die zweite Stunde vorbei war. Es war immer noch Schule, aber das war mir jetzt gerade egal. Ich glaube, bei Gefühlsstürmen war es in Ordnung zu schwänzen. Außerdem verpasste ich jetzt sowieso nur Mathe (brrr…).
Auf den Gängen wurde viel getrampelt und geschrieen. Ich hörte, dass mein Name gerufen wurde, aber ich antwortete nicht. Ich musste jetzt endlich nachdenken.
Du musst Vertrauen haben. In dich selbst.
Überlass nichts dem Zufall.
Die Dinge werden sich ändern.
Du wirst deine Informationen bekommen. Später.
Wann war später? Professor Lockman hatte Recht, er hatte mir nicht im geringsten geholfen. Er hatte mich nur noch mehr verwirrt. Die Dinge werden sich ändern. Meinte er Darian, hatte er von ihm gewusst? Wie sollte ich Vertrauen in mich haben, wenn ich in einem Spiel mitspielte, dessen Regeln ich nicht kannte? Und wer waren meine Mitspieler?
Ich musste mich jetzt endlich jemandem anvertrauen. Ich konnte nicht mehr. Ich wollte nicht mehr.
Und ich wusste sogar, wem ich das alles erzählen wollte, aber konnte ich ihr alles aufbinden, wenn schon ich selbst mich kaum auskannte? Wäre Monique eine Hilfe?
Es läutete und nach und nach erstarb der Lärm vor der Bibliothek. Ich konnte nicht ewig hier bleiben, ich musste etwas tun. Nur, was?
Was wollte ich überhaupt? Ich fühlte mich schlecht, weil ich Darian so angeschrieen hatte. Nur, weil er sich nicht sichtbar gemacht hatte. Dabei wollte er nur meinen Fuß heilen.
In dem Moment meldete sich besagter Fuß mit heftigem Schmerz. Hatte ich ihn mir gebrochen? Nein, aber vielleicht geprellt…
Ich hatte Darian angeschrieen, obwohl ich Sekunden zuvor seinen Träumen gelauscht hatte. Er hatte von mir geträumt, er wollte, dass ich bei ihm blieb. Und ich jetzt hatte ich ihn weggeschickt. Mein Herz pochte, als ich an die Szene dachte. Und mein Atem beschleunigte, als ich die vielen Papierfetzen sah, die regungslos am Boden lagen. Allein, dass ich Darian so problemlos wiedergeben konnte, war Beweis genug, dass ich für ihn empfand. Für eine Wahnvorstellung. Ich lachte aus purer Verzweiflung. Er war ein Alien, der wegen irgendeiner Prophezeiung hier war! Es war nicht richtig.
Aber ich dachte an seine Träume und seine Berührung auf dem Regal. Bevor ich aus Verzweiflung zu weinen anfangen konnte rief ich bereits seinen Namen.
„Darian, ich weiß nicht ob du da bist,“ (was stimmte, denn ich hatte zwar die Tür nicht gehört, aber wer weiß…) „aber wenn doch dann… Bitte ich dich her zu kommen. Das gerade war hirnlos und dumm und unfreundlich und einfach nicht in Ordnung. Es tut mir Leid.“ Schon zwei Entschuldigungen an einem Tag, das nannte ich mal einen Rekord.
Ich wartete, während ich den Wolken dabei zusah, wie sie weiter zogen, und langsamer die Sonne folgte. Ich wartete am Sofa, und nach einiger Zeit schloss ich die Augen. Ich wartete und manchmal rief ich ihn auch, wiederholte die Sätze wie ein auswendig gelerntes Gedicht.
Bis ich einschlief.

Do you ever feel, feel so paper thin
Like a house of cards
One blow from caving in
Do you ever feel already buried deep
Six feet under scream
But no one seems to hear a thing

Der Song drang in mein Gehirn, während ich langsam aufwachte. Warum hörte ich Musik? Ich dachte, ich wäre allein im Leseraum in der Bibliothek…
Ich roch den Zimt, dann spürte ich die Wärme um meiner Hand. Sofort riss ich die Augen auf. Ich konnte ihn nicht sehen, war ja klar. Ich schluckte die Trauer hinunter und versuchte mich darauf zu konzentrieren, die Lage zu analysieren.
Die Musik drang aus dem Nebenraum zu uns, die Tür war geschlossen. Der Alien saß hier irgendwo rum und hielt meine Hand. Mein Fuß schmerzte nicht mehr. Eine wesentliche Verbesserung seit ich eingeschlafen war. Außerdem schien mein Kopf von innen heraus angenehm warm zu sein, und ich hatte das Gefühl, dass ich mit dieser Wärme nie wieder Kopfweh bekommen konnte.
Hatte ich mir den Kopf angeschlagen?
Eine Gehirnerschütterung?
„Sei leise, der Mann weiß nicht, dass wir hier drinnen sind.“
Ich sah in die Richtung aus der die Stimme gekommen war (der Boden) und seufzte, als ich natürlich niemanden sah. Aber ich würde ihn nicht mehr deswegen anschreien, schwor ich mir.
„Wie viel Uhr ist es?“, fragte ich und gähnte. Ich setzte mich auf, sodass der Alien sich auch auf die Couch setzen konnte. Er ließ meine Hand los.
„Es ist halb zwölf. Vor einer halben Stunde kam der Bibliothekar, aber er hat nicht hier herein gesehen. Übrigens laufen in den Pausen immer ziemlich viele Menschen in den Gängen rum und rufen deinen Namen. Sie suchen dich. Und ich hab die Papiere eingesammelt und mit Magie wieder zusammen gefügt.“
Ich fuhr zusammen. Toll, jetzt hatte er gesehen, dass ich ihn gezeichnet hatte.
„Und wie lange bist du schon hier?“, fragte ich leise und blickte aus dem Fenster. Der Himmel war bewölkt.
„Ich war nicht weg“, kam die Antwort vom Fenster.
Ich hatte eigentlich nicht fragen wollen, aber ich musste einfach. „Wieso machst du dich denn nicht sichtbar?“
Ich hörte ihn seufzen.
„Tut mir Leid, ich wollte das nicht fragen“, sagte ich schnell.
„Aber du hast ja Recht, weißt du?“, sagte er prompt. Das überraschte mich. Ich dachte, er wollte sich nicht sichtbar machen.
Und er überraschte mich gleich noch einmal, indem ich seine Gestalt jetzt sehen konnte. Und zwar nicht nur in der Spiegelung. Er blickte immer noch aus dem Fenster, so sah ich sein Gesicht nicht. Aber er war eindeutig nicht mehr durchsichtig.
Ich konnte es nicht glauben und sprang auf. Schnell trat ich nah zu ihm und berührte ihn am Arm. Als er mir dann in die Augen sah, taumelte ich zurück. Wow, er sah wirklich wie auf der Zeichnung aus, nur lebendig und jetzt besorgt. Er holte Luft. Ich konnte nur in seine Augen starren, die weder in den Spiegelungen noch auf der Zeichnung so wunderschön gewesen waren.
„Ich glaube, du hast eine Menge Fragen“, sagte der Alien in seiner wahren Gestalt und ich betrachte fasziniert seine Lippen, die sich öffneten und wieder schlossen.
Ich brachte nur ein Nicken zustande.
Er lachte leise und führte mich zum Sofa, dann setzte er sich auf das andere Ende der Couch, so weit von mir entfernt, wie es nur ging. Ich biss mir auf die Lippen und fragte mich was ich wieder im Traum daher geredet hatte.
„So. Ich habe auch eine Menge Fragen, die, die ich mit keinem Buch beantworten konnte. Ich würde sagen, immer abwechselnd Frage und Antwort, okay?“
Ich nickte wieder. „Du fängst an“, sagte ich ein wenig heiser.
„Gut. Also. Wo ist der nächste Magier?“
Ich lachte. „Magier? Wir haben keine Magier. Nur Möchtegern- Zauberer, die mit Tricks arbeiten. Es gibt immer wieder Menschen, die behaupten, dass sie in die Zukunft sehen können und so, aber die meisten sind Schwindler. Es gibt selten ein paar, die anscheinend etwas Besonderes sind, aber die sind echt selten. Was habe ich in meinem Traum gesagt?“, schloss ich gleich an die Antwort.
„Ich dachte du brennst auf andere Antworten. Na gut.“ Er wurde ernst. Fasziniert beobachtete ich eine kleine Falte zwischen seinen Augen. „So wie das letzte Mal in etwa. Komm zurück, ich brauche dich, ich muss dir etwas sagen, Darian, wo bist du. So in etwa.“ Ich lief rot an. Aber er fragte gleich weiter: „Ihr müsst nicht jagen, sondern kauft alles in… Geschäften. Wieso?“
„Wir sind zu faul, um jeden Tag jagen zu gehen. Außerdem braucht man dazu Bestätigungen und so. Beschreibe, wie du normalerweise aussiehst, oder zeig es mir!“
Der Alien stand auf und stöhnte. „War ja klar. Nicht erschrecken.“
Er drehte sich kurz zum Fenster, dann sah er mich an. Ich sprang vor Schreck auf und wich hinter die Bank zurück. Als ich bemerkte, dass er sich auf die Lippe biss und sich abwenden wollte, siegte meine Neugierde und innerhalb von Sekunden war ich vor ihm.
„Nicht. Sieh mich an,“ flüsterte ich heißer. Seine gebräunte Haut schimmerte matt. Kurz leuchtete ein Sonnenstrahl auf die Wangen des Aliens, und sofort schien sich die Haut dort wie als Sonnenschutz ganz leicht zu verdunkeln. Was sie nicht am schwachen Leuchten hinderte.
Seine Augen hatten eine andere Farbe. Sie waren ja schon vorher unnatürlich blau gewesen, doch jetzt leuchteten sie und hatten einen silbernen Ring am äußeren Rand der Iris. Es war nicht mehr nur blau, sondern auch ein wenig violett und grün. Außerdem bewegte sich die Iris. Sie wogte wie Wasser im Sturm. Wie wunderschön.
Als nächstes wandte ich mich den Lippen zu. Sie waren immer noch normal, aber ich hatte vorhin etwas gesehen, als Darian sich auf die Lippen gebissen hatte. „Mach den Mund auf!“, forderte ich. Er verdrehte die Augen, gehorchte dann aber. Ich sprang zurück und keuchte auf, kam aber sofort wieder näher und betrachtete die Zähne genauer. Also, sie waren alle silbern, ein wenig verstörend. Aber vor allem waren sie alle spitz, wie Vampirzähne.
Ich schauderte. „Beißt du?“, fragte ich und runzelte die Stirn.
Der Alien lächelte und entblößte seine glänzenden Zähne. „Nur, wenn ich Lust dazu habe.“
„Trinkst du Blut?“, keuchte ich schockiert.
„Nein. Ich hab es mal probiert. Bäh. Ekelhaft.“
Ich schluckte. Ruhig bleiben. Um mich abzulenken, sah ich mir seine Haare genauer an. Er schüttelte den Kopf und zwei kleine, silberfarbene Hörner wurden sichtbar. Mein Mund stand offen und ich hatte keine Ahnung, wie man ihn schloss. Der Alien grinste wieder sein Lächeln. Dann zeigte er mir seine Hände. Ich sollte besser sagen Krallen, ebenfalls silbern und spitz. Er konnte sie verlängern und wieder einfahren. Langsam drehte der Alien seine Hände um, sodass ich seine Handflächen sehen konnte. Die Linien, die jeder Mensch hatte, waren bei ihm (was für eine Überraschung) silberfarben. Ich sah ihm noch einmal ins Gesicht und merkte, dass seine Ohren spitz waren. Wie ein Elf!
„Das war alles. Bei meinen Füßen ist es dasselbe wie bei meinen Händen. Ach ja, da ist ja noch etwas!“, rief er aus und fuhr die Kralle seines Zeigefingers aus. Dann fuhr er schnell und bevor ich etwas sagen konnte über seinen Arm. Ich blickte ihn schockiert an. Wie konnte er sich einfach in den Arm schneiden?! Wollte er mir demonstrieren, was seine Krallen konnten? Danke, das hatte ich schon vorher verstanden. „Sieh schon hin, Lex“, sagte er ruhig. Ich blickte nach unten und erstarrte. Sein Blut war blau.
„Und jetzt pass auf“, fügte er hinzu und schnitt auch mir über die Hand. Was sollte das?!? Sofort quollen Bluttropfen aus der Wunde. Der Alien wollte meine Hand wieder nehmen, aber ich wich zurück. „Warum hast du das gemacht?“, fuhr ich ihn an.
Er grinste nur dumm. „Lass mich machen und sieh zu. Keine Sorge, dir passiert nichts. Vertrau mir.“
Ich schluckte. Hätte er mich töten wollen, hätte er schon längst Zeit dazu gehabt. Zitternd streckte ich den Arm wieder aus. Der Alien nahm ihn und presste meine Wunde auf seine. Wie ekelhaft! Aber kaum war ein wenig von meinem Blut in seine Wunde getropft, ließ er meinen Arm los, heilte seine Wunde, indem er darüber strich und sah mich dann an. Ich starrte ihn ungefähr zwei Minuten lang an, bis ich begriff, was sich verändert hatte. Die Augen des Aliens waren rot, rot wie Blut.
„Blau steht die besser“, war alles, was ich herausbrachte. Warum hatte er jetzt rote Augen?
„Finde ich auch. Keine Sorge, das geht gleich wieder weg.“
„Was hat das gebracht?“
„Ich muss dich jetzt nichts mehr fragen. Alles, was du weißt, weiß ich jetzt auch. Ich musste nur irgendwie etwas von dir in mich hinein bekommen. Das mit den Augen ist nur ein Nebeneffekt.“
Ich starrte ihn fassungslos an. „Ein Nebeneffekt.“
„Jap!“, antwortete der Alien ausgelassen und spielte mit seinen Krallen. Dann bleckte er die Zähne und knurrte spielerisch.
Ich taumelte erschrocken zurück. Sicherheitshalber ging ich um die Couch herum. Er lachte, als er das sah, kam aber nicht näher.
„Okay, ich darf dich jetzt alles fragen, weil du sowieso schon alles von meinem Wissen weißt“, sagte ich, bis mir klar wurde, was ich gesagt hatte. „Du weißt alles?“, ächzte ich.
Während ich dabei zusah, wie seine Augen wieder blau wurden nickte er. „Mhm, das einzige, das ich nicht weiß, sind deine Gefühle.“
Kurz herrschte Schweigen und jeder dachte sich seinen Teil. Ich war froh, dass er nicht wusste, dass ich Gefühle für ihn entwickelte. Aber irgendwie war ich auch enttäuscht, dass er es nicht wusste. Das machte es mir schwerer, denn das hieß, dass ich es ihm irgendwann sagen musste.
Aber jetzt war anderes wichtiger. „Was kannst du noch? Außer dich unsichtbar machen und heilen und eben mit Magie arbeiten?“, fragte ich und setzte mich auf das Sofa.
„Ich bin schneller, stärker, habe bessere Sinne, und kann, wenn ich mit einer Person in Verbindung stehe, deren Gefühle und handeln beeinflussen. Ich zeig’s dir!“, sagte er. Er schien sich riesig zu freuen, seine natürliche Gestalt annehmen zu können.
Ich wollte Einspruch erheben und blickte in die Augen des Aliens. Ein Windstoß schien durch meinen Kopf zu fegen und von allen Gedanken zu befreien. Die Welt stand still. Es gab nur Darians Augen. Aber ich verstand nicht, wieso sich alles in mir so… wattig anfühlte. Als hätte ich keine Sorgen und Probleme, solange ich in diese Augen starrte. Ich entdeckte ein Muster in den Bewegungen der Iris… Dreh, dreh, dreh, stopp, züngel, züngel, welle, welle, welle, stopp, andere Richtung, Wolkenmuster, Punkte, stopp. Dreh, dreh, dreh, stopp, züngel, züngel, welle, welle, welle, stopp, andere Richtung, Wolkenmuster, Punkte, stopp. Dreh, dreh, dreh,…
Mit einem Schlag waren wieder alle Gedanken da und ich konnte mich von dem Blick losreißen. Alle Gefühle fluteten dahin zurück, wo sie hin gehörten und die Watte in mir verschwand.
Böse sah ich den Alien an, der mich nur mit einem unschuldigen Lächeln anblinzelte.
„Mach das ja nicht noch einmal!“, fauchte ich. Ganz leicht spürte ich Angst in der Magengegend, weil ich wusste, dass er alles mit mir tun hätte können. Er hätte mich Selbstmord begehen lassen können, oder jemanden umbringen! Ich durfte das nie wieder zulassen, nie wieder hochkommen lassen. Brrr…
„Hab ich dir jetzt zu viel Angst gemacht? Oder willst du noch mehr hören?“, flötete der Alien und bleckte wieder spielerisch die Zähne. Ich krallte vor Schreck meine Hände fest in das Kissen, und dachte, um mich zu beruhigen und zum Ausgang des Gesprächs zurück zu kommen, an seine letzten Aussagen. Da fiel mir etwas auf.
„Was meinst du mit in Verbindung stehen? Stehst du denn mit mir in Verbindung?!“, fragte ich ein wenig entsetzt. Was verstand er unter Verbindung?!?
Er stand auf und bewies mir seine Schnelligkeit, indem er sich zum Fenster zu beamen schien. Kurz sah er mich noch an (hatte ich mir das eingebildet oder war er schuldbewusst?), im nächsten Moment stand er am Fenster und blickte zum wolkigen Himmel hinaus, der Schneefall ankündigte.
„Hm, Verbindung… Nicht ausrasten, okay? Ich verstehe unter einer Verbindung normalerweise… die Verknüpfung der Gedanken“, antwortete er und spannte sich unmerklich.
Was sollte Verknüpfung der Gedanken heißen?
Das heißt, dass ich deine Gedanken lesen kann.


