Ich trete aus der Klinik und schnuppere die frische und klare Luft, die im Schwarzwald im Frühling immer herrschte.
Es ist das erste Mal seit Monaten, dass ich mich an etwas anderem erfreuen kann, außer an einem neuen Gewichtsverlust. Ich denke seit langer Zeit mal wieder an etwas, das nichts mit meinem Essverhalten oder mit der Anzahl der Kalorien zu tun hat, die ich am Tag zu mir genommen hatte. Diese Anzahl bewegte sich gegen Ende meiner Krankheit gefährlich gegen null.
Doch das habe ich nun hinter mir gelassen. Ebenso wie die langen, schwarz gefärbten Haare, die ich bis vor drei Wochen noch trug. Mittlerweile sind meine Haare schulterlang und sie haben durch Bleichen wieder meine Naturhaarfarbe: haselnussbraun mit einem Rotstich.
Ich seufze tief und schaue mich nach dem silbernen Mercedes meiner Eltern um.
Der Wind weht mir durch die Haare und ich atme erneut tief durch, und zum ersten Mal seit langer Zeit fühle ich mich wieder gut – richtig gut, mein ich.
Ohne schlimmen Hintergedanken, oder quälenden Hunger, ohne die Suche nach Aufmerksamkeit. Ich fühle mich einfach nur… gut.
Vielleicht liegt das an dem Duft des Frühlings, vielleicht aber auch an die Freude endlich wieder nach Hause zu können. Obwohl mich zu Hause eigentlich nichts erwartet. Ich habe durch meine Magersucht nicht nur mein Gewicht verloren, sondern so gut wie alles, was mir irgendetwas bedeutet hat. Ich habe meine Freunde vernachlässigt, meine Eltern dazu gebracht meinen Hund wegzugeben, weil ich es nicht mehr schaffte mich um ihn zu kümmern, ich schaffte es meine Schwester zu vergraulen, welche normalerweise immer auf meiner Seite stand und ich habe meinen einzigen Halt im Leben verloren: die Clique, zu der ich flüchten konnte.
Bevor ich aufgehört habe zu essen, konnte ich ja noch nicht wissen, dass diese Leute kein Halt in meinem Leben sind. Jetzt weiß ich es! Diese Leute hatten keinen guten Einfluss auf mich.
Ich starre an mir herunter und betrachte meine knochigen Knie, die in schwarzen, blickdichten Strumpfhosen stecken. Mein schwarzer Roche rutscht mir immer noch über die Hüfte und durch den roten Pulli, den ich trage, kann man immer noch jede Rippe sehen. Kaum zu glauben, dass ich mittlerweile schon fast acht Kilo schwerer bin, als an dem Tag, an dem ich die Klinik für Essgestörte eingewiesen wurde.
Ich stelle meinen Koffer neben mir ab und fahre mir durch mein dünnes, lockiges Haar.
Ich bemerkte zum ersten Mal, dass mein Körper kaputt geht, als ich sah, wie viele Haare ich beim Haare waschen verlor. Davor habe ich gar nicht richtig wahrgenommen, was ich meinem Körper mit meiner Nahrungsverweigerung überhaupt antue.
Jetzt bin ich schlauer, aber immer noch krank. Auch wenn ich wieder essen kann und auch wieder ein Hungergefühl verspüre, so brauche ich noch heute für eine normale Portion fast doppelt so lange, wie andere. Eigentlich traurig, oder?
Doch Dr. Klein sagte mir schon, dass der Heilungsprozess länger dauern würde, als zwei Monate Klinikaufenthalt.
Ich werfe einen Blick auf das eingerahmte Bild, dass ich in der Hand halte. Es zeigt mich, mit Dr. Klein und meiner Zimmernachbarin Lissy. Sie hat Bulimie. Nach jedem Essen ist sie für längere Zeit im Bad verschwunden. Man muss kein Hellseher sein, um zu wissen, was sie dort getan hat. Sie wird wahrscheinlich noch einige Zeit länger in der Klinik bleiben, als ich.
Schnell packe ich das Bild in meine schwarze Handtasche und streiche mir erneut durch mein Haar.
Ich weiß, ich sollte mich eigentlich wirklich auf zu Hause freuen. Doch schnell ist das gute Gefühl verflogen und es gibt nichts, worauf ich mich freuen könnte. Ich habe sogar Angst davor. Ich habe Angst davor, morgen wieder in die Schule zu gehen und mir Kommentare wie: „Du siehst aus wie ein Skelett“ anhören zu müssen. Ich will auch die Blicke nicht sehen; diese mitleidigen, und dennoch verhöhnten Blicke. Ich will nicht die Fragen der anderen beantworten. Ich will nicht!
Doch ich muss.
Ich muss neu beginnen. Ich muss von vorne anfangen.
Schnell krame ich meinen Handspiegel aus meiner Tasche und betrachte mein blasses Gesicht, die dunkel umrahmten Augen, meine eingefallenen Wangen; traurig sehe ich aus. Dabei sollte ich nicht traurig aussehen.
Ich wurde heute aus der Klinik entlassen, ich bin wieder fähig freiwillig etwas zu essen, ich wiege wieder 50,2kg – und das bei einer Körpergröße von 1,69m. Ich bin auf dem Weg der Besserung. Doch anstatt mich zu freuen ist mir zu Weinen zu Mute.
Seufzend packe ich den Spiegel weg und spüre plötzlich eine Hand auf meiner Schulter.
Ich zucke zusammen und schaue in das freundliche Gesicht von Dr. Klein. Er lächelt mich aufmunternd an. „Du wartest schon lange“
„Meine Mutter kommt oft zu spät“ antworte ich schlicht und ich würde seine Hand am liebsten abschütteln, welche immer noch auf meiner knochigen Schulter liegt.
„Hast du Angst?“ fragt er mich offen und direkt und ich muss eine Weile zögern. Soll ich ihm auf diese Frage überhaupt antworten, oder soll ich einfach schweigen?
Schließlich nicke ich: „Ja, ich habe Angst“
„Vielleicht ist deine Angst berechtigt“ meint er ehrlich und nimmt seine Hand von meiner Schulter. „Angst kann auch gut sein“
„Ich fürchte mich vor den Kommentare“ erkläre ich ihm und erinnere mich automatisch an eines der vielen psychologischen Gespräche, die ich mit Dr. Klein geführt habe.
Nicht selten hatte er mich mit Fragen wie „Warum willst du nichts mehr essen“ oder „Was fühlst du?“ in die Ecke gedrängt. Jedes Mal brannte es in meinem Magen und mein Kopf wollte zerplatzen und ich hätte ihm am liebsten jedes Mal ins Gesicht geschrieen: „Ich esse nichts mehr, weil ich Aufmerksamkeit will und das einzige, was ich spüre ist Hunger!!! Quälender, brennender, beißender Hunger!“ Doch ich riss mich jedes Mal zusammen und flüsterte nur: „Ich weiß es nicht.“
„Jeder, der dich wegen deines Gewichts noch versucht zu demütigen, hat keine Ahnung. Du hast soviel geleistet in den letzten Monaten. Und so viel erlebt. Du hast dich weiterentwickelt, und wer das nicht sieht, ist ein Schwachkopf, Lydia“ versucht Dr. Klein mich aufzumuntern und reißt mich damit aus meinen Gedanken.
Ich weiß nicht, ob ihm das gelungen ist. Ich zucke nur mit den Schultern und schüttle gleichzeitig mit dem Kopf. „Ich…ich…“ beginne ich zu stottern, breche aber ab und schaue auf die weißen Gummikappen meiner Chucks. Dann blicke ich wieder zu Dr. Klein: „Vielen Dank… für alles, mein ich“
„Das ist mein Job“ Er zuckt mit den Schultern. „Bedanken musst du dich bei den Leuten, die dir jetzt helfen werden“
Ich nicke nur und frage dann: „Wie oft sagen sie das?“
„Pro Woche oder pro Tag?“ versucht er zu scherzen.
„Ist egal“
Wir schweigen eine Weile, dann meint er: „Oft genug, glaub mir“
Ich nicke wieder nur und sehe dann schon Weitem das Auto meiner Eltern. „Sie sind da“ flüstere ich und drücke meine Handtasche an meine Brust.
„Viel Glück für zu Hause, Lydia“ meint Dr. Klein noch. „Und eine gute Heimreise. Und schon mal herzlichen Glückwunsch für morgen“
Ich zucke erneut zusammen. Meinen siebzehnten Geburtstag habe ich komplett vergessen. Er schien mit allen anderen Dingen in meinem Leben untergegangen zu sein. Dabei habe ich mich sonst immer sehr auf meinen Geburtstag gefreut. Und jetzt habe ich ihn einfach vergessen. Leise flüstere ich: „Danke“
Dr. Klein drückt ein letztes Mal meine Schulter und dreht sich dann um und geht in Richtung Klinik, als ich noch mal seinen Namen rufe.
Fragend schaut er mich.
„Sagen Sie Lissy einen schönen Gruß“ Ich zögere und füge dann noch hinzu: „Und… sagen Sie ihr, dass ich Sie vermissen werde“
Er lächelt mich zuversichtlich an und nickt: „Ich werde es ihr ausrichten“ Dann verschwindet er durch die Glastür der Klinik und ich stehe wieder allein da.
Nur wenige Minuten später parkt das Auto meiner Eltern vor der Klinik und meine Mutter springt aus dem Auto: „Lydia!“ ruft sie. Ihr Blick ist eine Mischung aus Mitleid und Freude. Ich habe keine Ahnung, was ich von diesem Blick halten soll.
Nach meiner Mutter steigt mein Vater aus und beide kommen auf mich zu. Ich mache keine Anstalten ihnen entgegen zu kommen.
„Gut siehst du aus“ meint mein Vater und ich weiß, dass er lügt, doch ich schweige und lasse mich von ihm drücken.
Danach schließt mich meine Mutter fest in ihre Arme: „Wir haben dich vermisst, mein Schatz“
Der letzte Besuch war auch schon fünf Wochen her, erinnere ich mich.
Ich mache mich von meiner Mutter los und schaue meine Eltern an: „Ich habe euch auch vermisst“
„Siehst immer noch sehr dünn aus – wie viel wiegst du?“ fragt meine Mutter prüfend und bei dieser Frage schlucke ich meine Tränen hinunter: „50,2 – können wir jetzt nach Hause. Ich will hier nicht mehr länger bleiben“
„Ja, sicher, mein Schatz. Papa nimmt deinen Koffer“ Als wäre ich sterbenskrank legt meine Mutter stützend ihren Arm um mich.
„Es geht mir gut, Mama“ Ich befreie mich aus ihrer halben Umarmung und steige schnell in das Auto, bevor meine Eltern noch mal auf die Idee kommen mich zu umarmen. Natürlich freue ich mich, sie wieder zu sehen. Doch ich muss das alles erst einmal verdauen, ich muss meine Gedanken erst einmal wieder ordnen können; ich muss wieder lernen mit meinem Leben klar zu kommen.
Bevor ich die Autotür zuschlage, schaue ich ein letztes Mal auf das weiße Gebäude, mit den dunkelbraunen Fensterläden und dem Balkon auf dunkelbraunem Holz, das für die letzten zwei Monaten mein zu Hause darstellte.
Diese Zeit war nicht unbedingt schön, doch sie gehört nun mal zu meinem Leben dazu. Ich kann sie nicht einfach ausradieren, auch wenn ich das gerne würde – doch ich kann es nicht.
Schnell wische ich mir über die Wange und streiche damit eine Träne weg. Meine Hände sind knochig und blass wie der Rest meines Körpers und es wird denke ich, noch eine Weile dauern, bis ich mein Normalgewicht wieder erreicht habe.
Heftig schüttele ich mit dem Kopf und knalle die Autotür zu.
Meine Eltern stehen noch draußen und diskutieren. Bestimmt über mein Verhalten, über meine Gesundheit, über mein dies, über mein das – über mich!
Das war doch die Aufmerksamkeit, die ich die ganze Zeit haben wollte. Das war die Aufmerksamkeit, weshalb ich aufgehört hatte zu essen.
Warum war ich nicht glücklich?!
Nach wenigen Minuten steigen auch meine Eltern ins Auto und mein Vater dreht sich zu mir um: „Bereit wieder nach Hause zu kommen?“
Ohne zu zögern schüttele ich mit dem Kopf und steckte mir meine Kopfhörer ins Ohr und starte den Mp3-Player meines BlackBerrys.
„Lass sie“ höre ich meine Mutter noch leise sagen, und mein Vater nickt nur und dreht sich um und startet den Motor.
In einer geschmeidigen Bewegung fährt der Mercedes los und ich lehne den Kopf gegen die kühle Fensterscheibe und schließe die Augen, nachdem die Klinik nicht mehr zu sehen ist.
Mein Zimmer kommt mir fremd vor. Es ist nicht mehr wirklich mein Zimmer. Es ist ordentlich und es riecht nach Reinigungsmitteln, statt nach meinem Vanille Parfum.
In meinem Schrank sind die Kleidungsstücke, die nicht in meinem Koffer sind, ordentlich zusammengelegt.
Es ist nicht mehr mein Zimmer. Zumindest kommt es mir so vor.
Ich stelle den Koffer ab und drehe mich zu meinen Eltern um, welche immer noch in der Tür stehen und mich irgendwie komisch anschauen.
„Was ist mit meinem Zimmer passiert?“ frage ich leise.
Kurz schauen beide etwas überrascht: „Ich… ich weiß nicht, was du meinst“ beginnt meine Mutter zu stottern. „Es ist alles wie früher“
Doch ich schüttele mit dem Kopf: „Nein, nichts ist wie früher“ Ich trete an mein Buchregal und sehe, dass einige Kochbücher hinzugefügt worden sind. Vorsichtig ziehe ich eines hervor – ganz vorsichtig. So als hätte ich Angst, dass es mich beißen könnte.
Dann drehe ich mich erneut zu meinen Eltern um: „Was soll das?“ Ich erschrecke selber über meine strenge Stimme, welche trotzdem zittert.
„Das sind Kochbücher“ erklärt mein Vater unnötigerweise.
„Das sehe ich auch. Aber warum stehen sie in meinem Bücherregal?“
„Wir dachten… wir dachten, dass sie dich vielleicht interessieren“
„Tun sie nicht“ erwidere ich verbittert und nehme alle vier heraus und drücke sie meinem Vater in den Arm: „Hört mal, ich esse wieder! Es geht mir gut. Ich bin gesund!“
„Wir machen uns doch nur Sorgen“ ruft meine Mutter.
„Das hättet ihr machen sollen, bevor ich in die Klinik musste!“ schreie ich, und zum ersten Mal ist das ausgesprochen, was ich die ganze Zeit schon dachte und auch immer noch denke.
„Was wirfst du uns vor, Lydia?“ fragt mein Vater und versucht ruhig zu bleiben.
„Ich werfe euch gar nichts vor. Ich sage nur, dass ihr euch jetzt keine Sorgen mehr machen müsst“ Trotzig nehme ich den Schokoriegel, der auf meinem Schreibtisch liegt und reiße das Papier ab. „Ich kann wieder essen!“ Kurz schaue ich auf die braune Schokolade, beiße hinein, und muss den Riegel danach gleich wieder weglegen. Mehr geht im Moment noch nicht.
„Ach, Lydia. Es tut uns so Leid, dass das alles passiert ist. Das war bestimmt nicht leicht für dich, und…“ redet meine Mutter, doch ich unterbreche sie: „Es ist passiert. Das muss euch nicht mehr Leid tun. Es gehört zu meinem Leben dazu. Ich hätte mir nur gewünscht, dass ihr vielleicht bemerkt hättet, dass etwas mit mir nicht stimmt, bevor es zu spät war!“
„Wir wussten, dass du eine schwere Zeit durchmachst. Doch, dass es so schlimm war, haben wir nicht gedacht“ wirft mein Vater ein und er lächelt mich traurig an.
„Es war aber schlimm“ flüstere ich und starre auf den Schokoriegel.
„Es tut uns Leid“ meint meine Mutter erneut.
„Mir tut es auch Leid“ erwidere ich und schaue auf.
„Du weißt, dass wir dich lieben“
„Ja. Das weiß ich“ Ich erwidere das Lächeln von meinen Eltern.
„Wir lassen dich dann mal in Ruhe dein Zeug auspacken. Wir rufen dich zum Essen“ sagt mein Vater und ich nicke nur als Antwort und zerre den Reisverschluss meines Koffers auf.
Ich lege gerade das letzte Teil – ein blaues Sweat-Shirt aus H&M in Größe XS – in den Schrank, als ich höre, wie die Haustür aufgeschlossen wird.
Nur Minuten später steht meine Schwester in der Tür. „Alina!“ rufe ich überrascht.
Sie ist nur etwa ein Jahr älter und wir sehen uns nicht gerade unähnlich. Auch, wenn sie die blonden Haare unserer Mutter geerbt hat. Doch jeder, der uns kennt, sagt, dass man sieht, dass wir Geschwister sind.
„Wie geht es dir, Lydi?“ fragt sie leise und schließt die Zimmertür hinter sich. Ohne noch ein Wort zu verlieren setzt sie sich im Schneidersitz auf mein Bett und schaut mich abwartend an.
„Soll ich ehrlich sein, oder soll ich schon mal üben „Es geht mir gut“ zu sagen?“ ist meine Gegenfrage und ich lasse mich auf den Flauschteppich, der in der Mitte meines Zimmers liegt nieder.
„Ich will, dass du ehrlich bist“
„Nicht gut“ murmele ich. „Ich fühle mich nicht wohl. Es ist alles so anders. Ich habe Angst“
„Oh, Lydi“ seufzt Alina und schüttelt mit dem Kopf.
„Ich will mich am liebsten verkriechen“ Ich greife nach meinem Stoffhasen, den ich schon habe, seit ich ein kleines Kind bin.
„Das kannst du nicht“
„Ich will aber. Ich fürchte mich vor’m Leben!“
„Was hat diese Magersucht nur mit dir gemacht?!“
„Die Magersucht hat gar nichts mit mir gemacht!!!“ schreie ich schon wieder und merke gar nicht, wie mir die Tränen über die Wangen laufen.
Alina kniet sich neben mich und nimmt mich einfach in den Arm. „Das geht vorbei, glaub mir“ redet sie mir gut zu, während sie mich wie ein kleines Kind hin und her wiegt.
Ich weiß nicht, wie lange wir so dasitzen. Doch irgendwann schiebe ich Alina von mir weg und sie wischt mir mit dem Handrücken über die tränenverschmierten Wangen.
„Wann?“ frage ich leise.
Alina zögert eine Weile und zuckt dann mit den Schultern: „Ich weiß es nicht“
Dann sitzen wir eine Weile nur schweigen da und schauen uns an, bis ich schließlich das Schweigen breche: „Bist du mir immer noch sauer?“
Ihr Blick wird fragend, und ich füge schnell hinzu: „Wegen deinem achtzehnten Geburtstag, wegen Spiky und wegen… - ach wegen einfach allem!“
Sie hält kurz inne und lässt sich Zeit für ihre Antwort, doch dann schüttelt sie mit dem Kopf: „Nein, bin ich nicht mehr. Du hast genug durchmachen dürfen. Und um ehrlich zu sein, war ich dir auch nie wirklich sauer“
Ich lächele und schaue wieder auf den weißen Teppich, als sich Alina erhebt. „Ich muss dann noch ein paar Sachen erledigen. Kommst du allein klar?“
„Sicher, ich bin doch kein kleines Kind“ erwidere ich und lache leise.
„Du bist stark geworden. Und zugenommen hast du auch“ sagt sie noch, bevor sie die Tür hinter sich schließen will.
Ich schaue sie an und nicke: „Ja, ungefähr acht Kilo“
„Wow, acht ist gut, oder?“
„Sehr gut sogar – zumindest sagt das Dr. Klein“
Sie nickt nur noch, und schweigt und schließt dann die Tür hinter sich und ich bin wieder allein.
Mit einem trägen Gähnen laufe ich in die Küche, wo schon Alina und meine Mutter stehen und reihenweise Toast in den Toaster stopfen.
Als sie mich sehen, umarmen mich beide fest: „Alles Gute zum Geburtstag, mein Schatz“ sagt meine Mutter.
„Jetzt bist du endlich 17, Lydi“ Alina gibt mir einen Kuss auf die Wange und ich verziehe das Gesicht. „Danke“ brumme ich.
„Hier, dein Geschenk“ Alina drückt mir ein Päckchen in die Hand und ich betrachte es kurz. Es ist weich und lässt sich biegen, und sofort weiß ich, dass es Klamotten sind. Bestimmt eine Nummer zu groß, als Ansporn zum zunehmen.
„Ich will es nicht. Trotzdem danke“ Ich weiß, dass sie es nur gut mit mir meinen und dass sie sich Sorgen machen, doch ich will nur endlich wieder mein Leben leben, ohne das viel Wind um alles, was ich tue, gemacht wird. Anscheinend will ich doch nicht zu viel Aufmerksamkeit.
„Aber, Lydia…“ beginnt meine Mutter, doch ich bringe sie mit einem Kopfschütteln zum Schweigen. Alina seufzt nur und sagt gar nichts.
Ich lege das Päckchen auf den Küchentresen und schaute dann auf die viele Toasts, die auf der Arbeitsplatte liegen: „Wer soll das denn alles essen?“ frage ich, obwohl ich die Antwort eigentlich schon kenne.
„Für dich, natürlich“ meint meine Mutter, als wäre es allbekannt, dass ich ein Vielfraß bin.
Ich verkneife mir eine Antwort und setze mich nur an den Tisch und starre eine Weile auf das Nutellabrot, das vor mir auf dem Teller liegt. Das erste was ich denke ist, das kann ich unmöglich essen! Dich ich reiße mich zusammen, atme tief durch und beiße hinein. Ich spüre den prüfenden Blick meiner Mutter und meiner Schwester im Rücken, doch ich drehe mich nicht um.
„Ich mach’ dir auch dein Schulbrot, ja?“ fragt mich meine Mutter und ich schaue müde auf und nicke einfach nur. Vielleicht habe ich heute ja einen guten Tag, und ich kann es tatsächlich aufessen. Doch ich bezweifle es.
Alina setzt sich zu mir und wuschelt mir durch meine sowieso schon zersausten Locken. „Bereit für die Schule?“
„Nein“ antworte ich ehrlich und lege das halbaufgegessene Brot weg. „Ich kann nicht mehr“ sage ich und ignoriere den vorwurfsvollen Blick von Alina.
„Das wird schon, Lydia-Schatz“ versucht meine Mutter mich aufzumuntern, doch ich schüttele nur mit dem Kopf: „Die Kommentare werden nicht aufhören“
„Woher willst du das wissen?“ hakt Alina nach.
„Ich weiß es einfach“ gebe ich zurück und schaue ihr eine Weile in die Augen, bevor ich mich abwende und ins Bad trotte.
Ich brauche nicht lange im Bad, da ich nur schnell meine Zähne putze und mir mein Gesicht wasche. Dann gehe ich zurück in mein Zimmer und zerre eine dunkelblaue Jeans und ein rotes Sweat-Shirt aus meinem Schrank.
Die Hose rutscht über meine knochigen Hüften und an den Beinen sitzt sie locker, was bei einer Röhrenjeans eigentlich nicht sein dürfte. Ich schnalle den Gürtel so eng wie es geht und trete vor den Spiegel, der in meinem Zimmer über meiner Kommode hängt. Ich binde mir schnell meine Haare zusammen und lege nur ein leichtes Make-Up auf.
Eine Weile betrachte ich mich noch im Spiegel, dann seufze ich und packe meine Ordner und Bücher in meine burgunderrote Tasche.
Ich hätte beinahe mein Essen vergessen, doch meine Mutter steht mit einem Räuspern im Flur und reicht mir die Brotbox.
Ich verkneife es mir, mit den Augen zu rollen und nehme die Box nur lächelnd an mich und krieche in meine Chucks.
Neben meiner Schwester, welche sogar elegant gekleidet in die Schule geht, komme ich mir vor wie ein Penner. Dünn, abgemagert und irgendwie nachlässig gekleidet – das bin ich.
„Fährst du Lydia in die Schule?“ fragt meine Muter und Alina nickt: „Wie jeden Morgen“ erwähnt sie und lächelt unsere Mutter breit an.
„Viel Spaß, bis heute Nachmittag“ wünscht sie uns und schließt die Wohnungstür.
Im Auto meiner Schwester, wende ich mich gleich von ihr ab und starre aus dem Fenster. Als ich mir meine Kopfhörer aufsetzen will, hält sie meinen Arm fest: „Lydi“ Ihre Stimme hat einen warnenden Unterton und ich schaue sie an: „Was?“
„Verkriech’ dich nicht“ meint sie sanft und startet den Motor.
Ich schweige nur, weil mir nichts einfällt, was ich darauf erwidern könnte. Und ich bin kein Mensch, der einfach nur etwas sagt, damit er nicht schweigen muss.
„Hast du Angst vor dem Schultag?“ fragt Alina weiter und langsam aber sicher komme ich mir vor, als würde sie mich verhören.
Ich lasse mir mit meiner Antwort Zeit und nicke aber schließlich: „Ja, ich habe Angst“
Doch anstatt zu sagen, dass ich keine Angst haben brauche, sagt sie dasselbe wie Dr. Klein gestern: „Manchmal ist Angst gut“
„Hört mir alle auf mit eurem beschissenen positiven Denken“ schreie ich Alina an und sie zuckt zusammen.
Sie schüttelt mit dem Kopf und fährt dann aber fort: „Ich weiß, du machst gerade eine schwierige Phase durch, doch das legt…“
Ich unterbreche sie. Ich will nicht hören was sie sagt. Ich will es nicht. Ich weiß außerdem sowieso, was sie mir sagen will. Sie wird dasselbe sagen, was die letzten zwei Monate jeder zu mir gesagt hat! „Sprich’s nicht auch, Alina“
„Aber, Lydi…“
„Nein, ich will es nicht hören!“ sage ich entschlossen und stecke mir meine Ohrhörer ins Ohr und drehe die Musik so laut es geht.
Bevor ich das Klassenzimmer betrete, atme ich noch mal tief durch und klammere mich fester an dem Riemen meiner Tasche, welcher um meine Schulter hängt. Die andere Hand ist vergraben in meiner Hosentasche, zu Faust geballt. Ich bin schon fünf Minuten zu spät, die Tür ist zu und ich höre die gedämpfte Stimme der Lehrerin, Frau Schmitt. Sie unterrichtet Psychologie und eigentlich mag ich das Fach, doch ich habe aufgehört Sachen zu mögen. Jetzt gibt es nur noch „Das mag ich nicht“ oder „Das ist mir egal“.
Ich seufze leise und klopfe schließlich an. Nach erneutem kurzem Zögern, kann ich mich überwinden und öffne die Tür.
Ich trete ein, schließe die Tür hinter mir und schaue in Frau Schmitts verblüfftes und überraschtes Gesicht. Zur Klasse traue ich mich nicht zu schauen.
„Lydia. Du bist wieder da. Welch eine Überraschung“
Aus Selbstschutz verschränke ich die Arme vor der Brust. Ich nicke und meine dann: „Tut mir Leid, dass ich zu spät bin“ Ich versuche das Tuscheln in der Klasse zu überhören.
„Das macht nichts. Setz dich doch“
Ich blicke zu meinem alten Platz; letzte Reihe am Fenster. Doch der ist besetzt. Neben meiner ehemals besten Freundin Hanna sitzt jetzt Vanessa, und nicht mehr ich.
Mein Blick fliegt durch die Klasse und ich versuche die Blicke zu ignorieren, doch auch das gelingt mir nicht. Einige schauen genauso überrascht wie Frau Schmitt, andere schauen spöttisch, wenn nicht sogar hämisch und viele Blicke triefen nur so vor Mitleid. Doch ich sehe niemanden, der mich freundlich anlächelt.
Ich erspähe einen freien Platz neben Julius und laufe langsam zu ihm.
Auch, wenn ich will, so kann ich die leisen Kommentare nicht überhören. „Sie hat zugenommen“, „Sie soll in einer Klinik gewesen sein“ – „Gebracht hat’s aber nichts!“, und nur einer spricht es laut aus: „Boah, Lydia das Skelett ist ja fett geworden“.
Ich weiß zwar, dass er lügt, dennoch verletzt es mich. Ich zucke zusammen und lasse mich auf den Stuhl neben Julius sinken.
Er schweigt eine Weile, dann sagt er: „Willkommen zurück, Lydia!“
Reine Höflichkeitsfloskeln. Er meint es nicht wirklich ernst.
Schon nach der zweiten Stunde verkrieche ich mich auf die Toilette, nur um den Blicken, um den Fragen, um einfach allem wenigstens kurz zu entfliehen. Warum verstehen die einfach nicht, dass über die letzten Monaten nicht reden kann, nicht reden will?!
Die Kommentare von Tom hören nicht auf, und es kränkt mich. Er demütigt mich und das vor der gesamten Klasse, welche noch nicht einmal das Taktgefühl besitzen nicht zu lachen.
Jeder denkt, eine Magersucht ist ein Spaß. Jeder sagt, die Leute, die ihrem Körper das antun, sind dumm und selber Schuld und man hat somit das Recht dazu, sich über sie lustig zu machen. Doch niemand sieht, wie schlimm es wirklich ist, essgestört zu sein. Niemand kann diese Qual nachvollziehen, niemand den beißenden Hunger, niemand den Drang immer dünner werden zu wollen. Niemand versteht den Schrei nach Hilfe und Aufmerksamkeit.
Lange werde ich es in dieser Klasse nicht aushalten.
„Lydia?“ Ich erkenne die Stimme sofort. Hanna klopft leise an die Toilettentür und ich wische mir schnell über meine tränenverschmierten Augen, dann öffne ich die Tür: „Ja?“
„Wie geht es dir?“
Durch ihren mitleidigen Blick, der sich kein bisschen von dem der anderen unterscheidet, könnte ich gleich wieder anfangen zu weinen. Doch ich versuche stark zu bleiben und nicke: „Es geht mir blendend. Jede Mahlzeit macht Spaß“
„Das glaub’ ich dir nicht“
„Warum fragst du dann?“ frage ich und gehe an ihr vorbei zum Waschbecken, um mir die Hände zu waschen.
„Weil ich freundlich sein will“
„Du bist meine beste Freundin, du musst nicht fragen, wie’s mir geht. Du musst nicht freundlich sein. Du musst mich in den Arm nehmen und mich unterstützen“ Ich sehe sie durch den Spiegel, der über dem Waschbecken hängt an.
Ihre blauen Augen sind weit aufgerissen und sie bewegt die Lippen, sagt jedoch nichts.
„Du hast mich kein einziges Mal in der Klinik besucht“ flüstere ich.
Sie antwortet eine Weile nicht, dann meint sie: „Wir sind keine besten Freundinnen mehr. Du hast dich verändert“ Sie streicht sich das dunkelblonde hinter die Ohren. Etwas, das sie immer tut, wenn sie nervös ist.
Jetzt bin ich es, die die Augen aufreißt. Dann beginne ich leise zu lachen und drehe mich zu ihr um: „Ich war krank. Mir ging es nicht gut. Ich habe fast zwanzig Kilo an Gewicht verloren – natürlich habe ich mich verändert“
„Tut mir Leid, Lydia. Aber…“ Sie bricht ab, doch sie muss auch gar nichts mehr weiter sagen. Hier bringen viele Worte auch nichts mehr. Dass, was gesagt werden musste, wurde gesagt. Der Rest ist nur noch unnötige Gerede.
„Ich verstehe“ Ich drehe mich um und verlasse die Toilette, als ich sie noch sagen höre: „Alles Gute zum Geburtstag, Lydia“
Bevor ich die Tür zur Wohnung aufgeschlossen habe, öffnet meine Mutter sie.
„Hallo, mein Schatz“
Ohne sie zu begrüßen, frage ich: „Warum bist du zu Hause?“
„Ich habe mir zwei Wochen Urlaub genommen“ antwortet sie und nimmt mir meine Schultasche ab. „Und für gewöhnlich, sagt man erst mal „Hallo“.“
„Hallo“ murmele ich und ziehe mir meine Schuhe aus.
„Willst du dir nicht mal neue Schuhe kaufen?“ fragt meine Mutter skeptisch und schaut auf meine abgetragenen Chucks.
„Wieso?“
„Weil diese hier total auseinander fallen“
„Das meine ich nicht. Ich meine, warum hast du dir zwei Wochen Urlaub genommen?“
Sie zögert eine Weile und eigentlich weiß ich die Antwort.
„Du wurdest gerade erst aus den Klinik entlassen, du gehst schon gleich wieder zur Schule und musst immer noch zweimal im Monat zum Psychologen. Ich will einfach für dich da sein“ erklärt sie und geht in die Küche. Ich folge ihr.
„Das musst du nicht. Ich komme allein klar“
„Nein, Lydia!“ Es ist das erste Mal seit Langem, dass meine Mutter die Stimme hebt. Sie dreht sich mit entschlossener Miene zu mir um: „Du kommst eben nicht allein klar“ Sie stellt meine Schultasche auf die Arbeitsplatte ab und holt meine Brotbüchse hervor. Ich habe kein einziges gegessen.
„Was ist das?“ fragte sie streng.
Ich zucke nur mit den Schultern: „Brot, würde ich sagen“
„Was soll das, Lydia?! Warum hast du sie nicht gegessen?“
„Ich hatte keine Hunger!“ erwidere ich.
Meine Mutter schüttelt verzweifelt mit dem Kopf: „Du musst essen, Lydia. Ich dachte in der Klinik hätten sie dir geholfen“
Ich zucke zusammen. „Es tut mir Leid. Es ist nicht alles so leicht“ Ich nehme die Brote an mich. „Ich esse sie jetzt“ Ich will damit in mein Zimmer gehen, doch meine Mutter hält mich fest.
„Du isst sie hier!“
Sie denkt bestimmt an die vielen Mahlzeiten, die ich in meinem Zimmer habe vergammeln lassen, nur damit jeder denkt, ich würde etwas essen.
„Okay“ murmele ich und setzte mich an den Küchentresen. Angewidert starre ich auf die Brote mit der dicken Schicht Butter. Es war alles nicht ganz leicht, und vielleicht wäre es besser gewesen, wenn ich noch zwei weitere Monate in der Klinik geblieben wäre, doch das wollte ich nicht.
Ich beiße einen kleinen Bissen, als mich meine Mutter fragt: „Wie war dein Schultag?“
Ich zögere mit meiner Antwort, schlucke das Brot herunter und sage das, was ich wirklich will: „Ich will die Schule wechseln!“
„Wieso willst du die Schule wechseln?“ Mein Vater und Alina schauen beiden genauso überrascht und verwirrt, wie es meine Mutter getan hat, als ich ihr erzählt habe, dass ich die Schule wechseln will.
„Ich halt die Blicke nicht aus“ gebe ich ehrlich zu.
„Welche Blicke?“ fragt mein Vater nach und ich schaue ihn wütend an, denn eigentlich könnte er sich ja denken, welche Blicke ich zu spüren bekomme.
„Diese Mitleidsblicke. Den Spott in den Augen – einfach alles. Ich halt das nicht aus“ erwidere ich, lauter als beabsichtig und drücke das Kissen, das immer auf unserem Sofa liegt, enger an mich.
„Das legt sich bestimmt wieder“ versucht Alina mich aufzuheitern, doch ich schüttele nur mit dem Kopf: „Ich kenne meine Klasse. Das wird nicht aufhören. Ich werde immer das Mädchen bleiben, das magersüchtig war… oder ist. Außerdem sind Kommentare unertragbar“
„Vielleicht sollten wir einmal mit deinen Lehrern sprechen“ schlägt meine Mutter vor und sofort springe ich auf: „Nein! Tut das nicht. Bitte!“ Ich schaue flehend von meinem Vater zu meiner Mutter. „Lasst mich einfach die Schule wechseln. Lasst mich einfach neu anfangen; in einer Schule, wo mich keiner kennt. Wo ich einfach nur Lydia Weller bin!“ Ich lasse mich wieder auf’s Sofa sinken.
Meine Eltern tauschen einen ratlosen Blick und Alina zuckt nur mit den Schultern, bevor sie sich auf meine Seite stellt: „Ich sehe nicht, wo da das Problem liegt, oder Papa?“ Alina setzt sich neben mich und legt mir einen Arm um die Schulter.
„Was ist mit Hanna? Willst du nicht mit Hanna in einer Klasse bleiben?“ fragt meine Mutter.
„Nein“ antworte ich knapp.
„Oh“ Ist die Reaktion meiner Mutter und von Alina bekomme ich einen fragenden Blick, dennoch hakt sie nicht nach.
Eine Weile schweigen wir alle und ich schaue fragend von einem zum anderen, bis mein Vater sich schließlich räuspert und die Stille durchbricht: „Nun gut, es ist zwar alles etwas kurzfristig, aber ich denke nicht, dass ein Schulwechsel irgendwelche Probleme bereiten sollte“
Ich beginne zu lächeln und sage leise: „Danke“
„Jetzt ist nur noch die Frage, welche Schule“ erwähnt meine Mutter und Alina steht sofort auf und zieht mich am Handgelenk hoch: „Lydi und ich schauen im Internet nach“ Mit diesen Worten zieht sie mich aus dem Raum.
„Was ist mit Hanna passiert?“ fragt sie mich, noch bevor wir in ihrem Zimmer sitzen und sie ihren Laptop startet.
„Nichts. Wir sind nur einfach keine Freundinnen mehr“ antworte ich.
„Und dein plötzlicher Schulwechsel…“ Sie formuliert es wie eine Frage, lässt den Satz aber offen im Raum hängen.
„Alina, verstehst du denn nicht?!“ rufe ich verständnislos aus. „Ich möchte einfach wieder in eine Klasse gehen, in der nicht jeder weiß, dass ich die letzten zwei Monate in einer Klinik verbracht habe!“
„Doch, das verstehe ich“ Sie nickt und tippt in Google „Gymnasien in Heidelberg“ ein.
Nur eine halbe Stunde später ist meine Wahl getroffen: St. Raphael Gymnasium, eine christliche Privatschule.
„Du weißt schon, dass Mama und Papa dann 150¤ im Monat zahlen müssen“ bemerkt Alina trocken.
„Die Klinik hat sie mehr gekostet“ erwidere ich nur und drucke die Seiten zur Schule aus.
„Außerdem ist es ziemlich weit von zu Hause weg“ wirft Alina erneut ein. Und langsam bekomme ich das Gefühl, dass mich davon abhalten will auf’s St. Raphael zu gehen.
„Dann fahre ich eben mit der Bahn, oder mit dem Bus“
„Bis nach Neuenheim?“ Sie zieht fragend die Brauen in die Höhe.
„Ich sehe da kein Problem“ Ich zucke mit den Schultern und ziehe die Blätter aus dem Drucker.
Alina erwidert daraufhin nichts und ich weiß, dass auch sie dabei eigentlich kein Problem sieht.
Ich drehe mich zu ihr um: „Bei dieser Schule habe ich eben ein gutes Gefühl“
„Bei einer christlichen Privatschule?“ fragt sie, während sie zu der Tüte mit Gummibärchen greift, die auf ihrem Couchtisch liegen. „Du bist noch nicht einmal konfirmiert“
„Zeiten ändern sich“ Ich zucke mit den Schultern.
„Wenn du meinst“ Sie reicht mir die Tüte mit den Haribo. „Hier, iss’!“
Angewidert verziehe ich das Gesicht; ich mochte Haribo noch nie besonders, mal davon abgesehen, dass ich sofort wieder die Kalorienanzahl vor meinem inneren Auge sah. „Bitte nicht, Alina!“
„Wenigstens zwei oder drei“
Ich seufze und gebe nach und stecke die drei gelben Gummimännchen auf einmal in den Mund: „Zufrieden?“ frage ich sie trotzig mit vollem Mund.
„Ja, voll und ganz“ Alina grinst breit und knufft mir liebevoll in den Bauch.
„Und? Seit ihr weiter gekommen?“ reißt uns die Stimme unseres Vaters aus unserem Gespräch.
Ich schaue auf und nicke: „Ich habe mich entschieden“ Ich gehe zu ihm und reiche ihm die Blätter, die ich ausgedruckt habe.
„Das St. Raphael-Gymnasium?“ Sein Blick erinnert mich an den von Alina, doch ich lasse mich davon nicht beirren, sondern nicke nur: „Sobald wie möglich will ich auf diese Schule gehen!“
Ich ging nur noch weitere eineinhalb Wochen auf meine alte Schule, mit den allbekannten Gesichtern und den üblichen Blicken und den langsam langweilig werdenden Kommentaren.
Und heute, an einem normalen Mittwochmorgen habe ich meinen ersten Schultag an dem St. Raphael-Gymnasium. Die Realschule, die mit auf dem Gelände integriert ist, interessiert mich nicht.
Ich sitze auf dem Beifahrersitz neben meiner Mutter und spiele nervös mit der kleinen Silberkette und dem Herzanhänger, die ich um den Hals trage. Ich besitze die Kette schon seit ich ein kleines Mädchen war. Irgendwie gehört diese Kette einfach zu meinem Leben.
„Du musst nicht nervös sein“ sagt meine Mutter aufheiternd. Doch ihr Versuch mich aufzumuntern scheitert kläglich.
„Abwarten“
„Aber das ist doch, was du willst: Ein Neuanfang“
„Ich will es ja auch!“
„Dann solltest du dich freuen“ meint sie leise und ich weiß daraufhin nicht, was ich sagen soll, also schweige ich.
Das Hauptschulgebäude ist ein einfacher Plattenbau mit großen Fenstern. Die roten Backsteingemäuer sind mit Efeu bewachsen und geben dem Schulgebäude ein malerisches Aussehen.
„Das Schulgelände ist wirklich sehr schön“ sagt meine Mutter und steigt mit mir aus dem Auto aus.
Ich schließe die Autotür und schaue mich um. Das Schulgelände hat viele Grünflächen und ein paar historische Altbauvillen, in denen auch noch zusätzlich Unterrichtsräume sind. „Ja, es ist schön hier“, stimme ich zu.
Um mich anzumelden war ich nur kurz mit meinem Vater hier und vor lauter Aufregung hatte ich gar nicht richtig die Zeit gefunden, mich umzuschauen. Und die Bilder auf der Website konnten nicht mal ansatzweise zeigen in welcher Lage sich die Schule befand.
Meine Mutter geht zielstrebig auf das Hauptgebäude zu, wo sich das Sekretariat und das Büro der Direktorin befinden. Ich bleibe stehen und rufe ihr hinterher: „Willst du etwa mit rein?“
Sie dreht sich über die Schulter zu mir um und nickt: „Darf ich etwa nicht?“
Schnell hole ich sie ein und schüttele mit dem Kopf: „Doch, schon. Nur würde ich das lieber alleine machen“
Erst schaut sie mich etwas verletzt an, doch dann nickt sie: „Ja, okay. Du schaffst das sicherlich auch allein“
„Danke, Mama“ meine ich freundlich und sie drückt kurz meine Hand, dann mache ich mich von ihr los und renne die Treppen zum Eingang hinauf.
„Und wie war noch mal dein Name?“ fragt die Sekretärin hinter ihrem Schreibtisch und setzt ihre Brille auf die Nase.
„Lydia Weller“ antworte ich höflich und trommele mit dem Finger auf dem Tresen herum.
„Ach ja: Lydia Weller. Hier hab ich’s. Du warst letzte Woche schon mal mit deinem Vater hier, nicht?“ Die Sekretärin steht auf und reicht mir zwei Zettel: „Der eine ist dein Stundenplan und der andere dein Arbeitenplan. Du wirst verstehen, dass du gleich jede Arbeit mitschreiben musst. Und wir brauchen noch deine Noten von den letzten zwei oder drei Monaten“ erklärt sie.
Ich zucke zusammen und nehme die Blätter an mich, dann sage ich leise: „Es gibt keine Noten von den letzten zwei Monaten“
„Oh“ überrascht schaut die Dame auf. „Dann gingst du nicht zur Schule? Warum, wenn ich fragen darf?“
Ich zögere eine Weile, dann antworte ich ausweichend: „Persönliche Probleme“ Ich werfe einen Blick auf meinen Stundenplan: „Wie es aussiehst habe ich jetzt Deutsch, im Klassenzimmer… Ähm, wo ist das Klassenzimmer der Klasse 11b?“
„Einfach eins hoch, und dann gleich die erste Tür rechts“ erklärt die Sekretärin und ich bedanke mich und verlasse den Raum.
Warum musste die Sekretärin auch gleich nach den letzten zwei Monaten fragen? Warum hat sie nicht nach dem gesamten letzten Jahr gefragt, was zwar auch nicht sehr viel besser war, als die letzten zwei Monate, aber immerhin habe ich dies nicht in einer Klinik für Essgestörte verbringen müssen.
Und zum ersten Mal fällt mir auf, wie viel ich in der Schule nachholen muss. Die nächste Arbeit würde ich gleich einmal Mathe schreiben – ein Fach, mit dem ich massive Probleme habe.
Seufzend packe ich die Blätter weg und stehe vor der ersten Tür rechts im ersten Obergeschoss. Wie am ersten Schultag in meiner alten Klasse, atme ich einmal tief durch, klopfe an und öffne dann die Tür.
Eine dicke, kleine, ziemlich alte Frau steht vor der Tafel und schaut mich überrascht an: „Kann ich dir helfen?“
Ich schaue sie mit großen Augen an, und wage es wieder nicht zur Klasse zu schauen. „Ähm, ich bin neu hier. Lydia Weller… Man müsste Ihnen eigentlich gesagt haben, dass ich neu in die Klasse komme“
„Ach ja, Lydia Weller. Das Mädchen, das mitten im Schuljahr wechselt“ lächelt die alte Frau und schaut kurz was im Klassenbuch nach. Dann reicht sie mir die Hand: „Ich bin Frau Mai, deine neue Deutschlehrerin“
Nachdem ich ihr die Hand geschüttelt habe, drehe ich mich zu Klasse um, und Frau Mai legt eine Hand auf meine Schulter, und ich weiß, dass sie jeden Knochen fühlen kann. „Zeigt ihr in der Pause doch bitte die Schule“ sagt sie schlicht und deutet dann auf einen Platz in der Mitte: „Du kannst dich neben Sophia setzen“
Ich nicke nur, lächele dem Mädchen mit dem Namen Sophia zu und setze mich auf den freien Platz neben ihr.
„Willkommen an der St. Raphael“ begrüßt sie mich freundlich und ich lächele sie höflich an: „Danke“
„Auf welcher Schule warst du vorher?“ fragt mich Sophia neugierig, als es zur Pause geläutet hat. Sie schaut mich aus freundlichen braunen Augen an und streicht sich das hellbraune Haar aus dem Gesicht.
„Auf dem Hölderlin“ antworte ich knapp, als sich der Junge in der Reihe vor uns zu uns umdreht. Ich habe in meinem Leben noch nie solche orangen Haare gesehen, doch seine Haare haben wirklich die Farbe von Karotten. „Warum wechselst du mitten im Schuljahr?!“ Sein Blick ist mehr als neugierig; er ist auch etwas verständnislos. Ich habe aber mit solchen Fragen gerechnet und will gerade freundlich antworten, als der Junge, der neben dem Karottenkopf sitzt ihm einen leichten Klaps auf dem Hinterkopf gibt: „Sei’ doch nicht immer so neugierig. Wie wär’s wenn du dich erst mal vorstellst“
Sophia kichert und meint erklärend zu mir: „Robin kennt keine Höflichkeit“
Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wer Robin ist; der mit den krassen Haaren oder der, der anscheinend gerne mal Klapse auf den Hinterkopf erteilt.
„Also, ich bin Tobias“ stellt sich der mit der normalen Haarfarbe vor.
„Lydia“ antworte ich leise.
„Ich bin Robin“ Also ist der Karottenmann Robin.
„Jetzt aber mal im Ernst: Warum wechselt jemand mitten im Schuljahr. Und dann noch zu uns?“ hakt jetzt auch Tobias nach. „Im Ernst, das hier ist die spießigste Schule überhaupt“
Ich bleibe bei meiner Antwort, die auch schon der Sekretärin gesagt hatte: „Persönliche Gründe“
„Ahhh“ Robin klingt wissend, dabei wette ich, dass er keine Ahnung hat, sondern einfach nur irgendetwas sagen will.
„Und du warst vorher auf dem Hölderlin?“ fragt Sophia neugierig nach und ich ahne schon, dass sie jetzt fragt, ob ich den oder jenen kenne. Und ich soll Recht behalten.
„Kennst du eine Hanna. Klasse 11a?“
Ich zucke kaum merklich zusammen und schüttele mit dem Kopf: „Nein, tut mir Leid. Kenne ich nicht. Ich war aber in der letzten Zeit nicht oft in der Schule gewesen“
„Warum?“
„Persönliche Gründe“ wiederhole ich nachdrücklich.
„Achso“ meint Sophia leise und ich glaube, dass ich sie verschreckt habe, was mich nicht wundern würde.
Die nächsten beiden Stunden habe ich Mathe. Schlimmer finde ich nur noch Physik, doch das habe ich zur elften Klasse abgewählt – wenn auch eher weniger erfolgreich mit einer vier.
Die Formeln an der Tafel sagen mir gar nichts, da ich in Mathe zwei Monate hinterher hänge. In diesem Fach werde ich wohl am meisten aufzuholen haben.
„Wenn du nicht klar kommst, frag mich einfach“ bietet Sophia freundlich an und ich nicke ihr dankbar lächelnd zu, sage aber nichts.
Der Schulwechsel ist eine der besten Ideen gewesen, die ich je hatte. Und in Sophia habe ich anscheinend eine sehr loyale und höfliche Sitznachbarin gefunden – ob wir Freundinnen werden, weiß ich noch nicht.
„Lydia, kommst du mit?“ reißt mich die Stimme unseres Mathelehrers, Herr Schmitt aus meinen Gedanken.
Unser Mathelehrer ist ungefähr Mitte, vielleicht sogar Ende Fünfzig, mit einem freundlichen Gesicht und einem kleinen grau werdenden Bart, welcher ihn ein wenig aussehen lässt, wie ein lieber Opa, der seinen Enkelkindern im Schaukelstuhl Geschichten vorliest.
Erschrocken schaue ich auf. „Na ja – ähm – um ehrlich zu sein, nicht so ganz. Ich habe die letzten zwei Monate…“ Ich breche ab. „Nein, ich komme nicht hinterher, tut mir Leid“
„Gut, dann versuche ich es noch mal zu erklären“ meint Herr Schmitt und klingt kein bisschen genervt, wie meine alte Mathelehrerin damals immer.
Er erklärt mir die Exponentialverschiebung erneut, und dennoch verstehe ich es nicht. Die ganzen Variablen und die vielen Rechenzeichen – das ist einfach zu viel.
„Ist es dir jetzt ein wenig klarer?“ fragt Herr Schmitt erneut, und ich komme schon in die Versuchung einfach zu nicken, doch das würde mir nichts bringen, also schüttele ich erneut mit dem Kopf: „Nein, immer noch nicht. Tut mir Leid“
Herr Schmitt seufzt und einige in der Klasse, die das Thema in Mathe verstehen, stöhnen genervt auf.
„Gut, dann komm’ doch bitte nach der Stunde zu mir. Vielleicht kann ich dir ein paar Übungsblätter mitgeben“ bietet er an und ich nicke nur und starre weiter auf dem Fenster.
Wie versprochen gibt mir Herr Schmitt ein paar Übungsblätter, auf denen noch zusätzlich die Erklärungen zur Exponentialverschiebung stehen. Hoffentlich würde ich es mithilfe der Blätter verstehen.
„Du hast anscheinend in Mathe viel verpasst“ meint Herr Schmitt.
„Zwei Monate“ antworte ich leise und hoffe, dass er nicht nachhakt. Und er tut es auch nicht.
„Dann viel Glück und Erfolg beim Nachholen“ wünscht er mir und nimmt seine Tasche vom Lehrerpult und geht zur Tür, als ein hochgewachsener Junge das Klassenzimmer betritt. Ich schätze ihn etwa zwei, vielleicht sogar drei Jahre älter als mich. Seine schwarzen Haare sind etwas zu lang und hängen ihm leicht im Gesicht, dennoch kann ich erkennen, dass er dunkelgrüne, leuchtende Augen haben muss.
„Ah, hallo Luca“
„Hallo“ erwidert er den Gruß von Herr Schmitt nur kurz.
„Wie war der Planungstag der SMV?“
„Ich will gerade ein paar Worte dazu sagen“
„Ah…“ Herr Schmitt schaut neugierig und bleibt in der Tür stehen.
Erst jetzt fällt mir auf, dass ich immer noch am Lehrerpult stehe und den Jungen – Luca, oder wie er heißt – immer noch anstarre. Schnell wende ich meinen Blick ab und gehe wieder zu meinem Platz neben Sophia.
„Wer ist das?“ frage ich sie leise und deute mit dem Kinn auf den Jungen.
„Wer – der?!“ hakt Sophia nach. „Das ist Luca. Er ist Schülersprecher, geht in die 13. Klasse und ist irrsinnig schlau in Naturwissenschaften und so. Außerdem ist er wahnsinnig niedlich“ schwärmt Sophia und muss ein Lachen unterdrücken.
„Also, hört mal kurz zu“ beginnt Luca zu reden und die Klasse hört ihm zu – zumindest mehr, als sie Frau Mai zuhören. „Der Planungstag hat ergeben, dass die Studienfahrt entweder nach Paris oder nach Amsterdam geht. Ihr könnt zwischen den beiden Zielorten wählen. Die Zettel teilen die Klassensprecher in den nächsten Wochen aus“
Ein Mädchen aus meiner neuen Klasse mit blonden Locken, die fast so aussahen wie die von Alina und ihre Sitznachbarin nicken. Anscheinend sind die beiden die Klassensprecher.
„Okay, noch viel Spaß“ Er zwinkert der Klasse zu und lächelt spöttisch, als sein Blick auf mich fällt.
Er lächelt mich an: „Du musst die Neue aus Klasse 11b sein“
„Lydia… Mein Name ist Lydia“
„Dann willkommen auf der St. Raphael, Lydia“ Er streicht sich das schwarze Haar aus den Augen und lächelt mich immer noch an.
Irgendwie sprach er meinen Namen anders aus, als die anderen. Irgendwie melodischer.
„Danke“ meine ich leise und er wendet sich von mir ab. „Viel Spaß noch“ Jetzt redet er wieder mit der gesamten Klasse, wechselt ein paar Worte mit der blonden Klassensprecherin und verlässt dann den Raum.
Und das einzige, was ich denken kann, ist: Wow!
Am Abend beginnt die übliche „Wir-quetschen-Lydia-aus“ Runde. Meine Mutter schaut prüfend in meine Brotbüchse und nickt zufrieden, als sie sieht, dass ich alle bis auf eines gegessen habe.
Mein Vater will wissen, wie es in der neuen Schule war und beantworte seine Frage mit einem Nicken und sage ihm, dass es mir sehr gut an der St. Raphael gefällt.
Alina lächelt mich freundlich an und stupst mich dann spielerisch mit dem Ellenbogen in die Seite: „Hast du süße Jungs in deiner Klasse?“
Sofort denke ich an den Karottenkopf und an Tobias und schüttele schnell mit dem Kopf. Ich beginne zu lachen: „Nein, in meiner Klasse gibt es solche Exemplare nun wirklich nicht!“
„Aber…?!“ Alina zieht das Wort unnötig in die Länge und auch unsere Eltern schauen schon neugierig.
„Wir reden nachher“ zische ich und trete ihr unter dem Tisch gegen das Schienbein.
„Autsch“ gibt Alina von sich und knufft mich noch mal in die Seite und zum ersten Mal merke ich richtig, wie froh ich bin, dass ich Alina doch nicht verloren habe. Ich hatte echt gedacht, dass sie mich hassen muss. Als ich in der Klinik war, hatte ich immer am meisten Angst vor ihrer Reaktion gehabt. Nicht vor der von Hanna. Und nun ist es gerade Alina, meine ältere Schwester, die sooft zu mir sagte, ich würde sie nerven, die zu mir hält.
„Es freut uns, dass es dir gefällt“ meint meine Mutter und legt mit noch ein Brötchen auf meinen Teller.
„Ich habe schon ein Halbes gegessen. Ich bin satt“ sage ich und weiß, dass jetzt alle drei mich dazu bewegen wollen noch etwas mehr zu essen.
„Wenigstens noch etwas Salat?“ fragt Alina, doch ich schüttele mit dem Kopf: „Ich bin satt!“ wiederhole ich deutlich und mein Vater meint nur: „Lasst sie doch“ Er klingt etwas hoffnungslos und vielleicht auch ein bisschen verzweifelt.
Seufzend greife ich mir noch eine Tomate und schaute meine Eltern und Alina an: „Zufrieden?“
„Zufriedener als vorher“ erwidert mein Vater lächelnd und wendet sich dann an Alina: „Wie läuft es bei dir in der Schule? Was machen die Abi-Vorbereitungen?“
„Ach“ Alina gähnt. „Es ist alles beim Alten“
Bei Alina in der Schule gibt es nie Probleme. Sie wird locker ihr Abi mit einem Durchschnitt von 1,5 schaffen, wird danach Jura studieren und irgendwann einmal eine erfolgreiche Anwältin werden. Auch als Alina noch jünger war, gab es mit ihr nie Probleme. Sie kam nie zu spät nach Hause, sie nahm nie Drogen, sie war nie wirklich besoffen und Schule hat sie auch nie geschwänzt.
Mit Alina gab es in keinerlei Hinsicht Probleme. Erst als ich ins schwierige und pubertäre Alter kam, mussten sich meine Eltern Sorgen machen. Erst dann konnten sie nächtelang nicht schlafen, weil ich später als vereinbart nach Hause kam, weil ich sturzbesoffen von der Polizei nach Hause gebracht wurde, weil ich irgendwann aufgehört habe zu essen. Ich war und bin ihr kleines Problemkind.
„Bei Alina läuft es doch immer gut. Macht’ euch keine Sorgen um sie“ meine ich und ärgere mich darüber, weil ich meine Verbitterung nicht verbergen kann.
„Meinst du etwa, wir sollen uns noch mehr Sorgen um dich machen?“ fragt meine Mutter spitz und zieht fragend die Brauen nach oben.
Ich schüttele mit dem Kopf: „Nein, das meine ich nicht. Tut mir Leid, wenn das so rübergekommen ist. Mir geht es wieder gut“
Daraufhin schweigen alle nur und auch ich weiß nicht, was ich sagen soll.
Ich dachte immer, irgendjemand wird mich schon auffangen können, wenn ich einmal tief falle.
Und nun bin ich tief gefallen – sehr tief und dennoch schafft es keiner, mir wieder Halt zu geben. Auch, wenn ich alles daran setze, wieder Boden unter den Füßen zu fassen, auch wenn ich alles versuche, um irgendwo neu anfangen zu können; ich habe meinen alten Freundeskreis hinter mir gelassen, meine alte Schule, sogar mein Zimmer ist mir irgendwie fremd. Und trotzdem schaffe ich es nicht.
„Also, wer ist es?“ Alina lässt sich im Schneidersitz auf meinen Teppich sinken und reicht die Milka-Schokolade an mich weiter. Ohne sie auszupacken lege ich sie neben mir ab. „Wer ist was?“
„Wer ist er, den du süß findest?“ hakt sie nach und ich erinnere mich automatisch an die vielen Gesprächen, die wir über ähnliche Themen geführt haben. Nur meistens war es Alina, die ihre Geschichten erzählt hat; es waren ihre Tränen, die ich trocknen musste, während ich im Inneren überlegt habe, wie viel ich am Tag gegessen habe, und wie viel Sport ich machen müsste, damit ich am Ende auf die Kaloriensumme 0 komme.
„Ich kenne ihn gar nicht. Ich finde ihn nur äußerlich attraktiv, mehr nicht!“ sage ich entschlossen und Alina merkt genau, dass für mich das Thema beendet ist.
„Ich habe jemanden kennen gelernt“ durchbricht sie nach einer kurzen Weile die Stille. Ich gleite von meinem Bett und setzte mich ihr gegenüber: „Echt? Wen?“
„Den kennst du nicht“ Sie lacht herzlich. „Sein Name ist Simon, er wohnt in Dossenheim und er studiert Medizin, hier an der Uni“
„Ein Medizinstudent, aha“
„Ja, ich weiß. Solche mochte ich eigentlich nie. Aber er ist so wahnsinnig süß“
„Wo habt ihr euch kennengelernt?“
„Im Tiff“
„Im Tiffany’s in Mannheim?“ Ich reiße überrascht die Augen auf. Normalerweise fährt Alina nie in einen Club nach Mannheim. In Heidelberg gibt es genügend gute Clubs, die Alina toll findet.
„Tja, du kommst aber noch nicht rein“ Sie streckt mir kindisch die Zunge raus und ich schlage sie spielerisch gegen den Arm: „Das weiß ich auch“
Dann schweigen wir beide wieder eine Weile, bis ich es diesmal bin, die das Schweigen bricht: „Wie sieht er aus?“
„Alsooo – er hat braune Haare…“
Ich verziehe das Gesicht. Ich habe mich noch nie in jemanden verliebt, der braune Haare hat.
„Was denn?!“ ruft Alina empört. „Er ist wirklich niedlich!“
„Ja, ja“ würge ich sie ab. „Augenfarbe?!“
„Blau“
„Hm – das ist ja schon mal nicht schlecht. Wann seht ihr euch wieder?“
„Das weiß ich noch nicht. Er hat meine Nummer, doch er hat sich noch nicht gemeldet. Und ich weiß nicht, ob er es noch tun wird“
Ich zucke nur mit den Schultern. Ich habe schon viel durchgemacht, aber so was überschreitet dann meinen Erfahrungsbereich irgendwie.
„Er wird schon anrufen“
Liebevoll wuschelt Alina mir nun durch die Haare: „Ach, Lydi. Du hast doch keine Ahnung“
Ich ziehe eine Grimasse und schubse Alina von mir, welche lachend aufsteht. Auch, wenn ich nicht will, ich muss mit ihr mitlachen.
Sie verstummt aber sofort, als sie das unausgepackte Geschenk auf meinem Schreibtisch liegen sieht: „Willst du es nicht doch mal auspacken?“ fragt sie traurig. Es tut mir weh, wenn ich sehe, dass ich sie damit verletze, doch ich kann ihr nicht die Antwort geben, die sie hören will.
Ich schüttele mit dem Kopf: „Tut mir Leid, Alina. Aber ich kann nicht“
Eine Weile blickt sie noch traurig auf das Päckchen, dann schaut sie wieder lächelnd zu mir: „Irgendwann wirst du es können, glaub mir, Lydi. Irgendwann“ Mit diesen Worten verlässt sie mein Zimmer und ich starre noch eine ganze Zeit lang auf das Päckchen, bevor ich aufstehe und es immer noch unausgepackt in meine Kommode stopfe. Jetzt ist schließlich nicht irgendwann.
„Wenn du in Mathe weiterhin so schlecht bist, dann sehe ich für dich in diesem Kurs schwarz, Lydia“ sagt Herr Schmitt ehrlich, als er mir meine Mathe-Arbeit zurückgibt. Aus dem Augenwinkel erkenne ich, dass Sophia versucht einen Blick auf meine Notenpunktzahl zu erhaschen. Doch schnell drehe ich das Blatt um; die Zahl zwei habe ich selber gesehen und das reicht mir.
„Komm doch bitte nach der Stunde noch mal zu mir“ meint Herr Schmitt und lächelt mich freundlich aber auch gleichzeitig besorgt an.
Ich nicke nur und packe die Arbeit weg.
„Was hast du?“ Der Karottenkopf, den ich eigentlich langsam beim Namen nennen sollte, dreht sich uns rum.
Ich zucke mit den Schultern: „Nichts Gutes“
Dann schaut Robin zu Sophia: „Und du?“
„Zehn Notenpunkte“ Sie lächelt stolz und ich freue mich ehrlich mit ihr. Obwohl ich auch lieber zehn Notenpunkte hätte, als zwei.
Am Ende der Stunde stehe ich am Lehrerpult, während Sophia, Anna und Maleen – die beiden Klassensprecherinnen - auf mich warten, um in der Mittagspause mit mir etwas Essen zu gehen.
Auch den Leuten an der neuen Schule ist mein Untergewicht nicht entgangen und vor allem die Leute, zu denen ich nach drei Wochen das beste Verhältnis habe, versuchen mich oft zum Essen zu bewegen. Vor allem im Sportunterricht beim Umziehen wurden Sachen gesagt wie: „Oh, Lydia. Du gehört aber auch zu den ganz Dünnen“ Das war weder böse noch irgendwie anders wertend gesagt und gemeint.
Diese Mädchen wussten nichts von den letzten paar Monaten, dennoch fiel jedem auf, dass ich ziemlich dürr war. Aber niemand kennt meine Geschichten. Und das soll auch so bleiben.
„Ich meine es ernst, Lydia“ sagt Herr Schmitt nachdrücklich. „Wenn die nächste Arbeit nicht gut wird, dann wird in deinem ersten Halbjahreszeugnis ein Unterkurs in Mathe stehen. Du kannst deswegen durchfallen“
„Ich weiß“ erwidere ich leise und schaue auf meine Schuhspitzen.
„Hast du es schon mal mit Nachhilfe versucht?“
Ich schüttele mit dem Kopf: „Bis vor ein paar Wochen ging ich sehr unregelmäßig zur Schule und an Nachhilfe war da gar nicht zu denken“
„Hör mal, Lydia!“ Herr Schmitt senkt die Stimme, sodass die drei Mädels mit Sicherheit kein Wort mehr verstehen können. „Ich weiß nicht, was du in der letzten Zeit durchmachen musstest, aber dir scheint es wieder besser zu gehen, und du gehst jetzt nun mal wieder zu Schule. Du gehst in die Oberstufe auf ein Gymnasium und du musst in Mathe unbedingt etwas tun!“
„Ich weiß, Herr Schmitt“
„Vielleicht kann ich ja jemanden aus den Klassenstufen Zwölf und Dreizehn fragen, ob jemand dir helfen kann. Ein paar Mathe-Freaks sind da schon dabei“ Er zwinkerte mir zu. „Denn, wenn ich dir etwas erkläre, verstehst du es anscheinend nicht“
„Sieht so aus, was?“ Auch ich muss lächeln.
Herr Schmitt nickt und zeigt dann auf Sophia und die anderen beiden: „Lass deine Freundinnen nicht länger warten“
Ich will gerade sagen, dass das nicht meine Freundinnen sind, schlucke diese Worte aber herunter und nicke.
Dann drehe ich mich zu den Dreien um. Sie lächelnd mich herzlich an und ich denke sofort, dass sie vielleicht doch Freundinnen von mir sein könnten.
Wir sitzen in der Kantine der Schule und ich schaue mit gelangweilter Miene auf mein Essen und wage mich nicht die fettigen Bratkartoffeln und die noch fettigere Bratwurst in meinen Mund zu stecken.
Während alle anderen schon fast fertig sind, habe ich gerade mal meinen Salat beendet und ringe mit mir um den Hauptgang.
„Iss’ doch was“ meint Sophia und zeigt mit ihrer Gabel auf meinen Teller.
„Ich brauch’ nur eine Pause“
„Von deinem Salat?“ Skeptisch zieht Anna eine Braue in die Höhe.
Unsicher antworte ich: „Ja?“
„Wie du meinst“ wirft Maleen schnell ein und wechselt dann Thema, wofür ich ihr sehr dankbar bin: „Hört mal, Nik aus der Zwölf feiert seinen Geburtstag nächste Woche. Wollt ihr vielleicht mitkommen? Ich trau’ mich nicht alleine hin“ Sie kichert nervös und ich weiß auch warum. Sie mag Nik schon seit längerem echt sehr und er sie anscheinend auch und jetzt hat er sie zu seinem achtzehnten Geburtstag eingeladen. Natürlich war sie total aus dem Häuschen und ich glaube nicht, dass es jetzt besser ist.
Erwartungsvoll schaut sie von Anna zu Sophia, dann blickt sie hastig auch zu mir: „Du kannst natürlich auch mit, wenn du willst“
„Danke. Ich schaue mal, ob ich Zeit habe“ antworte ich, obwohl ich genau weiß, dass ich Zeit habe. Seit ich komplett den Kontakt zu meinen alten Freunden abgebrochen habe, war ich abends nicht mehr weg. Und die Zeit davor sowieso nicht.