Ich hörte die Stimme des Aliens in meinem Kopf, umgeben von derselben Wärme, die ich schon die ganze Zeit verspürte, seit ich aufgewacht war.
Dafür, was ich gerade empfand, gab es nur drei Worte: PEINLICH, ANGSTEINFLÖSSEND UND BESCHISSEN.
Nenn mich bitte in deinen Gedanken nicht immer Alien. Das ist diskriminierend und außerdem habe ich einen Namen.


Ich keuchte erschrocken auf. Ich presste meine Hände an die Schläfen, als könnte ich Darian dadurch vertreiben. Warum musste ich einem Außerirdischen begegnen? Warum ich?! Ich war immer brav gewesen (zumindest braver als die meisten) und freundlich zu anderen Menschen. Ich hatte schon Sorgen genug. Warum musste sich jetzt auch noch herausstellen, dass Darian meine Gedanken lesen konnte. Jede Sekunde. Die ganze Zeit schon. S. C. H. E. I. S. S. E!!!
„D- D- Darian, mir wäre wesentlich wohler, wenn du dich nicht mit meinen Gedanken verknüpfen würdest“, brachte ich stotternd heraus. Ich konnte seine auch nicht lesen! Also!
„Lex, du kannst meine Gedanken nicht lesen, weil ich einen Schutzschild errichtet habe. Ich kann dir beibringen wie das geht, wenn es dir wirklich so unangenehm ist. Und sieh mich doch bitte mal an“, bat er und seufzte.
Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte Angst, dass ich wieder in Hypnose verfallen würde, sähe ich ihn an. Zugegeben, es war kein schlechtes Gefühl gewesen, aber ich hatte gar keine Kontrolle gehabt.
„Hör mal, ist dir wohler, wenn ich wieder Menschengestalt annehme?“, fragte er sanft und versöhnlich.
Mein ganzer Körper war vor Aufregung und Angst ganz starr, ich brachte es gerade so zu Stande, zu nicken.
Er seufzte.
Ich hörte ein leises Stöhnen und spürte ein Kribbeln in meinem Kopf. Dann traute ich mich aufzublicken. Tatsächlich, da saß wieder Darian, der Mensch, und betrachtete kurz mit gerunzelter Stirn seine Fingernägel.
Ich stieß einen erleichterten Seufzer aus und richtete seine Aufmerksamkeit damit auf mich.
Du kannst übrigens auch in Gedanken mit mir sprechen. Denk dir einfach deinen Satz und sprich ihn aber nicht aus.


Ich nickte. Du zeigst mir jetzt, wie ich einen Schutzschild aufstelle.


Darian lächelte. Danke, dass du mich nicht Alien nennst.


Aber du bist einer!


Und du bist auch einer, in meiner Welt!


Ich blieb stumm. Das war wohl wahr. Aber ich befand mich ja nicht in seiner Welt und würde auch nicht dorthin gehen.
„Zeig mir jetzt, wie ich einen Schutzwall baue!“, presste ich hervor und schluckte. Ganz absichtlich sah ich nicht in Darians Augen.
Ich hörte ihn seufzen. „Gut. Denk an etwas, ein Bild zum Beispiel, oder an jemanden, den du sehr gerne hast.“ Ich glaubte, etwas wehmütiges aus seinen Worten herauszuhören.
Ich schloss die Augen und erschuf ein Bild von Mariella, Shaunee und Monique. Unbewusst lächelte ich. Was sie wohl zu meinem Cousin sagen würden!
„Konzentrier dich… Ich dringe jetzt mal ein und schaue, wie stark du bist. Einfach fest daran denken“, flüsterte Darian.
Mariella hatte ihre Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden und trug das schwarz- grün gepunktete Kleid vom letzten Sommer. Sie lächelte und hielt ein Schoko- Eis in die Luft, als wollte sie damit anstoßen. Sie hielt Monique fest an der Hand. Monique trug diese süße Short und das echt coole Shirt, dass aus grauem Leder zu bestehen schien und unten ausgefranst war. Hinter ihrer Sonnenbrille erkannte ich ihre strahlenden Augen. Sie hatte einen Arm um Shaunees Hüfte gelegt. Shaunee sah wieder einmal wie ein Supermodel aus, mit den offenen Haaren und ihrem weißen Lachen. Dieser heiße Minirock passte echt klasse zu ihrem Markenklamotten- Shirt. Drauf stand: Ich bin dein Boss. Geh’ und hol mir nen’ Kaffee. Sofort!
Alle drei standen vor dem Eissalon. Ich erinnerte mich an die Szene, es war wirklich passiert. Ich hatte sogar ein Foto gemacht, es hing immer noch über meinem Bett.
Da drang mitten in der Erinnerung Darians Stimme an mein Ohr. „Das war ziemlich stark, aber ich bin trotzdem rein gekommen. Du musst dich stärker konzentrieren. Das heißt viel Übung, aber allein, bis du nebenbei auch noch andere Dinge tun kannst, wird noch sehr lange dauern. Übrigens will ich dich daran erinnern, dass du immer noch Unterricht hast und sich eine Menge Leute Sogen um dich machen. Und langsam musst du dir ne Story ausdenken“, sprach Darian.
Ich blickte ihn an. Er wirkte offensichtlich besorgt. Wir setzen das Gespräch später fort.


Nur eine Frage hab ich noch. Eigentlich drei. Wie weit kannst du mich hören? Kannst du nur meine Gedanken hören? Wie kann man die Verbindung trennen?

Während ich aufstand und mich dehnte, bekam ich meine Antworten.
Ich weiß nicht, wie weit ich dich hören kann. Das hängt ab davon, wie lange die Verbindung besteht und in welcher Beziehung man zueinander steht. Ja, ich kann nur deine hören. Ich müsste mich trennen, um die eines anderen Lebewesens zu lesen. Und nur einer der Betroffenen kann die Verbindung durch Magie trennen. Aber da du keine besitzt, ist es für dich unmöglich. Nur ich kann das machen.


„Warum stehen wir überhaupt in Verbindung?“, flüsterte ich.
Darian stand auf und machte einen Schritt Richtung Tür. „So können wir uns unterhalten, ohne, dass man uns zuhören kann. Außerdem weiß ich so, wann du in Gefahr bist.“
„Wann soll ich schon in Gefahr sein?“, fragte ich.
Darian hob nur die Schultern. In zehn Minuten beginnt die Pause. Ich mache mich unsichtbar, und lenke den Bibliothekar ab, damit du hinaus kannst. Ruf mich, wenn du etwas brauchst.


Und mit diesen Worten, machte er sich unsichtbar. Er war einfach weg. Zack.
Irgendwie war das wieder deprimierend, aber ich schluckte alle schlechten Gefühle hinunter. Drei Papiere kamen auf mich zugeflogen. Darian trug seine Portraits zu mir.
Die sind gut geworden. Du kannst wirklich toll zeichnen, Lex.


Ich biss mir auf die Lippe und errötete. Danke. Aber ich will wissen, was du wirklich denkst.


Die Antwort kam nach einiger Zeit. Ich denke, dass du Talent hast. Ich denke, dass du wirklich aufpassen solltest, was du zeichnest. Das könnte dich verraten. Und ich frage mich, warum du mich so erscheinungsgetreu wiedergeben kannst…


Ich spürte, dass ich noch mehr errötete und zitterte innerlich vor Ungeduld.
„Ich lenk ihn jetzt ab. Tschau“, murmelte Darian. Ich war mir nicht sicher, ob er wusste, dass ich spürte, wie er näher an mich trat. Ich spürte die Wärme und roch es. Der Zimt umnebelte meine Sinne und ich schloss ganz kurz die Augen. Selbst wenn er es in meinen Gedanken las, schien ihn das nicht sonderlich zu stören. Er kam noch näher. Ich schluckte. Ich öffnete die Augen kurz und schloss sie gleich wieder, weil ich ihn ja doch nicht sehen konnte.
Lexi, ich möchte nicht, dass du Angst vor mir hast…


Ganz sanft und warm bildeten sich die Worte in meinem Kopf. Er nannte mich Lexi! Also wusste er wahrscheinlich, dass ich alles spüren konnte. Und bei dem Gedanken fühlte ich mich gleich viel sicherer und wohler. Ich hatte keine Angst, zumindest nicht in dem Moment. Außer vielleicht, dass mein Herz zu schnell schlug, oder dass mein Atem zu langsam ging. Ich erzitterte angesichts der Beweise, wie wohl ich mich in Darians Nähe eigentlich doch fühlte. Ich spürte, dass er noch näher trat, fühlte, wie er mit seiner Hand mein Gesicht berührte. Seine Haut war hauchzart und weich. Auch sie duftete. Meine Haut kribbelte an der Stelle angenehm. Da formten sich die neuen Worte in meinen Gedanken.
Aber es ist riskanter, wenn du furchtlos bist…
Warum?

, fragte ich ruhig.
Weil wir von zwei verschiedenen Planeten kommen.


Mit diesen Worten nahm er seine Hand herunter und ich spürte, dass er zurücktrat. Die Wärme und den Zimt nahm er mit. Ich blinzelte wie in Trance und sah, dass sich die Tür kurz öffnete. Im nächsten Moment hörte ich ein Knacken von Holz und das Geräusch von auf dem Boden aufschlagenden Büchern.
Nicht viel später begann Prof. Raimarer zu fluchen (ich hätte nie gedacht, dass Lehrer so viele und vor allem so schlimme Schimpfwörter kennen), ich hörte das Rascheln einer Zeitung und die schweren Schritte des Mannes.
Lauf, Lex, schnell! Und sei leise.


Ich schlich seltsam unbeschwert durch die Bibliothek. In einer Reihe bückte sich gerade der Professor nach einem der zehn Bücher, die Darian herunterfallen gelassen hatte, indem er das Regal beschädigt hatte.
Kaum war ich vor der Bibliothek, begann ich zu meiner Klasse zu laufen und sah auf die Uhr. Die fünfte Stunde endete gleich. Toll, jetzt hatte ich Mathe, Altgriechisch und Musik verpasst. Ich musste mir schnell eine Ausrede ausdenken… Eigentlich konnte ich Deutsch jetzt auch gleich schwänzen. Aber lieber nicht. Ich sagte einfach, dass mir schlecht geworden war und dann war ich vor Erschöpfung in der Bibliothek eingeschlafen. Genau. Perfekt. Total unglaubwürdig. Ach, egal.
Ich rannte so schnell ich konnte. Und während ich rannte schien die Trance, in der ich mich befunden hatte, abzufallen. Meine Gedanken erinnerten sich an die Wärme und Darians Worte… Und an seine Zurückweisung.
Ich bremste abrupt ab und kam vor Lukes Klasse zu stehen. Darians Worte trafen mich wie ein Abrissbirne. Weil wir von zwei verschiedenen Planeten kommen…
Mir stockte der Atem. Erst jetzt realisierte ich wirklich seine Worte. Er wollte nicht, dass wir uns näher kamen. Wahrscheinlich hatte er zu Hause auf- wie hieß es noch gleich? – Nemurok eine schöne Alien- Freundin, der ich nicht mal annähernd das Wasser reichen konnte.
Mein Magen zog sich zusammen und ich spürte ein Brennen im Hals. Jetzt nur nicht heulen… Ich biss mir fest auf die Lippe, und der Schmerz half mir, mich zusammen zu reißen. Es war sowieso besser, wenn wir keine tieferen Gefühle für einander entwickelten, immerhin war Darian ein Alien. Oder ich war eben einer für ihn. Nix da mit Gefühle entwickeln…
Und vor allem konnte Darian ja nicht für immer auf der Erde bleiben. Irgendwann musste er ja noch die Prophezeiung weiterverfolgen. Bei der nächsten Gelegenheit musste ich fragen, worum es in der Vorhersage ging.
Ich setzte mich in Bewegung und fand mich beim Waschbecken in der Toilette wieder. Ich fühlte mich um Jahre gealtert, aber ich sah immer noch genauso aus, wie vor ein paar Stunden. Ich hatte die wahre Gestalt des Aliens-
Sorry, Darian, ich meine natürlich, ich hatte die wahre Gestalt von Darian gesehen.


- gesehen und einen kleinen Nervenzusammenbruch gehabt, ich hatte erfahren, dass Darian meine Gedanken lesen konnte… und eine unschöne Zurückweisung erhalten. Toll!
Ich strich eine Haarsträhne glatt und fragte mich, ob ich in Augen von Darian hässlich war. Immerhin hatte er dieses ganze spitze Silberzeugs, schöne Augen und sich verfärbende Haut, die immer ein wenig leuchtete. Sicher war seine Alien- Freundin so etwas wie ein Topmodel der Supermodels.
Ich presste sie Lippen zusammen und wandte mich lieber andern Dingen zu.
Zum Beispiel der Pausenglocke, die in diesem Moment schrillte. Ich konnte hören, wie die Türen aufsprangen und sich hunderte Schüler auf die Gänge schoben. Die ersten stürzten schon ins WC, aus dem ich mich schleunigst verdünnisierte. Ich schlängelte mich durch die Menge und entdeckte auf einmal Luke. Im selben Moment, in dem er mich sah.
Er pflügte sich einen Weg zwischen den erschrockenen Erst- und Zweitklässlern hindurch und schob mich zum Fenster. Dann umarmte er mich fest.
„Ich hab gehört, du warst drei Stunden verschwunden? Deine Freunde haben sich echt Sorgen gemacht, sind überall herumgelaufen und haben deinen Namen gerufen. Wo warst du?“, begrüßte er mich und ließ mich los. Weil es am Gang so eng war, anscheinend hatten einige Klassen jetzt aus, standen wir ganz eng aneinander gepresst. Luke schien es nichts auszumachen, während ich an gestern Abend an den Bahnhof denken musste, wie er mit seinem Fingerknöchel sanft über meine Wange gestrichen hatte. Dieselbe Wange, die auch Darian gestreichelt hatte, fiel mir auf.
„Mir war schlecht. Und dann hab ich in der Bibliothek geschlafen“, log ich.
Luke runzelte auch dementsprechend die Stirn, sagte aber nichts dazu.
„Ich hab gehört, dass du am Zeichenwettbewerb teil nimmst. Lass mal sehen“, murmelte er und zog mir meine Zeichnungen aus der hand, die ich zusammen gerollt hatte.
Er pfiff anerkennend. „Wow, wusste gar nicht, dass du so was kannst. Wer ist das?“, fragte Luke und blickte mich beunruhigt an.
„Mein Cousin Drake.“
„Mhmmm… Sieht nicht schlecht aus der Kerl“, brummte Luke und gab mir das Bild zurück.
Ich stand mit dem Rücken zum Fenster, aber als die Sonne auf Lukes Gestalt schien, merkte ich es sofort. Klar, er sah super aus. Er war zwar ein Arsch, aber er war echt das Gegenteil von hässlich. Doch ich hatte Darian gesehen. Und der sah definitiv besser aus. Ich fühlte einen Stich in mir, aber ich ignorierte ihn ebenso wie alle anderen Gefühle, die in mir aufwallen wollten.
Anderes Thema. Luke.
Sollte ich ihm von Jakes SMS erzählen? Ich blickte mich nach dem Blondschopf um und fand ihn ganz in der Nähe. Als ich ihn ansah, deutete er auf seine Handy und schüttelte den Kopf. Das hieß wohl ich sollte es Luke nicht sagen. Aber genau das provozierte mich dazu, besagtes zu tun. Ich hatte schon den Mund geöffnet, als ein markerschütternder Ruf den ganzen Gang (und sicher gleich die ganze Stadt) verstummen ließ.
„Lex Eileen Dolsen!“, Shaunee trat in mein Sichtfeld und marschierte auf mich zu. Sie brauchte nicht auf die anderen zu achten, denn sie sah aus wie eine Rachegöttin aus der Modelagentur der Hölle. Sexy, aber verdammt wütend. Wegen meiner Wenigkeit.
Ich riss die Augen auf und schluckte. Dann schob ich Luke ein wenig zur Seite. Er trat neben mich, legte aber einen Arm um meine Taille, als wollte er mich beschützen.
Shaunee wurde von Monique und Mariella verfolgt. Unnötig war zu erwähnen, dass alle Schüler so weit wie möglich vor ihnen zurück wichen.
Scheiße.
„Lex Eileen Dolsen! Wie kannst du es wagen, drei Stunden lang zu verschwinden und dann nicht sofort zu mir zu kommen?! Ich habe mir Sorgen gemacht und dann finde ich dich bei diesem Volltrottel! Na, warte, du kannst was erleben!!!“, fauchte sie und baute sich vor mir auf. Monique und Mariella sahen mich ziemlich anklagend an. Ich biss mir wieder auf die Lippe.
In dem Moment spürte ich in meinen Gedanken so etwas wie eine Vibration.
Darian, was ist mit dir?


Die Antwort freute mich nicht gerade.
Nichts, ich lache nur. Spürst du das etwa?
Ja.