„Wir sind auf jeden Fall dabei“ meint Anna nach einer Weile und Sophia schaut fröhlich zu mir: „Ich fänd’s toll, wenn du auch mitkommen würdest“
„Wie gesagt, ich schau’ mal. Außerdem kenn’ ich den doch gar nicht“ werfe ich ein, doch Maleen winkt gleich ab: „Ach komm, das ist doch nun wirklich egal“
„Wenn du meinst. Ich sage dir morgen Bescheid“ Ich nehme mein Tablett und meine Tasche und schaue auf die Wanduhr. In einer Viertelstunde habe ich Kunst. „Ich geh’ dann mal. Ich muss noch mal Kunst wiederholen. Wir sehen uns morgen“ Sophia, Anna und auch Maleen hatten alle Musik gewählt.
„Alles klar. Schönen Tag noch“ wünscht mir Sophia.
„Sag’ mir Bescheid wegen der Party“ ruft mir Maleen noch hinterher und einige in der Kantine drehen sich zu mir und ihr um, was mir etwas peinlich ist.
Schnell gebe ich mein Tablett ab und stecke meine Hände in die Taschen meiner langen und viel zu großen, blau-weiß gestreiften Strickjacke.
Ich will die Kantine gerade verlassen, als jemand meinen Namen ruft: „Lydia“
Ich schaue verwundert und vielleicht auch wenig verständnislos auf und will stehen bleiben, doch Luca holt mich schnell ein und läuft einfach weiter, sodass auch ich weitergehen muss.
„Du heißt doch Lydia?“
„Hmhm“ nicke ich nur.
„Herr Schmitt hat mich gerade angesprochen. Er meinte, du hättest echte Probleme in Mathe“
Ich lache leise: „Das spricht sich aber schnell rum“
„Nein, nein. Er meinte nur, ob ich dir vielleicht nicht helfen könnte“ Ich spüre wie er mich schräg von der Seite anschaut.
Ich bleibe stehen und blicke überrascht in seine irgendwie neckisch aussehenden Augen. „Du?!“
Er lacht und schüttelt mit dem Kopf: „Ja. Wieso? Seh’ ich so doof aus?“
Sofort laufe ich rot an: „Nein, nein. So meinte ich das nicht. Ich meine, ich kenne dich ja gar nicht. Ich kann also nicht wissen, ob du geistig etwas beschränkt bist, aber…“ Ich halte inne. Herzlichen Glückwunsch, Lydia! Erfolgreich verzettelt. Warum passiert mir immer so was?
Er blickt mich an, als wäre ich verrückt, was ich in seinen Augen wahrscheinlich auch bin und sagt dann hastig: „Na ja, wie dem auch sei. Diese Woche ist schlecht. Lass uns was für nächste Woche ausmachen“
„Wie?“ frage ich dümmlich, da ich mit dieser Situation total überfordert bin. Ich befand mich bisher selten in einer solchen Situation, eigentlich so gut wie nie. Und wenn, dann bestimmt nur ein oder zweimal. Lächerlich, oder?
„Na ja, wegen Mathe“
„Achsooo“ sage ich gedehnt.
„Wie passt dir Dienstag?“
Ich gehe kurz gedanklich meinen Terminkalender durch, der nicht allzu vollgepackt ist und nicke schließlich: „Dienstag ist gut“
„Gut, dann Dienstag in der Mittagspause.“ Mit diesen Worten wendet er sich von mir ab und geht den Flur entlang bis zu Sporthalle, wo ich ihn aus den Augen verliere.
Was war das denn? So dämlich habe ich mich ja noch nie verhalten, ärgere ich mich die ganze Zeit über mich selber, bis ich im Kunstraum ankomme und den Theoriestoff der letzten Stunden noch mal durchgehen will. Doch in meinem Kopf ist nur sein Name und diese klaren, grünen Augen.
Am nächsten Dienstag sitze ich in der Kantine, neben Luca, gebeugt über mein Mathebuch, während er mir versucht irgendwelche Formeln herzuleiten. Bestimmt weiß er wovon er redet, auch wenn ich kein Wort verstehe und um ehrlich zu sein, kann ich mich auch nicht richtig auf das konzentrieren, was er sagt.
Desinteressiert stochere ich den Nudeln herum, die auf dem Teller vor mir liegen und schaue durch die Kantine, und mein Blick fliegt immer wieder zur Uhr. Auch, wenn Luca nett ist und mir wirklich versucht ein bisschen was beizubringen, so fühle ich mich ziemlich unwohl in dieser Situation.
„Hörst du mir überhaupt zu?“ fragt er nach einer Weile und reißt mich damit aus meinen Gedanken. Erschrocken schaue ich auf, blicke ihn an und schüttele dann schuldbewusst mit dem Kopf. „Nein, tut mir Leid. Ich versteh’ auch kein Wort davon, was du mir erzählst“
„Könnte daran liegen, dass du mir gar nicht zuhörst“ erwidert er und ich höre eine gewisse Gereiztheit in seiner Stimme.
Ich will gerade darauf etwas antworten, als er mir zuvorkommt und mich das fragt, was mich fast alles Fragen: „Willst du nichts essen?“ Er deutet auf meinen Teller und ich werfe den Nudeln nur einen kurzen Blick zu.
Doch, ich will schon gerne essen, nur kann ich nicht so viel essen, wie ich gerne möchte, denke ich im Stillen bei mir. Sagen tue ich das natürlich nicht. Stattdessen schüttele ich mit dem Kopf: „Nein, ich habe kein Hunger“ Ich sehe ihn an und er blickt mir direkt in die Augen, und ich erkenne an seinem Blick, dass er das erwidern will, was alle zu mir sagen: „Du siehst auch nicht aus, als würdest du viel essen“
Doch er sagt es nicht. Er zuckt nur mit den Schultern und tippt dann mit dem Zeigefinger auf mein Mathebuch, während er sich das schwarze Haar aus den Augen streicht. „Zurück zu den gebrochen rationalen Funktionen“
Ich stöhne leise auf und stütze meinen Kopf in die Hände.
„Jetzt stell dich nicht so an. Vor zwei Jahren musste ich da auch durch“ Er stupst mich leicht mit dem Ellenbogen in die Rippe und ich zucke zurück, weil ich dort extrem kitzlig bin.
„Wer den Scheiß erfunden hat, gehört gesteinigt“ knurre ich noch leise und versuche mich diesmal wirklich auf Lucas Worte zu konzentrieren.
Mein Blick fliegt von den Zahlen in dem Buch immer wieder zu seinen Händen, welche dauernd auf irgendwelche Graphen und Funktionen zeigen.
„Hast du das verstanden?“ fragt er schließlich und ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung von was er redet. Ich weiß nur, dass es um gebrochen rationale Funktionen geht, und um irgendeine e-Funktion. Und einen gewissen Herr Euler, wegen dessen Entdeckung ich heute diesen Kram hier lernen darf.
Wieder schaut er mir in die Augen, und da ich so etwas nicht gewöhnt bin, und meine Leidensgenossen aus der Klinik sowieso Augenkontakt vermieden haben, schaue ich schnell weg und schüttele mit dem Kopf. „Nein, ich versteh’ das einfach nicht“ Dennoch klappe ich das Mathebuch zu. Es war bestimmt nett gemeint von Herr Schmitt, jemanden aus der Stufe über mir zu beauftragen mir Mathe beizubringen, doch bei Luca macht das wenig Sinn. Ich seufze und schüttele dann erneut mit dem Kopf: „Vielleicht sollte ich einfach mal Alina, meine Schwester, fragen“
Er zuckt mit den Schultern und nickt dann aber: „Ich kann’s dir anscheinend nicht beibringen“
„Tut mir Leid“
„Na ja, ist nur normal, dass man etwas nicht versteht, wenn man nicht zuhört“ Er zwinkert mir zu und ich spüre, dass ich rot anlaufe wie eine Tomate.
„Ich habe zugehört!“ lüge ich und packe mein Buch zurück in meine Tasche und nehme dann das Tablett an mich. Das Essen habe ich nicht angerührt.
„Du solltest vielleicht noch was essen“ bemerkt Luca leise und seine Augen haben diesen spöttischen Ausdruck verloren, was mich noch mehr aus meinem Konzept bringt, als die Ironie.
Kurze Zeit bewege ich die Lippen, ohne das ein Ton herauskam, doch schließlich bringe ich ein Stottern zu Stande: „Ich habe… ich… ich habe keinen Hunger. Trotzdem danke für den Hinweis!“ Und bei dem letzten Satz klingt meine Stimme zickiger als beabsichtigt. Leise füge ich hinzu: „Entschuldige nochmals, dass du mir in Mathe nicht helfen konntest. Trotzdem danke“
„Kein Problem. Frag’ mich einfach, wenn dir noch mal was unklar ist“ erwidert er und lächelt mich freundlich an. Und wenn er lächelt, sieht er noch hübscher aus, als wenn er ernst ist.
Ich würde das Lächeln gerne erwidern, doch ich kann nicht. Also nicke ich nur kurz, drehe mich um, stelle das Tablett weg und verlasse die Kantine so schnell wie möglich.
„Oh man, Lydi! Ich will Geschichten hören, die interessant sind“
Ich liege in Alinas Bett auf dem Bauch und durchblättere eine ihrer vielen Modezeitschriften, deren Models allesamt aussehen wie ich – zumindest von der Körperstatur her.
„Jetzt sind Mama und Papa nicht da und du belaberst mich immer noch mit deinen Problemen in Chemie und Mathe“ beschwert sie sich weiter. Nur wenig später bekomme ich ein Kissen, das normalerweise immer auf ihrem Sofa liegt, an den Kopf geschmissen.
„Au!“ rufe ich aus und reibe mir den Kopf und schmeiße das Kissen zurück. Geschickt fängt sie es auf und schaut mich weiterhin erwartungsvoll und fragend an. Kurz spiele ich mit dem Gedanken, ob ich ihr davon erzählen soll, dass ich Luca süß finde, doch ich verwerfe ihn schnell. Eigentlich will ich nicht darüber reden. Und schon gar nicht mit Alina, welche in solchen Situation sofort übereifrig wird und am liebsten noch die große Verkupplerin spielen will. Doch darauf habe ich gar keine Lust.
Ich habe im Moment andere Probleme in meinem Leben; ich muss wieder vollkommen gesund werden, und wieder mit meinem eigenen Kram klarkommen – da gibt es im Moment kein Platz für einen Jungen, der mich psychisch wieder total durcheinander bringt.
Und davon mal abgesehen glaube ich nicht, dass Luca zu der Sorte von Junge gehört, der sich für ein Mädchen wie mich interessiert.
Ich meine, er ist Schülersprecher, macht bestimmt irgendeinen Sport – ich tippe auf Tennis oder Springreiten –, kommt aus gutem und reichem Haus – das sieht man an der Kleidung –, und mich würde es nicht wundern, wenn er eine Freundin hat.
Und ich bin nur das siebzehnjährige Mädchen, das vor kurzem aus einer Klinik für Essgestörte entlassen wurde, eine Zeit lang jedes Wochenende sturzbesoffen war und auch nicht gerade selten zu chemischen Drogen, wie LSD und Speed gegriffen hat. Ich bin einfach nur das Mädchen, das im Leben im Moment keinen Fuß fassen kann.
Warum soll ich also Alina davon erzählen?
„Es gibt nichts zu erzählen“ meine ich leise.
Ich sehe an Alinas Blick, dass sie etwas erwidern will, doch ich lasse sie erst gar nicht zu Wort kommen: „Erzähl’ du mir lieber, was mit Simon ist!“
Sofort wird ihr Blick verträumt, und ich kann nur erahnen, was sie fühlt, wenn sie an Simon denkt. Ich selber kann von mir nicht behaupten, dass ich mich jemals in einen Jungen richtige und wahrhaftig verliebt hätte… Ich kann Alinas Gefühle zwar erahnen, aber nie und nimmer nachempfinden.
Dennoch zwinge ich mich zu einem Lächeln und höre ihr geduldig zu, während sie von ihm schwärmt.
Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis er bei uns zu Hause auftauchen wird.
„Warum willst du auf diese Party gehen?“ meine Mutter schaut mich so entgeistert an, als hätte ich ihr gerade erzählt, dass ich nach Saudi-Arabien auswandern will.
Ich senke den Blick und zucke mit den Schultern, obwohl ich ganz genau weiß, warum ich auf diese Party will.
„Du bist gerade mal seit vier Wochen aus der Klinik draußen, ich weiß nicht, ob es sinnvoll wäre, dass du jetzt gleich wieder einen drauf machen gehst“ Und wenn man meine Mutter das so sagt, dann klingt das, als würde sie über Aliens auf dem Mars reden – auf jeden Fall von Dingen, von denen sie keine Ahnung hat.
Ich seufze und wünsche mir, dass Alina nicht bei einer Freundin sei, damit sie mir helfen könnte. Und das hätte sie ganz sicher gemacht. Bei solchen Sachen springt Alina immer für mich ein.
„Ich mache keinen drauf. Ich wurde nur gefragt, ob ich mitgehen möchte, und mich würde es freuen, wenn ich mir endlich wieder soziale Kontakte aufbauen kann“ Während ich diesen Satz sage, denke ich an Lissy. Seit ich aus der Klinik entlassen wurde, habe ich nichts mehr von ihr gehört und vielleicht sollte ich mich mal wieder bei ihr melden. Mich erkundigen, wie es ihr geht. Ich sollte das tun, was Hannah vernachlässigt hat, während ich in der Klinik war.
„Was würde wohl Dr. Klein dazu sagen?“ fragt meine Mutter und ich weiß nicht, ob sie sich diese Frage selber stellt, oder ob sie an mich und meinen Vater gerichtet ist.
„Dr. Klein hätte sicherlich nichts dagegen“ erwidere ich und zucke mit den Schultern.
„Verstehst du denn nicht, dass mir einfach unwohl bei den Gedanken ist, dich abends allein raus zulassen“ redet meine Mutter weiter. „Du weißt doch sicher noch, was das letzte Mal passiert ist, als du abends ausgegangen warst“
Ich zucke zusammen, und starre auf meine Hände, welche unentwegt an meinem Schal herumkneten. Ich weiß noch sehr genau, was das letzte Mal passiert ist. Ich war besoffen und bekifft im Park mit ein paar „Freunden“. Dann kam die Polizei, sammelte mich ein und brachte mich mit einer Alkoholvergiftung ins Krankenhaus. Magenauspumpen und Sondennahrung, weil den Ärzten mein Untergewicht natürlich nicht entgangen war.
Nur eine Woche später kam ich in die Klinik für Essgestörte.
„Ja, das weiß ich noch. Doch das war früher“ meine ich leise und schlucke die Tränen runter. Ich will nicht mehr weinen. Das habe ich schon lange nicht mehr getan, und das soll auch so bleiben.
„Wir machen uns einfach nur Sorgen“ wirft jetzt auch mein Vater ein.
„Eure Sorgen sind unberechtigt. Das versichere ich euch“
„Du hast uns damals so Vieles versichert, Lydia“ sagt meine Mutter leise und seufzt.
„Bitte, lasst mich einfach gehen. Ich bin gerade dabei, endlich mal wieder irgendwo Anschluss zu finden – vielleicht finde ich auch gerade neue Freunde, oder was weiß ich! Haltet mich nicht dauernd fest“ Ich schaue flehend von meiner Mutter zu meinem Vater, welche ebenfalls einen Blick tauschen.
Schließlich seufzt meine Mutter und nickt: „Um zwölf bist du zu Hause“
Auch, wenn zwölf für alle anderen, die auf der Party sein werden, bestimmt sehr früh ist, beschwere ich mich nicht. Ich bin froh, überhaupt mal wieder außerhalb der Schule unter Leute zu kommen. Das hatte ich in der letzten Zeit nämlich echt selten.
Auch, wenn ich mich freue, mal wieder weggehen zu können, so kann ich nicht lächeln. Ob ich es verlernt habe?
„Zwölf Uhr. Keine Minute später. Sonst müssen wir die Polizei nach dir suchen lassen, und auch sofort Dr. Klein anrufen“ droht mein Vater, als würde er mich damit einschüchtern können. Doch wir wissen beide, dass er das nur sagt, um meine Mutter zu beruhigend.
Von meinen beiden Elterneteilen ist es schon immer mein Vater gewesen, der mich besser kennt; besser versteht. Doch meinte Mutter ist fürsorglicher.
Ich nicke und flüstere: „Macht euch keine Sorgen“
Wie oft hatte ich das früher gesagt und damit gelogen. Ich glaube, viel zu oft.
Mein Vater lächelt: „Ich wünschte, dass wir das könnten“
Ich schweige und auch meine Mutter sagt nichts, bis ich schließlich den Stuhl zurückschiebe und aufstehe.
„Was ist mit deinem Essen?“ fragt sie mich empört. Ich habe nur ein halbes Brötchen und ein wenig Salat geschafft und komme mir vor, als würde ich platzen. „Ich bin satt“ antworte ich und verlasse schnell die Küche, bevor sie mir widersprechen können.
Ich sitze im Auto von Maleen, welche seit einigen Monaten schon 18 ist, und theoretisch eigentlich schon in der 12. Klasse wäre. Doch sie ist in der neunten Klasse sitzen geblieben.
„Toll, dass du mitkommst“ sagt Sophia, welche ebenfalls wie ich auf den hinteren Plätzen sitzen muss.
Ich starre aus dem Fenster und sehe noch meine Mutter, wie sie durch’s Fenster auf das Auto schaut. Ich habe ihren besorgten Blick förmlich vor Augen.
Dann fährt Maleen viel zu schnell los und ich kann meine Mutter nicht mehr sehen. Erst jetzt drehe ich mich zu Sophia um: „Ich musste meine Eltern aber ganz schön überreden“
Anna dreht sich über die Schulter zu mir um und fragt mich spöttisch: „Die scheinen ziemlich misstrauisch zu sein… Hast wohl früher mal was verbrochen“ Sie zeigt ihre makellosen, weißen Zähne.
„So in der Art“ antworte ich ernst und schaue auf meine Knie, welche zum Glück in Jeans nicht allzu knochig aussehen.
Ich stand zu Hause bestimmt eine halbe Stunde vor meinem Kleiderschrank, bis ich seufzend aufgab und einfach eine schwarze Jeans und ein dunkelblaues, schlichtes Top hervorzerrte. Dann lieh ich mir noch die schwarze Lederjacke von Alina, mit dem Wissen, dass sie mich morgen früh deswegen umbringen würde, doch das war mir in dem Moment egal. Als Vollendung meines Super-Gammel-Looks zog ich meine Chucks an.
Und erst jetzt fällt mir auf, wie ich neben Maleen, Sophia und Anna wirken muss. Alle drei haben elegante, schicke und sehr feminine Sachen an. Ihre Haare sind gut frisiert und das Make-up stimmt, während meine Locken aussehen wie immer und nur meine schwarz geschminkten Augen einen Unterschied zu sonst darstellen.
Doch schnell verwerfe ich den Gedanken. Ich bleibe ja eh’ nur bis zwölf.
„Kannst du mich um zwölf wieder nach Hause fahren?“ frage ich Maleen, als ich merke, dass wir uns ziemlich weit von meinem zu Hause entfernen, und unterbreche damit das Geschnatter von ihr und Anna.
„Was Zwölf?“
„Na, um zwölf Uhr“ erkläre ich.
Ich sehe durch den Rückspiegel wie sie die Augen aufreißt. „Um Zwölf?! Wie alt bist du? Dreizehn?“ Sie kichert und komischerweise komme ich mir nicht veralbert vor, weil sie es irgendwie liebevoller ausdrückt.
„Ich sagte doch, meine Eltern sind streng“
„Ach, wir finden schon was, wie du nach Hause kommst“ meint Anna locker. „Und wenn nicht, kommst du halt zu spät“ Sie zuckt mit den Schultern. Sie hat eben keine Ahnung.
„Das geht nicht!“ erwidere ich. „Ich muss pünktlich sein“
„Warum? Wegen zu spät kommen ist noch niemand gestorben“ Sie versteht es eben nicht; sie hat keine Ahnung.
„Es geht nicht!“ wiederhole ich nachdrücklich und vielleicht etwas zu gereizt.
„Okay, okay. Mach dich mal locker“ Sie grinst und reicht mir eine Tafel Schokolade nach hinten: „Willst’ was?“ fragte sie, während sie sich eine Zigarette anzündet.
„Nein, danke“
„Rauchen?“
„Nein, ich rauche nicht“ lehne ich ab.
Anna zuckt mit den Schultern und raucht alleine bei offenem Fenster, während Sophia sich ein Stück Schokolade nimmt, und mit der anderen Hand immer noch die Sektflasche festhält, die sie mitgebracht hat.
„Wir finden schon jemanden, der dich nach Hause fährt“ versichert sie mir und lächelt mich aufmunternd an. Auch, wenn Maleen und Anna auch sehr nett sind, so ist mir Sophia am sympathischsten. Sie ist einfach am humansten.
„Ja, sicher“ sage ich leichthin. Wem ich damit etwas vormachen will, weiß ich nicht; Sophia? Anna und Maleen? Vielleicht auch einfach mir selbst.
Ich fühle mich unwohl. Ich fühle mich richtig unwohl. Irgendwie auch klein und verloren.
Das Haus von Johns Eltern liegt in einer guter Gegend von Heidelberg und ist auch ziemlich groß, und trotzdem drängen sich die Leute im Flur. Na ja, was habe ich bei einem achtzehnten Geburtstag erwartet.
Kaum haben wir das Haus betreten, war Anna auch schon weg, fiel John um den Hals und wünschte ihm Alles Gute zum Geburtstag. Er schien überrascht zu sein, sie zu sehen, doch ich kümmerte mich nicht weiter um die beiden, sondern drückte ihm nur im Vorbeigehen die Flasche Sekt in die Hand, die Sophia mir gegeben hatte und wünschte ihm ebenfalls Alles Gute. Er erwiderte schlicht: „Danke, Lydia“ Und dennoch war ich berührt von seiner Antwort. Denn er wusste meinen Namen.
Ich schaue mich im Spiegel, der über dem Waschbecken im Bad des Hauses hängt, an; sehe in meine Augen, deren Farbe irgendwie undefinierbar ist. Doch im Moment wirken sie blau-grün. Meine braunen Locken umrahmen mein dünnes Gesicht, dessen Wangen immer noch eingefallen sind.
Egal, wie lange ich mich im Spiegel betrachte, das Gesicht, das mir entgegenstarrt ist und bleibt das eines Gespenstes.
Seufzend stoße ich mich vom Waschbeckenrand ab und verlasse das Bad. Sophia und Maleen habe ich längst aus den Augen verloren und Anna hängt wie eine Klette an John und ich will die beiden nicht stören.
Ich werfe einen Blick auf meine Handyuhr und sehe, dass ich erst in drei Stunden wieder zu Hause sein muss. Noch drei Stunden in diesem Haus, noch drei Stunden muss ich mich unwohl fühlen.
Irgendwie fühle ich mich eingeklemmt zwischen all den Leuten, die ich nicht kenne. Nur ein paar Gesichter kommen mir bekannt vor.
Ich bahne mir einen Weg durch den Flur und bleibe schließlich in der Küche stehen, deren Boden nass und klebrig ist. Bestimmt verschütteter Alkohol – zumindest riecht es danach.
Die Bierfalschen stehen durcheinander auf dem Tresen und auf dem Esstisch. Hier und da liegt auch eine Wodka- oder Tequilaflasche rum. Damals habe ich das Zeug gerne getrunken, heute ekelt mich allein der Gedanke an das Zeug an.
Ich seufze, als ich sehe, dass ich so auf die schnelle nichts Alkoholfreies finden werde. Aus dem Kühlschrank hole ich eine Cola-Flasche bei der ich bei genauerem Riechen sehr schnell merke, dass sie mit Jack Daniels oder irgendwas anderem versehen ist. „Scheiße“ fluche ich leise und stelle die Flasche wieder zurück.
„Lydia? Du hier?!“ ruft plötzlich eine bekannte Stimme hinter mir.
Ich fahre zusammen und drehe ich um. In der Küchentür steht Tobias, aus meiner Klasse, mit einer Flasche Bier in der Hand. Er streicht sich betont lässig die Haare aus dem Gesicht. „Damit hätte ich nicht gerechnet! Woher kennst du John?“
Ich zögere eine Weile, dann meine ich: „Eigentlich gar nicht. Sophia, Maleen und Anna wollten, dass ich mitkommen“ Ich verschränke die Arme vor der Brust und weiß, dass ich mich damit verrate, wie unsicher ich mich in dieser Situation fühle.
„Ah ja, die habe ich auch schon gesehen“
Ich nicke nur und sage nichts mehr. Mein Blick fliegt zur Uhr, die neben dem Regal in der Küche hängt. Noch zweieinhalb Stunden. Hier scheint die Zeit still zu stehen, und ich habe Durst.
Vielleicht hätte ich auf meine Mutter hören, und zu Hause bleiben sollen. Vielleicht hatte sie Recht. Vielleicht war es noch nicht die richtige Zeit, abends wegzugehen – wie früher.
„Hast du Hunger?“ fragt Tobias mich nach einer Weile.
Ich habe mir abgewöhnt auf diese Frage zu antworten. Stattdessen stelle ich eine Gegenfrage: „Könntest du mich heute um zwölf nach Hause bringen?“
Er grinst und ich weiß, dass er das anders interpretiert, als ich gemeint habe. Doch ich muss ganz ehrlich sagen, dass Tobias so gar nicht mein Typ ist. Seine Ausstrahlung ist mir zu proletenhaft.
„Würde ich liebend gerne tun. Aber ich bedaure – ich habe kein Führerschein“
Genervt stöhne ich auf, drängle mich an ihm vorbei, während er mir noch hinterher ruft: „Was machst du?!“
Ich drehe mich nur kurz über die Schulter um: „Jemanden suchen, der mich nach Hause bringen kann“ antworte ich, allerdings nicht allzu laut. Ich achte nicht mehr auf Tobias Reaktion. Ich will ihn nicht verärgern oder unsympathisch rüberkommen, doch seit den Ereignissen des letzten Jahres bin ich einfach vorsichtiger geworden, wenn es darum geht freundlich und offen gegenüber Personen zu sein, die ich kaum kenne.
Und hier in diesem Haus bin ich umgeben von Fremden. Ich merke, wie ich mir wünsche, dass Alina jetzt hier ist. Oder Lissy. Irgendjemand, den ich kenne und bei dem ich das Gefühl habe, ich könnte ihm vertrauen.
Ich schaue erneut auf die Uhr. Noch zwei Stunden. Ich dränge mich an verschiedenen Leuten vorbei, welche zum Teil sicher auf meine Schule gehen, doch ich habe sie noch nie in meinem Leben gesehen.
„Lydia, da bist du!“ Ich betrete das Wohnzimmer und schaue sofort zu Sophia, welche auf einem teuer aussehenden roten Ledersofa sitzt und die Beine über die Oberschenkel von Maleen gelegt hat.
„Wo warst du denn?“ ruft sie mir weiterhin durch das gesamte Zimmer zu und eine Köpfe drehen sich trotz der lauten Musik zu mir um. Mir ist das peinlich. Ich mochte es noch nie, im Mittelpunkt zu stehen.
„In der Küche“ antworte ich, während ich mich neben Maleen setze.
„Ich glaube, ich kann dich nicht nach Hause fahren“ redet Maleen gleich los und ich weiß auch warum. Ihr Atem riecht nach Alkohol. Ich verziehe das Gesicht.
„Trink doch was mit“ meint Sophia und reicht mir ihren Plastikbecher, in dem irgendein Gebräu ist, von dem ich besser die Finger lasse.
„Nein, danke“ lehne ich höflich ab und stehe wieder auf. „Ich werde dann verschwinden“
„Was? Jetzt schon?!“ ruft Sophia aus und winkelt ihre Beine an, um aufzustehen, doch sie bleibt sitze. Reine Vorsichtsmaßnahme, um nicht umzukippen. Ich kenne das.
„Ja, ich bin echt müde. Und eigentlich wollte ich auch gar nicht kommen. Ich kenne ja kaum jemanden, und…“
Maleen unterbricht mich: „Ja, kann ich verstehen. Hey, komm’ doch das nächste Mal einfach mit, wenn wir ins Deep gehen“
Ich war früher oft im Deep, doch das letzte Mal ist bestimmt auch schon wieder ein Jahr her. Vielleicht würde es sich lohnen, mal wieder vorbeizuschauen. „Ja, gerne“ Ich nicke und versuche zu lächeln. Doch ich glaube, dass mein Gesicht sich eher zu einer Fratze verzieht, als dass ich lächele. Ohne Vorwarnung umarmt Maleen mich, und Sophia drückt mir einen Kuss auf die Wange: „Du bist zwar komisch, Lydia. Aber ich mag dich. Du bist cool“
Ich merke, wie mir das Blut in die Wangen schießt und kichere gekünstelt. Dann sage ich: „Grüßt Anna von mir. Bis Montag“ Ich drehe mich um und kämpfe mich Richtung Haustür.
Es ist gerade mal kurz nach zehn. Und ich habe keine Ahnung, wie ich nach Hause kommen soll. Meine Eltern anrufen, steht außer Frage. Wenn ich das tue, dann glauben sie wieder nur, dass irgendetwas vorgefallen ist, und sie würden mich nie wieder weg lassen.
Ich ziehe wieder meine Lederjacke an, öffne die Haustür und kühle Frühlingsluft schlägt mir entgegen, als zum dritten Mal an diesem Abend mein Name gerufen wird.
„Hey, Lydia“
Ich drehe mich um, lasse die Tür aber offen.
Mit langen Schritten kommt Luca auf mich zu, mit einer Flasche Bier in der einen, und einer Zigarette in der anderen Hand und lächelt mich mit diesem spöttischen Grinsen an, was für ihn typisch zu sein scheint.
„Ich hätte nicht gedacht, dass du auch hier bist“
„Tja, ich auch nicht“ antworte ich leise und ich sehe, wie er kurz skeptisch die Brauen zusammenzieht.
Schnell füge ich hinzu: „Ich will auch gerade gehen“
„Ach, wirklich?“ Er wirkt überrascht, holt sein Handy aus seiner Hosentasche und schaut auf die Uhr.
„Ich muss um zwölf eh’ schon zu Hause sein“ erkläre ich, und er nickt. „Verstehe“ Dabei versteht er gar nichts.
„Hast du schon einen Führerschein? Weil, von hier aus fährt um diese Uhrzeit keine Bahn mehr“ fragt er plötzlich und ein wenig verwundert und vielleicht auch überrascht schaue ich ihn an. Dann schüttele ich mit dem Kopf: „Nein, ich bin ja erst siebzehn. Eigentlich wollte mich Maleen wieder nach Hause fahren, aber…“
Er unterbricht mich mit einem Lachen: „Die wird nicht mehr fahren können, glaub mir“
„Ich weiß“
Er schweigt eine Weile und sieht so aus, als würde er überlegen. Etwas Unsicher schaue ich hin und her. Die Tür ist immer noch sperrangelweit offen und der Wind zieht kühl herein. Ich beginne langsam zu frieren und verschränke die Arme vor der Brust und warte. Und eigentlich weiß ich nicht auf was. Dennoch warte ich.
„Hör mal, ich bin auch mit dem Auto da, wenn du mir deine Adresse verrätst, fahr ich dich nach Hause“
Mir entweicht ein „Oh“ und ich sehe an den belustigten Ausdruck in seinen Augen, dass ich gerade sehr komisch aussehen muss.
„Ich weiß nicht“ beginne ich. „Du hast doch auch getrunken, und…“
„Nicht viel“ Er schüttelt die Bierflasche, welche noch fast voll ist, hin und her und drückt die Zigarette in dem Aschenbecher aus, der auf dem Schuhregal neben ihm steht.
„Aber…“
„Keine Angst – ich werde dich schon sicher nach Hause bringen. Und jetzt, los!“ Er legt eine Hand auf meinen Rücken, zwischen meine Schulterblätter und schiebt mich mit leichtem Druck nach draußen.
„Du musst das nicht machen“ beginne ich noch zu stottern, was er mit einem einfach „Ja, ja“ abtut.
Er holt seinen Autoschlüssel aus seiner Hosentasche und steuert auf einen schwarzen Mercedes zu. Wenn ich dachte, mich unwohl auf der Party zu fühlen, so habe ich mich getäuscht. Jetzt fühle ich mich richtig unwohl.
Langsam lasse ich mich auf dem Beifahrersitz neben Luca sinken und schnalle mich wie automatisch an.
Bevor Luca die die Autotür schließt, reicht er mir die Flasche Bier, welche er unnötiger Weise mitgenommen hat. „Willst du?“
„Nein, ich trinke keinen Alkohol“
Kurz schaut er mich überrascht an, dann stellt er sie einfach auf den Bordstein ab und schließt die Autotür.
Während er den Motor startet und losfährt, fragt er: „Warum?“
„Warum was?“
Er lacht leise: „Warum trinkst du keinen Alkohol“
Ich zögere und schweige mehrere Sekunden, bevor ich antworte: „Ich verliere nicht gerne die Kontrolle“ Während ich mit ihm rede, schaue ich ihn nicht an, doch ich spüre, dass er mich von der Seite ansieht.
Wir schweigen eine Weile, dann frage ich: „Fährst du eigentlich gerne so sinnlos durch die Gegend?“
„Hä?“ Er wendet den Blick von der Straße ab. „Warum?“
„Weil du mich nicht nach meiner Adresse gefragt hast“ meine ich und innerlich lächele ich, doch äußerlich bleibt meine Miene ernst.
Kurz schaut er mich verblüfft an, dann beginnt er zu lachen. Und irgendwie steckt mich sein Lachen so an, wie es das von Alina immer tut, und ich kann tatsächlich mitlachen.
Ich bin eine Stunde früher zu Hause, als vereinbart. Meine Eltern müssen stolz auf mich sein.
„Danke“ sage ich leise zu Luca. „Für’s nach Hause bringen, mein ich“ füge ich noch schnell hinzu. Doch er winkt meinen Kommentar nur ab und zuckt mit den Schultern: „Kein Problem“
„Na dann…“ Ich öffne die Autotür und setzte schon einen Fuß auf den Bordstein. „Noch viel Spaß auf der Party“
„Danke, und wir sehen uns Montag“
„Montag?“ Ich drehe mich über die Schulter um und blinzle ihn verwirrt an.
„Na ja… in der Schule“ erklärt er und seine Augen haben wieder dieses spöttische Glitzern.
Ich kichere unsicher: „Ja, klar. Hab’ ich irgendwie vergessen“ Mit diesen Worten schlage ich die Autotür zu und würde am liebsten im Erdboden verschwinden, als er mir noch hinterher ruft: „Lydia!“
„Ja?“ Ich drehe mich um.