Die Vibration hörte auf und ich wandte mich wieder Shaunee zu, die mir ÄUSSERT wütend in die Augen starrte. Ich wusste nicht, ob ich lachen oder mich fürchten sollte. Ich entschied mich für keines von beidem.
„Wir telefonieren“, flüsterte ich Luke zu, drückte ihm einen unschuldigen Kuss auf die Wange und stellte mich ganz nah vor Shaunee.
„Du weißt doch, wie unzuverlässig ich bin. Du weißt, dass ich keine Gefühle und ein Herz aus Eis habe. Hast du selbst gesagt. Also darfst du nichts von mir erwarten. Tut mir Leid, dass ich so eine schlechte Freundin bin. Aber du musst mir wohl vergeben, so wie schon so oft.“
„Ich will eine Erklärung!“
„Ja, aber nicht hier und nicht jetzt.“
Shaunee kniff die Augen zusammen und stolzierte total scharf den Gang hinunter. Ich umarmte Mariella, die mit dem größten Herz der ganzen Welt. Dann nahm ich ihre Hand und auch die von Monique. „Monique? Ich erklär euch dann alles, aber bitte seid nicht sauer“, flehte ich. Das letzte, was ich jetzt brauchen konnte, waren drei Rache gesinnte Freundinnen.
„Weißt ja, dass ich nicht böse auf dich sein kann…“
Ich lachte. „Zum Glück!“
Als wir langsam losgingen, brüllte Shaunee um die Ecke: „Lex! Wenn ich dir verzeihen soll, dann komm sofort her!“

„Ich habe euch gebeten, Leselektüre mitzubringen. Jeder von euch ließt jetzt bitte, auch wenn er das Buch schon gelesen hat. Nächste Woche erwarte ich eine schriftliche Zusammenfassung des Buches. Wenn ihr Fragen habt, kommt zu mir“, sagte Prof. Cocoan, nachdem wir uns gesetzten hatten. Ich holte Lucian

von Isabel Abedi aus meiner Schultasche, die Mariella freundlicherweise aus dem Zeichensaal in die Klasse geschleppt hatte.
Es war mein absolutes Lieblingsbuch. Und obwohl ich die Zeilen schon fast auswendig konnte, versank ich schon nach kurzer Zeit in Rebeccas Geschichte.
Monique und Shaunee hatten Tribute von Panem und Schattenauge mit, auch wenn sie lieber Zettel miteinander schrieben. Ich blickte kurz zu Mariella und stellte fest, dass sie ganz und gar in Elfenkuss versunken war.
Darian meldete sich ganz überraschend. Du hast dir vorhin Gedanken über die Prophezeiung gemacht. Soviel ich weiß, hast du gerade nicht sonderlich viel zu tun, also kann ich sie dir ja sagen, oder?


Ich überlegte nicht lange. Ja, klar.


Unauffällig nahm ich ein Blatt und Papier zur Hand, um alles aufzuschreiben.
Bereit?
Ja.
Okay. Los geht’s!
Des Herrschers letzter Wille,
Friede im Land,
Friede überall,
verklingt in der Stille.

Nach seinem letzten Atemzug,
wenn sein Herz aufhört zu schlagen,
werden kommen Lug und Trug,
werden kommen Fragen.

Geboren noch in seiner Zeit,
diese sieben zu holen,
denn die Gerechtigkeit wurde gestohlen,
und diese sieben sind bereit.

Sieben Planeten, aber nicht unsere Welt,
gezeichnet durch die Lebewesen,
denen es zu zerstören gefällt.

Einer von jedem,
gefunden von sieben unsere eins,
dann müssen sie geben,
alles ihres Seins.

Erwählt ist jeder durch den Hauch,
auf seine Weise,
so nimmt man den Brauch,
und begleitet sie zu uns leise.

Ein Opfer aus tiefster Seele zerstört,
nie wieder geheilt,
denn der Schmerz eines der sieben,
selbst das härteste Herz geteilt.

Zu stehlen das letzte Vermächtnis des Alten,
verspricht Hoffnung,
lässt Gnade für immer vor dem Schicksal walten.

Nicht schlecht, oder?


Schnell vollendete ich die letzte Zeile. Es klang sehr… Unheil versprechend. Wenn ich es richtig verstand, ging es darum, dass irgendein alter, sehr mächtiger Typ starb und dass deswegen das „Böse“ an die Macht kam. Hmmm…
Ja, ich finde, es klingt… interessant.


Ich spürte wieder diese geistige Vibration, und irgendwie schien mich dass auf der Innenseite meiner Schädeldecke zu kitzeln, denn ich musste auf einmal krampfhaft den Impuls unterdrücken, meinen Kopf fest auf den Tisch zu knallen.
Darian, ich hab Unterricht. Ich treff’ dich in der Bibliothek.
Jaah, du kleiner Streber!


Er lachte wieder, und diesmal schlug ich mir die Hand an den Kopf, was nicht die kleinster Linderung verschaffte, sondern mir eher entgeisterte Blicke von Shaunee und Monique einbrachte. Ich grinste und flüsterte etwas von einem Stechen. Kopfschüttelnd wandten sich die beiden wieder ihrem Zettel schreiben zu. Ich stieß Mariella mit meinem Bleistift an.
„Weißt du, was die beiden da so begeistert tratschen?“, flüsterte ich und blickte zu ihnen.
Mariella schüttelte den Kopf.
„Hast du nach der Schule Zeit?“, hauchte sie.
Eigentlich nicht, wollte ich sagen, aber ich hielt mich zurück. Ich musste meine drei Stunden unentschuldigtes Schwänzen wieder gut machen. Also nickte ich. Sie strahlte.
Shaunee sah mich auf einmal scharf an. Was hatte ich verbrochen?!
„Shaunee? Was ist mit dir?“, flüsterte ich leise.
Monique antwortete an ihrer Stelle. „Du hast was bei uns gut zu machen, wegen der drei Stunden!“
Konnten die meine Gedanken jetzt auch lesen?
Ich verstand sofort. Natürlich wollten sie nicht wirklich etwas von mir haben (wobei, bei Shaunee war ich mir nicht sicher…), aber unter Freundinnen bot ich natürlich etwas an.
„Gehen wir heute zu dritt in die Stadt? Ich lade euch auf was ein“, murmelte ich.
Monique kicherte und hielt beide Daumen in die Luft, Shaunee schenkte mir ein herablassendes Nicken. Mensch, so viel Temperament musste man haben! Aber als ich aus den Augenwinkeln zu ihr linste, sah ich, dass sie lächelte.
Darian, nach der Schule geht es doch nicht. Ich geh mit meinen Freunden in die Stadt.
Stell mich ihnen doch vor!

Ich konnte mir sein breites Grinsen förmlich vorstellen.
Auf gar keinen Fall. Vergiss es.

Ich schluckte. Irgendwie hatte ich dieses ganz bestimmte Gefühl, dass etwas ziemlich unangenehmes passieren würde, stellte ich ihn meinen Freundinnen vor.
Bei mir hast du aber auch was gut zu machen. Schon vergessen, du hast mich angeschrieen.

Ich spürte wieder das Kribbeln, warum musste er auch so viel lachen?
Ich lad dich irgendwann anders ein.
Willst du etwa nicht, dass dein Freund mich mit dir sieht?

, fragte er, aber ohne zu lachen. Er meinte es sarkastisch, immerhin wusste er, dass Luke nur mein Vorzeigefreund war, aber ich spürte eine ganz leichte Schwingung… Wie… Eifersucht…
Ich bin nicht eifersüchtig. Los, du musst lernen.

Jetzt drängte er mich auf einmal dazu, zu lernen.
„Lex!“, riss mich Prof. Cocoan aus meinen Gedanken. Ich blickte vom Boden, den ich die ganze Zeit angestarrt hatte, in ihr fragendes Gesicht.
„Ja?“, fragte ich verwirrt.
„Zu lesen bedeutet, auf die Buchseiten zu sehen, nicht auf den Boden. Außerdem würde ich dich bitten, auf ein Wort mit mir nach draußen zu kommen.“ Sie stand auf, öffnete die Tür und hielt sie mir mit einer einladenden Geste auf. Toll, das kann nur wegen meiner Schwänzerei zu tun haben. Was ist nur in mich gefahren?! Ich habe heute Schule geschwänzt! Oh, du meine liebe Güte!
Während ich aufstand und unter den Blicken meiner Klassenkollegen zur Tür schwankte, verfluchte ich Darian in Gedanken mit den schlimmsten Worten, die mir einfielen. Wegen des Aliens hatte ich geschwänzt. Zugegeben, man fand nicht jeden Tag heraus, dass es Aliens gab. Aber ich hatte, ohne nachzudenken geschwänzt. Das konnte meine Betragensnote kosten. Arrrgh!
Als ich draußen vor der geschlossenen Tür stand, fiel mir zuallererst auf, wie laut es war. Irgendwo (vermutlich im Festsaal) wurden Musikinstrumente gespielt, aus der Nebenklasse drang der schiefe Gesang der Zweitklässler zu uns.
Prof. Cocoan sah sich Stirn runzelnd um. Sie war mein Klassenvorstand und somit zuständig für Probleme wie Schwänzen. Oh, Gott, ich hatte wirklich geschwänzt! (Ja, ich bin ein braver Schüler…)
„Lex, du kannst dir sicher denken, dass ich mit dir sprechen will, weil du heute drei Stunden lang geschwänzt hast. Warum hast du das getan? Wurdest du angestiftet? War es deine Entscheidung? Ich hätte das nie von dir erwartet!“, teilte sie mir in einem beleidigten Ton mit. Ein Sonnenstrahl verirrte sich und fiel kurz auf ihr Gesicht. Cocoan war in etwa 45 Jahre alt und sah trotzdem noch ziemlich gut aus. Sie hatte dunklere, von der Sonne gezeichnete Haut, moosgrüne Augen und silber- graue Haare. Sie hatte einmal erzählt, dass sie aus der Meeresregion kam. Sie trug zwar immer moderne Sachen, aber ich konnte sie mir trotzdem in einem Lederkleid und Muschelhalsketten vorstellen.
Zurück zum Thema. Sie sah mich mit einem weisen Blick an, der mir klar machte, dass es keinen Sinn hatte, zu lügen. Also rückte ich gleich mit der Wahrheit heraus.
„Ich hatte eigentlich nicht vor zu schwänzen. Aber… ich hab es dann doch getan. Es war meine hirnrissige Entscheidung“, seufzte ich.
„Wo warst du?“
„Ich habe in der Bibliothek geschlafen“, antwortete ich betreten und sah zu Boden.
Ich konnte ihr verwirrtes Blinzeln fast hören. „Du hast dort geschlafen? Hat das einen Grund?“ Sie machte eine Pause und setzte besorgt hinzu: „Kannst du denn zu Hause nicht schlafen?“
Ich schüttelte den Kopf. „Ich habe nur gerade sehr viel privat zu tun. Es tut mir wirklich sehr Leid. Es wird nicht mehr vorkommen, es war… Ich weiß nicht einmal wirklich, was mich dazu gebracht hat, zu schlafen.“
Genau genommen wusste ich es sehr genau (DARIAN), aber ich konnte meiner Professorin nichts von ihm erzählen.
Ich richtete meinen Blick auf sie. Cocoan schien zu überlegen. Dann kam ihr eine Idee. „Machen wir es so: Ich vermerke es jetzt nicht, weil ich dich für eine verantwortungsbewusste Schülerin halte, aber sollte noch einmal so etwas vorkommen, werde ich es ohne großes Tamtam melden. Außerdem hat mich Prof. Elbenstein gebeten, dass du mir die Zeichnungen für ihn mit gibst.“
Sie begann zu lächeln. „Ich bin schon gespannt, wer diesmal gewinnt.“
Dann drehte sie sich um und öffnete mir die Tür. Lauter gespannte Gesichter sahen uns entgegen und maulten enttäuscht, als sie uns lächeln sahen. Womit hatten sie gerechnet? Dass ich heulen würde? Ich nahm eine der drei Zeichnungen und trug sie zu Cocoan. Sie nahm das Bild entgegen und rollte es gespannt auf. Dann weiteten sich kurz ihre Augen.
„Wer ist denn das?“, fragte sie atemlos. Sicher dachte sie, dass ich meinen echten Freund gezeichnet hatte. Und noch sicherer war ich mir bei der Tatsache, dass alle Lehrer von Luke und mir wussten.
„Das ist mein Cousin Drake. Er fehlt mir sehr, weil ich ihn nur so selten sehe. Er ist so etwas wie mein bester Freund“, ratterte ich schnell herunter.
Prof. Cocoan hob eine Augenbraue, aber dann lächelte sie wieder ein wenig und forderte mich auf, zu meinem Platz zurück zu gehen. Ich stieß erleichtert Luft aus (was genau hatte ich denn erwartet?), und ließ mich wieder zwischen meinen Freunden fallen. Sie sahen mich kurz alle an, dann seufzten sie synchron (hatten sie das einstudiert?!) und wandten sich ihren Büchern zu.
Ich versuchte mich auch wieder auf Lucian zu konzentrieren, aber das funktionierte irgendwie nicht. Nervös sah ich auf die Uhr. Warum war ich so nervös? Was erwartete mich denn?
Schließlich schaffte ich es doch, meine Gedanken zum Thema Buch zu lenken.

Zehn Minuten bevor die Stunde endete, erhob Cocoan die Stimme und bat uns, unsere Bücher weg zu legen.
„So. Ich habe eine Idee, die manchen von euch weniger, manchen von euch mehr gefallen wird. Ich setze euch um“, kam Cocoan zum Punkt. Sofort stöhnten einige auf, ein paar sagten so etwas wie: „Neeeeeiiin!“ oder „Waruuuuum!“ oder am besten „Ich hasse das!“
Kaltblütig und mit einem leicht spöttischen Grinsen sagte uns Prof. Cocoan, wohin wir gehen mussten. Ich blieb in der zweiten Reihe, wanderte aber ganz an den Rand zum Fenster. Das war ja gar nicht so schlecht. Monique musste sich vor mich setzen, aber Shaunee und Mariella saßen in etwa am anderen Ende der Klasse. Mist!
Hinter mir saßen Annika und Rita, neben mir… Bill. Na toll. Dieser Vollidiot! Er war mit Luke, Jake und Oliver befreundet, ich glaube, das sagte so ziemlich alles, was es zu sagen gab.
„Hi, Lexi“, flötete er natürlich wie auf Kommando.
„Zunächst mal: Nenn mich nicht so! Und noch ein zunächst mal: Lass mich in Ruhe!“, knurrte ich. Lexi durften ich nicht viele Menschen nennen. Und er gehörte sicher nicht zu denen, die es durften. Bill wäre eigentlich ganz in Ordnung, wenn er nicht jeden noch so blöden Scheißdreck mitmachen würde. Er hatte weißblondes, kurzes Haar, graue Augen und war von schlaksiger Statur. Leider war er zehn Zentimeter größer als ich. So konnte ich ihm nicht auf den Kopf spucken. Hehehe…
So etwas macht man nicht

, tönte es in meinem Kopf.
Man nistet sich auch nicht einfach in fremden Köpfen ein, du Alien!

, gab ich zurück.
He, nenn mich nicht Alien!

, lachte er. Das kribbelte schon wieder auf der Innenseite meines Kopfes.
„He“ dich doch selber. Bist nämlich einer!

, knurrte ich und wandte mich Prof. Cocoan zu.
„Ich weiß, dass euch das jetzt nicht allen gefällt, aber in letzter Zeit haben alle ziemlich viel getratscht! Außerdem wäre es sicher gut, ich mit anderen als dem üblichen Freundeskreis anzufreunden.“
Diese gutgläubigen Erwachsenen. Ich sah mich um. Cocoan schien sich Notizen darüber gemacht zu haben, wer am wenigsten mit wem zu tun hatte, und hatte diese Personen zusammen gesetzt. Was erwartete sie? Dass Bill und ich auf einmal beste Freunde werden würde? Nur ein Wort: Niemals.
Zum Glück läutete es in dem Moment.
Alle schmissen ihre Sachen in ihre Taschen und versuchten sich aus der Klasse zu beamen.
An der Tür kam ich mit Shaunee, Mariella und Monique zusammen. Die drei diskutierten darüber, was sie sich von mir spendieren lassen wollten, ich hörte ihnen mit wachsender Sorge um mein Geld zu. Als wir auf die Treppen stiegen, blickte ich (wahrscheinlich hatte er das irgendwie gelenkt) genau in Darians Gesicht. Mir blieb kurz das Herz stehen und ich stolperte. Ich fing mich gerade noch, bevor ich wie ein Schlitten eine Schneise durch die drängelnden Schüler machen konnte.
Er lehnte ganz cool (mit neuen Sachen!!!) an einer der vielen Säulen.
Darian!!!
Ich hab ja gesagt, dass du dein Geschrei wieder gut machen musst. Also, nimm mich mit in die Stadt. Ich bin ja immerhin dein Drake.

Seine Stimme klang spöttisch, aber ich spürte, dass er es ernst meinte.
Darian, das ist wirklich eine ganz schlechte Idee.
Warum?
Weil ich so ein Gefühl habe.
Und immer wenn du jetzt irgendwelche Gefühle bekommst, soll gleich die ganze Welt nach deiner Pfeife tanzen? Vergiss es, Cousinchen. Ich warte draußen. Und falls du einen Umweg nimmst, finde ich dich trotzdem.
Ich hasse dich!

, stöhnte ich.
Ich spüre, dass du das nicht ernst meinst, war seine Meinung, dann glitt er elegant in die Menge und verschwand.
Ich verdrehte die Augen und kämpfte die Sorge in meiner Brust nieder. Es würde schon nicht schief gehen! Was sollte auch schon passieren (außer, dass sich Mariella, Monique und vielleicht sogar Shaunee auf ihn stürzten)?
Ich ging zum Spind, sperrte meine Tasche ein und zog mich an. Dann fasste ich mich und schluckte. Wow, war ich nervös.
Mariella, Monique und Shaunee stießen zu mir. Mariella begann zu sprechen: „Also, wie wär’s, wenn wir ins neue Café und dann ein bisschen herum gehen?“
Ich antwortete: „Da war ich doch schon gestern!“
Monique lachte. „Ja, du schon, aber wir nicht!“
Shaunee biss sich in die Lippe und lächelte dann. „Ich weiß, was ich haben will. Den teuersten Kaffee und die teuerste Torte!“
Monique und Mariella begannen zu lachen und schlossen sich Shaunee an. Toll, das würde teuer werden.
In dem Moment verließen wir das Schulgelände. Und natürlich erblickte ich Darian sofort, obwohl er anders aussah. Er hatte sich eine Sonnenbrille aufgesetzt, ein schwarzer Mantel wehte im Wind. Außerdem hatte er Schuhe an und… waren die Haare noch dunkler? Sie wirkten fast schwarz.
Na, wie gefällt dir dein Cousin Drake?
Ähm.


Ich sah ihn lächeln.
Ich statte dir einen Überraschungsbesuch ab.
„Lex!“, rief er auch schon. Und zog natürlich die Aufmerksamkeit von fast allen Schülern auf sich. Klar, die Lex, die alle von dem Drama mit Luke kannten, hatte einen bestaussehenden Cousin namens Drake, den sie ganz zufällig auch gezeichnet hatte. Echt toll. Fantastisch.
Aber ich hielt mich an die Rolle. „Drake!“, rief ich und hoffte, dass es überrascht- glücklich klang.
Shaunee und Mariella stand der Mund offen und sie sahen Drake und mich abwechselnd aus großen Augen an. Monique sah aus, als würde sie am liebsten in Ohnmacht fallen. Ich würde das liebend gern tun.
Ich spielte meine Rolle und eilte zu Drake, um ihn zu begrüßen.
Willst du mich umarmen?

, säuselte er.
Er trat auch einen Schritt zu mir und schloss seine Arme kurz um mich. Klar, er hatte mich vor zirka einer Stunde abgewiesen, aber das hieß nicht, dass ich die Umarmung nicht genoss. Seine Arme waren warm und stark, seine Schulter in genau der richtigen Höhe für meinen Kopf.
Lex!


Erschrocken ließ er mich los.
„Ähm… Drake, das ist Monique“, sagte ich und schob sie vor ihn. Sie brachte gerade so ein kratziges „Hi“ hervor, dann musterte sie mich, als wäre ich ihr fremd.
Ich zog Shaunee und Mariella her und stellte auch die beiden vor. „Das ist Mariella.“
„Hi!“, sagte sie liebenswürdig.
„Und das ist Shaunee“, sagte ich freundlich und kam mir ziemlich dumm vor.
„Hallo, Drake“, raunte sie.
Der nickte allen nur zu und ließ seinen Blick dann über die Menge streifen. Ich fühlte mich sehr unwohl. Shaunee und Mariella traten ungeduldig von einem Fuß auf den anderen, aber Monique presste nur fest ihre Lippen zusammen und zeigte mit ihrem Blick, dass sie eine Erklärung von mir haben wollte. Natürlich! Immerhin wusste sie, dass ich keinen Cousin namens Drake hatte, und schon gar keinen, der so aussah.
„Ähm, Drake, ich freu mich echt, dass du da bist, aber…“
„Ich versteh schon, dass du verwirrt bist. Wäre ich ja auch. Naja, ich bin eigentlich nur auf der Durchreise. Meine Mum und mein Dad wollen dann weiter nach Norden, also bin ich nur kurz hier. Und ich dachte mir, solange sie im Hotel sind, oder im Restaurant, kann ich doch bei meiner Lieblingscousine vorbei schauen!“, gab er in einer Begeisterung zurück, die ich ihm beinahe selbst abkaufte.
Ich musste mich wirklich bemühen, um da mithalten zu können. „Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie froh ich bin, dass du da bist! Nur… Shaunee, Mariella und Monique hatten eigentlich vor, mit mir in die Stadt zu gehen…“, murmelte ich und tat so, als müsste ich scharf nachdenken.
„Stört es euch, wenn ich mitkomme?“
Nein, Darian! Nein, nein, nein! Das geht einfach nicht! Das kannst du mir nicht antun!
Warum nicht, Lex, ich tu doch niemandem weh!
Aber-!
Bitte.
Nein!
Bitte.
Nein!
Lex…


Da unterbrach Mariella unsere unhörbare Diskussion. „Also wir hätten nichts dagegen, wenn er mitkommt, Lex, um uns musst du dir keine Gedanken machen“, sagte sie und lächelte Darian an. Der lächelte sie umwerfend schön zurück an, und ich konnte förmlich sehen, wie sie innerlich Luftsprünge machte.
Darian beugte sich zu mir und hob seine Sonnenbrille so weit an, dass ich seine Augen sehen konnte.
„Lex, bitte…“, flüsterte er, und ich roch den Zimt in der Nase.
Ich überlegte. Was würde passieren, wenn Darian mitkäme? Außer vielleicht, dass ein paar Mädchen ihre Herzen verlören…?
Nichts wird passieren, Lex. Ich bin allein auf einer fremden Welt. Wie viel Spaß glaubst du, hatte ich bisher? Erlaube mir wenigstens diesen kleinen Urlaub. Bitte… Lexi…


Ich gab mich geschlagen angesichts seiner mentalen Kräfte, mit denen er Druck auf mich ausübte. Es fühlte sich an als wären meine Gedanken Watte von der Kraft seiner Wärme.
„Gut, Drake kommt mit“, sagte ich und versuchte, zu lächeln.
„Danke“, gab der cool zurück und wandte sich Richtung Hauptplatz.
Ich trat neben ihn und hängte mich bei Monique ein, die sich misstrauisch neben mich stellte. Ich sah in ihren Augen, dass sie erkannte, wie unangenehm mir das alles war. Aber trotzdem sagte sie kein Wort.
Shaunee schubste ganz dezent Mariella aus dem Weg, die die andere Seite von Darian (Drake) ergattert hatte. Sie flötete: „Warst du schon einmal in dieser Stadt, Drake?“
„Hm, lass mich nachdenken. Ja, ein paar Mal“, antwortete er und wandte sich ihr zu. „Und gefällt dir die Stadt?“, fragte er unschuldig, aber ich spürte die anziehende Magie in seinen Worten mitschwingen. Ich kannte das ja schon, wie war das nur für Mariella, Monique und Shaunee? Ich wollte nicht, dass er sich an meine Freunde ran machte.
„Ach, ich liebe die Stadt. Es gibt viele Cafés, Kinos, Geschäfte… Alles, was man braucht, um einmal richtig abzuschalten.“
Er lächelte sie unmissverständlich an, und Shaunee, DIE Shaunee, bekam ein wenig rote Wangen. Ich musste sie an Jim erinnern.
„Shaunee?“, unterbrach ich die beiden. „War Jim schon in dem neuen Café?“ Widerwillig nickte sie. Ha! Drangekriegt!
„Jim ist Shaunees Freund“, gab ich Darian zur Erklärung. Was du ja bestimmt weißt!


Er blinzelte mich an und lächelte kurz listig an. Ja, er wusste es.
Mariella eroberte ihren Platz zurück und drängte Shaunee, die fast freiwillig neben Monique trat, weg. Sicher war ihr jetzt unangenehm, dass sie Jim vergessen hatte. Aber Mariella hatte keinen Freund. Das war wesentlich schwieriger.
Wie betraten den Platz durch eine schmale Gasse. Ich erkannte, dass es dieselbe war, aus der Darian schon Schneebälle geworfen hatte. War das wirklich erst gestern gewesen?
Neu gefallener Schnee verdeckte den Boden, aber das Eis darunter war nicht weniger glatt. Unsicher balancierte ich auf den Stellen, die am sichersten aussahen, während Darian fast mit spielerischer Leichtigkeit dahin schritt. Shaunee bewegte sich fast genauso sicher wie er, Mariella ging an sie geklammert und Monique stützte sich an der Hauswand ab. Kurz bevor wir aus der Gasse traten, kam es, wie es kommen musste: Ich verlor mit einem Japsen das Gleichgewicht. Meine Freundinnen hatten es anscheinend noch gar nicht gemerkt. Aber auf meinen „Cousin“ war Verlass. Gelassen glitt er mit einem geschmeidigen Schritt hinter mich, streckte die Arme aus und fing mich leicht auf.
Seltsam, dass es die anderen nicht gleicht hinlegt…
Halt die Klappe, Darian.


Drake, wenn ich bitten darf. Darian hat braune Haare, keine Sonnenbrille und keinen schwarzen Mantel. Außerdem ist er nicht so offen wie ich.
Klar. Weil du dich ja so „öffnest“. Außerdem: Woher hast du die Sachen?!


Er lächelte mich verschmitzt an. Die anderen blickten zu uns und bemerkten endlich, dass ich nur noch in Drakes Armen hing. Sie kicherten (Monique verzog nur leicht die Mundwinkel, ich musste später noch mit ihr sprechen) und neckten mich.
Die Polizei hat einen neuen- unerklärbaren- Fall, würde ich sagen. Ich liebe Magie, zum Glück kennt die auf der Erde keiner. Es war ein leichtes, die Sachen aus dem Geschäft zu schmuggeln.


Ich seufzte. Ich musste ihm noch Manieren beibringen.
Ich habe Manieren! Ich habe dich gerade davor bewahrt, dir die Nase oder so etwas zu brechen!
Haha. Wie lustig.

Finster riss ich mich los und marschierte ohne Hilfe quer über den Platz und riss die Tür zu dem Café auf. Im Rahmen drehte ich mich um und sah besorgt, wie Drake etwas sagte und Mariella zu Lachen anfing.
Ich machte mir einfach Sorgen um meine Freundinnen! Jaah, ein bisschen Eifersucht spielte auch hinein, aber ich wollte nicht, dass meine Freunde einem Alien verfielen. Irgendwann musste er ja gehen…
Ein Stich in meinem Brustkorb ließ mich nach Luft schnappen, als mir der Sinn meiner Gedanken bewusst wurde. Wie stellte er sich das vor?! Er hatte nicht einfach in mein Leben platzen können! Was sollte ich denn machen, wenn er nicht mehr da war?! Ich wusste von der Existenz von Außerirdischen! Meine Güte! Locker könnten sie mich in eine Psychiatrie einschicken. Könnte ich aufhören, an ihn zu denken? Nein, ganz sicher nicht. Er zerstörte mein Leben! Was sollte ich denn machen? Ein ganz normales Leben führen? Preise für eine Zeichnung von einem Gesicht einholen, das ich nie wieder vergessen würde? Ich konnte meine Gedanken nicht einfach abstellen! Vielleicht begingen so viele Menschen Selbstmord, weil sie Gesichter nicht mehr vergessen konnten und den Druck nicht mehr aushielten?
Ich hatte da Gefühl, dass mein Kopf platzte. Wie hatte mir erst jetzt klar werden können, was für Konsequenzen es hatte, von Darian zu wissen?! Die Welt begann bereits zu verschwimmen, wie gestern (gestern!?) im Zug. Mein Atem ging schwer und langsam.
Und gerade, als ich umzukippen drohte, legte sich Darians Hand auf meine Schulter. Die Körperwärme, die er ausstrahlte, schien sich zu vervielfachen und durch meinen ganzen Körper zu fluten. Ich verstand, dass er mir Kraft geben wollte. Und wer gab mir Kraft, wenn er nicht mehr da war? Wer war mein Schutzengel, der mich vorm Nasenbrechen abhielt? Wer würde mich zum Schwänzen bringen?
„Gott, Schatz, du bist ja ganz blass!“, rief Mariella und zog mich weg von Darian, zu einer der Bänke. Dort ließ ich mich fallen, weil ich mich so schwach fühlte. Toll.
Darian setzte sich neben mich, Mariella auf meine andere Seite, Shaunee zog sich einen Stuhl neben Darian und Monique lief auf das WC. Ich beschloss auch mit zu gehen.
„Ich komm gleich…“, murmelte ich und taumelte zu der Tür mit dem femininen Metallzeichen.
Gestern war die Tür leichter, das Licht nicht so gedämmt gewesen. Drinnen stützte ich mich beim Waschbecken ab und überprüfte, ob Monique und ich allein waren. Zum Glück war nur eine Kabine besetzt.
„Das ist nicht dein Cousin“, kam es aus der Kabine.
„Mhm… Nein“, gab ich zu und schloss die Augen, konzentrierte mich nur auf das Geräusch meines Atems.
„Du hast ihn gezeichnet, und noch am selben Tag kommt er zu dir. Du erzählst allen, dass er dein Cousin Drake ist, und er spielt mit“, stellte sie nachdenklich fest.
„Ja.“
„Du hast heute drei Stunden geschwänzt.“
„Ja.“
„Du hast dich mit ihm getroffen.“
Denk dir was aus! Sag es ihr nicht! Nein!

Darian schrie erschrocken und ich konnte mir vorstellen, dass sein Lächeln bei dem Gespräch, das er sicher gerade führte, erfror. Ich öffnete meine Augen.
„Ja“, flüsterte ich trotzdem.
Warum?!? Spinnst du jetzt vollkommen?!


Monique kam gemessenen Schrittes aus der Toilette und trat neben mich. Sie war blass, aber sonst war ihr nichts anzusehen.
„Ich mache mir Sorgen um dich. Luke ist nicht dein echter Freund, oder?“, fragte sie und sah mich direkt an.
Ich schüttelte den Kopf.
„Warum tut ihr so, als wäret ihr zusammen?“, ächzte sie jetzt und knetete nervös ihre Hände. Wenn die wüsste.
„Weil Luke sonst von der Schule fliegt. Er wollte mich schlagen, hat aber vor Imago vorgetäuscht, dass er mich nur küssen wollte. Jetzt müssen wir schauspielern. Ich mache mit, weil er ein paar wenig überzeugende Argumente vorbrachte, ich aber nicht klar denken konnte. In ein paar Tagen mache ich mit ihm Schluss. Erzähl es keinem“, sagte ich müde und blinzelte sie verschlafen an
Sie schluckte und begann ihre Haare zwischen ihren Fingern zu zwirbeln. „Wer ist der Typ da draußen? Dein echter Freund?“, setzte sie leise fort.
„Nein.“
„Wirst du es mir sagen?“
„Wahrscheinlich nicht. Es ist sehr kompliziert und würde dich nur belasten. Außerdem will er nicht, dass ich es dir sage.“
„Zwingt er dich zu irgendetwas?“, keuchte sie erschrocken.
„Nein.“
„Du kennst ihn seit…?“
„Gestern“, beendete ich den Satz.
„Ich hab es gemerkt. Du bist ein wenig anders… Und du willst nicht, dass eine von uns ihm näher kommt.“
„Nein.“
„Du magst ihn?“
„Ja.“
„Sehr?“
Ich seufzte. „Ja.“
Sie seufzte ebenfalls. „Mag er dich?“
Ich sah zu Boden und lauschte in mich. Das war eine Frage an Darian.
Ja, natürlich. Sonst würde ich nicht verhindern, dass du hinfällst.


Das Stechen in meinem Brustkorb ließ ein wenig nach. Ich fühlte mich wacher.
„Ja.“
Monique nickte und holte tief Luft. „Jetzt verstehe ich wenigstens die Sache mit Luke. Aber sonst… Naja, es ist alles ziemlich verwirrend. Aber verdammt, ich bin deine Freundin, und ich wage zu behaupten, dass ich eine deiner besten Freundinnen bin. Also befehle ich uns, dass wir uns zusammen reißen! Die Probleme, die wir nicht bewältigen, sollen noch erfunden werden. Also, bereit, zurück zu gehen?!“, sie plusterte sich auf und lächelte optimistisch. Ich hätte sie knutschen können. Monique und ihr ewiger Optimismus.
Wackelig torkelten wir aus dem WC- Raum und liefen zu unserem Tisch wo bereits eine Kellnerin stand. Ich erkannte, dass es Sarah war.
„Hey, Sarah! Wie geht’s?“, sagte ich und lächelte sie an. Ich setzte mich wieder neben Darian und Mariella.
Sarah blinzelte mich verwirrt an, dann schien sie sich zu erinnern und begann ebenfalls zu lächeln. „Hi! Sind das deine anderen Freunde? Ist der Trottel von gestern wieder da?“, fragte sie und grinste.
„Das sind Monique, Mariella, Drake und Shaunee. Nein, dieser Idiot ist heute glücklicherweise nicht da.“ Ich kicherte, und es war nicht gespielt. Ich fühlte mich tatsächlich besser. Vermutlich dank Darians Energie, aber auch egal.
Shaunee unterbrach Sarah und mich. „Was ist das teuerste?“ Sie blickte auf ihre Fingernägel.
Sarah kniff kurz perplex die Augen zusammen, dann antwortete sie: „Das ist eigentlich eher eine seltene Frage, aber bitte. Ich würde sagen… Chef’s Best.“
„Und was ist das?“
„Eine riesige Tasse Kakao- Milchshake mit Kaffeepulver, Früchten und ein paar Kugeln Vanilleeis. Nicht zu vergessen die Erdbeer- Soße.“
„Okay, ich würde sagen, einmal für uns drei Chef’s- Best“, sagte Shaunee und grinste Mariella und Monique an. Mariella blinzelte mich entschuldigend an.
„Hey, ich hab’s euch versprochen!“, erwiderte ich auf ihren Blick und wandte mich Sarah zu.
„Wieder eine heiße Schokolade.“
„Für mich auch!“, meldete sich Darian. Ich hab so was noch nie getrunken.
Nicht?! Aber du weißt doch von meinem Blut, wie das schmeckt!
Ich weiß, was du dabei gedacht hast, unter welcher Information du es eingespeichert hast, aber nicht, wie es wirklich schmeckt!