„Wie läuft Mathe?“
Ich stöhne genervt auf, verdrehe die Augen und wende ihm den Rücken zu. Ich höre nur noch sein Lachen, dann das Schlagen einer Autotür, bevor ich selber die Haustür hinter mir schließe und doch tatsächlich ein Lächeln im Gesicht trage.
„Wie bist du nach Hause gekommen?“ fragt Sophia gleich, als sie den Aufenthaltsraum der Oberstufe betritt und mich entdeckt.
Ich schaue von meinem Buch auf und sehe in ihre freundlichen Augen. Ich nicke nur und antworte: „Gut“
„Dann bin ich aber beruhigt. Ich meine, ich hatte dann schon ein schlechtes Gewissen“ redet sie weiter und ich schüttele mit dem Kopf: „Musst du nicht. Ist ja nichts passiert“
„Hast du jetzt Freistunde?“
„Ja, ich hab’ ja kein Bio“
„Ach so, willst du mit mir was essen gehen?“
Mein Blick fällt auf die Tüte mit dem Brötchen drin, das meine Mutter mir heute Morgen extra gemacht hat. Ich schüttele mit dem Kopf und lehne ab: „Nein, danke. Ich habe noch Essen von zu Hause“
Kurz zieht Sophia skeptisch die Brauen zusammen, dann zuckt sie mit den Schultern.
„Sophia, wo bleibst du denn?“ höre ich Maleens Stimme über den Flur und nur wenige Sekunden später steht sie in der Tür neben Sophia. „Da bist du also!“
Ihr Blick fällt auf mich: „Hallo, Lydia… Ich soll dich von Anna grüßen, und du sollst ihr die Daumen drücken für die Bio-Arbeit“
„Ich bin in Gedanken bei ihr“ antworte ich und schaue wieder in mein Buch.
„Willst du was mitessen?“ fragt Maleen mich, nachdem ich nichts mehr sage, sie aber anscheinend noch irgendeine Reaktion meinerseits erwartet hat.
„Nein, will sie nicht“ sagt Sophia, und ich komme nicht drum herum, den Unterton, mit dem sie den Satz sagt, komisch zu finden. „Sie hat noch Essen von zu Hause“
Maleen betrachtet mich eine Weile und nickt dann: „Aaaaah, ja“
Am liebsten würde ich die Augen verdrehen, doch das würde mich verraten. Also lächele ich nur entschuldigend und zucke mit den Schultern: „Morgen wieder“ sage ich versöhnend, und die beiden nicken nur. Sie wenden sich zum Gehen und ich schaue wieder in mein Mathebuch.
„Im Deep bist du aber dabei“ höre ich Maleen noch sagen und ich lache leise und schaue doch mal auf. Doch die beiden sind schon gegangen. Und ich bin allein im Aufenthaltsraum.
Alina sitzt mit geröteten Wangen in meinem Zimmer, während ich mir geduldig anhöre, wie es mit Simon läuft. Klar, jetzt ist noch alles toll. Jetzt schwärmt sie noch, doch auch das wird sich ändern. So wie es sich immer geändert hat. So, wie ich mich geändert habe; so wie mich die Leute in der neuen Schule gerade ändern.
„Und er ist soooo süß“ Sie seufzt übertrieben und strahlt bis über beide Ohren. Doch dann wird sie ernst: „Wann bekomm’ ich eigentlich meine Lederjacke wieder?“
Ich zucke zusammen und schaue sie entschuldigend an: „Tut mir Leid. Ich habe sie aus Versehen in meinen Schrank gehangen“
„Macht nichts“ Alina winkt es mit der Hand ab. Sie ist immer gütiger, wenn sie verliebt ist. „Aber hat sie dir denn überhaupt gepasst?“
Wieder zucke ich zusammen und senke den Blick.
„Oh“ entweicht es Alina. „Lydi, tut mir Leid. So war das nicht gemeint. Dumm von mir. Vergiss es einfach, ja?“
Ich schaue wieder auf und zucke mit den Schultern: „Es muss dir nicht Leid tun, Alina. Ist schon okay“
„Nein, ist es nicht. Das war taktlos“
Wir schweigen eine Weile, bis Alina verzweifelt das Thema wechselt: „Wie war die Party?!“
„Hab’ ich dir doch schon gesagt: Langweilig für mich. Ich habe mich unwohl gefühlt“
„Ja, ja. Den uninteressanten Teil hast du mir schon erzählt!“ sagt Alina ungeduldig. „Was ist mit den spannenden Geschichten“
„Gibt’s nicht!“ erwidere ich schroff. Ich will ihr nichts erzählen. Dann würde sie wieder anfangen zu schwärmen, und ich würde mit schwärmen und ehe ich mich versehe, mache ich mir wegen irgendetwas Hoffnungen. Und das will ich vermeiden!
„Wenn du meinst“ Sie zuckt mit den Schultern. „Irgendwann wirst du es mir erzählen“
„Was werde ich dir erzählen?“
„Alles, was du mir zur Zeit verheimlichst“
„Das glaubst aber auch nur du“ Ich bewerfe sie mit meinem Stoffhasen und sie grinst: „Du weißt, dass ich Recht habe! Ich habe immer Recht“ Sie zwinkert mir zu und zum ersten Mal seit ich auch der Klinik entlassen wurde, fällt mir auf, wie sehr ich meine Schwester liebe und dass ich ohne sie verloren wäre.
„Was liest du?!“ Ohne Vorwarnung lässt sich Luca neben mich auf dem Sofa im Aufenthaltsraum fallen und nimmt mir das Buch aus der Hand. Ich spüre die komischen Blicke von Maleen und Anna auf mir ruhen. Doch ich schaue die beiden nicht an.
„Jane Austen?!“ Luca zieht die Brauen in die Höhe.
Ich nehme ihm das Buch betont langsam wieder aus der Hand: „Du musst es ja nicht lesen“
„Du solltest lieber Mathe lernen“ Er stößt mich spielerisch in die Seite und ich zucke zusammen. „Lass das“ fauche ich.
Doch er lacht nur und schaut dann zu Anna und Sophia: „Kommt ihr am Freitag mit ins Deep?“
Anna nickt: „Ja, na klar“
„Wieso frage ich dich überhaupt“ erwidert Luca, und ich kann nicht einordnen, ob es unfreundlich oder eher ohne Wertung klingt. „John geht ja auch, dann musst du dabei sein“ Er zwinkert ihr zu und Anna verzieht ihr hübsches Gesicht zu einer Grimasse und streckt ihm danach die Zunge raus.
„Und du?“ höre ich ihn fragen, bemerke aber erst gar nicht, dass er mit mir redet. Unbeirrt lese ich weiter in meinem Buch und versuche das Stimmengewirr um mich herum auszuschalten.
„Na klar, kommt sie mit. Maleen hat das schon auf Johns Party festgelegt, als sie so früh nach Hause ist“ erklärt Sophia und erst jetzt dämmert es mir, dass man von mir redet.
Etwas verwirrt schaue ich auf: „Was? – Ähm, ja klar. Ich komme mit“
„Aber nicht, dass ich dich wieder nach Hause fahren muss“ Wieder werde ich in die Seite gestupst, dann steht er auf. „Ich muss dann auch los. SMV Besprechung“ Er verdreht die Augen, zwinkert mir noch kurz zu und verlässt dann den Raum.
Eine Weile schweigen wir drei, doch dann fragen Anna und Sophia gleichzeitig: „Er hat dich nach Hause gefahren?!“, und das so laut, dass es auch der Hausmeister im Keller gehört haben muss. Ich verziehe das Gesicht und zucke mit den Schultern: „Na ja, irgendwie musste ich doch nach Hause kommen“
Sophia und Anna tauschen einen Blick, den ich überhaupt nicht deuten kann, dann grinsen sie mich verschwörerisch an: „Ach so, wenn das so ist“ sagt Anna und ist versucht ihre Stimme geheimnisvoll klingen zu lassen.
Mir ist das Ganze etwas zu dumm – ich füge ihm nicht so viel Bedeutung zu; ich habe andere Sorgen, als mir über so was Gedanken zu machen.
Seufzend klappe ich mein Buch zu und stehe schließlich auf. „Ich gehe schon mal hoch. Bis gleich“ Mit diesen Worte gehe ich aus dem Aufenthaltsraum und schmeiße im Vorbeigehen mein Schulessen weg.
Das Deep ist wie immer überfüllt und es ist stickig und ich habe das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Ich packe mein Portemonnaie wieder zurück in meine Tasche und drehe mich zu Maleen, Anna und Sophia um. Die drei brauchen immer etwas länger. Ich würde mit den High-Heels, die sie tragen auch nur mit dem Schneckentempo vorwärts kommen.
Unauffällig ziehe ich mir meine Jeans wieder über die Hüften. Ich habe den Gürtel zu locker geschnallt und auch das einfache schwarze Top sitzt locker. Vor allem um den Busen herum spannt bei mir nichts, wie es das bei Maleen immer tut.
Während die drei ihren Ausweis vorzeigen und dann den Eintritt bezahlen ziehe ich meine Jacke aus und sehe mich um. Alina wollte auch da sein. Zumindest hat sie das gesagt. Nicht, dass ich sie unbedingt sehen will, ich sehe sie ja jeden Tag zu Hause, aber irgendwie würde mich der Gedanke stärken, zu wissen, dass sie auch hier ist. Doch ich sehe sie nicht.
Sophia hakt sich von hinten bei mir unter und zieht mich weiter: „Sachen abgeben und dann gleich tanzen“
„Oh, ich weiß nicht“ widerspreche ich, während wir uns durch die Menge kämpfen, von denen Maleen die Hälfte zu kennen scheint.
„Keine Widerrede“ Anna hakt sich jetzt auch bei mir unter. „Wir sehen es als unsere Aufgabe dich ins Leben zurückzuführen, Lydia!“
Kurz erstarre ich innerlich und fahre Anna bissiger, als beabsichtigt an: „Was?!“
Mit großen Augen starrt Anna mich an: „Versteh’ mich nicht falsch, Lydia…“
„Nein, das ist nicht möglich. Ich verstehe dich genau richtig“ Ich befreie mich aus ihrer Unterhakung und knurre leise: „Lass uns die Sachen abgeben“
Ich sehe noch, wie Sophia und Anna sich mit besorgten Mienen anschauen, während Maleen mal wieder nichts mitkriegt.
Mich verwirrt es, nicht zu wissen, ob ich Anna, Sophia und Maleen als Freundinnen sehen kann, oder ob sie mich in jede peinliche Situation rennen lassen würde, ohne mit der Wimper zu zucken.
„Na, Mädels“ reißt mich die Stimme von John aus den Gedanken. Neben ihn stehen noch zwei weitere Jungs, aus seiner Stufe, die ich nicht kenne. Zumindest nicht persönlich.
John gibt Anna einen flüchtigen Kuss und ich wundere mich sehr, da ich nicht mitbekommen habe, wann die beiden zusammen gekommen sind. Aber wie gesagt: Ich habe meine eigenen Probleme.
„Hey, Jungs“ flötet Maleen und schaut dann zu mir: „Ihr kennt Lydia noch nicht, oder“
„Doch, doch. Wir kennen uns“ antwortet John.
„Mit dir habe ich nicht geredet“ faucht Maleen und nicht zum ersten Mal fällt mir auf, dass Maleen eine ziemliche Zicke ist.
„Also, Lydia. Das sind Felix…“ Sie zeigt auf den größeren von den beiden mit den blonden Haaren. „…und Paul“
Paul ist dann wohl der Kleinere, dessen Kreuz ungefähr doppelt so breit ist wie meines. Ich wette mit mir selber, dass er Leistungsschwimmer ist, und doch weiß ich, dass ich es nie herausfinden werde.
„Ah, cool“ Ich merke wie desinteressiert meine Stimme klingt. „Hi“ sage ich noch, bevor ich mich zu der Garderobendame umdrehe und ihr meine Sachen abgebe.
„Wo ist Luca?“ höre ich Sophia hinter mir fragen, und bei seinem Namen zucke ich irgendwie zusammen.
„Der ist das Auto parken“ antwortet John.
„Dann darf aber einer von euch nichts trinken“ erwidere ich und drehe mich wieder um. Sobald der Satz ausgesprochen ist, beiße ich mir auf die Lippen. Ich höre mich an, wie eine überbesorgte Mutter. Doch das letzte Jahr hat mich einfach zu sehr mitgekommen, als dass ich diese Verkrampftheit ablegen könnte.
Ich sehe wie Schwimmer-Paul die Brauen hochzieht und mich skeptisch anschaut. Schnell füge ich hinzu: „Na ja, mir kann’s ja egal sein“ Nervös spiele ich mit der Silberkette, die ich um den Hals trage.
Sophia lächelt mich aufmunternd an, nimmt meine Hand und sagt: „Lass uns tanzen gehen. Deswegen sind wir ja hier!“
In diesem Moment entdecke ich Alina, weil sie mir wie eine Verrückte zuwinkt. Neben ihr steht ein wirklich gut aussehender Typ mit braunen Haaren und ich weiß sofort, dass es Simon sein muss.
Ich schaue Sophia an und schüttele mit dem Kopf: „Geht ihr schon mal allein. Ich komme gleich nach“
Kurz sieht Sophia mich verblüfft an, doch dann nickt sie: „Ich hoffe du findest uns“
Ich nicke nur und sie lässt meine Hand los und schon ist Sophia mit den anderen in der Menge verschwunden.
Ich wende meinen Blick ab und winke Alina ebenfalls zu, als ich Luca sehe. Er sieht mich auch und kommt auf mich zu. „Und Auto geparkt?“ frage ich und klinge sogar in meinen eigenen Ohren dümmlich.
„Klar“ Er beugt sich zu mir runter und ich denke schon, dass jetzt die Küsschen-Rechts-Küsschen-Links-Scheiße kommt, die ich noch nie mochte. Umso verwunderter bin ich, als es bei Küsschen rechts und der Frage: „Wie geht es dir?“ bleibt.
Ich nicke: „Ja, es geht mir gut“ Lüge! Und das weiß er auch. Das sehe ich an seinem Blick. Doch er bohrt nicht weiter nach, sondern wechselt das Thema: „Wo sind die anderen?“
„Tanzfläche“ antworte ich knapp und zucke gleichzeitig mit den Schultern.
„Gut, dann such’ ich sie mal“ meint er und wendet sich ab, als er sich noch mal umdreht: „Kommst du nicht mit?“
„Später. Ich muss erst kurz zu meiner Schwester“ Ich deute mit dem Kinn auf Alina und Lucas Blick fliegt kurz zu ihr, dann lächelt er mich an: „Okay. Komm’ aber nach“
„Mach’ ich“ versichere ich und drehe mich um und gehe zu Alina.
Bevor sie mir Simon vorstellt oder irgendetwas anderes macht, fragt sie: „Wer war das?“
„Wer?“ hake ich nach, obwohl ich ganz genau weiß, wen sie meint.
„Na, der Typ mit dem du geredet hast“ Sie zwinkert mir zu und fügt dann noch leise hinzu: „Ich wusste, dass du mir was verheimlichst“
„Ach, quatsch!“ winke ich ab. „Das ist gar nichts. Das ist nur Luca“
Sie hört nicht auf zu grinsen, beugt sich zu mir runter, sodass ich an ihrem Atem rieche, dass sie getrunken und geraucht hat. „Er ist süß“ Erst dann wird sie sich um Simons Anwesenheit bewusst und stellt mich ihm vor: „Simon, das ist meine Schwester Lydia. Lydia, das ist Simon“ Sie betont seinen Namen irgendwie komisch, doch ihm scheint das nicht aufzufallen.
„Hi, schön dich kennen zu lernen“ sage ich höflichkeitshalber. Und auch einfach nur Alina zu Liebe. Sonst hätte ich keinen Wert auf seine Bekanntschaft gelegt. Er sieht gut aus, das steht außer Frage, aber er hat eine unsympathische Ausstrahlung.
„Hm, cool“ sagt er nur, und das erste, was ich denke ist: Was für ein komischer Affe! Doch ich sage es natürlich nicht und werfe Alina nur einen Blick zu. Doch sie bemerkt ihn nicht. Wenn sie mit Simon glücklich ist. Und sie scheint total verliebt zu sein. Sie hat einen Freund, und schwebt auf Wolke 7; in dieser Hinsicht hat sie all das, von dem ich nur träumen kann…
„Wo sind deine Freunde?“ fragt Alina nach einer Weile und reißt mich damit aus meinen Gedanken.
„Ähm…“ Kurz schaue ich mich suchend um, dann zucke ich mit den Schultern. „Keine Ahnung“ Und erst jetzt bemerke ich Alinas Wink mit dem Zaunpfahl. „Aber ich sollte sie unbedingt suchen!“ Mit diesen Worten winke ich leicht und drehe mich um und wäre beinahe ein paar Stufen hinunter gestolpert und das sogar ohne High-Heels!
Doch ich fange mich wieder, laufe rot an und kämpfe mich durch die Masse bis hin zur Tanzfläche, welche natürlich maßlos überfüllt ist. Manche Sachen sind auch ein Jahr später genau gleich. Es sieht genauso aus wie früher, es ist genauso voll wie früher – nur die Musik ist eine andere. Immer an die Charts angepasst. Doch auch hier scheinen einige Lieder so eine Art Dauerbrenner zu sein.
Ich stelle mich an die Bar und blicke suchend über die tanzende Menge. Es riecht nach abgestandener Luft und Schweiß. Ich rümpfe unwillkürlich die Nasse und sehe weiter auf die Tanzfläche. Jungs die Mädchen antanzen oder anbaggern, Mädchen, die die Haare von der einen Seite zur anderen werfen.
Ich gehörte nie zu den Mädchen, die so tanzten oder sich so in einem Club verhielten. Ich war schon immer – und bin es wahrscheinlich auch jetzt noch – zurückhaltend. Deswegen gehöre ich auch nicht zu den Mädchen, die reihenweise von Jungs angetanzt werden.
Hanna sagte damals einmal: „Lydia, du musst unbedingt etwas gegen deine abweisende Ausstrahlung tun, sonst kriegst du nie einen Typen ab!“
Und was, wenn ich gar keinen Typen „abkriegen“ wollte?! Ich will nicht nur eine Nummer von vielen sein. Ich glaube an Liebe, an Geborgenheit und an Treue in einer Beziehung. Vielleicht ist Hanna gerne ein Betthäschen – ich bin es nicht!
Ich weiß, dass meine Ausstrahlung abweisend sein muss. Ich stehe ja nur hier rum mit meiner zu locker sitzenden Jeans, irgendeinem Top, dass ich auch schon seit einigen Jahren zu besitzen scheine, und Ballerinas, die so langweilig aussehen, wie ein 08/15-Passfoto. Verschränkte Arme, mürrischer Blick, ungemachte Haare – aber wartend auf die große Liebe.
Irgendwie muss ich selber darüber lachen grinse leicht vor mich hin.
„Lydia!“ reißt mich Maleens schrille Stimme aus meinen Gedanken. „Da bist du ja!“ Ohne Vorwarnung packt sie meine Hand und zieht mich mitten in die Masse, die ich mit Abscheu beobachtet habe. Doch jetzt befinde ich mich mittendrin. Schwitzende Körper an meinem und es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis auch zu einem dieser schwitzenden Körper werde.
Während ich lustlos neben Sophia und Maleen tanze, welche wie wild gewordene Cheerleader umherhüpfen, denke ich darüber nach, was ich am Tag schon alles getrunken und gegessen habe. Ich komme zu dem Ergebnis, dass es nicht viel gewesen sein kann.
Ich beuge mich zu Sophia und frage sie nach Anna.
Sophia grinst schief: „Wo wohl?!“
Ich zucke nur mit den Schultern und gebe keine Antwort. Auch Sophia sagt nichts mehr. Das ist auch nicht nötig; ich denke, wir wissen beide, dass sie mit John tanzt.
Maleen tanzt mit irgendeinem Typen, dessen Namen sie sicherlich noch nicht einmal kennt, Sophia scheint auch ihren Spaß zu haben und ich? Ich stehe in der Mitte, habe keine Lust zum Tanzen, merke, wie ich immer schneller atme, weil die mir die Luft nicht ausreicht. Mir wird schlecht.
Ich habe zu wenig getrunken, die Luft ist zu stickig und mir ist zu warm. Ich berühre Sophia leicht am Arm: „Ich muss raus“ Ich wende mich schon von ihr ab, als sie mich am Handgelenk festhält: „Soll ich mitkommen?“ fragt sie. Doch ich schüttele mit dem Kopf: „Nein, bleib du hier. Ich komm’ klar“ Ich mache mich von ihr los, dränge mich durch die Menschenmasse und schnappe wie ein Fisch, der nicht mehr im Wasser ist, nach Luft.
Ohne meine Sachen aus der Garderobe zu holen, stolpere ich die Treppen nach oben zum Ausgang, als mir schwindlig wird. Ich merke nur noch wie ich zusammenklappe, dann wird mir schwarz vor Augen. Wie damals, als ich am nächsten Morgen im Krankenhaus aufgewacht bin; Unterernährung, Flüssigkeitsmangel. Und ich kann nur noch denken: Ich will nicht wieder in die Klinik!
„Ich glaube sie wird wach“
„Sicher?“
„Ja, natürlich!“
„Seid ihr schon mal auf die Idee gekommen ihr Wasser zu geben?!“
Das erste was ich mache, ist mir die Haare aus dem Gesicht zu streichen, erst dann öffne ich die Augen. Ich lehne an der Wand im Flur zum Ausgang des Clubs. Vor mir kniet Alina. Ich sehe in ihr besorgtes Gesicht.
Simons Miene ist eine Mischung aus „Dumme, kleine nervige Schwester“ und „Hoffentlich rennt Alina jetzt nicht mit ihr nach Hause!“
Neben Alina kniet der Türsteher und fragt bestimmt nicht zum ersten Mal: „Sollen wir einen Krankenwagen rufen!“
Sofort bin ich hellwach und reiße die Augen weit auf: „Nein, keinen Krankenwagen! Alina, sag’ ihm, dass ich nicht wieder ins Krankenhaus möchte! Ich will da nicht hin. Alina, sag’ ihm das!“ Meine Stimme überschlägt sich und ich kreische so laut, dass sich einige Leute zu mir umdrehen. Mal wieder erlebe ich eine der peinlichsten Situationen, die man sich nur vorstellen kann.
Alina streicht mir über den Kopf, und wischt mir die Tränen von Wange. Weine ich wirklich?
„Schhhhh“ flüsterte sie leise und dreht sich dann zum Türsteher um. „Nein, kein Krankenwagen“
„Wie geht’s dir?“
Hektisch schaue ich auf und sehe, wie Luca mir ein Glas Wasser reicht und sich neben mich auf den Boden setzt.
Wo kommt er denn jetzt her?! Doch ich hake nicht nach. „Danke“ murmele ich nur leise und trinke einen Schluck Wasser. Dann antworte ich auf seine Frage mit einem Schulterzucken.
„Vielleicht solltet ihr sie nach Hause fahren“ schlägt der Türsteher vor.
Alina sieht mir kurz in die Augen, dann schaut sie zu Luca und am Ende ist ihr Blick entschuldigend bei Simon: „Ich glaube er hat Recht. Ich muss Lydia nach Hause bringen“
Ich sehe an Simons Blick, dass er mich am liebsten umbringen würde, und wenn er mir davor noch nicht unsympathisch war, dann ist er es jetzt.
Wegen ihm sagte ich nicht das, was ich jetzt sage: „Luca kann mich nach Hause fahren“ Ich sage dies, wegen Alina. Weil ich ihr ihren Abend nicht versauen will.
„Was?!“ fragen Luca und Alina gleichzeitig.
Sofort laufe ich rot an und trinke noch ein Schluck Wasser, um nichts mehr sagen zu müssen.
„Na ja, ich meine, ich hätte kein Problem damit“ fügt Luca hinzu und zuckt mit den Schultern.
„Aber ich vielleicht“ meint Alina schnippisch und schaut mich irgendwie komisch an, während ich die Situation langsam amüsant finde. Vor allem der Gedanke daran, dass sich Alina gegenüber Luca so mütterlich aufführt, obwohl er vielleicht älter oder zumindest gleich alt wie sie ist, ist irgendwie lustig.
„Alina“ mischt sich jetzt auch Simon mit ein und berührt ihren Arm.
Alina seufzt, streicht mir noch mal über den Kopf und nickt schließlich: „Na gut. Und du hältst mich jetzt auch nicht für eine ganz furchtbare Schwester?“
Ich schüttele den Kopf: „Nein, tu’ ich nicht“ In Gedanken denke ich noch, dass sie die besten Schwester ist, die man haben kann.
„Na los, auf mit dir“ Luca erhebt sich und zieht mich an der Hand mit hoch.
„Meine Sachen…“ Ich hole die Garderobenzettel aus meiner Hosentasche und ohne ein weiteres Wort nimmt Luca mir die beiden Zettel aus der Hand: „Ich hol’ sie schnell“ Mit diesen Worten verschwindet er.
Ich sehe ihm nach, bis mich Alina an der Schulter berührt und mich mit einem besorgten Blick anschaut, dennoch ist ein Grinsen auf ihren Lippen. Wie macht sie das bloß – gleichzeitig besorgt und schelmisch auszusehen. „Wir reden zu Hause. Und damit meine ich nicht, über deinen Freund hier – obwohl wir darüber auch reden werden… Dennoch will ich mit dir darüber reden, warum du hier zusammengeklappt bist. Ich denke wir beide kennen die Antwort“ Das Grinsen auf Alinas Gesicht erlischt. Und auch ich senke den Blick. Ich weiß, dass wir beide die Antwort kennen. „Alina, tu’s nicht“
„Tut mir Leid, Lydia“
„Sagst du es Mama und Papa?!“
Sie zögert eine Weile, dann schüttelt sie mit dem Kopf: „Nein, ich sage es ihnen nicht!“
„Ich wollte dir nicht den Abend versauen“
Ich sehe wie Simon die Augen verdreht, doch Alina sieht es nicht. Sie steht mit dem Rücken zu ihm. An mich gewandt schüttelt sie mit dem Kopf: „Hast du nicht“ versichert sie mir und ich nicke nur, weil ich nicht weiß, was ich dazu sagen soll.
Eine Schweigepause entsteht und normalerweise ist Stille zwischen Alina und mir nie unangenehm, aber durch Simons Anwesenheit wird sie unangenehm.
Erleichtert atme ich aus, als Luca mit meiner Tasche und meiner Jacke wiederkommt. Ich umarme Alina fest und sie küsst mich auf den Scheitel: „Wir reden morgen“ flüstert sie, dann schaut sie streng zu Luca: „Pass gut auf sie auf!“
Er hebt abwehrend die Hände und nickt: „Mach’ dir keine Sorgen“
Alina mustert uns beide noch eine Weile, dann seufzt sie schließlich erneut, winkt und wendet uns den Rücken zu.
„Tut mir Leid, dass ich dir den Abend versaue“
Doch Luca schüttelt nur mit dem Kopf: „Tust du nicht. Ich mag das Deep eh’ nicht“ Er grinst spöttisch.
„Warum gehst du dann hin?“
Er schaut mich nur fragend an, und wartet auf eine Erklärung.
Ich zögere eine Weile, dann beginne ich: „Ich meine, wenn du das Deep nicht magst, warum gehst du dann hin. Außerdem bist du doch auch schon achtzehn…“ Er unterbricht mich. „Neunzehn“
„Okay, neunzehn. Warum gehst du dann ins Deep?“
„Wegen John. Er hat mich drum gebeten“
„Ist John nicht auch schon achtzehn?“ frage ich dümmlich und an seinem Grinsen erkenne ich, dass ich gerade wirklich eine dämliche Frage gestellt habe. Dennoch antwortet er: „John ist wegen Anna hin und Anna ist erst siebzehn“
Ich nicke und laufe rot an und starrte auf meine Schuhspitzen, während wir langsam zum Bismarckplatz laufen.
„Willst du noch schnell was essen? Irgendwo?“ fragt er höflich.
Erschrocken schaue ich auf: „Wieso fragst du das?!“
Kurz mustert er mich und er sieht so aus, als würde er etwas sagen wollen, doch dann schüttelt er mit dem Kopf: „Keine Ahnung. Nur so“ Ich weiß, dass er nicht das gesagt hat, was er dachte.
Wir schweigen eine Weile, bis er das Schweigen bricht: „Geht’s dir eigentlich wirklich gut?“
„Warum?“
„Du bist vorhin zusammenklappt. Ich konnte dich gerade noch so auffangen!“ Er lacht leise und nicht zum ersten Mal fällt mir auf, wie schön sein Lachen klingt.
Ich laufe rot an: „Du hast mich aufgefangen?“
Er nickt nur.
„Ähm… danke“ stottere ich.
Doch er winkt ab und zuckt mit den Schultern: „Hör’ mal, das ist selbstverständlich. Das hätte ich bei jedem gemacht“
Autsch! Das ist eigentlich nicht die Antwort, die ein Mädchen gerne hört.
„Wer war eigentlich die Blonde bei dir?“
Ich habe auf die Frage gewartet. Die ganze Zeit. Ich wusste, dass diese Frage kommt. „Meine Schwester Alina“ antworte ich leise. „Wir verstehen uns sehr gut“ füge ich noch hinzu und Luca nickt: „Das hat man gesehen. Wenn dir jetzt was passiert, bringt sie mich um, was?“
Ich muss lachen: „Ja, ich glaube schon“
„Also, willst du noch was essen… oder was trinken? Nicht, dass du noch mal zusammenklappst“
Ich zögere eine Weile und schaue ihn mit skeptischen Blick an: „Und danach fährst du mich gleich nach Hause?“
„Wenn du willst“ Er zuckt mit den Schultern.
„Okay“
Wir gehen ins Zapatto, was gleich am Bahnhof ist. Manchmal sind dort Salsa Tanzabende, doch heute Abend haben wir Glück und wir können ganz normal was essen gehen.
„Passiert dir das öfters?“ fragt Luca, als wir sitzen und der Kellner mir schon ein Glas Wasser und ihm einen Espresso gebracht hat.
„Was?“
„Na, dass du das Bewusstsein verlierst!“
Ich laufe rot an und zögere eine Weile, dann schüttele ich mit dem Kopf: „Nein, bis vor einem Jahr ist mir so was nie passiert“
Er zieht kurz die Brauen zusammen, mustert mich skeptisch und holt seine Zigarettenschachtel hervor: „Stört’s dich, wenn ich rauche?“
Ich schüttele mit dem Kopf: „Mach ruhig“
Er nickt und zündet sich die Zigarette an. Dann schaut er wieder zu mir: „Was ist vor einem Jahr passiert?“
Ich schweige und zögere lange. Ich bewege die Lippen, doch ich sage nichts. Zumindest höre ich keinen Ton. Schließlich beginne ich zu stottern: „Ich…ähm… Es tut mir Leid. Ich kann nicht“
Er schüttelt mit dem Kopf und winkt ab: „Kein Problem. Du musst mir nichts erzählen, wenn du nicht willst“
„Nein!“ erwidere ich sofort und vielleicht auch ein bisschen zu laut. „Du verstehst das nicht. Ich würde es dir gerne erzählen – ich kann… einfach nur nicht“
„Das macht nichts“ sagt er und lächelt mich spöttisch an, wie immer.
Ich nicke nur und wir beiden schweigen. Ich klammere mich nervös an mein Wasserglas. In so einer Situation wie jetzt habe ich mich noch nie befunden. Luca ist der erste Junge, der sich richtig für mich interessiert – obwohl ich das ja auch nicht sicher weiß. Ich kann es nur vermuten, oder vielmehr… hoffen.
„Du machst doch gerade Abi, oder?“ frage ich in meiner Verzweiflung nicht dauernd schweigen zu wollen.
Er zieht die Brauen hoch: „Willst du mit mir wirklich über Schule reden?“ Bevor ich antworten kann, redet er weiter: „Okay, reden wir über Schule: Wie läuft Mathe denn so? Kommst du klar?“ Er zwinkert mir frech zu und ich schlage ihn spielerisch gegen die Schulter: „Das war gemein!“
„Ich weiß“ Er zuckt mit den Schultern und lehnt sich dann zurück. Und vor lauter Angst, dass wir wieder schweigen, höre ich mich fragen: „Du spielst Tennis, oder?“
Sein Blick verändert sich. Er verliert diesen spöttischen Glanz in den Augen, stattdessen schaut er mich fragend an: „Wie kommst du darauf?“
Schnell trinke ich ein Schluck Wasser, dann zucke ich mit den Schultern: „Keine Ahnung, du siehst so aus… Hab’ ich etwa nicht Recht?“
Er lacht und schüttelt mit dem Kopf: „Ich weiß, dass ich von den Klamotten her aussehe, wie die ganzen Tennis-Schwuchteln“ Wieder lacht er. Anscheinend habe ich etwas sehr witziges gesagt – ich weiß aber leider nicht mehr was und kann deshalb nicht mitlachen. „Aber ich muss dich leider enttäuschen. Ich habe nie in meinem ganzen Leben Tennis gespielt. Auch, wenn meine Eltern das gerne gewollt hätten“
„Deine Eltern erwarten viel von dir, kann das sein?“ Ich weiß nicht, warum ich ihn das frage. Eigentlich geht mich das ja gar nichts an. Und vielleicht liege ich wieder total falsch, wie bei dem Tennis spielen.
Er zuckt mir den Schultern: „Ja, das kann sein. Obwohl es schon besser ist, seit ich achtzehn geworden bin. Früher haben sie noch mehr erwartet. Tun deine das nicht?“
Ich schüttele mit dem Kopf und antworte leise: „Nein. Nicht mehr“
Er nimmt es nur nickend zur Kenntnis.
Wieder fühle ich mich – leider – berufen, das Schweigen zu beenden. „Was machst du dann für Sport? Wenn du kein Tennis spielst. Springreiten?“ Irgendeine Bonzen-Sportart muss er doch machen!
Wieder beginnt er zu lachen: „Sehe ich so schlimm nach Bonze aus?“ Als hätte er meine Gedanken gelesen…
Ich laufe rot an und nehme das Tiramisu des Kellners gerne entgegen. Und am liebsten hätte ich sofort einen Löffel davon in den Mund gesteckt, nur um nichts mehr sagen zu können oder zu müssen. Doch beim Anblick der Sahne und der Milchcreme zögere ich.
Ich zucke mit den Schultern und schüttele dann mit dem Kopf: „Nehm’s mir bitte nicht übel“
„Tu’ ich nicht. Und es wird dich überraschen: Ich spiele weder Tennis, noch hample ich auf irgendeinem Gaul rum… Ich boxe“
Ich reiße die Augen auf. Der Junge wird ja immer interessanter. „Boxen?“ rufe ich aus, bestimmt wieder ein bisschen zu laut.