Er lächelte.
Sarah nickte und notierte sich alles, dann eilte sie zur Theke und gab die Bestellungen auf.
„Woher kennst du sie?“, fragte Mariella.
„Ich war ja gestern hier und da hab ich eine von Olivers Flirt- Attacken auf Sarah vereitelt.“
Mariella lachte. Ich sah zu Monique und bemerkte, dass sie Darian aus zusammen gekniffenen Augen musterte. Na toll.
Warum hast du es ihr auch gesagt?
Weil sie meine beste Freundin ist! Würdest du es deinen Freunden denn nicht verraten?


Darian schwieg kurz. Das weiß ich nicht

, sagte er dann.
Ich schnaubte leise und wandte mich Shaunee zu, die eine SMS schrieb. „Shaunee?“
Sie blickte verwirrt auf. „Jaja, ist nur für Jim.“
Ich nickte. Was war nur mit ihr los? Seit ich sie von ihrem Flirt- Thron herunter geholt hatte, war sie so seltsam still. Das war eine Eigenschaft, die Shaunee nicht besitzen sollte. Hatte ich sie beleidigt? Oder war es wegen Drake? Oder hatte sie einfach Schulgefühle?
Mariella holte mich aus meiner Gedankenwanderung zurück. „Drake, ich weiß eigentlich so ziemlich gar nichts über dich. Willst du uns nichts erzählen? Lex hat dich nie erwähnt“, sagte sie und schielte in meine Richtung.
Darian fasste sich und blickte in unsere Gesichter, wir alle warteten gespannt.
Na los

, stichelte ich. Ich dachte Drake ist offener als Darian.
Haha. Witzig.


„Also, Lex und ich sind väterlicherseits verwandt, deswegen haben wir leider nicht mehr so oft etwas mit einander zu tun, aber als wir kleiner waren, haben wir uns fast jeden zweiten Tag getroffen. Lex ist wie eine kleine Schwester für mich…
Naja, zu mir gibt es nicht viel zu sagen. Ich wohne mit meinen Eltern mal hier mal da, wo sie eben gerade ihren Job haben. Ist ein bisschen stressig, aber ich bin es sowieso schon gewöhnt“, erzählte er locker.
„Wie alt bist du?“, fragte Shaunee.
„Ich bin vor zwei Monaten sechzehn geworden.“
„Was hörst du so?“, schaltete sich Monique ein.
„Puuh!“, stöhnte Darian. „Das ist schwer.“ Weil ich nur weiß, was dir gefällt.
Dann nimm was davon.


„Richtung One Republic und so.“
„Wow, wie unsere kleine Künstlerin!“, warf Mariella ein.
In dem Moment kam Sarah und brachte auf einem Tablett unsere Drinks. Vorsichtig stellte sie die beiden Tassen mit der heißen Schokolade ab, dann holte sie den Chef’s Best hervor. Hatte ich jemals einen größeren Becher gesehen, konnte ich mich nicht daran erinnern. Und er sah auch toll aus! Mit den vielen Früchten, Erdbeeren, Himbeeren, Ananas-, Kokos-, Apfel-, Birnen-, Bananen-, Orangen- und Kiwistückchen, Kirschen, Marschmallows, Streusel, Schlagobers, Erdbeersoße, Kakaopulver und Vanilleeis. Und natürlich der Kakao, der alles abrundete. Wow. Wow. Wow.


Natürlich war mein nächster Gedanke: Scheiße, das wird teuer!


„Sarah!“, rief ich. „Wie viel kostet Chef’s Best?“
Sie sah auf der Karte nach. „Ähm, 9, 95Euro.“
Ich stöhnte auf. „Na hoffentlich schmeckt’s auch“, murmelte ich leise. „Drake, wir stoßen darauf an, dass ich bald wieder mehr Geld bekomme, gut?“, sagte ich dann lauter.
Ich nahm die Tasse in die Hand, Darian machte es mir nach. Dann prosteten wir uns zu und nahmen vorsichtig einen Schluck. Ich stellte die Tasse ab und sah gerade noch wie Darian verwundert lächelte und mit seiner Zunge seinen Milchbart abschleckte. Dann stürzte er den Inhalt der Tasse innerhalb von Sekunden herunter und lachte.
Mariella sah ihn ein wenig verwirrt an. „Ähm, Drake? Hattest du vielleicht Durst?“
„Nein“, lachte er. „Ich trinke nur so selten Kakao, obwohl ich ihn liebe!“
Er drehte sich zu Sarah. „Noch einen Kakao!“, rief er und lächelte mich an.
Das schmeckt fantastisch!
Ja, ich weiß!
Aber… WOW, ich habe noch nie so etwas Gutes getrunken!
Hm, ich hoffe, du hast auch genug Geld, um das zu bezahlen.
Ich habe… zweihundert Euro.


Ich schnappte nach Luft. WAS?! Woher?


Darian druckste ein wenig herum. Dann spürte ich auf einmal, wie ich innerlich ruhig wurde.
Darian, setze die Magie nicht bei mir ein

, sagte ich ruhig. Toll, jetzt konnte ich nicht einmal schreien.
Keine Sorge, heute Abend darfst du mich anschreien, was das Zeug hält. Ich hab das Geld aus den Jackentaschen von denen, die so ausgesehen haben, als würde es ihnen nicht so sehr schaden, ein wenig Geld zu verlieren.


Ich schnaubte. Heute Abend kannst du dich auf was gefasst machen.


Ich sah zu meinen drei femininen Geldräubern und musste ein Lachen zurückhalten. Anscheinend schmeckte der Becher sehr gut. Sie löffelten in Weltmeisterschafts- Tempo und achteten gar nicht auf uns.
Ich lehnte mich lächelnd zurück. Darian nahm seine zweite Heiße Schokolade entgegen und trank zwar diesmal in gemäßigten Schlucken, dennoch war die Tasse auch jetzt wieder schnell leer. Ich schob ihm meine zu, da ich jetzt gerade sowieso überhaupt keine Lust auf Kakao verspürte.
„Danke“, sagte er heiser und lehnte sich, mit der Tasse in den Händen, zurück. Während er ab und zu einen Schluck machte, beobachteten wir die Raubtierfütterung vor uns. Shaunee hatte einen Spritzer Erdbeer- Soße auf der Wange, Monique musste sich andauernd das Pony aus dem Gesicht streifen und Mariella schaufelte wie ein Bagger möglichst viele Himbeeren in sich hinein. Darian angelte mit einem langen Löffel kurz in das Glas und holte schnell Vanilleeis mit Kakao, Erbeer- Soße und ein paar Früchten heraus. Dann schob er mir den Löffel in meinen Mund.
Ich blinzelte überrascht.
Danke!
Keine Urschache. Gib mir schnell den Löffel, ich will noch was für mich haben.


Ich nahm den Löffel aus dem Mund, wischte ihn an einer Serviette ab und reichte ihn Darian, der sich dann blitzschnell was stibitzte.
Und ich verstand jetzt, warum sich Shaunee, Mariella und Monique so auf den Becher stürzten. Er schmeckte wirklich unglaublich gut.
Darian schien zu dem selben Schluss zu gelangen, denn er angelte sich immer wieder etwas. Ich musste bei dem Anblick lächeln.
Nach einigen weiteren Bissen gab Monique auf und ließ sich zurück fallen, Mariella sicherte sich noch ein paar Obststückchen, dann tat sie es Monique gleich und seufzte zufrieden. Shaunee wischte sich den Spritzer von der Wange und stand dann auf, um auf das WC zu gehen.
Im Becher war immer noch etwas. Darian schob die Tasse zu uns und gemeinsam löffelten wir den Rest. Ich konnte guten Gewissens sagen, dass ich mich zurückhielt, Darian hingegen… Naja. Es sah so ähnlich aus wie bei Mariella, Shaunee und Monique.
Als der Becher leer war, ließen auch wir uns mit einem Seufzen zurückfallen. Da kam auch schon Shaunee zurück und kicherte, als sie den Becher sah. Ich rief nach Sarah und sie kam, um das Geld abzuholen.
„Also… Drei Kakaos und einen Chef’s Best. Zusammen?“
„Nein, bitte einen Kakao und-“, begann ich, wurde aber von Darian unterbrochen.
„Ich zahle alles“, sagte er ruhig und lächelte mich an.
Warum machst du das?

Ich konnte ein Kopfschütteln nur schwer unterdrücken.
Nana, Cousinchen, tu nicht so, als würde ich das nicht öfter für dich machen.
Danke, Drake.
Keine Ursache.


Darian bezahlte und stand dann auf. Wir erhoben uns schwerfällig und schlüpften in unsere Mäntel, dann gingen wir aus dem Café. Langsam wurde es dunkler, was ich nicht so toll fand, ebenso wenig wie die Tatsache, dass feuchter, nasser, kalter Nebel aufwallte. Aber meine Freundinnen und Darian schien das nicht zu stören.
Wissen sie, dass du Angst im Dunklen hast?

Darian sah mich fragend an und blickte sich dann wachsam um.
Ich schüttelte leicht den Kopf. Natürlich nicht! In meinem Alter ist das ja auch sehr ungewöhnlich.


Mariella trat neben mich und hängte sich ein. „Lust auf Kino?“, fragte sie und zwinkerte Monique zu.
Ich begann zu lachen. „Immer!“
Shaunee trat näher. „Was sehen wir uns an?“
Während wir den Weg zum Kino einschlugen, überlegten wir.
„Wie wär’s mit Kokowäh?“, fragte Shaunee. Ich seufzte fast erleichtert auf, weil sie sich endlich wieder am Gespräch beteiligte. Ich rutschte schon wieder aus (war ja auch schon überfällig). Darian fing mich wieder einmal auf, stellte mich hin und gab ein Geräusch von sich, dass einem Kichern ähnlich war. Ich warf ihm einen Blick zu, der nicht gerade freundlich definiert werden konnte, aber noch immer war ich von der Ruhe erfüllt, die mich eisern festhielt.
Gerade, als ich einen Vorschlag machen wollte, meldete sich mein Handy. Es war meine Mutter.
„Hallo Lex, ich habe eine Bitte an dich. Würdest du bitte so schnell wie möglich nach Hause kommen? Ich muss heute Abend zu einer Besprechung in der Arbeit! Aber ich will Jenna und ihre Freundin nicht alleine lassen. Ich kann leider weder die Besprechung noch das mit der Freundin verschieben. Tut mir Leid. Felix hat leider auch keine Zeit. Also?“ Die Stimme meiner Mutter klang gehetzt, und ich hörte, dass im Hintergrund die Türklingel schrillte.
„Hallo Mum. Ja ich komm schon“, seufzte ich. Ich sah kurz auf die Uhr. „Um halb fünf bin ich am Bahnhof.“
„Oh, danke, Schatz! Ohne dich wäre ich total aufgeschmissen. Naja, bis um halb fünf. Tschüss!“
„Tschau“, stöhnte ich und teilte allen mit, was mir gerade am Telefon geschildert worden war. Die anderen machten mitleidige Gesichter, aber sie konnten mir nicht im geringsten helfen. Ich verabschiedete mich mit Umarmungen und sah dann Darian fragend an.
„Ich begleite dich zum Zug, dann geh ich ins Hotel zurück. Meine Eltern wollen mich sicher auch einmal sehen. Au Revoire, meine Damen“, sagte Darian ganz charmant und ließ sich vor jeder meiner Freundinnen auf die Knie sinken, um ihr einen Handkuss zu geben. Shaunee sah ihn lächelnd an, zog ihre Hand dann aber gleich wieder weg. Gut, dass sie Jim hatte. Monique erstarrte, ich glaube, sie atmete nicht einmal mehr. Mariella hingegen neigte leicht lächelnd ein Kopf und machte einen damenhaften Knicks. Dann begannen alle zu kichern, und Darian und ich gingen in die entgegen gesetzte Richtung als meine Eisfress- Champions.
Der Nebel wurde dichter, die Lichter gedämpfter. Außerdem kroch mir eine scheußlich Kälte unter meinen Mantel.
„Ich muss noch in die Schule, zum Spind. Ich habe meine Tasche darin eingeschlossen. Wobei, dann wird das mit dem Zug sehr knapp…“ Ratlos stand ich da und starrte in den Nebel, als stünde da irgendwo eine Lösung.
Ich hätte eine Idee…


Fragend sah ich zu Darian hin, der mich vorsichtig ansah.
Die wäre?
Du musst mir noch einmal vertrauen und du darfst nich schreien, oder dich wehern. Es kann rein überhaupt nichts passieren.

Er trat näher an mich.
Was hast du denn vor?
Teleport

, sagte er knapp.
Ich riss die Augen auf. So was geht?!
Natürlich. Also?

Er legte den Kopf schief.
Okay…

, willigte ich ein. Ich fürchtete mich ein wenig, aber ich war auch unglaublich neugierig. Wie sich das wohl anfühlen würde?
Darian lenkte mich ab, indem er noch näher trat, sodass ich den Zimt riechen konnte.
Ich muss jetzt die Ruhe von dir, und die menschliche Erscheinungsform von mir nehmen. Bitte erschrick nicht. Es beansprucht einfach nur verdammt viel Konzentration

.
Ich schluckte und nickte. Da hörte ich ihn erleichtert seufzen, als wäre er von einer unheimlich großen Last befreit worden. Die Ruhe in mir machte einem angespannten Kribbeln platz. Ich blickte auf und sah in Darians echtes Gesicht. Es war sehr ungewohnt, sodass ich zurückstolperte, doch dann trat ich wieder näher, als ich kurz etwas verletztes in seinen ungewöhnlichen Augen aufblitzen sah. Höchstens zwanzig Zentimeter trennten uns. Nachdem Darian die Augen geschlossen und einen zittrigen Atemzug ausgestoßen hatte, überwand er auf einmal die letzten Zentimeter, sodass wir eng aneinander geschmiegt dastanden. Ich unterdrückte einen zufriedenen Seufzer und lehnte mich an ihn. Das war schön. Er war warm und er duftete so nach Zimt, dass mir ein wenig schwindelig wurde. Plötzlich legte er seine Arme um mich.
Lenk mich jetzt ja nicht ab

, mahnte er leise. Was meinte er? Ach ja, und sieh auf deine Uhr am Handy…

Ich tat es. 15:54:45.
Der Teleport kam so überraschend, dass ich vergaß zu atmen. Ich schlug die Augen auf. Um mich herum war nicht mehr die Erde oder irgendetwas das ich so hätte benennen können. Alles was ich spürte und wusste, war dass ich zitternd an Darian gepresst dastand. Ich hörte ein lautes Brummen. Ich sah unglaublich schnell Farben und Formen herumwirbeln, die keine Bedeutung hatten. Auf meiner Zunge schmeckte ich etwas Metallisches… Blut! Ich hatte mir auf die Zunge gebissen! Das Brummen wurde lauter und vibrierte in mir, stimmte sich mit meinem Herzschlag überein, mein atmen setzte wieder ein. Die Luft oder was auch immer schmeckte süßlich.
Genauso schnell wie der Teleport gestartet hatte, endete er wieder. Schnell blickte ich auf meine Uhr. 15:54:46. Es war unglaublich. Ich sah mich um und fand mich tatsächlich vor meinem Spind wieder.
Schnell ließ Darian mich los, trat einen Schritt zurück und blickte mir ins Gesicht. Dann, mit Bedauern in den Augen, nahm er Drakes Gestalt an. Sofort durchströmte mich auch diese Ruhe, über die ich mich nicht einmal ärgern konnte.
„Teleport ist der Wahnsinn!“, stieß ich aus, nachdem ich meine Sachen aus dem Spind geholt hatte.
„Ja, ist ganz nützlich wenn man es eilig hat. Soll ich uns zum Bahnhof beamen?“, fragte Darian und wühlte in seiner schwarzen Manteltasche.
Ich zögerte. Was ist, wenn wir ankommen und da sind Menschen die dabei zusehen, wie wir aus dem Nichts auftauchen? Was hast du dir dabei gedacht, uns hierher zu portieren?! Hier hätte ein dämlicher Erstklässler stehen können!


Darian lächelte. Mein Reaktionsvermögen ist wesentlich besser als das von Menschen. Schon wenn ich den Boden berühre und du gerade mal merkst, dass wir da sind, könnte ich uns unsichtbar machen.
Du kannst mich auch unsichtbar machen?

Ich schnappte nach Luft.
„Ja, aber das ist verdammt anstrengend. Weißt du, um alle meine Fähigkeiten wirken zu können, muss ich mich immer sehr konzentrieren. Und das ist bei vielen Anwendungen auf einmal nicht sehr angenehm“, erklärte Darian und begann den Weg zum Ausgang zu beschreiten.
Mir ging ein Lichtlein auf. „Deswegen bist du sichtbar wenn du schläfst!“
Aber etwas war immer noch eigenartig gewesen. Warum hatte er die Menschengestalt bezogen gehabt?
Ich wurde speziell ausgebildet… mit sechs anderen… und uns fällt es leichter als den anderen Bewohnern von Nemurok, Magie anzuwenden. Das heißt, so etwas einfaches wie einen Deckzauber kann ich, ohne mich zu konzentrieren. Ist ja auch sehr leicht.