„Jetzt schau mich doch nicht so an!“
„Tut mir Leid. Es ist nur so… Ich… ähm… ich kenne niemanden der boxt, und bei dir hätte ich gar nicht vermutet!“
„Ich weiß. Das tun die wenigstens. Ich sehe nun mal aus wie ein Tennisspieler“
„Jetzt halt’ mir das nicht dauernd vor!“ fauche ich.
„Entschuldige. Wird nicht wieder vorkommen“ Dennoch grinst er spöttisch.
„Und… wie ist das so? Das Boxen, mein’ ich?“
Luca zögert kurz, dann zuckt er mit den Schultern: „Am Anfang war’s ziemlich schmerzhaft. Prellungen, blaue Augen, ab und zu mal ein gebrochenes Handgelenk. Außerdem war’s ziemlich schweißtreibend. Mein Trainer war mit dem Konditionstraining nicht gerade nachlässig“ Er grinst. „Mittlerweile gibt’s nur noch selten blaue Augen“ Wieder zwinkert er mir zu.
„Gab bestimmt einen schönen Farbenkontrast – das Grün deiner Augen und das Blauviolett des Veilchens“ erwidere ich und lächle. „Find’ ich aber cool – Boxen ist mal nicht so ein Mainstreamsport. Machst du das so richtig mit Wettkämpfen… und so?“
„Ja, richtig mit Wettkämpfen, und so“ Er schaut mir kurz in die Augen, dann blickt er auf das Tiramisu, das ich bisher nicht angerührt habe. „Hast du doch keinen Hunger?“
Ich schaue hastig von seinem Gesicht auf meinen Teller und zögere lange: „Doch… ich…“ Ich breche ab. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.
„Was ist los mit dir?“ fragt er mich und seine Stimme hat jeglichen Spott verloren, stattdessen klingt er fürsorglich; fast zärtlich.
Ich schweige lange, bis ich schließlich tief durchatme: „Ich habe Probleme zu essen“
„Das hab’ ich bemerkt“
„Nein, ich meine richtige Probleme. Vor ungefähr einem Monat war ich für zwei Monate in einer Klinik für Essgestörte… Ich war… magersüchtig“ Zum ersten Mal spreche ich die Wahrheit aus. Ohne Verschönerung. Ohne blumige Umschreibung. Ich nenne das Kind beim Namen, hätte meine Großmutter jetzt gesagt.
Luca nickt nur und schweigt. Er sagt lange nichts, bis er sich schließlich über den Tisch beugt, die Finger unter mein Kinn legt, sodass ich ihn anschauen muss und mich küsst.
Wir laufen schweigend zu Lucas Auto zurück. Wir berühren uns nicht. Nur unsere Schultern streifen sich bei jedem Schritt. Ich weiß nicht, ob er mich ansieht, doch ich spüre seinen Blick auf mir.
Schließlich bin ich es, die das Schweigen bricht: „Wage es jetzt ja nicht, mich mitleidig, wie alle anderen anzusehen!“ zische ich, ohne ihn anzusehen. Ich merke, dass er stehen bleibt, doch ich gehe weiter, bis er mich am Handgelenk festhält. Ich drehe mich mit fragender Miene zu ihm um.
„Tu’ ich nicht“ Er schüttelt mit dem Kopf. „Ich frage mich nur…ähm… wie ist das?“ Und zum ersten Mal seit ich ihn kenne, wirkt Luca irgendwie unbeholfen.
Ich zögere eine Weile, dann zucke ich mit den Schultern: „Hart. Es war weder leicht, nichts mehr essen zu können, noch war der Aufenthalt in der Klinik wie Urlaub für mich“
„Redest du immer so darüber, als ginge es dabei nicht um dich?“ Er legt den Kopf schief, und schaut mich wieder so liebevoll an, dass ich wegschauen muss. „Ich rede nicht so darüber, als würde es nicht um mich gehen“
„Doch tust du“
Ich habe keine Lust mich zu streiten und zucke nur mit den Schultern. Vielleicht hat er ja Recht. Dann schweigen wir wieder, bis er sagt: „Lass uns weiter gehen“
Und während wir wieder vom Hauptbahnhof zum Bismarckplatz laufen, fange ich an zu erzählen. Ich weiß nicht warum ich ihn jetzt plötzlich mit meinen Geschichten belabere; vielleicht wegen dem Kuss; vielleicht wegen seinen Blicken; ich weiß es nicht! Dennoch erzähle ich ihm alles. Ich erzähle ihm mein gesamtes letztes Jahr. Und er hört einfach nur zu. Nickt, schaut mich mitfühlend an und hakt nur selten nach.
„Und, Lissy? Ist sie noch in der Klinik?“
Ich nicke: „Ja. Laut Dr. Klein wird sie auch noch eine Weile dort sein. Ich mochte – mag – sie sehr. Aber seit ich aus der Klinik entlassen wurde, haben wir keinen Kontakt mehr. Ich meine, mit Hanna habe ich auch keinen Kontakt mehr, aber ich will auch nichts mehr mit Hanna zu tun haben. Doch mit Lissy…“ Ich breche ab und zucke mit den Schultern.
„Vielleicht kannst du sie ja mal besuchen“ meint er. Und wie er das sagt, klingt das alles so leicht.
„Ja, vielleicht“ murmele ich und nicke gedankenverloren. „Ich glaube aber nicht, dass meine Eltern das erlauben. Das letzte Jahr war auch für sie nicht leicht, weißt du?“ Ich schaue ihn mit großen Augen an.
Eine Weile schaut er mir ernst in die Augen, dann lächelt er: „Du bist süß, weißt du das?“ Er legt einen Arm um meine Schulter, zieht mich zu sich ran und gibt mir einen Kuss auf den Scheitel. Sofort laufe ich rot an und murmele nur: „Kannst du mich bitte nach Hause bringen?“
Bevor ich aussteige, greift Luca noch nach meiner Hand und hält mich damit zurück. Er drückt mir einen kleinen Zettel in die Hand mit irgendwelchen Ziffern darauf. „Wenn irgendwann mal was sein sollte, dann ruf’ mich an“
Ich bin froh, dass es dunkel ist. So kann er nicht sehen, dass ich knallrot anlaufe. „Ähm…“ stammele ich nur.
Er zieht fragend die Brauen nach oben: „Versprichst du es mir?“
Ich bringe nur ein Nicken zu Stande und ich weiß, dass ich ihm eigentlich auch meine Nummer geben sollte, doch in dem Moment denke ich nicht soweit. Ich beuge mich nur zu ihm vor, küsse ihn auf die Wange und steige aus.
„Danke, für’s erneute heimfahren“ sage ich und lasse seine Hand endlich los.
Ich laufe schon in meinem Pyjama durch die Wohnung, als auch Alina nach Hause kommt. Unsere Eltern schlafen schon und bekommen bestimmt gar nicht mehr mit, dass Alina erst jetzt ankommt und ich immer noch in der Wohnung umhergeistere.
„Alina“ flüsterte ich. „Ich wollte mich noch für den Abend ent…“ Doch sie unterbricht mich. „Pst…“ Sie nimmt mich an die Hand und zieht mich mit in mein Zimmer, wo sie sich erst Schuhe und Jacke auszieht.
Ich lasse mich im Schneidersitz auf mein Bett nieder, während sich Alina neben mich fallen lässt: „Bevor ich mit meiner Moralpredigt beginne: Wie findest du ihn?“
Ich blinzle sie fragend an: „Wen?“ hake ich dümmlich nach und Alina verdreht die Augen: „Na, Simon!“
„Oh“ entweicht mir und ich zögere eine Weile, bevor ich antworte: „Willst du, dass ich ehrlich zu dir bin, Alina?“
„Ich will immer, dass du ehrlich bist“ antwortet sie.
„Ich mag ihn nicht!“ sage ich gerade heraus und seufze. „Tut mir Leid, Alina. Er sieht wirklich sehr gut aus, doch ich finde ihn einfach unsympathisch“
„Oh…“ Sie schaut mich traurig an und gleich tut es mir Leid, was ich gesagt habe. Ich hätte sie doch einmal anlügen können, nur damit sie jetzt nicht so ein trauriges Gesicht machen muss.
„Ich bin sicher, dass du ihn magst und dass ihr gut zusammenpasst und bestimmt triffst du die richtige Entscheidung“ versuche ich sie aufzuheitern, was auch klappt, denn sie grinst schon wieder und nickt: „Du hast Recht. Du musst ihn ja nicht mögen, sondern ich“
„Und Mama und Papa“ füge ich hinzu. „Wann wird er hier auf der Matte stehen?“
Alina läuft rot an, was wirklich selten vorkommt. Dann zuckt sie mit den Schultern: „Meinst du, sie sind nächste Woche gut drauf? Wir wollen abends weggehen und danach noch zu mir…“
„Ja, ja. Schon klar, Alina. Mir musst du nichts erklären“
Sie kichert leise und nickt: „Ich bin froh, dass ich dich habe, Lydi“
Habe ich mich gerade verhört?! Alina ist froh, dass sie mich hat? Dabei bin ich doch diejenige, die sich glücklich schätzen sollte, eine Schwester wie Alina zu haben. Ohne Alina wäre ich nichts.
„Ich bin auch froh, dass ich dich habe“ murmele ich und schaue auf meine Hände, als mich Alinas Stimme wieder aufblicken lässt: „Warum bist du umgekippt, Lydia?“ fragt sie mich und ihre Stimme klingt strenger.
Ich zögere eine Weile, dann antworte ich ehrlich: „Ich habe zu wenig gegessen und getrunken“
„Das weiß ich auch… Aber warum tust du das? Warum isst und trinkst du nicht genügend? Ich dachte in der Klinik hätten sie dir geholfen“ Diesen Satz hatte sie schon mal zu mir gesagt. Zumindest kommt er mir sehr bekannt vor.
„Das ist alles gar nicht so einfach“ Auch die Antwort kommt mir bekannt vor. „Ich bemühe mich doch, Alina. Verstehst du? Nur… es fällt mir unglaublich schwer!“
„Wenn ich dir nur irgendwie helfen könnte“ Sie umfasst meine knochige Hand und lächelt mich traurig an.
„Das kannst du nicht. Das muss ich mit mir alleine ausmachen“ erwidere ich und Alina nickt nur und erhebt sich. Sie will gehen, doch dann bleibt sie stehen und setzt sich noch mal zu mir auf’s Bett. „Er ist wirklich niedlich“
„Simon?“ Ich runzle die Stirn und wundere mich darüber, dass sie schon wieder darüber reden will.
„Nein, du Dummerchen! Ich meine den Typen mit den schwarzen Haaren und den auffallend grünen Augen“
„Luca?“
„Ist das sein Name?“
Ich nicke nur.
„Alsooooo“ beginnt sie gedehnt. „Was ist das zwischen euch?“
Ich lasse mir mit meiner Antwort Zeit. Aber nicht um Alina auf die Folter zu spannen, sondern vielmehr um mir zu überlegen, was ich antworten soll. Schließlich zucke ich mit den Schultern: „Keine Ahnung“
„Er hat dich nach Hause gefahren!“
„Schon zum zweiten Mal“ flüsterte ich und sie reißt die Augen auf: „Tatsächlich?“
Ich nicke nur.
„Er ist süß“ wiederholt sie.
„Ich mag ihn“
Sie zieht fragend die Brauen nach oben. „Aber…“
„Ach, nichts“ winke ich ab.
„Jetzt erzähl’ schon!“ beharrt sie und beginnt mich zu kitzeln. Ich lasse mich zurückfallen und fange an zu lachen und zu kreischen. „Er hat mich geküsst!“ bringe ich schließlich unter Japsen hervor. Eigentlich wollte ich ihr das nicht erzählen, doch ich wollte auch nicht weiter gekitzelt werden.
Sofort lässt sie von mir los und richtet sich wieder komplett auf: „Er hat – was?“
„Ist ja kein Heiratsantrag!“ brumme ich und Alina stemmt die Hände in die Hüften: „Besser ist es! Immerhin hab ich gesagt, er soll auf dich aufpassen – aber, dass er seine Aufgabe soooo ernst nimmt“ Sie sagt es ernst, doch ihre Augen verraten sie.
„Ach, Alina. Es war nur ein Kuss. Ich weiß doch auch nicht…“ Ich zucke hilflos mit den Schultern und Alina will gerade etwas erwidern, als meine Mutter in meiner Zimmertür steht: „Was ist denn bei euch los? Warum seid ihr noch wach?“
„Tut mir Leid, Mama“ sage ich schuldbewusst.
Alina erhebt sich, und sammelt ihre Schuhe und ihre Jacke ein: „Ich geh’ ja schon schlafen“ Sie geht an unserer Mutter vorbei, gibt ihr kokett einen Kuss auf die Wange und zwinkert mir zu. Ich kann verstehen, dass Alina so beliebt ist. Man muss sie einfach gern haben.
„Gute Nacht, Lydia… Hattest du einen schönen Abend?“
Ich überlege eine Weile und schaue in das besorgte Gesicht meiner Mutter, dann nicke ich: „ Ja, es war einer der Schönsten seit langem“
„Das freut mich, mein Schatz. Schlaf gut“ Mit diesen Worten schließt sie meine Zimmertür und ich lasse mich zurück in die Kissen fallen und knipse meine Nachttischlampe aus. Sofort schlafe ich ein.
Am folgenden Montag in der Schule kommt sofort Maleen auf mich zu, als ich das Klassenzimmer betrete: „Oh mein Gott! Ich habe es nur von anderen gehört! Du bist umgekippt?! Wie geht es dir? Warst du im Krankenhaus? Ach, du bist ja jetzt noch ganz blass“
Ein bisschen erschlagen von ihren ganzen Fragen fühle ich mich schon. Ich sehe, wie mir Sophia aufmunternd zulächelt, und Robin und Tobias spitzen neugierig die Ohren. Das sehen an ihren Blicken…
Tobias dreht sich auch gleich zu Sophia um: „Was ist denn passiert?“
Doch Sophia schüttelt nur mit dem Kopf, steht auf und kommt auf mich zu: „Wie geht es dir?“ fragt auch sie.
„Sehr gut“ antworte ich. Es ist nur zum Teil gelogen. Es geht mir nicht schlecht, aber ich bin ein wenig verwirrt. Seit dem Freitag habe ich nichts mehr von Luca gehört. Alina sagt es zwar nicht, aber ich weiß, dass sie meint, dass dies ein schlechtes Zeichen ist. Doch ich will nicht länger daran denken.
„Die Luft war einfach nur so schlecht. Ich bin da sehr empfindlich. Ich kippe schnell um“
Während Maleen sofort nickt und von ihrer Kusine erzählt, der es genauso geht, zieht Sophia skeptisch die Brauen nach oben: „Wirklich?“
Ich nicke bestätigend: „Leider, ja“ Ich mag Sophia und Maleen, beide, dennoch muss ich sagen, dass Sophia aufmerksamer ist. Sie merkt alles, während Maleen nur ihre Welt sieht. Wie sie es zur Klassensprecherin geschafft hat, wundert mich. Doch das ist nicht mein Problem.
„Na dann solltest du demnächst aufpassen“ Sophia zwinkert mir zu und streicht mir kurz über den Oberarm, als Luca den Raum betritt. Er trägt irgendwelche Zettel in der Hand und ohne davon aufzuschauen redet er: „Maleen, ich habe hier die Listen für die Studienfahrt“ Er drückt ihr die Zettel in die Hand. „Teil die nachher mal aus“
Dann trifft sein Blick den meinen und ich merke, wie mir das Blut in die Wangen schießt. Und ehe ich mich versehe legt er seine Hand an meine Wange, küsst mich flüchtig und grinst dann spöttisch: „Wir sehen uns nachher“ flüstert er mir zu, dann schaut er zu Maleen und Sophia, welchen beide die Kinnlade heruntergeklappt war: „Bis dann, Mädels“ Mit diesen Worten verlässt er den Raum. Und alles was ich denken kann ist: Er hat mich geküsst! Er hat mich schon wieder geküsst! Vor versammelter Mannschaft. Vor Maleen und Sophia.
In meinem Kopf dreht sich alles.
Sophia stupst mich von der Seite an und Maleen beginnt gleich zu kreischen: „Das ist ja Wahnsinn! Wann ist denn zwischen euch beiden etwas passiert?! Das muss ich sofort Anna erzählen – wo ist sie überhaupt?!“
„Na, bei Joh-on“ antwortet Sophia genervt und betont Johns Name irgendwie komisch.
„Ach so, ja wie dumm von mir!“ Dann schaut sie irgendwie verschwörerisch zu mir: „Und du und Luca jetzt, oder wie?“
Ich zögere eine Weile, dann zucke ich mit den Schultern: „Keine Ahnung. Ich bin ein wenig… überfordert“
Maleen beginnt herzhaft zu lachen und nickt: „Das kann ich mir vorstellen. Vor allem bei Luca“ Und an der Art wie sie es sagt, weiß ich sofort, dass die beiden mal irgendeine Sache am laufen gehabt haben mussten. Doch das ist mir im Moment ganz ehrlich egal.
„Bitte, meine Damen!“ Frau Mai kam ins Klassenzimmer gehumpelt und funkelt Maleen wütend an. „Setzt euch!“
Maleen verzieht das Gesicht zu einer Grimasse und setzt sich auf ihren Platz. Anna ist immer noch nicht da. Bestimmt kommt sie wieder zu spät, weil sie John so rumtrödelt.
Seufzend lasse ich mich neben Sophia fallen und stütze den Kopf in die Hände. Ich kann mich auf gar nichts mehr konzentrieren.
Sophia stupst mich von der Seite an: „Wann ist es passiert – ich meine, das zwischen dir und Luca“
Ich schaue sie betreten an und zucke mit den Schultern: „Ich habe keine Ahnung. Aber so richtig wahrscheinlich nach dem Abend im Deep“
„Und, seid ihr jetzt zusammen?“ flüstert sie mir zu.
Ich zucke wieder mit den Schultern: „Ich habe keine Ahnung“
„Das wird sich legen. Bald wirst du es wissen“ versichert mir Sophia und kurz erinnert sie mich an Alina.
„Hoffentlich“ meine ich nur und spüre die Blicke von Maleen auf mir, als Anna ins Zimmer geplatzt kommt: „Entschuldigen Sie bitte, dass ich zu spät bin!“ Ihre Wangen sind gerötet und ihre Augen haben dieses gewisse Glänzen, das Verliebte immer in den Augen haben. Ob ich auch so aussehe?
Frau Mai stöhnt genervt auf: „Setz dich einfach, Anna!“
Anna zieht eine Grimasse und setzte sich wortlos hin und Maleen beginnt gleich zu flüstern. Ich muss nicht raten, über was sie reden.
Anna dreht sich mit einem Grinsen zu mir um und streckt die Daumen in die Höhe, doch ich winke es nur ab und ignoriere ihre weiteren Blicke. Das ist mir alles irgendwie zu blöd.
Jetzt würde nur noch fehlen, dass sich Tobias umdreht, wie er es sonst immer tut. Doch er unterlässt es. Und dafür bin ich ihm dankbar.
In der Mittagspause sitzen Anna, Maleen, Sophia und ich über die Listen der Studienfahrt gebeugt. Maleen und Anna diskutieren, wo wie hinfahren wollen: London oder Paris. Langweilige Studienfahrtziele. Fast jeder fährt dorthin. Ich hätte Amsterdam, Lissabon oder Moskau interessant gefunden. Doch da habe ich nichts mitzureden. Das entscheidet die Schulleitung.
„Also, wohin wollen wir?“ fragt Sophia schließlich genervt.
„Nach Paris!“ erwidert Anna gereizt.
„Nur weil du verliebt bist“ Kindisch streckt Maleen ihr die Zunge raus und Sophia und ich beginnen zu lachen. „Dann müsste Lydia ja auch nach Paris wollen“ verteidigt sich Anna, und mein Lachen verstummt: „Ich… ich… bin nicht verliebt!“ wehre ich mich und alle drei Mädchen nicken nur. Und bevor eine etwas sagen kann, meine ich hastig: „Lasst uns über was anderes reden. Ich entscheide jetzt, wir fahren nach London…“ Ich kreuze London auf meinem Zettel an und schaue dann wieder zu den Mädels. „… und basta! Keine Widerrede!“
Anna zieht eine Grimasse, nickt aber schließlich und kreuzt auch London an.
„Also, im Herbst geht’s dann wohl nach London“ meint Sophia und reicht meinen und ihren Zettel an Maleen, welche die Zettel wieder einsammeln und bei der Schulleitung abgeben muss.
„Pff… was soll’s“ Ich zucke mit den Schultern. „Ist eh’ nur eine Woche“
„Eine Woche kann lang sein, glaub mir“ sagt Sophia verschwörerisch und ich merk, dass sie aus Erfahrung spricht.
„Ja, das stimmt…“ gebe ich zu und lasse mich schließlich breit schlagen und widerspreche nicht mehr.
Ich schiebe mein volles Tablett von mir und seufze: „Ich bin satt“
„Ach, komm schon, Lydia. Du bist schon so dünn, du musst doch nicht dauernd auf deine Figur achten“ plappert Maleen. Sie blickt mal wieder rein gar nichts. Ich glaube nicht, dass Maleen wirklich dumm ist, ich denke, sie ist schlicht und ergreifend ein bisschen dämlich und egozentrisch.
„Darum geht’s mir nicht“ Ich schüttele mit dem Kopf und ich spüre Sophias Blick von der Seite. Doch sie sagt nichts.
Ich will aus dieser Situation einfach nur fliehen und atme erleichtert aus, als ich Luca in der Flügeltür der Kantine sehe. Er steht bei ein paar Leuten aus seiner Stufe, die ich alle nur vom Sehen kenne.
Normalerweise wäre ich zu schüchtern gewesen, um aufzustehen und zu ihm hinzugehen, doch ich will Sophias Blick entkommen und Maleens Gerede über Kalorienzählen und Diäten, sodass ich aufstehe, mein Tablett an mich nehme und die drei entschuldigend anlächle: „Wir sehen uns nachher“
Ich gebe schnell mein Tablett ab und laufe auf Luca zu, welcher nun stehen bleibt und nicht mit seinen Leuten weiter geht.
Dicht vor ihm bleibe ich stehen: „Hey“ sage ich unbeholfen.
Er grinst spöttisch wie immer: „Wie geht’s dir?“
Ich zucke mit den Schultern: „Gut“
Er nickt und lächelt weiter: „Was hast du für Unterricht die nächsten paar Stunden?“
„Nur Sport. Warum fragst du?“
„Überraschung“ Er grinst verschwörerisch und ich ziehe skeptisch die Brauen nach oben: „Was hast du vor?“
Er lächelt nur weiter, schweigt, greift nach meiner Hand und zieht mich aus der Kantine.
„Ich muss dir sagen, ich mag keine Überraschungen!“
„Tja, Pech gehabt!“ Er dreht sich kurz zu mir um, küsst mich auf die Stirn und geht einfach weiter.
Wir sitzen im Auto und schweigen. Nur die Musik von irgendeiner Band, die ich nicht kenne, ist zu hören.
„Wohin fahren wir?“ frage ich erneut, obwohl ich ganz genau weiß, dass ich keine Antwort bekommen werde.
„Du kriegst keine Antwort. Und das weißt du auch“
„Och man“ Spielerisch schubse ich ihn und lese die Schilder auf der Autobahn. Irgendwie fahren wir Richtung Würzburg. Und ich werde misstrauisch. Mal davon abgesehen, dass ich Überraschungen wirklich hasse. „Wie lange fahren wir?“ frage ich, weil ich dieses Schweigen irgendwie nicht mag.
Er zögert eine Weile, dann antwortet er: „Knapp drei Stunden“
Ich nicke nur und sage nichts mehr. Ich versuche nur zu kombinieren – wir fahren Richtung Würzburg, wir fahren drei Stunden…
„Och man, ich find’ das so gemein!“ jammere ich schließlich, doch er grinst nur und legt mir locker den Arm um die Schulter.
Ausfahrt Königsfeld/Wattendorf/Steinfeld. Und jetzt weiß ich, was er vorhat! Ich kann plötzlich nicht mehr klar denken. Mich überkommen Hitzewellen und ich zucke zusammen und schaue ihn wütend an: „Was fällt dir ein?!“
Er widmet mir nur einen kurzen besorgten Blick und schaut dann wieder auf die Straße. „Was meinst du?“ Seine Stimme klingt so ruhig, während ich völlig ausflippe.
„Willst du mich demütigen? Willst du das? Willst du, dass ich mich schlecht fühle; dass ich noch mehr mit meinen Sorgen, Ängsten und mit meiner Vergangenheit konfrontiert werde?! Willst du das wirklich?!“ Ich bemerke, wie meine Stimme immer schriller wird und dass sie sich überschlägt.
Luca antwortet nicht, er fährt nur unbeirrt weiter.
„Wage es jetzt ja nicht, mich zu ignorieren!“ schreie ich ihn weiter an und ohne Vorwarnung reißt er das Lenkrad rum und der Wagen kommt am Rand der Landstraße zum Stehen. Hinter uns ertönt ein Hupen und wir schenken ihm keine Beachtung.
„Okay, schrei’ mich an.“ sagt Luca immer noch völlig ruhig. Er dreht sich zu mir um und schaut mich mit einem Blick an, den ich nicht deuten kann.
Mir verschlägt es die Sprache.
„Das ist jetzt nicht dein Ernst? Jetzt, wo ich mich auf deine Gezeter konzentrieren kann, schweigst du…?“ Er lacht leise.
„Ich find’ das gar nicht witzig“ zische ich und merke wie mir die Tränen die Sicht verschleiern.
Ich spüre seine Hand an meiner Wange, doch ich drehe mich weg.
„Hör’ mal“ redet er schließlich. „Wir fahren da nur hin, weil du gesagt hast, dass du gerne Kontakt zu Lissy halten würdest. Ich fahre da nicht mit dir hin, weil ich denke, dass du da hin gehörst“
Ich lache bitter: „Schön zu wissen“ Dennoch sehe ich ihn nicht an.
„Wenn du willst, drehen wir um“
Ich zögere eine Weile, doch dann drehe ich mich ruckartig zu ihm um und schüttele hastig mit dem Kopf: „Nein… Nein. Lass’ uns hinfahren“
Er zieht skeptisch die Brauen nach oben. „Sicher?“
Als Antwort beuge ich mich zu ihm vor und küsse ihn. Schließlich nicke ich und antworte: „Sicher“
Die dicke Empfangsdame ist überrascht mich zu sehen. Ich sehe es an ihrem runden Gesicht; sie reißt die Augen weit auf und schlägt die Hand vor den Mund. Dann steht sie auf, läuft um den Tresen herum und schüttelt mit dem Kopf: „Lydia!“
Ich bleibe unsicher stehen und greife wie aus Reflex nach Lucas Hand und zerquetsche sie sicher fast. Es ist komisch wieder hier zu sein. Also, nicht auf eine bizarre Art komisch – nein, es ist auf eine… unangenehme Art komisch.
„Hallo, Frau Odwald“ sage ich leise.
„Was machst du denn hier? Hast du was vergessen, oder musst du wieder…“ Frau Odwald spricht nicht weiter. Das muss sie auch gar nicht. Ich weiß, was sie sagen will. Und es lässt mich nicht so halb so kalt, wie es das sollte. Ich bin unfähig etwas zu sagen. Stattdessen antwortet Luca für mich: „Nein, wir – ähm sie will nur jemanden besuchen“
Fragend schaut mich Frau Odwald an und ihr Blick fliegt von Luca wieder zurück zu mir. Dann sagt sie hastig: „Ich hole am besten mal Dr. Klein“
„Das wäre nett“ flüstere ich und Frau Odwald geht mir ihren kleinen Tippelschritten davon.
„Wie geht’s dir?“ fragt Luca neben mir und ich schaue zu ihm hoch und lockere meinen Griff um seine Hand, doch ich lasse nicht los. „Hm… es ist irgendwie… komisch“ Ich weiß, dass es nicht komisch sein sollte.
Wenn ich wirklich jemals kein Problem mehr mit mir und meinen Essgewohnheiten haben sollte, dann sollte ich die Klinik und Lissy besuchen kommen können, ohne mich komisch zu fühlen. Und ich sehe an Lucas Blick, dass er gerade dasselbe denkt.
„Lydia!“ Ich erkenne die Stimme sofort. Ich wirbele herum, lasse Lucas Hand los und lächele Dr. Klein unsicher an. „Es ist doch okay, dass…“ Ich kann meinen Satz nicht vollenden, denn Dr. Klein unterbricht mich: „Dass du uns – oder vielmehr Lissy – besuchst? Natürlich ist das okay. Du bist immer willkommen“ Erst jetzt fällt sein Blick auf Luca: „Oh, wie ich sehe, hast du jemanden mitgebracht“
Ich nicke und drehe mich halb zu Luca um: „Ja… ähm… das ist…“ Ich verhasple mich komplett und breche ab, stattdessen antwortet wieder Luca für mich. Er gibt Dr. Klein die Hand: „Ich bin ihr Freund. Ich hab sie hergefahren“
„Ah…“ Dr. Klein wirft mir einen bedeutungsvollen Blick zu und ich bete nur, dass er jetzt nichts sagt. Doch ich wurde vom lieben Gott wohl nicht erhört.
„Den gab’s aber noch nicht, als du hier weggefahren bist“
Ich spüre wie ich knallrot anlaufe: „Jetzt reicht’s!“ Ich kichere, weil ich immer kicher, wenn ich nervös bin. „Ich würde gerne Lissy besuchen. Ist sie da…? Sie ist doch noch da, oder?“
Dr. Klein nickt: „Ja, sie ist noch da. Sie ist oben in ihrem – eurem alten Zimmer. In einer halben Stunden beginnt aber…“
Ich unterbreche ihn: „Ich weiß“ Ich weiß noch sehr genau, dass in einer halben Stunden die Gruppentherapie beginnt. In meinen Augen war es nie – und ist auch immer noch nicht – eine Gruppentherapie. Es ist einfach nur Theaterspielen. Lissy und ich haben das immer sehr gern gemacht. Ich glaube, Lissy gefällt es immer noch. Und ich mache es nicht mehr.
Ich drehe mich zu Luca um: „Wartest du hier?“
Er nickt: „Klar“
Ich lächle ihn an, streiche ihm kurz das Haar aus den Augen und drehe mich dann um.
„Weißt du noch, wo es lang geht?“ ruft mir Dr. Klein hinterher, während ich schon durch das Foyer laufe.
Ich drehe mich im Laufen um und nicke mit dem Kopf. Doch sagen tu’ ich nichts. Ich denke nur traurig: Ich weiß sehr genau wo’s lang geht.
Zimmer 203. Die Tür ist immer noch trist und grau. Und auch unser Schild, das wir gebastelt hatten, als wir Zimmergenossen wurden, hängt noch. Immer noch quietschbunt, und voller Farben, die nicht zusammenpassen.
Nur das mein Name durchgestrichen ist. Nun steht nur noch Lissy drauf. Mein Name ist von vielen schwarzen Linien durchzogen.
Von drinnen höre ich Musik. Ich erkenne das Lied sofort: Sophie von Eleanor McEvoy. Und wieder steigen mir die Tränen in die Augen. Doch ich muss stark sein; dabei will ich das gar nicht. Ich will am liebsten umdrehen und wegrennen, mich in Lucas Armen verkriechen oder Alina wieder vorjammern, dass ich das alles nicht kann; dass ich für all das nicht stark genug bin, dass ich es nicht schaffe.
Doch ich bin entlassen worden, während Lissy immer noch hier ist. Wenn einer das Recht hat zusammenzubrechen und den Kopf in den Sand zu stecken, dann ist es sie und nicht ich!
Leise klopfe ich an und ich höre ihre unfreundliche Stimme: „Was ist denn noch, Kathrin!?“
Kathrin, die uns betreuende Schwester. Eine nervige Frau. Lissy und ich haben oft über sie gelästert.
Ich öffne die Tür und will lächeln, doch wieder kriege ich keines zu Stande. „Nicht Kathrin… Ich bin’s: Lydia!“
Lissy sitzt auf ihrem Bett, vor ihr ein Buch – bestimmt ist es das, was ich ihr zum Abschied geschenkt hatte, denn sie selbst besitzt keine Bücher. Sie reißt den Kopf hoch und schlägt die Hand vor den Mund, wie es Frau Odwald auch getan hat. Dann springt sie auf und fällt mir um den Hals. „Was machst du denn hier?!“
Ich drücke sie an mich und fühle, dass sie noch dünner geworden ist. Oder es liegt einfach daran, dass ich mittlerweile wieder zwei Kilo schwerer geworden bin und sie mir deswegen so dünn vorkommt. Ihr schwarzes Haar ist länger geworden, nur die eisblauen Augen sind dieselben geblieben.
Lissy schiebt mich wieder von sich und wiederholt ihre Frage: „Was machst du hier?“ Doch ich habe keine Zeit zu antworten. Sie äußerst dieselben Bedenken, wie Frau Odwald: „Du musst doch nicht etwas wieder…?“
Ich schüttele mit dem Kopf: „Nein, auch wenn ich manchmal das Gefühl habe, dass ich zurückkommen sollte“
„Was redest du denn da?! Du siehst du doch di… gut aus!“
Ich weiß, dass sie sagen wollte, dass ich dick aussehe. Und auch, wenn ich es nicht will, so versetzt mir ihr Kommentar einen Stich. „Ich habe auch zugenommen!“
„Das ist doch gut“ Sie lächelt mich ehrlich an und umarmt mich noch einmal. „Ich freu’ mich total, dass du da bist. Seit du weg bist, ist es ziemlich einsam hier“
„Das kann ich mir vorstellen“ Ich lasse mich auf mein altes Bett fallen und schaue mich im Zimmer um. Es hat sich nichts verändert und trotzdem kommt es mir fremd vor, so wie vor ein paar Wochen mein Zimmer zu Hause mir fremd vorgekommen ist.
„Kathrin ist immer noch so nervig wie früher!“ beginnt Lissy zu lästern, als von der Tür eine Stimme ertönt: „Ach ja, ist sie das?!“
„Hallo, Kathrin“ bringe ich unter Lache hervor. Lissy läuft knallrot an, doch dann zuckt sie mit den Schultern und reckt trotzig nach Kinn nach vorne: „Ist doch egal. Ich bin eh’ nicht mehr lange hier!“
„Das glaube ich allerdings schon“ bemerkt Kathrin leise und streicht sich eine rote Locke hinter die Ohren.