Ich ging still neben ihm her. Er und sechs andere. Er und sechs andere können besser Magie anwenden.

Er und…
Meine Gedanken wurden wattig, als hätte mein Gehirn einen Schutzmechanismus ausgelöst, der mich davon abhalten sollte, weiter zu denken. Ich versuchte es noch einmal, mit dem Ergebnis, dass ich so müde wurde, dass ich fast gegen die Tür knallte, die mir Darian aufhielt. Darian. Er machte das. HUNDERT PROZENTIG. Aber ich konnte nicht wütend sein.
Na warte, wappne dich schon einmal für heute Abend.

Ich blickte ihn aus zusammen gekniffenen Augen an.
„Jaja. Pass nur auf, vielleicht verpasse ich dir ja einen Schlafzauber, dann kannst du dich gar nicht mehr beschweren!“, lachte er und nahm mich am Ellenbogen, um mich über einen Eisplattensee zu führen, der im Laufe des Tages vor der Schule entstanden war. Wie konnten andere Menschen einfach so darüber laufen und noch nicht einmal leicht schwanken? Das Gleichgewicht war ungerecht verteilt.
Obwohl es immer noch einigermaßen hell war, leuchteten bereits die Straßenlaternen, in einigen Wohnungen brannte Licht. Es waren mäßig viele Autos auf den Straßen, aber dafür sah ich fast keine Menschen auf den Gehsteigen. Doch ich bremste abrupt, als ich eine Gruppe von Jungs wahrnahm, die an der nächsten Straßenecke lungerten. Ich erkannte sie sofort.
Darian, mach dich SOFORT unsichtbar!

, rief ich warnend. Er tat es, wenn auch widerwillig.
Warum denn? Sie werden schon nichts sagen, immerhin bin ich dein Cousin!

, maulte er.
Halt einfach die Klappe und lass mich alles regeln.

Ich war ein wenig unfreundlich, aber das war mir gerade eben egal. Luke, Jake, Oliver, Bill, Rick, Armin und Pete, die lungerten nämlich an der Ecke, mussten Darian ja nicht unbedingt jetzt sehen…
Zum Glück hatten uns die Trottel noch nicht entdeckt. Ich atmete tief durch und setzte einen Gesichtsausdruck auf, der von einer Eiskönigin hätte stammen können. Dann begann ich mit festem Schritt auf die Ampel an der Ecke, die ich überqueren musste, zuzugehen. Als ich nur noch sechs Schritte entfernt war, hörten die Jungs auf zu sprechen und ausnahmslos alle wandten sich mir zu. Brrr, war das unangenehm. Nach einigen Sekunden begannen einige zu grinsen. Luke kam von der Lehne einer Sitzbank herunter, die mit Graffitis voll gesprayt war, und begann sich zu mir zu bewegen. „He, Lexi! Wo warst heute die ganze Zeit? Ich hab dich nur einmal gesehen!“, sagte er, und ich bekam ein sehr schlechtes Gefühl dabei. Die anderen begannen zu lachen. Es konnte doch nicht sein, dass Oliver, Jake und Luke es weiter erzählt hatten! Das wäre sehr dumm. Je mehr Menschen von einem Geheimnis wissen, umso schwieriger wird es, es geheim zu halten.
Luke kam immer näher, blieb aber einen Schritt entfernt stehen. Zum Glück. Dieser Idiot brauchte mir nicht näher zu kommen.
Unauffällig sah ich mich nach anderen Menschen um, aber da war niemand, vor dem man hätte schauspielern müssen, außer vor Lukes Gefolgschaft. Sie führten sich auf wie Volltrottel. Jake und Armin nahmen Lukes Platz ein und setzten sich auf die Lehne, die anderen begannen mich böse anzugrinsen. Das war sehr, sehr schlecht. Ich hatte hier einen Schläger vor mir, möglicherweise waren Armin und Jake auch welche, und vier hirnlose Affen auf einer Bank, die alles toll finden würden, was der große Luke auch täte. Aber… hatte er sie nun eingeweiht? Oder bestand die winzige Hoffnung, dass er kein Sterbenswörtchen gesagt hatte?
Ich scharrte unruhig mit meinem Fuß auf dem Beton. Die Straßenarbeiter hatten mit Salz gestreut, so war der Boden jetzt trocken. Sehr gut. So konnte ich schneller weglaufen…
He, vergiss nicht, dass ich ja auch immer noch da bin. Ich helfe dir schon, wenn du Hilfe brauchst.


Ich fühlte mich ein wenig besser, wenn auch nur geringfügig. Um diese unangenehme Stille (naja, Stille war das falsche Wort, mit dem Raunen der Jungs im Hintergrund war es, nun, ein Raunen) zu übertönen, sagte ich wachsam: „Ich war mit meinen Freundinnen in der Stadt.“
Luke schwieg kurz und blinzelte mich an. Dann begann er leise: „Ich hab dich da aber auch mit einem anderen gesehen.“
Was? Luke war auch in der Stadt gewesen? Wo hatte er uns gesehen? Ich meine, theoretisch hatte man uns, als wir nur hinter der Glasscheibe im Café gesessen hatten, von außen jederzeit betrachten können. Also, Lex. Schnelle Antwort.
„Das war mein Cousin Drake!“, entgegnete ich und sah Luke fest in die Augen, um zu beweisen, dass ich nichts verbrochen hatte.
Er nahm meinen Arm. „Komm, ich bring dich zum Bahnhof. Du musst mir noch was erklären.“
Ich ließ mich äußerlich ohne Widerstand führen, doch innerlich zerkochte ich gerade Lukes Einzelteile.
Ich versuchte aber, mich zu beherrschen. Da fiel mir auf, dass ich zwar nicht über Darian, sehr wohl aber über Luke wütend sein konnte. Angesichts dessen schüttelte ich den Kopf, was Luke dazu brachte, mich verwirrt anzusehen. Aber ich begann erst zu sprechen, als wir weit außer der Hörweite von Lukes Speichelleckern waren.
„Wissen sie irgendwas?“, fragte ich ein wenig ungehalten.
„Natürlich nicht! Wofür hältst du mich? Nein, warte, ich will’s nicht wissen“, versuchte er zu scherzen.
Ich fand es nicht im geringsten lustig.
Luke sprach mit gerunzelter Stirn. „Schon wieder dein Cousin Drake… Ich frag mich, ob da was läuft.“
Ich blieb stehen und starrte in aus aufgerissenen Augen an. „Das glaubst du doch selbst nicht. Nur weil ich jemanden anderen als dich zeichne und einmal mit meinem Cousin in die Stadt gehe, heißt das noch lange nicht, dass ich gleich nicht mehr… deine-“ Ich senkte die Stimme. „- Schein- Freundin bin.“
Empört darüber, dass es so dämliche Menschen gab, die einfach nicht akzeptieren wollten, wenn andere Menschen ihre Verwandten trafen, stapfte ich weiter.
Luke holte mich ein. „Ja, okay, tut mir ja Leid. Er ist dein Cousin… Aber… Du musst aufpassen, dass man dir die Rolle auch abkauft. Ich glaube, alle Lehrer sollen aufpassen. Und wir waren heute nur einmal kurz am Gang zusammen…“
Ich dachte nach. „Mir ist auch schon aufgefallen, dass die Professoren mich irgendwie eigenartig ansehen. Und wenn dir das heute zu wenig war, dann würde ich sagen, dass ich ab jetzt etwas mehr am Gang herumlungere. Aber wenn du dann nicht kommst, bist du selbst schuld.“
In unser Gespräch vertieft, waren wir am Bahnhof angekommen. Wir betraten die Eingangshalle. Auch wenn wir niemanden sehen konnten, der von unserer Schule war, wir sollten besser schauspielern, vielleicht wartete irgendwo ein Lehrer hinter einer Säule. Man, war ich paranoid.
Luke umarmte und küsste mich. Wieder war es eigenartig. Seine Hände waren stark, warm, drängten, seine Lippen waren sanft und vorsichtig. Eigenartig. Höchst eigenartig. Ich gab mich dem Kuss hin und irgendwas in mir schaltete sich ab, ebenso wie die Tatsache, dass Darian nicht nur zusah, sondern auch meine Gedanken las. Ich achtete auf nichts, genoss einfach, bis die Meldung durch die Halle schallte, dass mein Zug in einer Minute abfuhr.
Wir lösten uns, ich war noch ein wenig benebelt, und Luke strich wieder über meinen Wangenknochen, dann ging er verwirrt hinaus. Ich wandelte schnell die Treppen hinunter und hüpfte in den Zug, einige Sekunden später fuhr er ab.
Ich setzte mich und machte mir bewusst, was in den letzten Sekunden passiert war. Mit einem Schlag sprang ich auf, ging langsam zum WC (immerhin befand ich mich in einem Zug) und spülte dort meinen Mund so gründlich es ging, aus. Ich hatte Lukes Kuss genossen! Iiiieeeeeerrrrrrrggggghhhhhhhuuuuaaaaa! Nein, nein, nein! Das war Luke gewesen! Luke! Ich hatte gerade Hochverrat an mir selbst begangen. Wie hatte ich vergessen können, was für einen abscheulichen Trottel ich da geküsst hatte?! Irgendetwas war mit mir nicht in Ordnung. Hätte man mir vor einer Woche gesagt, dass ich Luke als Schein- Freund haben würde, wäre ich schreiend weggelaufen und hätte alle Beweise dafür verbrannt. Aber so… Trotzdem, es gab keine Entschuldigung, dafür, dass ich gegen meine natürlichen Gesetze verstoßen hatte. Ich biss mir zur Strafe in die Wange und verließ das WC. Zum Glück sah man mir nichts an.
Unruhig setzte ich mich zu meiner Tasche, die ich bei meinem Sitz gelassen hatte, und versuchte dann, Darians Spiegelung ausfindig zu machen. Aber ohne Erfolg. Wo war er?
Darian?
Ja, bitte?
Wo steckst du?
Hm, nicht im Zug.


Ich war so geschockt, dass ich aufhörte zu atmen.
Wo dann?

, ächzte ich und schloss kurz die Augen, dann nahm ich wieder Luft in meine Lungen auf.
Ich bin noch in der Stadt und folge Luke. Ich will ein wenig über ihn herausfinden.
Wa-! Aber du…! Und… Wann kommst du wieder?
Keine Sorge, ich kann portieren. Ich will nur wissen, was er und seine Freunde reden.
Ich…

In Gedanken machte ich ein genervtes Geräusch, das man nicht buchstabieren konnte. Dann resignierte ich. Okay. Vergiss aber nicht, dass ich dich noch ordentlich zusammen schreien muss und dass ich eine Menge Fragen habe.
Keine, Sorge. Ich vergesse selten etwas.
Mhm. Schön.


Ich wandte mich wieder dem Fenster zu. Es war jetzt dunkel, obwohl es gerade mal zehn nach vier war. Ich mochte den Sommer eindeutig lieber als den Winter.
Ich hatte jetzt also Darian- freie Zeit, soweit man das nicht auf meine Gedanken bezogen meinte. Was sollte ich wohl machen, wenn ich zu Hause war? Am besten Hausübungen erledigen und die Arbeiten nachtragen, die ich während des Schwänzens versäumt hatte. Dann musste ich mich um meine Schwester und ihre Freundin kümmern (heißt: Sofa im Wohnzimmer ausziehen, Decken und Polster, Popcorn, Chips; Schokolade und Eistee servieren, DVDs auf den Tisch legen und dann leise sein).
Ich konnte mich ja einfach einmal entspannen oder ein Bad nehmen. Genau! Ein Bad! Perfekt, wenn keine Aliens im Haus waren.
Nenn mich nicht Alien, sonst komm ich genau dann ins Badezimmer, wenn du nackt daliegst und dich nicht wehren kannst

, knurrte er und lachte gemein. Das verursachte kein Kribbeln auf meiner Kopfhaut, sondern eher ein Vibrieren, was aber nicht weniger schlimm war.
Wenn du das tust, spreche ich kein Wort mit dir.
Ich hab die Magie in Besitz, vergiss das niemals, Schätzchen.
Jaja. Schon klar.


Aber in mir zog sich etwas unangenehm fest zusammen. Wenn er wirklich ins Bad kam, während ich nichts anhatte…
Meine Güte! Ein bisschen Vertrauen musst du schon haben!


Ich konnte ja einen Bikini anziehen!
Du bist wirklich so dumm! Natürlich werde ich nicht genau dann in das Badezimmer kommen. Ich habe auch einen gewissen Stolz! Menschen!


Er schnaubte.
Ich besah mir lieber meine Fingernägel. Die würde ich mir auch ablackieren.
In dem Moment begann der Zug langsam abzubremsen und fuhr in die Station ein. Ich sah schon das Auto meiner Mutter und ihr gestresstes Gesicht im Schein der Lampen. Wieso konnte sie nicht einfach einen besseren Job haben? Einen, der sie nicht von ihren drei Kindern (ja, ich weiß, dass ich mich gerade als Kind bezeichnet habe) und der Wohnung wegzog, einen, bei dem sie nicht wie Dreck behandelt wurde.
Tja, sie bräuchte eine Beförderung oder eine Versetzung, aber die würde sie vermutlich nicht bekommen.
Missmutig stieg ich aus dem Zug und schlurfte zum Auto. Als ich endlich drin war, fand meine Mutter gerade einmal Zeit mir ein „Hallo, Schatz, tut mir Leid, kommt nicht mehr so oft vor“ zuzumurmeln, dann läutete ihr Telefon und sie begann ein scharfes Gespräch mit einem Mitarbeiter zu führen, während sie in halsbrecherischem Tempo zum Wohnhaus raste.
Vor der Wohnung stieg sie gar nicht mehr aus. „Steht alles im Kühlschrank, komme erst um Mitternacht. Muss weg, hab dich lieb, tschau!“, warf sie mir ins Gesicht, als ich noch kurz die geöffnete Tür in der Hand hatte. Dann fuhr sie schon weg und ließ mich allein. Mal wieder.
Hey, ich hatte nichts dagegen, auf meine Schwester und ihre Freundin allein aufzupassen, ich mochte es nur nicht, wenn meine Mum einfach so überstürzt weg fuhr.
Mit einem Seufzen trat ich zur Wohnungstür, sperrte auf und fand mich im irgendwie in der Küche wieder.
„Jenna!“, brüllte ich durch die Wohnung. Sie und ihre Freundin, Leila, wie ich erkannte, kamen zu mir.
„Ja?“
„Was wollt ihr Abendessen?“
„Spaghetti!!!“, riefen sie im Chor. Ich sah im Kühlschrank nach, und da standen sogar noch welche. Sehr gut, da musste ich nicht meine katastrophalen Kochkünste unter Beweis stellen. Ich stellte die Schüssel mit den Nudeln und der Soße in die Mikrowelle, und während alles warm wurde, deckte ich den Tisch und begann das Sofa zu einem Bett auszuziehen.
Jenna und Leila saßen schon brav am Tisch, als ich das Essen servierte und aßen mit Heißhunger, obwohl es erst halb fünf war.
„Lex, heute haben wir gehört, dass wir morgen Haustiere mit in die Schule nehmen dürfen.“
„Ach ja?“ Ich überzog das Sofa und richtete die Kissen, dann legte ich eine Auswahl von 23 DVDs bereit, das sollte reichen.
„Und ich will meine Mäuse mit nehmen!“, kam es vom Tisch.
Ich wollte mich jetzt auf keine nervige „Aber Mama hätte es erlaubt“- Diskussion einlassen und sagte gleich zu.
„Aber!“, stellte ich die Bedingung und unterbrach das freudige Aufkreischen der zwei Mädchen. „Aber ihr müsst heute Abend alle Tiere pflegen. Und ihr dürft nicht länger als bis um halb zehn aufbleiben. Morgen ist Schule.“
Jenna und Leila nickten ungeduldig, dann begannen sie darüber zu sprechen, was eine gewisse Isana wohl mit bringen würde.
Ich richtete Knabberzeug und Süßes her, machte den Abwasch, aß selbst ein wenig Spaghetti, schrieb die Hausübung und machte die Schulübungen, lüftete das Haus, sah nach den Mädchen und sperrte mich dann endlich mit einem erleichterten Seufzen im Bad ein.
Ich liebte Bäder, unser Badezimmer aber war etwas besonderes. Zunächst mal: Da war diese fette, echt protzige Badewanne mitten im Raum. Außerdem standen überall festgewachsenen Kerzen und Schälchen mit Duftölen. Und zu guter letzt: Die Decke des Zimmers. Es war nicht einfach nur eine Decke. Sie war schwarz gestrichen, und in der Decke waren tausende kleine Lämpchen eingelassen, die wie Sterne funkelten.
Ich ging zur Wanne und ließ das dampfende Wasser ein, dann fügte ich so viel Badeschaum hinzu, dass die Blasen schon fast über den Beckenrand schwammen. Ich richtete mir meine Unterwäsche und den Bademantel, dann zog ich mich aus. Es war seltsam beunruhigend, denn ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, dass ich beobachtet wurde. Als ich dann schnell ins warme Wasser glitt und warme Schauern meinen Körper überliefen, fiel alle Anspannung von mir ab. Ich ließ mich zurück sinken und schloss zufrieden die Augen, während ich die Düfte einatmete und einfach nur abschaltete.
Darian, du kannst dir Zeit lassen, wo auch immer du bist

, dachte ich wohlig und tauchte einmal kurz unter Wasser.
Jaja, wie ich an meinem Körper merke, gefällt dir das Bad wohl, was?