Lissy schweigt und auch ich sage nichts.
Kathrin legt ein paar Sachen von Lissy zusammen und durchsucht die Schränke auf Essensreste. Dann nimmt sie die Tafel Schokolade, die auf dem kleinen Tischchen an sich: „Wenn ich doch nur wüsste, dass du sie wirklich essen und auch bei dir behalten würdest, Lissy“
Lissy senkt den Kopf und schaut aus dem Fenster. Nach kurzem Zögern setzte ich mich neben sie und lege ihr meinen Arm um die Schultern. Dann schaue ich zu Kathrin: „Ist doch jetzt egal, oder?“
„Leider nein, Lydia. Und das weißt du auch“ antwortet Kathrin und ich nicke nur. Was soll ich dazu auch sagen?
„Wie geht es dir eigentlich? Hast du dich wieder gut zu Hause eingelebt?“ fragt sie mich nach einer Weile des Schweigens.
Ich nicke: „Ja, es geht. Es ist nicht ganz leicht“
„Du schaffst das, Lydia. Da bin ich mir sicher…. Du, ich muss dann auch weiter. Tom wartet bestimmt. Vielleicht kannst du auch mal bei ihm vorbeischauen. Er freut sich bestimmt“
„Ja, vielleicht“ meine ich auch, doch ich weiß ganz genau, dass ich Tom nicht besuchen werde. Es reicht mir schon, zu sehen wie es Lissy immer noch nicht besser geht; wie sie immer noch leidet, während ich mich anstelle wieder einen Weg zurück ins Leben zu finden.
„Bis bald, Lydia“ sagt Kathrin noch, bevor sie das Zimmer verlässt.
„Sie ist genau wie vor ein paar Wochen“
„Die ändert sich auch nicht“ knurrt Lissy. Dann schaut sie mir in die Augen: „Willst du mir jetzt eine Moralpredigt halten? Darüber, dass ich nicht immer kotzen gehen soll?“
Ich zögere eine Weile, dann schüttele ich mit dem Kopf: „Nein, das steht mir nicht zu“
„Danke“ flüstert Lissy. „Auch für deinen Besuch“ Sie wirft einen Blick auf die Uhr, dann sagt sie: „Ich muss jetzt zur Gruppentherapie“ Sie verzieht ihr schönes Gesicht zu einer Grimasse und steht auf. Ich erhebe mich ebenfalls.
Zusammen gehen wir runter, bis vor den Saal in dem wir immer Theater gespielt haben. Ich bleibe davor stehen.
„Willst du vielleicht noch mit rein?“ fragt Lissy und ich sehe in ihren Augen, dass sie Hoffnung hat, dass ich ja sage. Doch ich muss sie enttäuschen: „Nein, tut mir Leid. Ich will…“ Ich breche hab und setzte noch mal neu an: „Ich kann nicht“
„Ist schon okay. Aber es wäre sicher lustig geworden, wenn du noch mal mitgespielt hättest“
Ich nicke nur und umarme Lissy noch mal fest. „Ich komm’ dich bald wieder besuchen“
„Versprochen?“
„Versprochen“
Erst im Auto breche ich in Tränen aus. Ich bin eben doch nicht so stark, wie ich es sein soll oder – wie ich es sein will. Ich habe die ganze Zeit geschwiegen und Luca hat auch keine Fragen gestellt.
Und auch jetzt sage ich nichts. Ich sitze nur im Auto neben ihn, sehe, wie wir wieder auf die Autobahn fahren, während ich ein Schluchzen unterdrücke und mir unentwegt Tränen über die Wangen laufen.
Luca zögert eine ganze Weile, doch schließlich fragt er: „Ist es so schlimm gelaufen?“
Ich schniefe lauter als beabsichtigt und schüttele mit dem Kopf: „Nein, es war toll, Lissy wieder zu sehen“ Ich schaue zu ihm, doch er sieht mich nicht an. Lucas Blick ist starr auf die Straße gerichtet. Vielleicht ist es auch besser so. Mit rot verquollenen Augen sehe ich bestimmt nicht unbedingt toll aus.
Ich mache eine kurze Pause und auch Luca hakt nicht weiter nach. Er wartet einfach bis ich weiter rede.
„Es geht ihr einfach nicht besser. Ich glaube sogar, dass es ihr schlechter geht – doch das kann ich nicht beurteilen. Ich bin kein Arzt“
„Es ist nur normal, dass du dir Sorgen machst“ meint er verständnisvoll und ich schaue ihn mit skeptischen Blick an: „Woher nimmst du eigentlich die Geduld und das ganze Verständnis?“ Ich streiche mir die Tränen von den Wangen und krame ein Taschentuch aus meiner Handtasche.
Erst jetzt löst er kurz seinen Blick von der Straße und schaut mich verwundert an. Dann schüttelt er mit dem Kopf, doch er sagt nichts.
„Danke“ sage ich nach einer Weile des Schweigens leise. „Für’s hinfahren“ füge ich noch hinzu. „Es hat mich…gefreut Lissy wieder zu sehen, obwohl es auch nicht ganz leicht war. Ich meine…die ganzen… Erinnerungen und – verstehst du, was ich dir sagen will?“ Mit hochgezogenen Brauen schaue ich ihn an und bin mir nicht ganz sicher, ob er meinem Geplapper folgen kann.
Wieder wendet er sich von der Straße ab und schaut mich an. Er lächelt – oder nein – er grinst, bevor er zu lachen beginnt. „Ja, ich denke, ich kann dir folgen“
Ich merke wie ich erröte und sinke beschämt tiefer in den Ledersitz. „Ich habe Lissy versprochen, sie wieder zu besuchen“ Ich beginne an meinen Nägeln zu kauen; eine sehr unschöne Macke, die ich mir angewöhnt hatte, als ich kaum mehr etwas gegessen hatte.
Luca und ich schweigen die ganze weitere Fahrt. Auch, wenn ich ihm so viel erzählen könnte, so ist diese Stille im Moment angenehmer, als jegliche sinnlos daher geredeten Wörter. Und ich fühle mich wohl – bei ihm.
„Wo kommst du her?“ Meine Mutter schaut mich streng an und steht schon im Flur, bevor ich überhaupt die Haustür aufschließen konnte. „Weißt du wie spät es ist?! Es ist bereits nach sechs!“
„Was? Ich – ähm, ich komme aus der Schule“ Ich drängle mich an ihr vorbei und ziehe meine Schuhe aus.
„Lüg’ mich nicht an!“ Die Stimme meiner Mutter wird streng und Alina kommt aus ihrem Zimmer mit einem traurigem Blick: „Die aus der Schule haben angerufen“ sagt sie leise.
Geschockt reiße ich die Augen auf: „Aber ich habe doch nur zwei Stunden geschwänzt – und zwar Sport“
„Aha, mein Fräulein. Schwänzen wir jetzt also wieder die Schule“ redet meine Mutter weiter und verschränkt die Arme vor der Brust. „Ich bin es leid, Lydia! Das wiederholt sich doch alles! Vielleicht solltest du wieder zurück in die Klinik, viell…“ Sie kann nicht weiterreden, denn Alina unterbricht sie: „Mama! Was redest du denn da?!“
Meine Mutter reißt die Augen auf und erst jetzt scheint ihr bewusst zu werden, was sie das gesagt hat. „Oh… Lydia, tut mir Leid, was ich da gesagt hab. Nimm’ das nicht ernst. Ich will…“
Ich schüttele nur mit dem Kopf: „Vielleicht hast du ja Recht. Aber ich habe nicht die Schule geschwänzt, um… um… das zu machen, was ich früher gemacht habe“ Geraucht. Getrunken. Drogen genommen. „Ich war in der Klinik“
„In Königsfeld?“ Alina zieht die Brauen nach oben. „Wie bist du denn da hingekommen?“
Ich habe keine Zeit zu antworten, denn meine Mutter stellt gleich eine andere Frage: „Was wolltest du in der Klinik?!“
Ich schaue von meiner Mutter zu Alina. Dann wieder zu meiner Mutter: „Ich habe Lissy besucht“
„Lissy?“ Meine Mutter zieht fragend die Brauen nach oben.
„Meine ehemalige Zimmernachbarin. Sie hat Bulimie“
„Ach ja, stimmt. Lissy“ Meine Mutter nickt und ihr Blick wird besorgt: „Aber… warum besuchst du sie? Ich meine, die Klinik…“ Sie redet nicht weiter. Doch ich weiß auch so, was sie meint. Ich zucke mit den Schultern: „Lissy ist eine Freundin. Ich… ich wollte sie einfach sehen“
„Aber Königsfeld ist doch drei Stunden entfernt. Wie bist denn da hingekommen?!“
„Damit wären wir bei meiner Frage“ mischt sich Alina wieder mit ein.
Ich zögere eine Weile, dann seufze ich schließe und antworte: „Luca hat mich hingefahren. Es war sogar seine Idee“
„Ahhh“ sagt Alina wissend, während meine Mutter fragend die Brauen nach oben zieht und gleichzeitig fragt: „Wer ist Luca?“
Wieder zögere ich. Wer ist Luca? Ein Junge aus meiner Schule. Doch ich glaube, die Frage meiner Mutter bezieht sich eher auf: Wer ist Luca für mich? Ein Freund? Der Freund? Ich habe keine Ahnung. Ich bin total verwirrt.
Ich zucke mit den Schultern. „Ich…ähm – ich weiß nicht“
„Du steigst zu einem Fremden ins Auto und fährst nach Königsfeld?!“ Jetzt ist Mama kurz vor’m durchdrehen.
Ich bin unfähig etwas zu sagen. Alina springt für mich ein: „Nein, Mama. Er ist kein Fremder! Er ist ihr Freund“
Ist er das? Irgendwie schon.
Meiner Mutter klappt der Unterkiefer runter. Kurz stammelt sie irgendetwas, was keiner versteht, dann fragt sie schrill: „Du hast einen Freund?!“
„Ja… Nein… ach, keine Ahnung!“ rufe ich und mache hilflose Gestiken mit den Händen.
Meine Mutter schweigt eine Weile, dann zieht sie die Brauen zusammen: „Was ist das für ein Junge? So einer mit diesen schrecklichen schwarzen Haare und diesen dunklen Klamotten? Wie nennt ihr das? – Emo?“ Während sie das Wort „Emo“ ausspricht, macht sie ein Gesicht, als würde sie eine Made sehen.
Ich zögere eine Weile, dann schüttele ich mit dem Kopf: „Nein, du würdest ihn mögen“ Sie schaut mich skeptisch an, und in meiner Hilflosigkeit füge ich noch hinzu: „Er ist Schülersprecher!“
Der Blick meiner Mutter ist etwas entspannter. Alina legt mir einen Arm um die Schulter und drückt mich an sich, dann schaut sie mit schelmischen Blick zu Mama: „Aber schwarze Haare hat er schon!“ Sie zwinkert, und meine Mutter blinzelt: „Bitte?“
„Vergiss’ es“ sage ich gereizter, als ich eigentlich wollte. Bei Alina machen sie doch auch nie so ein Theater. Von Simon wissen sie immerhin auch, und ich kann mich nicht erinnern, dass meine Mutter Alina jemals so ins Verhör genommen hat.
„Nein, mein Fräulein. Ich würde den Jungen gerne kennen lernen“ erwidert meine Mutter streng und ich reiße die Augen auf und schaue sie geschockt an. Alina reagiert ähnlich wie ich.
Ich schweige eine ganze Weile, dann seufze ich und sage ruhig: „Lasst mich ihn doch erst mal selber richtig kennen lernen. Ich mach’ schon keine Dummheiten mehr, Mama“ Ich befreie mich aus Alinas Griff und verschwinde schnell in mein Zimmer, bevor meine Mutter irgendetwas erwidern kann.
Ich denke für’s Erste ist diese Diskussion abgeschlossen… Für’s Erste.
„Was für ein schrecklicher Film“ Ich schüttele mit dem Kopf und bei den Gedanken an den Horrorfilm, den ich gerade mehr oder weniger freiwillig im Kino gesehen habe, bekomme ich erneut eine Gänsehaut. „Ich meine, wer sich diese ganzen schwachsinnigen Saw Teile überhaupt ausgedacht hat, ist doch schon krank im Kopf, doch das ganze dann noch in 3D rauszubringen ist ja noch gestörter!“ rege ich mich weiter auf und werfe meine 3D-Brille in den Mülleimer.
Freiwillig wäre ich niemals in diesen Film gegangen, doch das ist eben der Nachteil einer Sneak Preview. Als ich einmal mit Hanna in der Sneak war, kam „Mit dir an meiner Seite“. Da hatten wir echt Glück gehabt. Seitdem war ich nicht noch einmal im Kino – bis heute.
„Ich hab dir gesagt, dass wir eher gehen können“ wiederholt Luca und ich schaue empört zu ihm hoch: „Was?! Ich habe Geld für die Karte gezahlt, da geh’ ich doch nicht eher“ Die automatischen Schiebetüren gehen auf und uns kommt ein milder Lufthauch entgegen. Die Sonne ist schon untergegangen und man kann vereinzelt Sterne am Himmel erkennen.
„Ich“ meint Luca.
„Was?“
„Ich habe Geld für die Karten gezahlt“ Er zwinkert mir zu und ich merke wie ich rot im Gesicht werde. Wie peinlich. Ich zögere eine Weile, dann bleibe ich stehen, lege meine Arme um seinen Hals und zieh’ ihn zu mir herunter und küsse ihn. „Tut mir Leid. Danke“
Er grinst süffisant: „Entschuldigung angenommen“
Ich trete ein Schritt zurück und wir gehen weiter. Schweigend. Noch nie gab es einen Menschen in meinen Leben, mit dem Schweigen so angenehm sein konnte.
Dennoch durchbreche ich die Stille: „Wann hast du eigentlich Prüfungen?“
Luca seufzt und fährt sich mit einer Hand durch die schwarzen Haare: „Bald… Leider“
Ich nehme seine Hand und wie von selbst verschränken sich unsere Finger: „So schlimm?“
Er schüttelt mit dem Kopf und lacht leise: „Unsinn, ich komm klar. Nur die Prüfungen überschneiden sich etwas mit dem Termin einen wichtigen Boxwettkampfes“
„Oh“ sage ich nur, weil mir nicht einfällt, was ich sagen soll.
„Ich muss mich jetzt auf eines dieser Dinge konzentrieren. Ich weiß nur noch nicht auf was“
„Auf das, das dir wichtiger ist“
„Das wäre das Boxen“
Ich riss die Augen auf: „Echt?“ In diesem Fall hatte ich ihn falsch eingeschätzt.
„Na ja, versteh’ mich nicht falsch, Lydia. Aber in der Schule musste ich mich nie anstrengen. Ich musste nie um gute Noten kämpfen, so wie du beispielsweise in Mathe. Beim Boxen ist das etwas anderes. Das ist bei jedem Training ein Kampf“
Ich nicke verständnisvoll und sage dann: „Ich möchte mal bei einem Wettkampf von dir dabei sein“
Verwundert und auch ein bisschen überrascht schaut er mich an: „Ernsthaft?“
Ich nicke bestätigend: „Sonst hätte ich es nicht gesagt“
Er lächelt mich an: „Freut mich. Ich schau’ mal, wann ich’s einrichten kann“ Dann wechselt er das Thema: „Wie geht’s eigentlich Lissy?“
Ein „Oh“ entweicht mir und schweige erstmal eine Weile, dann antworte ich ehrlich: „Ich glaube nicht so gut. Irgendwie schafft sie es nicht. Doch sonst geht es ihr gut. Ich habe erst gestern mit ihr telefoniert“
Er nimmt es nur nickend zur Kenntnis und schweigt. Auch ich weiß nicht, was ich sagen soll.
„Es ist bestimmt auch nicht ganz leicht“ meint er schließlich und ich weiß, dass er es aus reiner Höflichkeit sagt. Denn auch, wenn er sehr verständnisvoll ist, so hat er keine Ahnung, von der Qual, die man mit sich herumschleppt, wenn man Essgestört ist. Doch ich nehme es ihm nicht übel – dafür ist er viel zu lieb.
Wir biegen in die Straße ein, in der ich wohne und vor der Haustür bleiben wir stehen. Er sieht mich mit einer gewissen Erwartung an und ich hätte liebend gern gesagt: „Komm doch mit rein“, doch das kann ich nicht. Ich weiß, dass meine Eltern da sind, und vor allem meine Mutter würde ihn schon einen Kopf kürzer machen, bevor er überhaupt Hallo sagen konnte. Außerdem war ich irgendwie zu ängstlich dafür – keine Ahnung warum.
Ich zögere eine Weile, und antworte dann auf seine Frage, die er noch nicht einmal stellen musste: „Hör mal, Luca. Ich würde gerne, aber ich kann nicht. Meine Eltern, und Alina und…“ Ich schaue an ihm vorbei und wage es nicht ihn anzuschauen. Er unterbricht mich, indem er mein Gesicht in seine Hände nimmt: „Ist okay. Das macht mir nichts“
„Wann anders. Versprochen“ sage ich leise, bevor er mich küsst.
„Ich lass’ dir Zeit“ meint er und ich weiß, dass das bei ihm nicht nur so dämlich dahergequatscht ist, wie bei allen anderen, die ich bisher kennen gelernt habe.
„Danke“ flüsterte ich noch, bevor ich ihn sanft von mir schiebe und mich umdrehe und die Treppen zu Haustür hoch renne Bevor ich die Tür hinter schließe, drehe ich mich noch mal kurz um und sehe nur noch, wie er schon über die Straße geht.
Ich gehe in die Küche in der Erwartung Alina und meine Eltern vorzufinden. Umso erschreckter bin ich, als ich Simon mit am Küchentisch sitzen sehe. Wie angewurzelt bleibe ich in der Tür stehen und hebe die Hand zum Gruß: „Hi“
Sofort springt Alina auf: „Endlich! Da bist du ja“ Sie greift nach meinem Arm und zieht mich auf den Stuhl neben sich. „Lydia, du kennst Simon ja schon“
Ich nicke und lächle Simon an: „Schön, dich wiederzusehen“ Lüge! Aber in angebrachten Situationen kann man auch mal lügen.
„Er studiert Medizin!“ wispert mir meine Mutter von der anderen Seite zu und ich befürchte, dass sie wahrscheinlich schon das Aufgebot bestellen wird. Arme Alina.
„Ja, im vierten Semester“ ergänzt Simon und ich bin mir sicher, dass er das nicht zum ersten Mal erwähnt.
Mein Vater lächelt ihn nur höflich an und schaut dann zu mir: „Wo warst du?“
„Ich war im Kino…“ sage ich und einigem Zögern füge ich hinzu: „… mit Luca“
„Uhhh“ macht Alina gleich. „Welcher Film?“
Ich verdrehe die Augen: „Das willst du gar nicht wissen“ Doch Alinas Blick sagt, dass sie das ganz genau wissen will. Also lenke ich schnell von mir ab: „Und du studierst also Medizin? Auf was willst du dich später mal spezialisieren?“ Ich selber wollte – oder will – auch mal Medizin studieren, wenn mein Abi-Durchschnitt das denn zulässt und ich habe schon eine ganz genaue Vorstellung davon, auf was ich mich als Oberärztin mal spezialisieren möchte.
Simon fällt kurz die Kinnlade herunter und er druckst eine Weile herum, und die Fassade des perfekten Schwiegersohns – wie ihn meine Mutter sieht – fängt noch mehr an zu bröckeln, als sie es seit dem Abend nach dem Deep sowieso schon tut.
„Ach, das muss er ja auch nicht wissen!“ erwidert Alina schnell und auch meine Mutter schnalzt mit der Zunge: „Was Lydia wieder alles fragt“ Sie lacht und ich zucke nur mit den Schultern. Nur meinem Vater ist keine Reaktion zu entlocken. So war das schon immer gewesen.
Ich greife über den Tisch und nehme mir die letzte Bretzel aus dem Brotkorb und stehe auf. „Ich geh’ in mein Zimmer… Wir sehen uns sicher noch mal, Simon“ Wieder zwinge ich mich zu einem höflichen Lächeln.
„Mit der Bretzel?“ Meine Mutter zieht skeptisch die Brauen nach oben.
„Ja, genau. Mit der Bretzel gehe ich in mein Zimmer und dann gehe ich schlafen – mit der Bretzel im Magen“ Impulsiv beuge ich mich zu meiner Mutter vor und küsse sie auf die Wange.
„Aber, Lydia“ höre ich sie noch empört rufen, doch ich schließe schon die Tür zu meinem Zimmer. Ich weiß, dass das unhöflich ist, aber ich mag Simon einfach nicht und bleibe besser nicht allzu lange mit ihm in einem Raum, bevor ich irgendetwas richtig Unhöfliches sage.
Ich nehme mein Handy aus meiner Handtasche und schaue auf das Display: Eine neue Nachricht; von Sophia.
„Lydia Ich lege mich auf den Bauch auf mein Bett und antworte Sophia sofort. Vielleicht wird sie wirklich eine gute Freundin von mir werden… Vielleicht.
„Ich verstehe nicht, warum du ihn nicht magst“ Irgendwie aufgebracht läuft Alina in meinem Zimmer auf und ab, wie ein Tiger im Käfig. „Ich meine, er ist höflich, gebildet, gutaussehend… warum magst du ihn nicht? Sogar Mama mag ihn!“
Ich seufze und bewerfe meine Schwester mit meinem Kissen: „Bleib doch mal stehen. Das macht mich total kirre“
Trotzig bleibt sie stehen, stemmt die Hände in die Hüften und lässt sich auf meinem Teppich in Schneidersitz nieder.
„Ich muss ihn doch gar nicht mögen. Das ist doch total… irrelevant!“
Alina seufzt und zögert eine Weile, dann sagt sie: „Ja, du hast Recht. Aber ich will es wissen, denn ich fände es angenehmer, wenn meine Lieblingsschwester meine Freund auch mögen würde“
Ich seufze erneut und lasse mir mit meiner Antwort Zeit. Dann richte ich mich auf: „Okay, gut. Ich sag’s dir. Ich finde, dass er falsch wirkt. Zu unecht, zu glatt gebügelt, uninteressant, langweilig…“
Alina lacht und unterbricht mich: „Schon gut, ich hab’s ja verstanden!“ Sie steht auf, setzt sich neben mich und wuschelt mir durch die Haare. „Wann willst du Lissy eigentlich mal wieder besuchen?“
„Keine Ahnung. Aber ich dachte eigentlich bald“
„Gut, dann fahr’ ich dich diesmal hin“
Ich reiße die Augen auf: „Wirklich?“
„Ja, dann muss dein werter Freund nicht wieder fahren – außerdem will ich das nicht. Ich bin noch nicht von seinen ehrlichen Absichten überzeugt“
„Das sagst du nur, weil du beleidigt wegen Simon bist!“ Ich grinse spöttisch.
„Stimmt gar nicht. Ich habe nur Angst um dich. Vor ein paar Wochen, als du aus der Klinik kamst, durfte ich dich erst zusammenflicken. Ich habe keine Lust das wieder zu tun“ verteidigt Alina sich und lacht dabei. Und ich lache mit ihr mit.
„Wie sieht’s aus? Fahren wir nächste Woche Sonntag mit Königsfeld?“ frage ich schließlich. Und Alina nickt und steht auf: „Wenn ich hinfinde“
„Schon mal was von Navi gehört?“
„Schon mal was von Führerschein gehört?“ Sie wirft mein Kissen zurück zu mir und ziehe eine Grimasse: „Gut gekontert“
Schaut mal! Findet ihr, das steht mir?!“ Anna dreht sich einmal im Kreis in ihrem wunderschönen, roten Abendkleid. Sie und John würden in einen Monat zusammen auf den Abiball gehen; natürlich ist da die Aufregung groß.
Ich seufze und lasse mich tiefer in die Polster des schwarzen Sofas, das vor den Umkleidekabinen steht, sinken. Shoppen gehen konnte man natürlich auch nicht in Heidelberg; nein wir mussten nach Mannheim fahren. Meiner Meinung nach völlig unnötig. Aber wenn ich Anna damit eine Freude machen kann.
„Warum grinst du so, Lydia?!“ fragt sie mich und ihre Miene wird vorwurfsvoll.
Schnell schaue ich sie direkt an und schüttele mit dem Kopf: „’tschuldigung, ich war gerade mit den Gedanken woanders“ sage ich hastig. „Du siehst umwerfend aus“
„Total!“ stimmt Sophia mir zu.
„Kann eine von euch ein Foto von mir machen, dann kann ich es schnell Maleen schicken!“ plappert Anna total schnell weiter und ich muss lachen. Manchmal ist sie ein richtig hektisches Huhn. Seufzend stehe ich auf: „Na los, gib’ mir dein Handy“
Während sie in der Handtasche nach ihrem Handy kramt, fragt sie mich: „Willst du nicht auch nach einem Kleid schauen?“
Sofort zucke ich zusammen. Nein, will ich nicht. Ich bleibe sowieso nicht so dünn – das hoffe ich zumindest. Es wäre sinnlos jetzt ein Kleid zu kaufen, das in einem Jahr sowieso nicht mehr passt. „Nein, ich glaube nicht“
„Gehst du nicht auch zum Abi Ball?“ Sophias Miene ist überrascht und langsam werde ich unsicher.
„Nein, wieso?“
„Na ja, ich dachte du gehst mit Luca hin“ druckst Sophia herum und ich sehe, dass ihr aus irgendeinem Grund die Situation peinlich ist.
Ich beginne zu kichern, weil ich immer kichere, wenn ich nicht weiß, wie ich sonst reagieren soll: „Bis jetzt haben wir darüber noch nicht geredet“
„Ihr habt so über gar vieles noch nicht geredet, kann das sein?“ bemerkt Anna, während sie mir ihr Handy reicht und sich in Pose wirft.
Ich kneife misstrauisch die Brauen zusammen, schieße das Foto und hake dann nach: „Wie meinst du das?“
„Ihr seid jetzt wie lange zusammen?“ Und bei dem Wort Zusammen, benutzt sie die Geste der Anführungszeichen.
„Vielleicht einen Monat“
„Seid ihr richtig zusammen?“ stichelt Anna weiter und wechselt die Pose.
Langsam fühle ich mich in die Ecke gedrängt. Ich weiß nicht mehr, was ich antworten soll und schweige. Hilfesuchend drehe ich mich zu Sophia um, doch sie weiß anscheinend auch nicht, was sie sagen soll.
Anna kommt lächelnd auf mich zu, nimmt mir das Handy aus der Hand und tätschelt mir liebevoll die knochige Schulter: „Ich würde mit ihm darüber reden. Luca ist nicht ganz ohne; der hat Vergangenheit, wenn du verstehst, was ich meine“ Sie zwinkert mir kokett zu. Dann wird ihre Mimik ernst: „Du solltest wirklich ein paar Kilo zunehmen“
Ich befreie mich aus ihrem Griff und antworte schnippischer, als ich eigentlich wollte: „Ich arbeite dran!“
Anna macht schon den Mund auf, um wieder irgendetwas zu sagen, als Sophia dazwischenfunkt: „Vielleicht solltest du noch mal das blaue Kleid mit der silbernen Brosche anprobieren“
Anna klappt den Mund zu und zieht eine Braue nach oben: „Meinst du?“
„Ja, mein’ ich!“ beharrt Sophia und drückt Anna das andere Kleid in die Hand und schiebt sie zurück in die Umkleide.
Ich lasse mich mit einem Seufzen wieder auf das Sofa sinken und greife nach dem Peek&Cloppenburg Katalog, der auf dem Tisch daneben liegt. Sophia setzt sich lautlos neben mich und sagt dann leise: „Du solltest wirklich mit ihm reden – Wann siehst du Luca wieder?“
Ich lasse mir ein wenig Zeit mit meiner Antwort, dann sage ich: „Heute Abend irgendwann; grillen mit ein paar von… seinen Freunden“
„Dann rede mit ihm!“
Auf ihre Bemerkung gehe ich gar nicht ein. Stattdessen frage ich: „Was meinte Anna damit: „Luca ist nicht ganz ohne“?“
Sophia zögert eine Weile, dann schüttelt sie mit dem Kopf: „Tut mir Leid. Aber ich halte mich da raus. Rede doch einfach mal mit ihm über eure Beziehung“
Ich nicke nur und sage leise: „Ja“ Aber ich weiß, dass ich erst mit Alina reden werden, bevor ich mich traue Luca darauf anzusprechen, wovor ich mit am meisten Angst habe.
Als ich um halb neun nach Hause komme, sind meine Eltern nicht da. Ich weiß nicht, wann sie das letzte Mal abends aus waren. Es muss schon eine ganze Weile her sein. Ich sehe es, als eine Art Fortschritt, dass sie sich trauen mich abends allein zu lassen; eine Art Fortschritt für uns alle.
Ich ziehe mein Chucks aus und schäle mich aus meiner Lederjacke, während ich laut „Alina!“ rufe.
Zuerst bekomme ich keine Antwort, dann höre ich, wie ihre Tür geöffnet wird. In Jogginghose und ausgewaschenen Sweatshirt steht sie im Flur. Die blonden Haare sind zu einem unordentlichen Pferdeschwanz gebunden und ihre Augen sind verquollen und rot.
Sofort lasse ich meine Tasche zu Boden fallen und eile auf sie zu: „Was ist passiert?“
Schluchzend stürzt sie mir in die Arme. Der Stoff meines Pullovers wird ganz feucht von ihren Tränen und in meiner Hilflosigkeit drücke ich sie einfach nur fester an mich und streiche ihr über die Haare. Ich frage nicht nach. Ich lasse sie weinen; aus eigener Erfahrung weiß ich, dass es manchmal besser ist, sich einfach auszuheulen, anstatt jedem sein Leid zu klagen.
Ich weiß nicht, wie lange wir so dastehen. Es ist mir auch egal. Ich würde mir alle Zeit der Welt für Alina nehmen.
Schließlich schiebt sie mich von sich und schaut mich an. Ihre Wimperntusche ist verlaufen und auf ihren Wangen haben die Tränen das Make-up verschmiert. „Simon, er…“ Sie kann nicht weiterreden, sie fängt wieder an zu schluchzen. Doch mehr muss sie auch gar nicht sagen. Der Name Simon reicht mir. Ich nehme ihre Hand, ziehe sie in die Küche und platziere sie auf einen Stuhl. „Weißt du, was wir jetzt brauchen?“
Sie schaut mich fragend an.
„Heißen Kakao!“
Und obwohl ich sie eigentlich gar nicht bewusst aufheitern wollte, fängt sie an zu lachen. Und weil ihr lachen so ansteckend ist, lache ich mit ihr.
Früher, als mir immer öfters schlecht ging, hat mir Alina auch heißen Kakao gemacht. Und jetzt geht es ihr schlecht, und ich bin es ihr schuldig, genauso für sie da zu sein, wie sie für mich immer da war – und es auch noch ist.
Während ich Milch in die Tassen gieße und Kakaopulver dazutue, frage ich Alina: „Was ist passiert?“
„Das willst du gar nicht wissen“
„Doch, will ich“
Sie geht gar nicht auf meine Bemerkung ein, sondern meint nur leise: „Und auf einmal wirkst du so stark“
Ich verharre in der Bewegung. Hat sie das eben wirklich gesagt? Hat sie wirklich gesagt, ich – ihre kleine, dürre Schwester – wirkt stark?! Ich lache nervös auf. Ich fühle mich alles andere als stark. Ich fühle mich klein und hilflos. Ich weiß ja noch nicht einmal, ob ich mit dem Jungen, in den ich verliebt bin, eine richtige Beziehung führe. Und das soll eine starke Persönlichkeit sein?!
„Alina, du täuschst dich“ antworte ich leise und stelle die Kakaotassen in die Mikrowelle, um die Milch zu erhitzen.
„Lydia…“
Doch ich unterbreche sie. „Es geht hier nicht um mich! Was ist zwischen dir und Simon vorgefallen?“
„Du weißt doch, dass wir zusammen waren – oder zumindest habe ich das geglaubt“ fängt sie an mit zitternder Stimme zu erzählen. „Und heute muss ich erfahren, dass das alles nur eine große Lüge ist! In seinen Augen haben wir nie eine Beziehung geführt und… er…er hat mich betrogen!“ Wieder beginnt sie hemmungslos zu weinen.
„Oh, Alina“ Ich setzte mich zu ihr und lege meine Arme um sie. „Er ist ein Arsch, wenn er dich verarscht!“
„Ich weiß“ Sie lacht unter Tränen. „Nur ich war auch so dumm!“
„Du warst verliebt“
„Ich bin verliebt!“
„Ich mag Simon sowieso nicht“
„Du magst so gar viele nicht!“ Sie stupst mich spielerisch an. Ich verziehe daraufhin nur das Gesicht und stehe auf, um die Kakaotassen aus der Mikrowelle zu holen. „Wo sind Mama und Papa?“
„Auf irgendeinem Konzert von einer steinalten Band“
Sie würden also noch eine Weile weg sein; ich kann Alina nicht alleine lassen.
Als hätte sie meine Gedanken gelesen, fragt sie: „Willst du heute noch irgendwo hin?“
Ich stelle ihr ihre Tasse vor die Nase und schüttele mit dem Kopf. „Nein“ lüge ich.
Alina zieht skeptisch die Brauen in die Höhe: „Du bist eine miserable Lügnerin. Und das weißt du auch“
„Ach, quatsch“ winke ich ihren Kommentar ab und verlasse die Küche. „Ich muss schnell telefonieren“
„Hör’ mal…“ setze ich an, doch Luca lässt mich nicht ausreden.
„Lydia, warte mal!“ Ich verstehe ihn kaum; im Hintergrund ist laute Musik und ein wildes Durcheinander von verschiedenen Stimmen zu hören. Eine Weile schweigt Luca. Die Geräusche im Hintergrund werden gedämpfter und Luca redet wieder mit mir: „Wo bist du? Du bist spät“
„Ich weiß, ich weiß. Ich kann auch nicht kommen können“ Ich werfe einen Blick in die Küche zu Alina.
„Ist alles okay bei dir?“ fragt er sichtlich besorgt.
„Ja… nein… ach, es geht um Alina. Ihr geht es nicht gut. Ich kann sie nicht allein lassen“
Kurz schweigt er und ich ahne schon, dass ihm die Situation nicht gefällt. Der auch noch verständnisvollste Mensch verliert irgendwann mal die Geduld.
„Luca, ich… es tut mir…“ Erneut lässt er mich nicht ausreden.
„Es muss dir nicht Leid tun. Ist schon okay. Ich komme später noch mal bei dir vorbei, okay?“ fragt er und ich kann mir sein Gesicht förmlich vorstellen.
„Danke“ flüstere ich.
„Bis nachher“ Mit diesen Worten legt er auf und ich gehe zurück in die Küche. Das war’s dann wohl mit Grillen im Garten. Aber Alina ist es mir wert.
„Hast du deinem Freund gerade wirklich wegen mir abgesagt?!“ fragt sie tadelnd, als ich noch nicht einmal richtig die Küche betreten habe.
„Hast du gerade wirklich gelauscht?“ Ist meine Gegenfrage.
Sie schweigt nur und schiebt sich eine Pizza in den Ofen. „Ich hasse Simon. Wegen ihm mache ich Frustessen – willst du auch ’ne Pizza?“
Ich zögere einen Moment, dann schüttele ich mit dem Kopf: „Nein… ich kann nicht. Keine Pizza“
„Im Kühlschrank ist auch noch Fertigsalat“
„Hm… danke“
„Du hättest Luca nicht absagen sollen“
„Das geht schon in Ordnung. Er kommt nachher noch mal vorbei“
„Ich glaube, er ist ganz nett – dein Freund“ bemerkt sie und trinkt ihren Kakao leer. „Besser als mein Simon es war“
„Rede nicht mehr über diesen Mistkerl! Er ist nicht wert!“ schimpfe ich und muss gleichzeitig lachen. Und Alina lacht mit mir.
Nachdem sie sich ein weiteres Mal die Augen aus dem Kopf geheult hat, liegt Alina nun friedlich in ihrem Bett. Und wenn sie so regungslos daliegt, sieht sie beinahe aus wie ein Engel. Ich betrachte sie kurz lächelnd und decke sie zu.
Mama und Papa sind immer noch nicht zurück und eigentlich bin ich froh darüber. Ich könnte ihre Fragerei um Essen, um die Schule und um Alina und Simon nicht ertragen. Das wäre im Moment zuviel.
Ich schließe Alinas Zimmertür hinter mir und werfe einen Blick auf die Küchenuhr; 0:43 Uhr. Ich seufze und fahre mir erschöpft durch die Haare. Ich kann nicht nachvollziehen wie es Alina gerade geht, doch ich kann mir gut denken, dass sie gerade die Hölle durchmacht.
Ich gehe zurück in mein Zimmer und ziehe mir irgendeine blaue Jogginghose an, die bestimmt mal Alina gehört hat; dazu das erstbeste T-Shirt, das ich finde. Die Farbe ist scheußlich. Im Licht meines Zimmer sieht es irgendwie kotzgrün aus. Doch das ist mir egal. Ich will mir nur noch schnell was zu essen machen, dann würde ich schlafen gehen.
Ich nehme mir gerade den Salat aus dem Kühlschrank, als es an der Tür klingelt. Luca! schießt es mir sofort durch den Kopf. Die Gabel schon im Salat steckend öffne ich die Tür. Bevor er mich begrüßt, sagt er: „Oh, du isst was. Gut“ Sanft schiebt er mich beiseite und tritt ein. „Ich hab auch was mitgebracht“ In seiner Hand hält er eine Tüte vom Chinesen bei uns um die Ecke.
„Ich glaub das ist besser“ meine ich lächelnd, stelle mich auf die Zehenspitzen und küsse ihn. Er riecht ein bisschen nach Rauch. „Wie geht’s dir?“
„Ganz gut“ antwortet er, während er sich Jacke und Schuhe auszieht. „Was ist mit deiner Schwester“
Ich stöhne genervt auf: „Simon!“
Er zieht fragend die Brauen zusammen.
„Ihr Freund – oder eher Ex-Freund. Er hat sie betrogen“ erkläre ich, während ich in die Küche gehe und meinen Salat auf die Arbeitsplatte stelle. „Wie war’s Grillen?“ Ich drehe mich über die Schulter zu ihm um und schaue ihn fragend an.
Er zuckt mit den Schultern und fährt sich mit der Hand durch die dunklen Haare: „Langweilig? Normal? Wie immer? Nein, es war ganz nett“
„Tut mir Leid, dass ich nicht kommen konnte, aber ich wollte Alina nicht allein lassen“
„Das versteh’ ich“
Ich nicke daraufhin nur und nehme ihm die Tüte mit dem chinesischen Essen aus der Hand. Das erste, was ich heraushole sind die Essstäbchen. Ich muss lachen: „Du glaubst nicht ernsthaft, dass ich mit solchen Dinger essen kann“
Er grinst: „Kannst du’s nicht?“
Ich schüttele mit dem Kopf: „Nein, nicht mal im Traum! Und nach zahlreichen, erfolglosen Versuchen hab ich’s aufgeben!“ Ich greife zu der Gabel, die in meinem Salat steckt. „Ich esse lieber mit dem europäischen Besteck“
„Gut, ich kann’s nämlich auch nicht“ Er lacht leise und wirft die Essstäbchen in den Mülleimer. „Wie war eigentlich Shoppen gehen mit Anna? Sie hat beim Grillen nur irgendetwas von einem roten Kleid geschwafelt“
Ich verharre kurz in der Bewegung, doch dann packe ich seelenruhig weiter das Essen aus und stelle es auf den Tisch. Als Antwort zucke ich mit den Schultern: „Na ja… war ganz okay. Anna hat ein schönes Kleid für den Ball gefunden und das war’s auch schon“
„Du klingst ja nicht gerade begeistert“ bemerkt er trocken.
„Ach was!“ streite ich seine Bemerkung ab. „Es war schön. Und das Kleid erst…“ Und das ist noch nicht einmal gelogen. Das Kleid war wunderschön.
Ich stelle die Esspackungen auf den Tisch und setzte mich auf den Stuhl auf dem vor ein paar Stunden noch Alina gesessen hatte. In meiner Tasse ist immer noch der heiße Kakao – na ja, heiß ist wohl der falsche Ausdruck; mittlerweile müsste er Zimmertemperatur haben. Ich ziehe die Tasse zu mir heran und schaue auf die hellbraune Brühe. Dann schaue ich auf. Luca steht immer noch am Küchentresen und betrachtet mich.
Ich nehme alle meinen Mut zusammen und fange an zu reden: „Hör mal…“
Doch er schüttelt nur mit dem Kopf, kommt auf mich und beugt sich zu mir herunter und küsst mich sanft. „Du bist süß“ sagt er leise und setzt sich dann auf den Stuhl neben mich. „Wo sind eigentlich deine Eltern?“
„Auf irgendeinem Konzert von einer Band, die keiner mehr kennt“ antworte ich ihm mit vollem Mund.
Meine Mutphase ist vorbei. Ich würde mich sicher heute nicht noch einmal trauen, ihn auf unsere Beziehung anzusprechen. Sophias Rat wurde in den Wind geschlagen.
Wir waren kaum mit Essen fertig, als meine Eltern wieder nach Hause kamen. Meine Mutter kommt als Erste in die Küche. Ihre Miene ist vorwurfsvoll, während sie fragt: „Lydia, ich wusste nicht, dass du Besuch hast!“
„Ähm ja… war ganz spontan“ Ich schaue unsicher von meiner Mutter zu Luca, welcher sich jetzt erhebt, auf meine Mutter zugeht und ihr höflich die Hand reicht; völlig gelassen, völlig ruhig. Na ja, bis jetzt weiß er ja auch noch nicht, was meine Mutter für ein Drachen sein kann.
„Ich bin Luca“
„Luca?“ meine Mutter zieht fragend die Brauen nach oben, dann wird ihre Miene wissender: „Ahh – ich bin Charlotte“ stellt sich meine Mutter vor.
„Oh, du hast noch Besuch, Lydia“ Mein Vater bringt dieselbe Reaktion wie meine Mutter und nicht zum ersten Mal, kann ich mir vorstellen zu wissen, warum die beiden sich ineinander verliebt haben.
„Das ist Luca“ meint meine Mutter und mir ist die ganze Sache so peinlich, dass am liebsten sofort verschwinden würde. Doch der Erdboden macht sich nicht einfach auf und lässt mich verschwinden.
„Ah, schön dich mal kennen zu lernen“ erwidert mein Vater höflich und ich stehe auf und stelle mich unsicher zu Luca.
„Wo ist Alina?“ fragt meine Mutter, nachdem sie sieht, wie Luca mir den Arm um die Schulter legt.
„Ihr geht es nicht gut“ antworte ich wahrheitsgemäß.
Die Meine meiner Mutter wird ausdruckslos: „Was soll das heißen: Ihr geht es nicht gut? Was ist passiert“
Ich seufze und sage nur: „Simon“
„Simon?“ sie zieht fragend die Brauen in die Höhe. „Ist ihm etwas zugestoßen?!“
„Nein, er hat sie betrogen“ sage ich gerade heraus und ich spüre wie Luca sanft meine Schulter drückt. Fast, als würde er mir sagen wollen: Das war zu direkt!
„Um Gottes Willen“ ruft meine Mutter aus. „Ich werde diesen… Mistkerl sofort anrufen!“
„Mama…“ setzte ich entgeistert an, doch meine Mutter rauscht schon aus der Küche, ohne dass ich sie hätte aufhalten können. Dass das ganze peinlich für Alina sein könnte, scheint ihr völlig egal zu sein. Auch die Uhrzeit interessiert sie nicht.
Mein Vater seufzt genervt und meint leise: „Ich werde Charlotte von ihrer Dummheit abhalten“ Er zuckt noch mit den Schultern und geht meiner Mutter hinterher.
Sobald mein Vater verschwunden ist, drehe ich mich zu ihm um und muss lachen: „Tja, jetzt kennst du auch meine Mutter“ Ich schlinge meine Arme um seinen Nacken und schaue zu ihm hoch.
Er lacht seine und in seine Augen tritt dieses amüsierte Funkeln, das ich so liebe. „Sie ist ja ganz...“ Er zögert kurz und sagt dann aber: „…ganz nett“
Ich muss lachen: „Lieb gemeint, aber ich weiß, dass sie anstrengend ist“
Er antwortet nicht, beugt sich nur zu mir herunter und müsst mich flüchtig. Und dann frage ich etwas, was mir einfach so herausrutscht – ich denke nicht nach, sondern frage einfach: „Hattest du mal was mit Maleen?“
Er weicht ein Stückchen zurück und zieht skeptisch die Brauen zusammen. „Wie kommst du darauf?“
Sofort erröte ich und schüttele mit dem Kopf: „Dumme Frage, vergiss’ es einfach. Du solltest jetzt sowieso gehen“ Ich will mich an ihm vorbeidrängeln, doch er hielt mich am Handgelenk fest: „Renn’ nicht wieder weg!“ Seine Stimme klingt energisch; er ist lauter geworden. Ich glaube nicht, dass er schon einmal mit mir in diesem Ton geredet hat.
Ich bleibe stehen und drehe mich zu ihm um: „Es war eine dumme Frage, die mir einfach nur so herausgerutscht ist. Vergiss’ es bitte einfach!“
„Was hat dir Maleen gesagt?“ Er geht gar nicht auf mich ein, sondern stellt nur seine Gegenfrage.
Ich seufze und zucke mit den Schultern: „Direkt hat sie gar nichts gesagt; nur eine kleine Andeutung und Anna…“
Luca unterbricht und streicht mir sanft eine Haarsträhne hinters Ohr. „Okay, es stimmt. Vor ein paar Monaten lief zwischen uns mal was“ gibt er schließlich überraschend ehrlich zu.
„Für wie lange?“ frage ich neugieriger als ich eigentlich sein will.
Er seufzt, lässt mein Handgelenk los und fährt sich mit der Hand durch die Haare. „Drei Monate? Vier? Ich weiß es nicht. Es war auch nichts Ernstes“
Ich nicke nur und eine ganze Weile schweigen wir, bis ich mich schließlich durchringe zu fragen: „Und was ist das zwischen uns? Ist das auch…“ Ich zögere. „…nichts Ernstes?“ Prüfend ziehe ich die Brauen hoch und merke wie er zögert. Er zögert zu lange und eigentlich ist mir die Antwort auch schon fast klar. Er muss gar nichts mehr sagen.
„Ich verstehe“ meine ich schließlich und wiederhole: „Du solltest wirklich gehen“ Ich will aus der Küche gehen, als er mich wieder festhält. „Lydia, warte mal!“ Mit sanftem Druck dreht er mich wieder zu sich herum. Und ich wehre mich nicht. „Kannst du mir denn sagen, was das zwischen uns ist?“
Er wagt es ernsthaft den Spieß umzudrehen! „Die Frage war an dich gerichtet“ zische ich und befreie mich aus seinem Griff.
„Wenn du ehrlich bist, dann weißt du es auch nicht“
Ich schweige und schaue auf meine Schuhe; plüschige, rosa Hausschuhe, welche im Moment gar nicht zu meiner Stimmung passen.
„Wir probieren doch gerade erst, ob es passt“ setzt er nach einer Weile wieder an.
Ich seufze und schüttele mit dem Kopf: „Ja, aber ich… ich bin nun mal nicht Maleen. Entweder ganz oder gar nicht. Auf etwas – nicht so Ernstes habe ich keine Lust!“
„Du bist aber auch nicht ganz einfach“ Völlig unangebracht in diesem Moment kriegen seine Augen wieder diesen belustigten Ausdruck.
Ich will gerade etwas erwidern, als meine Mutter durch den Flur läuft und gleich anfängt zu plappern: „Da reißt dein Vater mir doch ernsthaft das Telefon aus der Hand, Lydia!“ Ich höre ihrer Stimme die Empörung an und kann mir vorstellen, wie ihr Gesicht aussieht, bevor ich es sehe.
Als sie in der Küchentür steht, fällt ihr Blick auf Luca: „Ah, du bist ja noch da“
„Nein, er will gerade gehen“
„Ich glaube, wir haben Schluss gemacht“ sage ich am nächsten Morgen leise. Alina und ich sitzen am Küchentisch und ihre Augen weiten sich und sie lässt den Löffel voll Müsli in der Luft erstarren. „Was?! Warum? War gestern der Tag der unglücklichen Pärchen?!“
„Scheint so“ sage ich leise und ringe mit mir, ob ich das Butterbrot essen kann, ohne danach kotzen zu müssen. Ich entscheide mich gegen das Kotzen und somit auch gegen das Brot.
Ich schiebe den Teller von mir und trinke einen Schluck Kaffee. „Er weiß nicht, was er will!“
„Oh je, das klingt aber gar nicht gut“
„Was würdest du tun, wenn ein Junge sich nicht sicher ist, ob ihr nun fest zusammen seid, oder nicht?“
Alina geht auf meine Frage gar nicht ein, sondern stellt eine Gegenfrage: „Habt ihr schon miteinander geschlafen?“
„Alina!“ rufe ich empört aus.
Sie zuckt nur mit den Schultern. „Ist eine ernst gemeinte Frage“
„Nein“ antworte ich wahrheitsgemäß.
„Na dann ist ja noch Spielraum da“
„Alina!“
„Nein, Lydia. Ich mein’s ernst. Ich glaube, du machst einen Fehler. Er scheint doch ganz nett zu sein und nur…“
Ich unterbreche sie: „Er will erst schauen wie’s läuft“
„Ist doch richtig“
„Ich will aber nicht sehen, wie’s läuft. Ich will nicht schauen, ob das was Ernstes werden könnte!“
„Du willst alles oder nichts?“
„Ich will nicht verletzt werden. Ich will nicht nach drei Monaten merken: Okay, mehr als Sex ist da nicht!“
„Ach, Lydi!“ Alina lacht herzlich und legt ihre Arme um mich. „Du und deine Hoffnung auf große Liebe“
Ich laufe rot an und befreie mich aus Alinas Umarmung. „Er hatte mal was mit Maleen“
„Maleen? Der Name sagt mir was“
„Blond, vollbusig, ziemlich hübsch“ versuche ich Alinas Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen. Dennoch glaube ich nicht, dass Alina Maleen kennt.
„Du hast sicher mal was von ihr erzählt. Kennen tu’ ich sie nicht“ meint Alina schließlich, zuckt mit den Schultern und löffelt ihre Müslischüssel leer. „Und was ist so schlimm daran, dass er Freundinnen vor dir hatte?“
„Eigentlich nichts… Aber ach, keine Ahnung! Es war Maleen und es war nicht Ernstes und ich – ich will einfach nicht verletzt werden! Und solange er nicht weiß, was er will…“ Ich beende den Satz nicht, doch Alina tut es für mich: „…ist Schluss?“
„Ja, ich denke schon“ Und jetzt, wenn ich es so ausspreche, tut es unbeschreiblich weh.
Am Montag ist mir unwohl, wenn ich nur daran denke, mich im selben Gebäude wie Luca aufzuhalten. Ich weiß, dass der Gedanke kindisch ist und vielleicht auch albern.
Sophia erzähle ich nichts, von dem kleinen Gespräch zwischen Luca und mir. Doch auch ohne, dass ich etwas sage, weiß Sophia, dass etwas nicht stimmt. Aber sie fragt nicht nach.
„John hat morgen seine erste Abi Prüfung!“ jammert Anna mich, Maleen und Sophia in der Kantine voll.
Luca auch, schießt es mir durch den Kopf, doch ich sage nichts, sondern schaue nur immer wieder auf die Uhr und hoffe, dass die Mittagspause bald vorbei sein wird.
Ich mag die drei wirklich, aber manchmal finde ich sie einfach nur anstrengend. Anna, weil sie ununterbrochen plappern kann. Maleen, weil sie wahnsinnig selbstverliebt ist. Und Sophia, weil man nichts vor ihr verheimlichen kann. Dieses Mädchen hat eine wahnsinnig gute Menschenkenntnis.
„In welchem Fach?“ frage ich schließlich und werfe einen Blick auf mein Handy. Gleich noch an dem Abend, an dem Luca und ich mehr oder weniger unausgesprochen Schluss gemacht hatten, schrieb ich Lissy. Erst jetzt, drei Tage später, kommt die Antwort: „Oh, nein! Wie traurig! Vielleicht war es aber die beste Entscheidung. Natürlich kannst du heute vorbeikommen. Ich freue mich. Und Tom sich sicher auch. Er war sehr beleidigt, als ich ihm erzählt habe, dass du mich, aber ihn nicht besucht hast. I love you, Lydi-Maus“
Ich muss lächeln und packe mein Handy wieder weg.
„Woher soll ich denn wissen, in welchem Fach er seine Prüfung schreibt“ fährt Anna mich an. Ich schaue auf und zucke mit den Schultern.
„Findet ihr, ich sehe in dem Top fett aus?“ fragt Maleen plötzlich dazwischen.
„Also, ich finde nicht“ meine ich und wende mich dann an Anna: „Ich dachte nur, du wüsstest es. Immerhin bist du seine Freundin“
Ihr Blick wird zuckersüß und ich weiß, dass ich meine Bemerkung jetzt teuer zu stehen bekomme: „Und? Gehst du mit Luca zum Abschlussball? Immerhin bist du seine Freundin“
Ich lache, als hätte sie einen Witz gemacht. Auf ihre Bissigkeit gehe ich gar nicht ein. Da wir auch nur oberflächlich befreundet sind, nehme ich ihr das nicht übel. „Nein, keine Lust“ antworte ich, was nur halb der Wahrheit entspricht.
Ich stehe auf und nehme mein volles Tablett vom Tisch. „Ich gehe. Ich muss zu Chemie“
Sophia erhebt sich ebenfalls: „Ich komme mit dir mit“ Zu Maleen und Anna sagt sie: „Wir sehen uns morgen“
Ich lächele auch: „Bis morgen“ Dann drehe ich mich um, stelle mein Tablett weg und verlasse die Kantine, dicht gefolgt von Sophia.
Ich bin froh, dass ich Luca nicht begegnet bin.
Mit sichtlichem Widerwillen fährt mich meine Mutter nach Königsfeld. Während der Autofahrt wirft sie mir immer mal wieder einen skeptischen Blick zu. „Ich verstehe nicht, was du da willst!“ zetert sie schnippisch. „Du warst doch lange genug dort, mein Schatz“
„Mama!“ rufe ich warnend aus. Ich habe keine Lust mir wieder dieselbe Diskussion anzuhören.
„Aber Lydia! Wer ist denn schon diese Lissy! Oder Tom? Du bist nicht mehr wie diese Leute!“
„Diese Leute sind bessere Freunde als Hanna!“
„Du hast doch ein paar nette Leute in deiner Schule kennen gelernt. Wie hießen die Mädchen? Maren? Anne und Sophie?“
„Maleen, Anna und Sophia“ verbessere ich meine Mutter.
„Wie dem auch sei! Oder Luca, dein Freund. Gab’s da nicht auch irgendeinen Tobias?“ bohrt meine Mutter weiter nach.
Ich schweige nur. Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll.
Nach einer Weile des Schweigens, redet meine Mutter weiter: „Ich will ehrlich zu dir sein, Lydia. Ich will eigentlich gar nicht, dass du da hinfährst. Königsfeld liegt der Vergangenheit an. Du gehörst da nicht mehr hin. Du hast ein neues Leben angefangen!“
„Warum fährst du mich dann hin?“ frage ich leise.
„Weil mich dein Vater und Alina dazu überredet haben. Freiwillig würde ich dich niemals in die Klinik fahren. Es war schon schlimm genug, dich hier besuchen zu müssen. Ich war froh, als wir dich endlich wieder abholen konnten“
„Du tust so, als wärst du diejenige mit der Magersucht! Als wärst du diejenige mit der Esskrankheit! Als wärst du diejenige, die immer diesen beißenden Hunger verspüren musste!“ schreie ich sie jetzt an.
„Nein, ich tue so, als wäre ich die besorgte Mutter. Und das bin ich auch!“ Auch meine Mutter erhebt die Stimme, sodass ich zusammen zucke.
„Jetzt bin ich ja wieder gesund!“
„Bist du nicht, Lydia! Bist du nicht!“ schreit meine Mutter jetzt auch.
Mit entsetztem Gesicht schaue ich sie an: „Was redest du denn da?“
„Ich sehe doch, wie wenig du isst! Und genau deswegen glaube ich, dass es eigentlich besser wäre, wenn du diese Lissy nicht wieder sehen würdest“ Genau in diesem Moment kommt die Klinik in Sicht.
Bevor das Auto vollends steht, reiße ich die Tür auf und steige aus. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, stürme ich in die Klinik.
Mir ist nach heulen zu Mute, doch ich beherrsche mich, grüße kurz Frau Odwald und gehe dann direkt in Lissys Zimmer.
Freudig springt sie vom Bett auf und umarmt mich stürmisch. „Du bist wirklich da! Du bist wirklich da!“ Sie schiebt mich von sich und küsst mich auf die Wange. „Ich freue mich ja so!“
Ich lache und nicke: „Ich freue mich auch“
„Wer hat dich hergefahren?“ fragt sie mich und springt mit bekannter Leichtigkeit auf ihr Bett. Dabei fällt mir auf, dass sie bestimmt nochmals drei oder vier Kilo abgenommen haben muss.
„Meine Mutter“ antworte ich und versuche die Gereiztheit in meiner Stimme zu verbergen. Doch ich ahne schon, dass mir das misslungen ist.
„Oh je! Der alte Drachen?“
„Hey! Sie ist immerhin meine Mutter!“ rufe ich empört aus. Auch, wenn ich Lissy insgeheim Recht geben muss, so ist dieser Drache immerhin meine Mutter.
„Ja, aber du weißt wie sie ist“ Sie nimmt sich die Tafel Schokolade vom Tisch und will sie gerade aufmachen, als sie es sich anders überlegt. „Ach, lieber nicht. Ich nehme sonst noch zu“ Sie sagt es so völlig unbeschwert und ich weiß ganz genau, dass ich früher auch so geredet habe.
„Ich glaube, ein paar Kilo mehr würden dir gut stehen“ bemerke ich leise.
„Etwa so wie dir?!“ Sie nimmt es gleich als Angriff. Wäre ich eine andere gewesen, hätte ich zurück gezickt, doch ich bin nun mal ich. Und ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn Bemerkungen zum eigenen Gewicht gemacht werden.
Ich zucke mit den Schultern und Lissy reicht mir die Tafel Schokolade. „Na, nimm! Iss’ du sie!“
Doch ich verziehe nur lächelnd das Gesicht: „Das ist keine Milka!“
Lissy bricht in schallendes Gelächter aus: „Du bist auch nicht besser als ich! Ich wusste es doch“ Dann verstummt sie plötzlich und tätschelt liebevoll meine Schulter. „Das mit Luca tut mir Leid“
Ich zucke mit den Schultern: „Ich weiß ja eigentlich gar nicht so Recht, was los ist“ Ich seufze.
„Vielleicht hast du aber auch ein wenig übertrieben reagiert“ bemerkt Lissy leise und sagt damit eigentlich dasselbe, was mir Alina am morgen gesagt hatte.
„Meinst du?“
„Ja, mein ich“ Lissy nickt bestätigend. „Hör’ mal, Lydi. Er ist sich noch nicht sicher, was das zwischen euch ist, und ob er dich liebt. Das weißt du doch auch noch nicht. Ich glaube aber kaum, dass er dich verletzen will“
„Du kennst ihn doch gar nicht“ schmolle ich, weil plötzlich alle sagen, ich hätte einen Fehler gemacht.
„Aber ich kenne dich und deine Einstellung: Alles oder gar nichts. Entweder hast du gefressen wie ein Scheunendrescher oder du hast mehrere Tage gefastet und von Mineralwasser gelebt!“ Sie grinst schelmisch und wuschelt mir durch meine Locken. „Ich finde du solltest euch eine Chance geben. Ich meine, es hat doch noch nicht einmal angefangen“ Sie zwinkert mir zu, dann springt sie plötzlich auf, hüpft kurz auf dem Bett rum und ihre weißen Storchenbeine sehen bei jedem Sprung aus, als würden sie gleich brechen. „Ah, ich hab dir noch gar nicht gezeigt, was mir Tom letztens geschenkt hat!“
„Tom hat dir was geschenkt?!“
„Ja, weil er zugenommen hat!“
„Deswegen schenkt er dir was?!“
„Hach! Keine Ahnung“ Sie springt vom Bett und erinnert mich dabei an eine kleine Gazelle. Sie rennt zum Schrank und holt eine DVD heraus. Schon von Weitem erkenne ich das Cover. Zehntausend mal haben wir uns den Film von Kathrin ausgeliehen und ihn rauf und runter geschaut. Wir drei; Tom, Lissy und ich. Manchmal haben wir die ganze Nacht nicht geschlafen, weil wir nicht genug von dem Film bekommen konnten: Zusammen ist man weniger allein.
„Den hat er dir geschenkt?“ Ich stehe auf und reiße Lissy den Film aus der Hand.
„Schauen wir ihn?!“
„Das fragst du noch?“
Sie kichert und nimmt mir den Film wieder aus der Hand: „Warte, ich hole Tom“ Sie will aus dem Zimmer stürmen, als ich sie am Unterarm festhalte. „Lass’ mich ihn holen. Ich habe ihn lange nicht mehr gesehen“
Der lange weiße Flur im 4. Stockwerk sieht genauso aus wie der im 3. Stock. Dieselben weißen Wände, dieselben grauen Türen, derselbe hässliche Linoleumfußboden. Nur die Bilder, die an der Wand hängen sind andere.
Vor Zimmer 404 bleibe ich stehen. Auf dem Schild steht in großen schwarzen Buchstaben: TOM, Gustaf + Johannes
Ich klopfe an und höre die laute Musik von drinnen; Come Clarity von In Flames. Ganz sicher ist das Gustafs Musik. Tom hat bestimmt wieder Oropax im Ohr. Er hasst Metal und alles andere, was laut ist.
Ich öffne die Tür und trete ein.
Gustaf ist der Erste, der mich bemerkt. Er reißt die Augen auf, schaltete die Musik aus und steht auf. „Oh mein Gott!!!“
Tom schaut von seinem Buch auf und blickt zu Gustaf: „Was hast du gesagt?“ Er zieht sich sein eines, grün-rotes Oropax aus dem linken Ohr, als sein Blick auf mich fällt. Ich sehe sofort, dass er zugenommen hat. Sein Gesicht ist runder geworden und seine Haut rosiger. Er sieht gesünder aus.
Tom fängt an zu strahlen und bevor er aufstehen kann, falle ich ihm um den Hals: „Ich habe dich vermisst!“ rufe ich und er nickt nur. Ich weiß, dass er mit den Tränen kämpfen muss. Für einen Jungen ist er sehr nah am Wasser gebaut. Seine dünnen Arme umschließen meine Taille und er drückt mich nochmals, bevor er es zulässt, dass ich ihn von mir schiebe.
„Ich habe mich schon gefragt, wann du mal nach mir schaust“
„Ich konnte nicht“ erkläre ich und wuschele ihm durch die weißblonden, lockigen Haare. „Tut mir Leid“
„Ich weiß. Wäre zuviel“
„Was machst du hier?!“ mischt sich jetzt auch Gustaf ein.
Ich drehe mich über die Schulter zu ihm um und lächele: „Ich besuche Lissy und Tom“
Gustaf nickt und steht auf. Sein langer Ledermantel, für den er eigentlich viel zu klein ist, schleift auf dem Boden, während er zu seinem Schrank geht und eine Packung Doppelkekse herausholt, welche innerhalb von Minuten leer sein wird.
Gustaf ist ein Stress-Esser. Bei jeglicher Überraschung oder bei jeglichem Stress fängt er an, alles in sich hinein zu fressen, was nur geht, bis er würgen muss.
„Hör’ auf zu fressen“ mault Tom und verdreht die Augen, als er sich wieder mir zuwendet. „Warst du schon bei Lissy?“
Ich nicke: „Wir wollen einen Film schauen“
Ein bezauberndes Glitzern tritt in Toms Augen. „Ist nicht dein Ernst?“
„Doch. Komm’ mit“ Impulsiv beuge ich mich zu ihm vor und küsse ihn auf die Wange.
Ich lasse meine Mutter noch weitere zwei Stunden warten. Anfangs war es nicht schlimm, Tom und Lissy nicht mehr jeden Tag sehen zu können. Doch jetzt, wo wir, wie noch vor ein paar Wochen zusammen im Gemeinschaftsraum sitzen und unseren Lieblingsfilm schauen, merke ich wie sehr mir beide gefehlt haben.
Ich sitze in der Mitte von den beiden mit einer Flasche Wasser in der Hand; genau wie damals. Wir lachen bei denselben Szenen, wir weinen bei denselben Szenen. Es scheint genau wie früher zu sein.
Nur, dass ich nach Filmende gehen muss.
Der Abschied fällt mir schwer und jetzt kann Tom seine Tränen nicht zurückhalten. Ich sagte ja, er ist nah am Wasser gebaut. Ich vermute auch, dass er schwul ist. Doch das würde mich nicht stören!
Lissy wuschelt mir erneut durch die Haare, küsst mich auf die Wange und sagt dann: „Komm’ und bald wieder besuchen“
„Vielleicht könnt ihr ja auch mal zu mir kommen“ schlage ich vor und eigentlich weiß ich, dass es eine Schnapsidee ist. Und Lissy und Tom wissen das auch.
Tom lacht laut auf: „Pah! Kathrin lässt uns doch niemals gehen“
„Vielleicht hast du Recht“ bemerke ich leise.
„Natürlich habe ich Recht“ Er umarmt mich ein letztes Mal, dann sagt Lissy: „Und jetzt geh’ schon, Lydi, bevor Tom wieder zum Wasserfall wird!“
Ich lache, als ich sehe, wie geschockt Tom Lissy von der Seite anschaut. „So schlimm bin ich nun auch wieder nicht!“
„Ja, ja“ spottet sie.
Ich werfe den beiden jeweils eine Kusshand zu und verlasse dann den Gemeinschaftsraum. Ich hoffe, dass ich bald wiederkommen werde.
Im Foyer, wo ich schon meine Mutter mit einer Zeitschrift in der Hand entdecke, fängt Dr. Klein mich ab.
„Lydia!“ ruft er und eilt auf mich zu. „Ich habe deine Mutter gesehen. Warst du bei Lissy?“
„Und bei Tom“ ergänze ich und reiche meinen mich ehemals betreuenden Arzt die Hand.
„Gut siehst du aus“ Er drückt freundschaftlich meine Schulter und mustert mich erneut. „Wirklich. Du machst dich gut“
Ich erröte wider Willen und zucke mit den Schultern: „Ich bin anderer Meinung“ Ein paar Kilos mehr könnten mir nicht schaden, doch Dr. Klein winkt meinen Kommentar nur ab und meint: „Schön, dass du mal wieder da warst. Ich hoffe du kommst bald wieder“ Er will weiter gehen, als ich ihn zurück halte: „Ähm… Dr. Klein?“
Sofort bleibt er stehen und dreht sich um: „Ja, Lydia?“
„Kann ich kurz mit ihnen reden?“
„Sicher. Worum geht es denn?“
„Um Lissy“
Dr. Klein zieht scharf die Luft durch die Zähne. „Schwieriges Thema. Setzten wir uns doch“ Er lässt sich auf einen der Korbsessel im Foyer nieder und gibt meiner Mutter ein kurzes Zeichen, dass wir noch ein Weilchen brauchen.
„Seien Sie bitte ehrlich zu mir!“ fange ich an. „Wie geht es ihr? Ich glaube nicht, dass Lissy mir eine ehrliche Antwort gibt“
„Okay, Lydia. Ich werde ehrlich zu dir sein“ Er faltet die Hände und stützt die Ellebogen auf seine Oberschenkel. „Es sieht nicht gut aus. Wenn sie so weitermacht, dann bleibt sie noch eine Weile hier“
„Sie hat wieder abgenommen“
„Allerdings. Ganze fünf Kilo“
Ich bin überrascht. Mit so viel Gewichtsverlust habe ich nicht gerechnet. „Warum tut sie das?“
Dr. Klein zögert eine ganze Weile bis er sagt: „Ihre Eltern waren noch kein einziges Mal hier. Das zerrt an ihr“
„Aufmerksamkeit“ flüsterte ich. Dann lache ich bitter. „Damit kenne ich mich aus – sehr gut sogar“
„Ihr wart nicht umsonst Zimmergenossinnen“ meint Dr. Klein und ich nicke nur. Eine Weile sagen weder er noch ich etwas. Ich knete unruhig am Saum meines Cardigans rum, bis ich schließlich frage: „Glauben Sie, ich kann ihr helfen?“
„Davon bin ich überzeugt!“ Seine Antwort kommt schnell.