, gab er nachdenklich zurück.
Mit einem Schlag fuhr ich hoch und sah mich gehetzt um.
Was meinst du mit „An deinem Körper“? Du bist ja nicht hier, oder?!
Nein, aber anscheinend geht die gedankliche Verbindung allmählich tiefer. Ich spüre zum Beispiel, dass du in heißem Wasser und viel Schaum liegst, dass dich gerade ein warmer Schauer überlaufen hat, und jetzt ein kalter. Du hast vorhin Spaghetti gegessen.


Ich riss die Augen auf. Aber! Du kannst doch nur meine Gedanken lesen!

Erneut überlief mich ein kalter Schauer.
Das dachte ich auch… Tja, man lernt immer dazu.


Ich ächzte.
Hey, lass dir jetzt dein Bad nicht versauen. Ich bin nicht da, also entspann dich.
Das geht jetzt recht schwer!

, erwiderte ich und schnaubte. Trotzdem versuchte ich es. Natürlich erfolglos. Wie sollte ich mich denn entspannen, wenn Darian alles, was ich spürte, am eigenen Körper fühlte?
Kannst du das abstellen?

, fragte ich nach unangenehmen fünf Minuten.
Ich konnte ihn seufzen spüren. Das war sehr ungewöhnlich. Es fühlte sich an, als hätte ich geseufzt, aber mich weder bewegt, noch ein Geräusch von mir gegeben.
So fühlt sich das alles für mich an. Und nein, ich kann es nicht abstellen. Vermutlich erst, wenn ich die Verbindung trenne, aber das will ich nicht machen.
Warum nicht?

Die Aussicht meine Gedanken für mich zu haben, war sehr beruhigend und angenehm.
Ist es so schrecklich für dich, mit mir in Verbindung zu stehen?


Nun seufzte ich. Nein…
Na also. Es ist sicherer für dich, deswegen. Ich muss dir sowieso bald alles erklären.
Ja bitte, denn alles ist ein Urwald, bei dem ich nicht mehr durchblicke.


Er seufzte. Übrigens, nur, falls du es wissen willst, Luke spricht nicht über dich, auch wenn die anderen immer wieder versuchen, auf das Thema zu kommen.


Ich nickte desinteressiert. Dann nahm ich das Haarshampoo und begann meine Haare einzureiben. Der angenehme Geruch von Vanille umhüllte mich und ich konzentrierte mich ganz und gar auf die künstliche Sterne über mir. Ich schloss die Augen, um in mich zu lauschen. Ich wollte mich fragen, ob die Verbindung unangenehm für mich war.
In mir pochte mein Herz in normaler Geschwindigkeit, mein Atem ging angenehm langsam, mir war warm und alles roch gut. Aber was mein Wohlbefinden am meisten steigerte, war wohl die Wärme in mir. Dieses sichere Gefühl und die Art, wie es in mir wabberte konnte man sicher nicht als schlecht einstufen.
Ich spülte mein Haar aus und begann eine gründliche Rasur durchzuführen. Erst danach wurde mir klar, dass Darian vermutlich alles gespürt hatte, und meine Wangen wurden verdammt noch einmal so heiß, dass es gar keinen Ausdruck dafür gab.
Und weil mich das so unruhig stimmte, stieg ich aus der Badewanne und trocknete mich ab. Ich föhnte die Haare, putzte meine Zähne und band mir den Bademantel um, dann verließ ich das Zimmer und ging schnell ins Wohnzimmer, um nach den Mädchen zu sehen (ob sie etwas angezündet hatten oder ähnliches angestellt hatten).
Sie hatten nichts dergleichen getan, sondern hatten sich eine Burg aus Kissen gemacht, auf der sie saßen und gespannt einem Film zusahen, der gerade lief. Die Popcorn- Schüssel lag umgestürzt am Boden, doch es schien nichts mehr darin gewesen zu sein. Sonst lagen überall zwischen den Decken offene Packungen von Süßkram, den ich aber liegen ließ. Ich erkannte den Film und musste mich beherrschen, um mich nicht zu den Mädchen zu setzen. Es war Wall-e, ein grandioser Erfolg der Disney- Produktion, den ich mir heimlich gern ansah (total uncool, ich weiß), nur Monique und Mariella wussten von meiner Schwäche für Kinderfilme.
Ich riss mich von der anklagenden Geschichte los und ging in die Küche, um meiner Schwester und ihrer Freundin noch einen Kakao zu machen. Ich wusste, dass sie so tun würden, als wäre das total unnötig, aber wenn ich einige Zeit später kommen würde, wären die Becher leer. Als ich die Tassen gemacht hatte, musste ich daran denken, wie sehr sich Darian in Heiße Schokolade verliebt hatte.
Darian, wann kommst du?
Ich bleibe nicht mehr lange, höchstens zehn Minuten, warum?
Sag ich nicht, und wehe dir, wenn du in meinen Gedanken nach der Antwort suchst!

, antwortete ich und grinste in mich hinein.
Dann machte ich mich daran, noch eine Tasse mehr (für Darian, natürlich) zu machen und stellte zuerst den Kakao für Leila und Jenna auf den Sofatisch.
„Sind wir kleine Kinder?“, kam es von Jenna, die aber nicht her gesehen hatte, denn ihr Blick klebte am Bildschirm fest.
„Trotzdem danke“, sagte Leila, die sich ganz und gar auf die Geschichte konzentrierte.
Ich entschloss mich doch dazu, den ganzen Müll und die Süßigkeiten weg zu räumen, immerhin wollte ich ja nicht, dass sie morgen Bauchweh hatten. Dann fuhr ich alle Rollläden herunter und bereitete die ganze Wohnung (außer Felix’ Zimmer selbstverständlich) auf die Nachtruhe vor. Dass ich mich wesentlich besser fühlte, als ich die Dunkelheit ausgesperrt hatte, ignorierte ich.
Schließlich gab ich Jenna und Leila beiden einen „Gute- Nacht- Kuss“ auf die Stirn und zog mich dann mit dem Kakao in der Hand in mein Zimmer zurück. Jenna hatte sich wirklich um alle Tiere gekümmert, Molly lag zusammen gezogen in ihrer Ecke, Gangster saß wie immer auf einem alten Kleiderständer und Jack hatte sich auf meinem Kopfkissen zusammen gerollt.
„Na?“, fragte ich und hob ihn in seine Kissenecke, wo er sich ungestört niederließ und mich aus großen Augen ansah.
„Schönen Tag gehabt? Heute kommt noch jemand vorbei. Er heißt Darian. Ihr braucht keine Angst zu haben, ich weiß, dass er seltsam ist, und ungewöhnlich, aber man gewöhnt sich an ihn.“
Ich streichelte über Gangsters Gefieder und drehte dann das Licht im Zimmer ab. Ein kalter Schauer überlief mich, bis ich den Schalter für mein Leselicht gefunden und gedrückt hatte.
Ich setzte mich aufs Bett, zog meine Beine an und sah mich um. In dem Moment teleportierte Darian sich direkt vor mich. Ich wollte überrascht aufschreien, aber ich unterließ es und griff fest in meinen Polster. Er setzte sich auf meinen Büro- Stuhl und ließ sich seufzend zurück sinken.
„Hallo, Lex“, sagte und gähnte dann, wobei er seinen Mund so weit aufriss, dass es schon grotesk wirkte.
Ich schluckte und deutete auf den Tisch, wo die immer noch dampfende Heiße Schokolade stand, und ihren verführerischen schokoladigen Geruch zu mir wabbern ließ. „Ist für dich“, murmelte ich.
Ich brauchte gar nicht aufzusehen, um Darians erfreutes Gesicht zu sehen, denn ich konnte es spüren. Es war, als würde ich grinsen, doch ich wusste, dass ich meine Mundwinkel nicht nach oben gezogen hatte. Denn ich hatte eine Menge Fragen an Darian. Immerhin war er ein Außerirdischer! Oh du meine Güte!
Ich versuchte langsamer zu atmen. Irgendwie war ich jetzt doch dankbar für, die Ruhe, die dank seiner Magie in mir herrschte. Ich schüttelte mich, um meine Müdigkeit zurück zu drängen.
„Danke!“, sagte Darian, der die Tasse inzwischen ausgetrunken und auf den Tisch gestellt hatte. „Also, du hast viele Fragen… Ich würde sagen, dann fang mal an.“ Aufmerksam blickte er mir in die Augen. Ich sah mich in meinem Zimmer um, weil ich dem eindringlichen Blick nicht standhalten konnte.
Okay. Darian. Hast du einen Nachnamen?


Mir war noch nie aufgefallen, dass auf meinem Schrank so unheimliche Schatten tanzen konnten. Erschrocken ließ ich meinen Blick weiter wandern.
Nachname… Ja, ich habe einen. Mein Name ist Darian Larcrimea.


Ich sah ihn an. Das klingt… kompliziert.


Er schmunzelte. Für dich vielleicht.
Ja. Okay. Ähm. Wie kommt man auf die Erde?


Ich spürte ihn seufzen. Magie. Bei mir zu Hause wurde das Teleportieren genauer erforscht und weiter entwickelt. Teleportieren wäre für mich über eine so weite Strecke sehr anstrengend. Dank eines Rings kann ich ohne Probleme einige Male von Nemurok zur Erde und wieder zurück portieren. Hier. Sieh mal.


Er kam zu meinem Bett und ließ sich an der Kante nieder. Ich rückte ein wenig näher zur Wand. Dann sah ich auf die mir dar gebotene Hand. An Darians linker Hand am kleinen Finger befand sich ein hellblauer Stein, der in dunkelgrauem Metall gefasst war. Er war wunderschön. Darin ist etwas gespeichert, dass es mir möglich macht, mehr Konzentration aufzubringen und dann eben diesen Übergang, die Schwelle von Denken und Magie anzuwenden, verringert.


Ich nickte. Wie ist es auf Nemurok?


Darian lachte leise. Wunderschön. Es gibt fast nur Bäume, auch wenn sie anders aussehen und sehr viel größer sind. Überall gibt es Bäche und Flüsse, außerdem verwenden wir keinen Beton. Es gibt immer wieder kleine Dörfer, die Häuser sind aus Holz und Stroh. Wir haben nur ein Meer, allerdings haben wir nur einen Kontinent. Der Kontinent heißt, wie der Planet, Nemurok, und wir haben auch nur ein Land auf diesem ganzen Kontinent. Dreimal darfst du raten, wie es heißt?


Er sah mich lächelnd an.
Ich lächelt zurück. Nemurok.
Ganz genau. Wir haben einen König, der in vier Städten je eine Burg hat. Drei an den Küsten und eine in der Mitte des Landes. Rund um die Burgen sind die größten Städte. Ich komme von dem nördlichen Teil des Landes aus einem kleinen Dorf namens Solfinis. Es ist im ganzen Land bekannt für seine Sonnenuntergänge. Ich liebe sie. Wenn es warm ist, und du hoch oben auf einem Baum sitzt, und genau in diesem Augenblick die Sonne untergeht ist es, als… würden die Wolken zu brennen beginnen.


Für ein paar Momente schien Darian weg zu treten, er sah mir ins Gesicht, ohne mich zu sehen und ein wehmütiger Ausdruck huschte über seine Züge. Dann blinzelte er und sah mich wieder an. Er zwang sich ein Lächeln auf die Lippen. Ich… habe an zu Hause gedacht… An…

„Egal, nicht wichtig“, murmelte er und setzte sich wieder zu dem Sessel beim Schreibtisch. Erleichtert atmete ich aus.
Ach ja, wir haben keinen Frühling oder Herbst, sondern nur Winter und Sommer. Wir zählen auch Jahre, aber ein Jahr auf der Erde sind zehn Jahre auf Nemurok. Wir haben nur zehn Monate: Onu, Iod, Ied, Urtap, Schnischt, Esasch, Etabasch, Top, Ovon, Esches. Sonst stimmt alles mit Tag und Minuten mit den Rechnungen der Erde überein.


Ich unterbrach ihn. Warte! Ich muss mir das alles doch merken!


Darian lachte wieder. Ich helfe dir dann beim Merken. Also, fahren wir fort. Wir haben viele verschiedene Lebewesen, so wie es bei euch auch Katzen, Hunde, Schimpansen und Menschen gibt. Aber da bei uns noch hauptsächlich Wald wächst und keine Städte aus Beton existieren, trifft man sehr viel öfter auf Tiere, und nicht alle sind harmlos. Es gibt zum Beispiel Schattenkatzen, als ich kleiner war, bin ich mal einer begegnet. Schattenkatzen sind so groß wie… Löwen, aber sie sehen aus wie Hauskatzen. Auf jeden Fall wollte sie mich gerade anspringen, als mein Vater zum Glück so geistesgegenwärtig war, Feuer herauf zu beschwören. Es muss ihn verdammt viel Anstrengung gekostet haben, denn er hat danach sehr müde ausgesehen. Normalen Bewohnern von Nemurok fällt es schwerer, mit Magie zu arbeiten. Schattenkatzen fürchten Feuer. Viele Tiere fürchten das Feuer, aber nicht alle. Und die sind das Problem, aber das will ich jetzt nicht zu genau erklären.


„Normale Bewohner? Was bist dann du?“
„Sechs andere und ich“, sagte Darian und blockierte mein Weiterdenken.
Ich nickte besiegt. „Sehen alle so aus wie du?“, flüsterte ich und lehnte mich in meinem Kissen zurück.
„Fast. Also… Sechs andere und ich-“ Er setzte wieder diese Nebelblockade ein, „- sehen ein wenig anders aus. Die anderen haben alle dieselbe Augenfarbe, ein leicht leuchtendes Bernstein. Und ihre Hörner, Handlinien, Fingernägel und Zähne sind nicht silbern sondern weiß. Außerdem sind sie nicht giftig.“
„Du bis giftig?!“, keuchte ich auf und stand mit einem Satz auf den Beinen.
Alle meine Zähne. Aber das ist jetzt egal, denn sobald ich dir das Gegengift gebe, ist es sowieso wieder neutralisiert. Und außerdem kann ich nur einmal alle hundert Jahre beißen. Ich-


Ich schnitt ihm das Wort ab. Das gelbe Licht meiner Nachttischlampe tauchte alles in weiches Licht. Darians Augen schienen allerdings ein hässliches Grün zu haben. „Sag mal, wie alt bist du? Oder besser gesagt, wie alt kannst du werden?“, fragte ich und setzte mich wieder.
Unruhig stand nun Darian auf und tigerte vor meinem Fenster auf und ab. Bei seiner Antwort sah er mir nicht in die Augen, und es schien ihm auch ziemlich unangenehm zu sein. Ich bin unsterblich. Aber ich muss essen, trinken, schlafen und darf nicht mit irgendwelchen Schnitten oder Schlägen versehen werden, bei denen ich sofort sterbe. Meine Wunden heilen schneller als bei den normalen Nemurokanern, und Gift kann mir nichts anhaben, außer das Gift eines anderen Unsterblichen. Unsterblich sind nur die Sechs und ich-

Die Blockade in meinem Kopf kam augenblicklich-, auch das Gegengift gibt es nur sieben Mal. Und ich bin seit 387 Jahren sechzehn.


Was auch immer er für eine Reaktion von mir erwartet hatte, sicher nicht diese: Ich sprang abermals auf, riss meine Tür auf und floh ins Badezimmer. Dort schloss ich die Tür und setzte mich auf den Boden. Ich schloss die Augen. Atmete ein. Atmete aus. Atmete ein. Atmete aus. Schluckte. Atmete ein. Atmete aus. Öffnete die Augen. Stand auf. Biss mir auf die Lippe. Ging würdevoll zurück ins Zimmer, schloss die Tür wieder, sah mich nicht um, legte mich auf mein Bett, deckte mich zu, machte das kleine Licht aus und schloss die Augen, damit ich die Dunkelheit nicht sehen musste.
Mein Herz klopfte laut. 387 Jahre. Wow. Ich öffnete die Augen, weil ich zu aufgeregt war, aber da starrte mich wieder die Dunkelheit an. Ich atmete schneller.
In diesem Augenblick legte sich eine erleichternde Ruhe auf mich und nahm alle Empfindungen von mir. Dann schienen meine Sinne zu pulsieren. Ich verstand nicht, was das war. Dann endlich wusste ich es. Ich sah die Dunkelheit, hatte aber keine Angst davor. Stattdessen durchfuhr mich ein Gefühl der Sicherheit, dass mich denken ließ, dass sich die Dunkelheit nicht gegen mich wenden musste. Nein, ich konnte sie benutzen, um mich darin einzuweben, unsichtbar zu machen. Das war ein schönes Gefühl. Aber nach einiger Zeit, in der ich mich staunend in meinem Zimmer umsah, schwand das Gefühl und ließ nur die Ruhe zurück.
„Danke, Darian“, sagte ich und suchte mit meinen Augen nach seinen.
Ich fand sie auf der Stelle, Darian schien einen Magneten zu besitzen, der meinen Blick sofort anzog. Ziemlich intensiv starrte er zurück. Er stand neben dem geschlossenen Fenster.
Als sein Blick langsam unangenehm wurde und ich mich unruhig wand, ließ er sich im Sessel nieder und schloss die Augen. Geht’s wieder?

Er klang leicht besorgt.
Ich schloss ebenfalls die Augen und kuschelte mich tief in die Decke. Ja. Wo bleibst du heute Nacht?
Weiß ich noch nicht. Ich muss schlafen, ich bin ganz schön fertig von den ganzen kleinen Zaubern heute. Ich muss irgendwohin, wo mich niemand sehen kann…
Das Zimmer meines Bruders wäre für heute Nacht frei

, sagte ich, bevor ich mich aufhalten konnte.
Wirklich? Das wäre schön! Dann muss ich nicht wieder unter einer Brücke schlafen.
Ja.

Ich gähnte. Geh dann einfach rüber, aber mach bitte nichts kaputt. Er würgt mich, wenn er herausfindet, dass jemand in seinem Zimmer war.
Okay. Aber hast du noch Fragen?
Eine Menge.
Welche, die du jetzt stellen wirst?


Ja, ähm… Wann musst du wieder zurück?


Gespannt auf seine Reaktion öffnete ich die Augen. Er starrte mich bereits sehr intensiv an. „Das hängt von verschiedenen Faktoren ab.“
„Von welchen Faktoren denn?“, fragte ich und spürte, dass meine Glieder schwerer und schwerer wurden. Ich schaffte es nicht einmal mehr, meine Augen offen zu halten.
„Faktoren, die dich nicht kümmern sollten“, flüsterte er. Dann, als wären seine Worte eine Beschwörung gewesen, übermahnte mich endlich der Schlaf.


5.

„Ich warte im Schulhof!“, rief Mariella, bevor sie in der undurchdringlichen Masse aus Schülern verschwand. Alle waren unterwegs in Richtung Spind, da es soeben zum Ende der sechsten Stunde geläutet hatte. Der Tag war ereignislos verlaufen, ich war wie immer mit sagenhafter Müdigkeit dem Unterricht gefolgt und war nur in den Pausen richtig wach geworden. Darian war in den Gängen der Bibliothek – unsichtbar, natürlich – umher gestrichen, um sein Wissen über die Erde zu erweitern. Monique, Shaunee und Mariella hatten vereinbart, sich mit mir im Pausenhof zu treffen, damit wir ein wenig die Stadt unsicher machen konnten. Ich drängelte mich mit meinem unsichtbaren Verfolger nach draußen, rutschte wie selbstverständlich aus und wurde natürlich aufgefangen.
Dankeschön, Darian.
Was denn? Das war nicht ich. Dreh dich mal um.


Verwundert befolgte ich Darians Worte und wandte mich zu meinem Retter um. Verärgert zog ich die Augenbrauen zusammen. Luke. „Hallo“, sagte ich und lächelte gezwungen. Luke war wieder der perfekte Schauspieler und beugte sich zu mir, um mir einen dezenten Kuss zu geben. Zum Glück wurde sein Vorhaben in dem Moment von Shaunee vereitelt, die – göttlich angezogen, wie immer – durch den Schnee stapfte und mir ganz laut, für alle im Hof hörbar, zurief: „Lex! Jetzt finde ich dich schon wieder bei diesem Vollidioten! Was bist du für eine Freundin! Wir wollten mit dir in die Stadt gehen! Echt, spar’s dir, du kannst mich mal.“
Ich seufzte erleichtert, hoffte aber, dass es verzweifelt klang und drängelte mich zu Shaunee. Monique verkniff sich ein Lachen, sodass ihr die Röte in die Backen stieg. Für einen klitzekleinen, unendlich zerbrechlichen Moment stand hier vor mir im Schnee nicht meine tollpatschige Freundin, sondern ein zartes, anmutiges Wesen von elfenhafter Schönheit. Ich kniff die Augen zusammen, um das Bild verschwinden zu lassen. Was war das jetzt gewesen? Wurde ich verrückt?
Darian, hast du das mitbekommen?
Ja, aber das kam nicht von mir. Das würde nur unnötige Energie kosten.
Okay.


Ich schob die Einbildung auf meine Müdigkeit. Vor allem musste ich mich nun Shaunee zuwenden. Ich umarmte sie, und nach einer zögerlichen Sekunde umarmte sie mich auch und wir lachten gemeinsam. Mariella hängte sich bei mir ein, und seltsamerweise fiel mir auf, wie sehr ihr weißer Mantel im Kontrast zu meinem blutroten stand. Was war heute mit mir los? Warum dachte ich so seltsam?
Da schob sich Luke in mein Blickfeld. Ach ja, der Volltrottel war ja auch noch da. „Luke, heute gehe ich mit meinen Freunden in die Stadt, ich hatte in letzter Zeit nicht so viel… naja, Zeit für sie. Entschuldige bitte. Wir können ja Montag gehen, okay?“, säuselte ich und blinzelte mit großen Bambi- Augen.
Ein wenig perplex nickte er und sagte: „Ähm. Jaah, ich wollte sowieso mit Jake gehen. Dann… Gehen wir wohl am Montag. Gut.“ Und dann zog er mich an sich, dass mir die Luft wegblieb und küsste mich kurz. Ich fühlte etwas in mir aufsteigen, konnte es aber nicht ganz einordnen. Es war ein schlechtes Gefühl, als wollte ich Luke am liebsten in den Schnee eintunken bis er keine Luft mehr bekam und in seinem Körper Knochen für Knochen brach, und sein Blut den weißen Schnee dunkel färbte und...
Ich konnte das Gefühl zwar nicht beeinflussen, aber ganz plötzlich spürte ich stattdessen nur brennenden Scham. Ich blickte mich nach Darian um, um ihn zu fragen, was das bedeutete. Er bis sich auf die Lippen und starrte Löcher in die Luft. Da wurde mir klar, dass das seine Gefühle gewesen waren! Darian war… eifersüchtig (oder mordlustig, wie auch immer) und schämte sich dafür! Ich hätte lachen können, tat es aber nicht, denn wer weiß, was ein wütender Alien mit mir machen würde.
Endlich setzte sich Monique in Bewegung, was meine Gedanken auf die Eisplatten richtete, die auch hier zahlreich vorhanden waren. Wir gingen eine Weile, bis wir zu einem Fluss kamen, über den sich eine Brücke spannte. Ich schätzte sie fünfzehn Meter hoch, hoch genug also. Dort oben herrschte auch Verkehr, und oft genug gab es Unfälle. Auf einem schmalen Gehweg wanderten wir entlang und stellten uns dann am höchsten Punkt zum Geländer. Der schwarze Fluss wabberte träge und gab mir ein schreckliches Gefühl von Hilflosigkeit, aber da es nur mir so zu ergehen schien, blieb ich mit den anderen hier. Hätte es etwas geändert, wenn ich weiter gegangen wäre? Wenn ich auf mein Bauchgefühl gehört hätte? Ich weiß es nicht.
„Komisch, es sieht so aus, als ob der Fluss eingefroren wäre…“, murmelte Monique und starrte nachdenklich in die Tiefe. Shaunee runzelte die Stirn und zog einen Schmollmund. „Schon möglich, immerhin ist es nicht sonderlich tief, und die Strömung ist sowieso nicht der Rede wert.“
Auch Darian lehnte sich über das Geländer, allerdings weiter als die anderen. Meine Wangen flammten rot auf, mein Herzschlag beschleunigte sich. Was wenn er sich zu weit hinüber lehnte und… hinunter stürzte? Der Gedanke war so schockierend, dass mir der Atem weg blieb. Ein Sturz in die Tiefe wäre tödlich. Darian merkte wie ich mich fühlte und lehnte sich zurück, er lachte nicht einmal. Stattdessen schien es einen Moment lang, als schwankte er in meine Richtung. Aber das hatte ich mir sicherlich nur eingebildet.
Es ist nicht ganz zugefroren. Aber wenn du hinunter stürzt, landest du auf lauter Eisschollen, die spitz wie Messer sind

, lenkte er mich ab.
Shaunee beugte sich weiter vor. Und wieder blitzte ein unwirkliches, schreckliches Bild auf und brachte mich vollkommen aus der Fassung. Ich sah Shaunee fallen, ihr schwarzer Mantel flatterte um sie wie Flügel, zu schwache Flügel. Ihr Gesicht vor Schreck weiß wie der Schnee, die Augen wie dunkle Löcher im Schädel. Ihr Mund öffnete sich zu einem Schrei, den sie nicht mehr würde ausstoßen können…
Der schrille Klang meines Handys zerriss dieses grauenvolle Geschehen und holte mich zurück in die Wirklichkeit. Shaunee stand wohlbehalten neben Monique und starrte mich fragend an. Da merkte ich, dass ich langsam an mein Telefon gehen sollte.
„Hallo Lexi!“, begrüßte mich die ungewöhnlich warme, entspannte Stimme meiner Mutter.
„Mum?“, fragte ich sofort misstrauisch. „Ist irgendetwas passiert?“
„Ja mein Liebling, etwas Wundervolles!“, trällerte sie. „Ich habe eine Gehaltserhöhung bekommen!“
Zuerst konnte ich es nicht glauben, doch dann kreischte ich vor Freude. „Super! Oh du meine Güte! Das ist fantastisch!“
„Ja ich weiß, aber ich will dir mehr persönlich erzählen! Wann kommst du nach Hause?“
Ich sah auf die Uhr. Es war kurz nach zwei Uhr. „Ich komme in einer Stunde, okay?“
„Sehr gut, ich mache dir einen… fluffigen Napfkuchen!“, lachte sie. Ich dankte ihr und dachte bei mir, dass sie wohl sehr gut aufgelegt war. Dann verabschiedeten wir uns mit den Worten „Ich hab dich lieb“ von einander.
Ich berichtete meinen neugierigen Freunden und verbreitete damit gute Laune. Selbst Darian freute sich, ob von sich aus oder von meinen fröhlichen, ungestümen, jubelnden Gefühlen überlagert. Ich begann mit Mariella eine Runde The Lazy Song zu singen, bis alle einstimmten. Wir tanzten und entgingen dabei nur knapp den Autofahrern, die uns anhupten. Doch uns machte es nichts aus. Was eine Gehaltserhöhung alles auslösen konnte! Mariella steigerte sich am meisten in die Sache hinein und hängte sich über das Geländer und schrie ganz laut: „Nothing at all!“ Und in dem Moment, in dem ich der freudestrahlenden Verrückten meine Hand reichen wollte, um sie zurück zu ziehen, verlor sie das Gleichgewicht und fiel.
Dann ging alles ganz schnell. Shaunee und Monique begannen zu schreien und stürzten zu dem nutzlosen Metall, an dem gerade eben noch unsere Mariella gestanden hatte. Ein Autofahrer hatte das gesehen und blieb mit quietschenden Reifen stehen. Andere hupten erschrocken. Darian vergaß, sich unsichtbar zu halten und erschreckte die ganze Umgebung (bedeutete so zirka 50 Menschen), indem er Mariella nach sprang. Für eine Sekunde sah ich Mariellas Gesicht, ihre blonden Haare wehten im Wind des Falls und ihr weißer Mantel sah aus wie kleine Engelsflügel. Ihr Gesicht war rot von dem Blut, das ihr in die Wangen schoss, ihre blauen Augen waren weit aufgerissen. Und warum sah sie mich an? Das dauerte eine Sekunde. In der zweiten wurde mir bewusst, dass sich sowohl Darian als auch Mariella im freien Fall befanden, der nicht mehr lang dauern konnte. Meine Augen füllten sich sofort mit Tränen. Ich spürte aufgrund unserer Verbindung die Luft auf Darians Haut und fühlte mich, als würde ich dasselbe durchmachen wie er. Ich weiß nicht wie, aber irgendwie war er schneller als Mariella gefallen und nahm sie jetzt in den Arm. Darian wandte Magie an, um den Fall zu verlangsamen, ich spürte alles. Seine gedanklichen Schutzwälle fielen. Ich wankte keuchend an das Geländer, weil er so viel auf einmal wahrnahm und dachte. Der Fall, die Geschwindigkeit, die Luft, Mariellas Körper, die ungewohnten Schuhe an den Füßen, die Kälte, die Gefahr, die Anstrengung der Magie, der Schweiß von Mariella und ihm, dann ich. Immer wieder ich, einfach nur ich, begleitet von dem dringenden Gefühl, mich beschützen zu müssen, Luke demnächst den Kopf umzudrehen, und mich beruhigend in den Arm zu nehmen, wie in der Nacht als ich es nicht gemerkt hatte, weil ich geschlafen hatte. Und Erinnerungen an Nemurok, wunderschöne, unendliche Wälder, Gesichter, denen ich Dank der Erinnerung Namen zuordnen konnte. Mirkos, Birker, Kavran, Violetta, Ceklaya, Lors. Und eine Familie. Darians Familie, wie ich verstand. Und so viel Wissen! Was man eben innerhalb von 387 Jahren so alles erfuhr. Dann auf einmal ein brennender Schmerz in meiner Brust, der sich auf meinen ganzen Körper ausbreitete und das erniedrigende Gefühl, den Fall nicht aufhalten zu können. Der Schmerz benebelte meine Sinne und ich rutschte kreischend zu Boden. Darian hatte es nicht geschafft. Mariella und er starben gerade. Ich schrie noch lauter und schriller, während ich die Augen fest zukniff und mich zu einer Kugel rollte. Ich presste meine Hände an die Schläfen, um den Schmerz, der nicht meiner war, zu stoppen. Unmöglich. Mein Herz schlug zu schnell, es flog mir aus der Brust, meine Lunge explodierte. Meine Haut brannte. Ich würde sterben. Es verwirrte mich, mich selbst mit Darians Gehör hören zu können, das um ein so vieles schärfer war als mein normales. Und ein neuer Schmerz durchbohrte mich, der allerdings Darians Gefühle beschrieb. Er wollte nicht, dass ich so litt. Ich sah durch seine Augen, wie er hinauf blickte. Mit einem festen Ruck öffnete ich meine und sah aufgrund meiner Lage sofort hinab. Das Eis war rot. Mehr gab es nicht zu sagen. Ich sah Mariella, die bewusstlos und scheinbar unversehrt im weißen Schnee lag. Das Rot war Darians Blut. OH GOTT. Der Schreck schnürt mir die Luft ab. Ich musste zu ihm, ihm helfen, ihn retten! Ganz kurz fragte ich mich, warum sein Blut jetzt nicht blau war, doch das kam wahrscheinlich daher, dass er momentan in seiner menschlichen Form war.
Ich zwang mich mit dem Schreien aufzuhören und aufzustehen. Adrenalin schoss in ungeheurer Menge in mein Blut und verhalf mir zu einem Sprint, den mein Sportlehrer mit erfreuter Miene gesehen hätte. Die Eisplatten übersprang ich alle und war innerhalb von Sekunden bei Darian. Das Wasser schwappte an den Rändern der Eisschollen über, doch es war mir egal. Ich verharrte einen Moment bei Mariella, der aber wirklich nichts passiert war, wie ich an Darians Gedanken erkannte. Ich sprang ins eiskalte Wasser, dass es nur so spritzte und erreichte mühsam und mit einigen Schnittwunden mehr Darian. Er sah schrecklich aus. Meine Jeans saugten das Blut auf, als ich mich hinein kniete. Milliarden von Wunden zerstörten seinen Anblick, er war so schwach, dass er nicht einmal seine menschliche Hülle behielt. Und doch blickte er mich aus seinen wunderschönen Augen an, und das so inbrünstig, dass noch mehr Adrenalin in meinen Körper schoss. Es kam zu einer Kurzschlussreaktion, die ich sonst nie zugelassen hätte, wenn mein Außerirdischer, mein Darian, nicht gerade im Sterben liegen würde. Ich beugte mich zu ihm hinunter, und es war mir egal, wer aller zusah, oder was er dachte. Ich legte sanft meine Lippen auf seine und schloss meine Augen. Wenn er nicht mehr lebte, wollte ich das auch nicht tun, wurde mir in diesem Augenblick bewusst. Es war klar und schwebte leicht wie eine Feder in meinen Gedanken umher. Ich brauchte ihn, nicht nur, weil er ein Alien war und ich im Irrenhaus landen würde, wenn er von mir ging, sondern auch, weil ich ihn liebte.
Ich spürte immer noch seine Gefühle, seine Überraschung, dann nach kurzem schlechten Gewissen die Wärme und Liebe. Das überraschte mich. Damit hatte ich wirklich nicht gerechnet. Vorsichtig löste er mich von ihm und sagte leise und schwach: „Es tut mir Leid.“
Ich weinte immer noch, diesmal allerdings kleine Tränen, die auf innerem Schmerz gründeten. Plötzlich zog mich Darian ganz fest an sich und das Letzte, das ich sah, war Moniques und Shaunees entgeisterter Gesichtsaudruck, als sie mich aus der Ferne ansahen. Ich schloss die Augen. Dann schlug die Wucht der Teleportation über mir zusammen, und ich war wie betäubt, bis ich die Augen wieder aufmachte. Und mich in der warmen Umarmung eines Aliens auf seinem Heimatplaneten Nemurok wiederfand.



Ende des 1. Teils

Impressum

Texte: Die Storyline dieses Buches und die Charaktere gehören mir und dürfen nicht ohne meine Zustimmung zu kommerziellen Zwecken verwendet werden.
Tag der Veröffentlichung: 26.01.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ich widme dieses Buch meiner Fantasie... Und natürlich Miriam, Marion, Gessica, Julia und vielen anderen Menschen - es würde ziemlich lange dauern, die alle namentlich zu erwähnen^^

Nächste Seite
Seite 1 /