„Was ist mit Tom?“ frage ich und lenke damit geschickt von Lissy ab. Zu Lissy ist alles gesagt und es deprimiert mich.
„Er bessert sich. Er macht sich wirklich gut. Wenn er weiter solche Fortschritte zeigt, dann kann er in drei bis vier Wochen wieder nach Hause“
„Das wird ihn sicher freuen“
„Das glaube ich auch“ Er lächelt mich freundlich an und steht dann auf. „Ich hoffe, ich konnte deine Fragen beantworten, Lydia. Jetzt muss ich aber weiter“
Auch ich erhebe mich und reiche Dr. Klein die Hand: „Bis bald“
Luca lässt sich noch zwei weitere Tage Zeit, erst dann ruft er an und ich bin froh, dass er es tut.
Ich sitze auf meinem Bett, plaudere mit Alina und schmiede Rachepläne – wenn nicht sogar Mordspläne – gegen Simon, als mein Handy auf meinem Schreibtisch vibriert.
Ich will aufstehen, doch Alina ist schneller als ich. Sie nimmt mein Handy an sich, wirft einen kurzen Blick darauf und grinst.
„Ich geh’ dann mal“ meint sie und ihre Stimme klingt dabei irgendwie verschwörerisch. Sie wirft mir mein Handy zu und nur mit viel Glück fange ich es. In Werfen und Fangen bin ich schon immer eine Niete gewesen.
Kurz schaue ich Alina noch hinterher, dann werfe ich einen Blick auf mein Handy. Luca steht auf dem Display und sofort beginnt mein Herz wie wild zu pochen.
Ich atme einmal tief durch, dann erst gehe ich ran: „Hey“
„Hey“ meldet auch er sich. „Wie geht’s dir?“
„Gut“ Das ist wahrscheinlich die größte Lüge des Jahrhunderts. Mir geht es alles andere als gut. Wenn ich ehrlich bin, dann fühle ich mich hundeelend. „Und dir?“ frage ich höflichkeitshalber.
„Willst du eine ehrliche Antwort oder soll ich lügen, wie du?“ meint er leise und dennoch höre ich einen gewissen Spott in seiner Stimme. Wahrscheinlich gehört dieser spöttische Unterton einfach zu ihm dazu.
„Sei’ bitte ehrlich“
„Nicht gut“
„Wie lief deine erste Prüfung?“ frage ich, um ein unangenehmes Schweigen zu verhindern. Und um einfach aufzulegen bin ich zu feige.
„Darüber will ich mit dir nicht reden“ erwidert er ehrlich. Seine Stimme klingt so entschlossen, dass ich weiß, dass jeglicher Protest zwecklos ist. Also sage ich nichts; ich schweige nur.
„Können wir uns sehen?“
Bevor ich antworte, steckt Alina den Kopf zur Tür hinein: „Ich gehe Frust-Shoppen mit Papa“ Sie zwinkert mir zu, während sie ihr cremefarbenes Jackett anzieht; eine Farbe und ein Kleidungsstück, das ich niemals tragen kann. Helle Farben lassen mich unnatürlich weiß aussehen und unter den Schulterpolstern des Blazers würde ich völlig eingehen.
Ich nicke Alina nur zu und sie schließt die Tür wieder.
„Ja, können wir“ Mein Herz macht förmlich einen Sprung. Und plötzlich weiß ich sogar gar nicht mehr so Recht, warum ich sauer auf ihn war. Oder warum ich dachte, es wäre irgendwie vorbei. „Hör’ mal, Luca…“ setze ich an, doch er unterbricht mich: „Wir reden nachher. Kann ich vorbeikommen?“
„Ja!“ antworte ich vielleicht ein klein wenig zu schnell und zu überschwänglich.
„Gut, dann bis gleich“ Mit diesen Worten legt er auf und ich springe sofort von meinem Bett. Im Moment könnte ich die ganze Welt umarmen, wenn es möglich wäre. Doch dann überkommen mich Zweifel.
Was wenn ihm klar geworden ist, dass das zwischen uns gar nicht funktionieren könnte? Was wenn er mich für zu kompliziert hält? Was wenn er nur an flüchtigem Sex interessiert ist?
Meine Freude verfliegt genauso schnell wie sie gekommen ist und ich sinke wieder auf meinem Bett zusammen.
Als es an der Tür klingelt, springe ich sofort auf, und gehe zur Tür. Ich erwarte schon, dass meine Mutter bald in der Wohnzimmertür stehen wird, doch sie arbeitet ja wieder. Ich vergesse das dauernd, da sie solange wegen mir zu Hause geblieben ist.
Auch, wenn sie mir und meinen Essgewohnheiten immer noch nicht traut, konnte mein Vater sie dazu überreden mir ein wenig mehr Freiraum zu lassen. Und dafür bin ich meinem Papa dankbar. Wenn er nicht da wäre, würde meine Mutter wie eine nervige Glucke dauernd auf mir hocken.
Ich öffne die Tür und trete sofort beiseite: „Komm’ rein“ sage ich zu Luca.
Er lächelt höflich und tritt ein. Er macht sich nicht die Mühe, Jacke und Schuhe auszuziehen, also denke ich, dass er sowieso gleich wieder gehen will.
Eine Weile stehen wir uns schweigend gegenüber, bis Luca schließlich das Schweigen bricht: „Ich habe nachgedacht“
„Ich auch“ erwidere ich.
„Lass’ mich bitte erst ausreden“ meint er und fährt sich unruhig mit der Hand durch die Haare. Und erst jetzt sehe ich die schwache blau-lila Verfärbung an seinem Wangenknochen. Und impulsiv strecke ich die Hand nach ihm aus und berühre vorsichtig seine Wange: „Was ist passiert?“
Sein Blick wandert von meinen Lippen wieder zurück zu meinen Augen: „Was? – Ach, das. Ich war unkonzentriert beim Boxen“
Bevor er nach meiner Hand greifen kann, ziehe ich sie selber zurück. „Was wolltest du mir sagen?“
Er zögert eine Weile, als müsse er sich erst wieder daran erinnern, was er mir hatte sagen wollen. Dann fährt er fort: „Ich habe mich für alles entschieden, Lydia“
Ich kann ihm nicht ganz folgen. Verwirrt blinzele ich ihn an: „Tut mir Leid, aber ich verstehe gerade nicht ganz, wovon du redest“
Er lacht leise und tritt einen Schritt auf mich zu: „Du hast zu mir gesagt, entweder alles oder nichts“
Ein „Oh“ entweicht und wieder lacht er leise. „Ich weiß nicht, was bei dir früher los war oder was in deiner Vergangenheit passiert ist. Und ich will, dass du weißt, dass ich dich nicht verletzen werde. Das zwischen uns ist etwas Ernstes“
Prüfend ziehe ich die Brauen nach oben: „Meinst du das ehrlich, oder sagst du einfach nur das, was ich hören will?“
Er lacht: „Sagen wir, eine Mischung aus beidem?“ Bevor ich beleidigt sein kann, zieht er mich zu sich ran und küsst mich. „Und dass ich mal was mit Maleen hatte, kannst du mir nicht zum Vorwurf machen“
Ich seufze und nicke und mache mich ein bisschen von ihm: „Dafür wollte ich mich entschuldigen. Ich glaube, ich habe überreagiert“
Er zuckt mit den Schultern und grinst amüsiert: „Vielleicht ein ganz kleines bisschen“
Ich erröte und kichere und starre auf den Boden, als Luca seine Hand unter mein Kinn legt, mich zärtlich küsst und dann das sagt, von dem alle Mädchen mindestens einmal im Leben träumen: „Ich liebe dich, Lydia“ ♥
Jetz gehts weiter... Liebe Grüße Lina
Überrascht reiße ich die Augen auf und weiche von ihm zurück. „Wie bitte?!“ blinzele ich ihn verwirrt an. Meine Stimme klingt höher als normal.
Mit seiner Aussage habe ich nicht gerechnet und um ganz ehrlich zu sein, weiß ich auch noch nicht so recht, wie ich darauf reagieren kann. Muss ich darauf reagieren? Ich denke schon.
Luca lässt mich los und grinst süffisant: „Du hast mich schon verstanden“
„Ja, aber…“ fange ich an rumzustammeln. Doch ich hätte wohl besser den Mund gehalten. „…aber… vor ein paar Tagen, da hast du…“
Er unterbricht mich indem er seinen Zeigefinger auf meine Lippen legt. „Das war doch das, was du hören wolltest, oder?“
Eine Weile schaue ich ihn noch mit großen Augen an. Ich will nicht, dass er das sagt, was ich hören will! Vorsichtig nehme ich seine Hand von meinem Mund und schüttele mit dem Kopf: „Ich will hören, was du fühlst und nicht, was ich von dir hören will. Ich will…“
Wieder unterbricht er mich: „Du kannst nicht akzeptieren, dass dich jemand ernsthaft gern hat, was?“
Ich schweige betreten. Ich bin unfähig etwas sagen zu können; vielleicht weil mich sein Geständnis überrascht hat; vielleicht weil seine letzte Bemerkung genau ins Schwarze getroffen hat; vielleicht weil ich einfach nicht mit der Situation umgehen kann.
In meiner Verzweiflung stammele ich: „Das… das stimmt doch gar nicht!“
„Du kannst so stur sein!“
Dann entsteht eine Schweigepause; eine Schweigepause, die unangenehm ist. Es ist das erste Mal, dass Schweigen mit Luca mir Unwohlsein bereitet. Schließlich tappe ich unruhig von einem Fuß auf den anderen und schaue ihn unsicher an: „Ich weiß ganz ehrlich nicht, was ich sagen soll. Mir hat noch nie jemand gesagt, dass…“ Ich breche ab und in meiner Verzweiflung gehe ich näher auf ihn zu, verschränke meine Hände hinter seinem Nacken und küsse ihn. „Ich kann dir noch nicht das sagen, was du hören willst… oder…was man normalerweise… darauf antwortet“
Er lächelt nur; immer noch total gelassen. Und irgendwie ärgert es mich, dass er durch nichts aus der Ruhe zu bringen ist. Er hat mir gerade gesagt, dass er mich liebt und ich kann es nicht erwidern und sein Ego scheint noch nicht einmal ansatzweise angeschlagen zu sein – noch nicht einmal ein bisschen. Er streicht mir mit den Daumen über die Unterlippe und meint: „Ich kann nicht sagen, dass ich das toll finde, vor allem weil du diejenige warst, die mir vor ein paar Tagen eine perfekte Szene hingelegt hat…“
„Ich habe keine Szene hingelegt. Ich…“
Er lässt mich nicht ausreden, sondern küsst mich und sagt: „Lass’ uns irgendetwas unternehmen“
Ich schaue zu ihm hoch und hebe prüfend eine Braue, doch schnell fange ich mich wieder und schlage etwas vor, was kindischer nicht hätte sein können: „Zoo?“
Kurz herrscht Schweigen zwischen uns, dann bricht er in schallendes Gelächter aus. „Hast du gerade wirklich vorgeschlagen, dass wir in den Zoo gehen sollen?“
Ich laufe bestimmt knallrot an und drehe betreten den Kopf zur Seite: „Ich war lange nicht mehr im Zoo… Aber, du hast Recht. Dumme Idee“
Als ich wieder aufschaue hält er mir meine Jacke von Bench hin. Verwirrt und auch ein wenig verständnislos schaue ich ihn an.
„Willst du in den Zoo gehen oder nicht?“ fragt er mich und lächelt mich liebevoll an.
Ich stehe vor dem Panthergehege, die Unterarme auf das Geländer gestützt, das einen daran hindert zu nah an das Gitter zu kommen. Es ist ein windiger Tag und die Luft ist kühler als ich erwartet hatte. Meine Locken fliegen mir so lange um die Ohren, bis es mir reicht und ich mir einen Zopf mache, der mir meinen Haaren eher misslingt.
Völlig in Gedanken versunken beobachtete ich den Panther, der unruhig im Käfig auf und ab geht. Sein Schritt ist geschmeidig; seine Muskeln sind angespannt, so als wäre er jederzeit zum Sprung bereit; der Blick aus den grünen Augen ist berechnend und undurchdringlich. Und ohne, dass ich es will, erinnert mich der schwarze Panther an Luca.
Neben mir steht ein kleines Mädchen mit braunen Zöpfen. In ihrer Hand hält sie eine Eiswaffel mit einer Kugel Erdbeereis. Ihre kleine Hand grabscht nach der ihrer Mutter und sie plappert munter drauf los: „Mami, Mami! Guck mal. Der Panther läuft nur auf und ab, während der andere schläft. Ich will auch einen Panther!“
Ich werfe dem Mädchen einen kurzen Blick zu und muss lächeln. Ob ich als kleines Mädchen auch so war? Meine Mutter hat mir nie etwas über meine Kindheit erzählt und Bilder gibt es auch kaum welche. Lediglich mit Alina plaudere ich über unsere Kindheit; über unseren jährlichen Urlaub an der Ostsee; über unsere Streitereien; über den ersten Schultag; über alles Mögliche.
Ich streiche mir eine Haarsträhne zurück, die sich aus meinem Zopf gelöst hat, als Luca mir von hinten den Arm um meine Schulter legt und mir ins Ohr flüstert: „An was denkst du?“
Ich zucke leicht zusammen, da ich so in Gedanken versunken war. Dann drehe ich mich über die Schulter zu ihm um: „An alles Mögliche. Nichts Besonderes“
Er nimmt es nickend zur Kenntnis, küsst mich auf die Wange und stellt sich dann neben mich. Schweigend holt er seine Zigarettenschachtel aus seiner Jackentasche und zündet sich eine Zigarette an. Dann blickt er zu mir und lächelt und reicht mir den Zooplan, welchen er eben geholt hatte. „Wohin willst du zuerst?“
Ich falte den Plan auseinander und zeige dann auf das Feld mit den Delphinen. „Wenn wir Glück haben, läuft gerade eine Show“
„Kann’s kaum erwarten“ Auch, wenn er es nicht böse meint, so überhöre ich den sarkastischen Unterton in seiner Stimme nicht.
Ich schaue ihn an und ziehe eine Grimasse. „Ich mag Delphine!“ verteidige ich mich.
Er lacht leise, wirft seine Zigarette weg und tritt sie dann aus. Dann schaut er wieder auf und wieder fällt mir sofort das schwach lila Feilchen an seiner Wange auf. „Tut es arg weh?“ frage ich leise, während er losgeht. Noch schnell greife ich nach seiner Hand und sofort verschränken sich unsere Finger ineinander.
„Nein, kaum“ meint er knapp.
„Wie ist das passiert?“
„Beim Training. Ich trainiere gerade für die Landesmeisterschaft und so was passiert mir eigentlich nicht. Aber was soll’s. Auch ich bin nicht perfekt. Meine Deckung war praktisch nicht vorhanden“ Er zuckt mit den Schultern und rempelt mich dann spielerisch, schon fast zärtlich an: „Du lenkst mich eben ab“
Ich erröte sofort und murmele: „Entschuldigung. Das wollte ich nicht“
Er lacht leise und sagt dann: „Ich habe gehört, du warst mal wieder bei Lissy“
„Wer hat dir das erzählt?“
„Sophia“
Ich zögere kurz, dann sage ich: „Es geht ihr überhaupt nicht gut. Und ich würde ihr so gerne helfen, aber ich weiß beim besten Willen nicht wie und…“
Er unterbricht mich: „Lydia, versuche nicht so viel an andere zu denken. Du musst erst mal selber versuchen wieder gesund zu werden“
Ich zucke erneut zusammen und diesmal merkt er es auch.
Luca bleibt stehen, umschließt mein Kinn mit seiner Hand und zwingt mich mit sanfter Gewalt ihn anzusehen: „Ich hoffe, du weißt, dass ich dir dabei helfen werden. Wir kriegen das zusammen hin, verstanden?“
Ich nicke: „Mir geht es doch auch schon besser“
„Das weiß ich doch“ Er lässt mein Kinn los und geht weiter. „Was fasziniert dich an Delphinen so?“
Kurz bin ich überrascht von seiner Frage, dann antworte ich: „Sie sind so wahnsinnig schlau und doch so gefühlvoll… Außerdem leben sie im Meer. Und ich liebe das Meer“
Er lächelt amüsiert: „Wann warst du das letzte Mal am Meer?“
„Vor fünf Jahren. An der Ostsee“
„Das ist kein richtiges Meer“ Er schnalzt abfällig mit der Zunge und schüttelt mit dem Kopf.
„Ich kenne kein anderes Meer. Mir fehlt der Vergleich“
Überrascht schaut er mich an: „Das ist schade“
Ich nicke nur und versuche dann das Thema zu wechseln: „Wie war deine Prüfungswoche?“
„Hart“ Er hält mir die Tür zu der Halle auf, in der sich der Pool befindet, in dem die Robben- und Delphinshows stattfinden. „Aber ich hab’s rum und die Ergebnisse sollten sich alle im guten Bereich befinden“
„Mündliche Prüfung?“ hake ich nach.
„Am Mittwoch“
„Das ist ja bald!“ rufe ich auch. „Solltest du dann nicht lieber deine Präsentation vorbereiten?!“
„Das mit uns ist mir im Moment wichtiger“ antwortet er ohne zu Zögern.
Seine Antwort überrascht mich, auch wenn ich weiß, dass es die Wahrheit ist. Ich lache unsicher und schüttele mit dem Kopf, bevor ich wieder aufschaue und den ersten Delphin aus dem Wasser schießen sehe. Und ohne, dass ich es kontrollieren kann, beginne ich zu strahlen. „Ich war das letzte Mal hier, als ich ein kleines Mädchen war“ Ich schaue zu ihm auf und lächele ihn an.
Zusammen gehen wir die Stufen zum Becken hinunter, als sie uns entgegenkommt; Hannah! Hinter ihr läuft Sven; er ging damals mit mir zur Schule.
Kurz blicken Hannah und ich uns in die Augen und mir wird heiß und kalt zugleich. Auf eine Konfrontation mit ihr oder irgendeiner anderen Person aus meiner Vergangenheit bin ich nicht vorbereitet. Und ich werde es wahrscheinlich auch nie sein.
Hannahs Mund verzieht sich zu einem strahlenden Lächeln und sie will mich schon grüßen. Doch ich wende feige den Kopf ab und drängele mich an ihr vorbei und gehe weiter die Tribünenstufen nach unten. Luca ziehe ich hinter mir her, welchem die angespannte Situation nicht entgangen ist.
Ich drehe mich nicht um; weder zu Hannah, noch zu Sven. Ich traue mich noch nicht einmal Luca anzusehen, bis er fragt: „Wer war das?“
Ich werfe ihm einen erschrockenen Blick zu und schüttele mit dem Kopf: „Niemand…“
„Lydia, lüg’ mich nicht an“ Seine Stimme hat eine Schärfe angenommen, die keinen Widerstand duldet.
Ich seufze. Warum merkt er nur so viel? Warum kann ich mich vor ihm nicht verstecken. „Eine alte Freundin. Sie hat mich… sehr verletzt – damals“
Er nickt nur, streicht mir zärtlich über die Wange und schaut dann wieder zum Poolbecken, über dem die Anzeigetafel für die Delphinshows hängt. „So wie’s aussieht, haben wir die Show gerade verpasst“ Er fragt mich nicht weiter über das Thema mit Hannah aus. Er weiß, dass ich von mir aus anfange darüber zu reden, wenn ich will. Doch im Moment will ich nicht.
Ich folge seinem Blick, und schaue ebenfalls zur Anzeigetafel. Um 16:15 Uhr war die letzte Show. Jetzt ist es viertel vor fünf.
„Schade“ Ich zucke mit den Schultern. „Das nächste Mal“ Ich zwinkere ihm zu und er erwidert diese Geste mit einem Lächeln.
„Du gehst auf den Abiball als Gast, während ich kellnern darf?!“ Sophia schaut mich völlig empört an, während ich nur einen weiteren Schluck von meinem Eiskaffee von Starbucks nehme.
Es ist der erste warme Tag im Sommer; geschätzte 25°C, und wir sitzen in unserer Freistunde am Neckar. Auch, wenn ich weiß, dass ich so gut wie kaum braun werde, sondern eher Sonnenbrand bekomme, liege ich in der Sonne und lasse mir meine dünnen Storchenbeine durch die Sonne wärmen.
Maleen liegt auf einem Handtuch neben mir und schiebt ihre Sonnenbrille auf den Kopf. „Ah, dann seid ihr also wieder zusammen?“
Ich drehe den Kopf und schaue sie. In ihrer Frage schwingt ein komischer Unterton mit, den ich nicht ganz deuten kann und wieder einmal wird mir schmerzlich bewusst, dass Maleen nicht zu den Menschen gehört, den man blind vertrauen kann.
„Ja, diesmal fest und relativ offiziell“ Ich lächele unsicher und bin froh, dass man durch meine Sonnenbrille nicht sehen kann, dass meine Augen nicht lachen.
„Anna hat mir das mit dem Abiball erzählt und mit eurer kurzen Trennung“ Bei dem Wort Trennung macht Maleen eine Geste, die wohl für Anführungsstriche stehen soll.
Ich nicke nur und blicke hinunter zum Fluss, wo Anna und John stehen und sich küssen. Nach dem Abi hatte er eine Woche schulfrei, doch jetzt muss er noch drei Wochen in die Schule gehen und lernen, bis zum mündlichen Abi – genau wie Luca.
„Ja, da hat Anna nicht gelogen“ Wieder lächele ich unehrlich und lege mich rücklings neben Sophia auf die große Decke in Gras, die sie mitgebracht hat. Ich schaue sie an und frage: „Und du musst wirklich kellnern?“
„Ja… aber so schlimm wird’s schon nicht werden. Ich darf immerhin das Trinkgeld behalten“
„Von mir bekommst du das meiste“ erwidere ich und zwinkere ihr zu, obwohl sie meine Geste ja gar nicht sehen kann.
„Ich wollte auch erst kellnern, aber dann hat mich David gefragt, ob ich mit ihm hin will…“ mischt sich Maleen wieder mit ins Gespräch ein.
„David?“ Sophia zieht fragend die Brauen nach oben.
Maleen nicht: „Mhm… wir waren zusammen im Ritzz, in Mannheim. Und danach sind wir noch zu ihm“ Sie schenkt uns beiden ein vielsagendes Lächeln. Sie redet nicht weiter, doch den Rest kann ich mir denken.
Sophia kichert und stupst Maleen spielerisch an: „Was du immer machst! Pass’ auf, dass du nicht den Ruf als Schlampe bekommst“
Ich verstehe Sophias Kommentar nicht. Soweit ich weiß, hat sie diesen Ruf doch schon längst. Zumindest wenn man den Geschichten von Tobias und Florian Glauben schenken darf.
Ich will gerade die Augen schließen und noch ein wenig die Sonne genießen, doch Maleens Stimme hält mich davon ab: „Haben Luca und du eigentlich schon…“ Sie vollendet ihren Satz nicht und dennoch weiß ich, was sie fragen will.
Ich nehme die Sonnenbrille von der Nase und schaue prüfend zwischen ihr und Sophia hin und her.
Ich zögere eine Weile und selbst wenn ich vorgehabt hätte, diese Frage unbeantwortet zu lassen, so hätte ich mich durch dieses Zögern verraten. Also antworte ich wahrheitsgemäß: „Nein“
Maleen reißt überrascht die Augen auf Sophia tätschelt mir freundschaftlich den Rücken: „Lass dich nicht drängen“
Unwirsch schüttele ich ihre Hand ab und schaue Maleen wartend an. Ich weiß, dass sie dazu noch etwas sagen will. Etwas, das zu Maleen passt. Etwas Zickiges. Etwas Biestiges. Und ich sollte Recht behalten.
„Das wundert mich. Weil weißt du, ich kenne Luca schon ziemlich lange und auch ziemlich gut, will ich mal behaupten. Und Luca ist keiner, der sich mit so was Zeit lässt“
Ich weiß nicht ganz, ob sie mit „so was“ mich oder den Sex meint. Ich hoffe, sie meint Letzteres.
Ich schlucke kurz und überlege, ob ich etwas Gemeines erwidern soll. Doch ich entscheide mich dagegen; weil ich nicht weiß, was ich antworten könnte und weil Maleen es mir nicht wert ist. Sie ist keine Freundin, sondern einfach nur eine flüchtige Bekannte, die mal was mit meinem Freund hatte und jetzt leichte Stiche der Eifersucht verspürt. Zumindest versuche ich mir das einzureden.
Ohne weiter auf ihren Kommentar einzugehen, versuche ich das Thema zu wechseln: „Wollten nicht noch Tobias und Florian kommen?“
Maleen grinst triumphierend und legte sich wieder ins Gras. Auf meine Frage antwortet sie nicht.
„Ja, aber erst später“ antwortet mir Sophia und reicht mir den Beutel mit Gummibärchen, den sie aus ihrer Tasche herausgekramt hat. „Willst du?“
Mir wird schon schlecht, wenn ich mir die Dinger nur anschaue und schüttele mit dem Kopf. „Nee, ich krieg’ im Moment nichts runter. Trotzdem danke“
Und dann stellt mir Maleen völlig indiskret eine Frage, mit der ich nie gerechnet habe: „Sag mal, Lydia, hattest du mal eine Essstörung?“
Ich zucke merklich zusammen und höre Sophia neben mir streng rufen: „Maleen!“
Doch sie schüttelt nur mit dem Kopf: „Ach, komm schon, Sophia! Als ob das so ein Geheimnis wäre. Jeder auf der Schule denkt das!“
„Maleen! Es ist gut jetzt!“
Ich lege Sophia beschwichtigend meine Hand auf ihren Arm und sage: „Nein, schon gut. Wenn Maleen es unbedingt von mir hören will“ Ich drehe mich zu Maleen um und nicke: „Ja, ich war magersüchtig. Bis vor ein paar Monaten war ich noch in einer Klinik. Reicht dir das an Information, oder willst du jedes einzelne, niederschmetternde und erbärmliche Detail hören?“ Meine Stimme hat an Schärfe angenommen, die ich von mir nicht gewohnt bin und gleichzeitig spüre ich, wie sich meine Augen mit Tränen füllen.
Kurz ist Maleen sprachlos und fast bilde ich mir ein, dass sie sichtlich geschockt, aber auch gerührt ist. „Ich hatte ja keine Ahnung“
„Und genau das ist dein Problem! Du hast von nichts eine Ahnung!“ sage ich heftiger als beabsichtigt, packe meine Sachen zusammen, und stehe auf. „Wir sehen uns morgen“ meine ich leise und gehe ohne noch ein weiteres Wort zu verlieren.
„Nein, Lydi“ Alina schüttelt mit dem Kopf. „In dem Kleid gehst du unter. Es ist…“ Sie zögert, dann sagt sie aufrichtig: „…zu groß“
„Das ist Größe S!“ rufe ich aus.
„Dann fällt es eben groß aus!“
Ich nicke nur und drehe mich noch mal im Kreis. Das eisblaue Kleid hat Alina für mich ausgesucht und sieht wirklich gut aus. Doch ich bin zu klein und für dünn für dieses Kleid. Der Saum schleift auf dem Boden und mein Busen sieht aus wie der einer achtjährigen – was so viel heißt wie, er ist nicht vorhanden.
„Was ist mit dem?“ Alina hält ein mintgrünes Cocktailkleid mit einer weißen Schleife um die Taille in die Höhe und ich ziehe eine Grimasse.
„Gut, dann sind wir uns einig“ Alina lacht herzhaft. „Zieh die anderen an!“
Die Anderen sind bestimmt gut zehn Kleider die entweder in meiner Umkleidekabine oder über Alinas Unterarm hängen. Auch, wenn ich bis jetzt erst zwei Kleider anprobiert hatte, so habe ich jetzt schon keine Lust mehr. „Oh, Alina. Ich will gehen! Ich glaube, ich sag’ einfach ich bin krank!“
Alina macht ein gespielt empörtes Gesicht und schüttelt mit dem Kopf: „Das kommt gar nicht in Frage! Du gehst da schön hin und wirst bezaubernd aussehen – außerdem willst du mit Luca doch hin, wenn ehrlich zu dir selbst bist“
Ich weiß, dass sie Recht hatte und nicke deshalb nur, ohne das Thema weiter zu vertiefen und nehme ihr ein weiteres Kleid ab; Farbe Silber. Und ich weiß jetzt schon, dass diese Farbe an mir grässlich aussehen wird.
Etliche Kleider später, ziehe ich endlich das letzte Kleid an; Größe XS.
Lustlos ziehe ich es an und verheddere mich mit dem Unterrock aus Baumwolle und dem Überrock aus Spitze, welche bei meinem Glück bestimmt reißt, bevor ich das Kleid anhabe.
Das Kleid reicht mir bis knapp über den Knien und hat eine Farbe, die weder als dunkelblau, noch als grau gelten kann. Irgendwie ist es ein rauchiges Blau, und es erinnert mich an die Farbe des Atlantiks bei Sturm. Ich krieche in die mörderisch hohen High-Heels, die mir Alina provisorisch geliehen hat, während sie jetzt meine roten Keds trägt. Gott sei Dank haben wir beide Schuhgröße 38!
„Ich weiß nicht so recht, Alina“ meine ich unsicher.
Sie lächelt mich breit an und schweigt eine ganze Weile, bis ich noch unsicherer werde. „Ich kann mir vorstellen, dass ich doof aussehe. Du brauchst nicht noch so zu grinsen“
„Du Dummchen! Du siehst toll aus! Das ist dein Kleid!“
Ich verziehe das Gesicht zu einer Grimasse und drehe mich erst dann zum Spiegel um. Ich bin nicht halb so begeistert wie Alina, aber ich muss zugeben, dass mein Anblick mir in diesem Moment ganz gut gefällt. Das Kleid lässt mich nicht halb so dünn erscheinen, wie ich es eigentlich bin und lässt sogar meine Blässe relativ gut aussehen.
„Wusstest du, dass deine Augen dieselbe Farbe wie das Kleid haben?“ fragt mich Alina schließlich und stellt sich neben mich.
Ich zucke nur mit den Schultern und widerspreche ihr dann: „Meine Augen sehen grünlicher aus“
„Du hast aber auch an allem etwas zu meckern!“ Leicht stößt sie mir ihren Ellenbogen in die Seite. „Anstatt, dass du sagst: Danke Alina, dass du dieses wundervolle Kleid für mich gefunden hast, musste du wieder den Griesgram raushängen lassen“
„Tu’ ich doch gar nicht!“ erwidere ich empört und streiche kurz über den Stoff des Kleides. „Meinst du ich soll es nehmen?“
„Wenn nicht, dann kauf’ ich es mir, das verspreche ich dir!“ Sie zwinkert mir zu und ich weiß, dass sie ernst meint, was sie gesagt hat.
„Ach ja…“ wechselt sie plötzlich das Thema. „Ich habe letztens Simon getroffen“
Sofort werde ich hellhörig und werfe ihr einen neugierigen Blick zu: „Und?“
„Und… er ist dreimal durch die Bio-Chemie Grundkurs Prüfung gefallen. Er ist durchgefallen“
Auch, wenn es fies ist und traurig für Simon, so kann ich mir ein Lachen nicht verkneifen.
„Jeder bekommt das, was er verdient“ meint Alina und zuckt mit den Schultern, während sie die unzähligen Kleider weghängt.
„Hoffentlich“ murmele ich und denke dabei automatisch an Maleen. Kurz spiele ich mit dem Gedanken, es Alina zu erzählen, doch ich entscheide mich dagegen. Ich muss langsam lernen wieder allein klar zu kommen. Alleine mit meinen Problemen. Alleine mit meinen Sorgen. Alleine mit meinem Leben.
Die Zeit, in der mich in andere Arme geflüchtet habe, muss nun endlich vorbei sein!
Pünktlich um acht klingelt es an der Tür, während ich einen letzten Blick in den Spiegel werfe und zugeben muss, dass Alina volle Arbeit geleistet hat. Von den eingefallenen Wangen ist nichts mehr zu sehen und auch meine Augenringe sind vollends verschwunden.
Meine sonst so unzähmbaren Locken fallen – dank Alina und sämtlichen Kuren und gefühlten drei Stunden Einwirkzeit – in weiche Wellen über meine Schulter.
„Ich glaube, es ist für dich“ ruft mein Vater mir aus dem Wohnzimmer zu und ich fahre mir ein letztes Mal mit der Hand durch die Haare, nehme meine Tasche und meine Jacke vom Bett, krieche in schwarze, hohe Schuhe, die mir Alina für den heutigen Abend leiht und gehe zur Tür, wo meine Schwester schon steht und ganz ungezwungen mit Luca plaudert.
Und ich kann nicht umhin, ihn umwerfend zu finden. Wie er einfach in der Tür steht, die Schulter am Türrahmen angelehnt und mit meiner Schwester lacht.
Der schwarze Anzug, den er trägt sitzt tadellos. Sein Hemd ist klassisch weiß und bildet einen starken Kontrast zu seiner gebräunten Haut und seinen dunklen Haaren. Auf eine Krawatte hat er verzichtet. Das schwarze Jackett hängt locker über seinem Unterarm.
Alina bemerkt mich zuerst, schaut auf und lächelt mich an. Dann kommt sie auf mich zu, küsst mich auf die Wange und sagt leise, sodass es nur ich höre: „Viel Spaß, meine Süße“
Ich lächele, drücke sie kurz an mich und schiebe sie dann wieder von mir. Ich will gerade etwas sagen, als meine Mutter aus dem Wohnzimmer kommt: „Viel Spaß, Lydia“ Sie nickt Luca kurz zu und sagt dann höflich aber distanziert: „Herzlichen Glückwunsch zu deinem Abschluss“
Er lächelt aufrichtig: „Noch habe ich meinen Abschluss nicht. Trotzdem danke“
Sie nickt nur und ein „Ach“ entweicht ihr, dann konzentriert sie sich wieder auf mich, obwohl ich eigentlich schon dezent Richtung Tür gegangen war, um möglichst schnell und möglichst unauffällig zu verschwinden. Doch der Kontrolle meiner Mutter entkomme ich nicht.
„Wann kommst du nach Hause?“
Ich spüre wie mir Luca einen skeptischen und zugleich prüfenden Blick zuwirft.
Alina schließt die Augen und seufzt lautlos, bevor sie zu meinem Vater ins Wohnzimmer verschwindet.
Ich zögere eine Weile, bevor ich antworte und schiebe Luca schon leicht aus der Wohnung. Schließlich sage ich: „Ich schlafe bei Luca. Tschüss, Mama“ Ich sehe nur noch ihr empörtes Gesicht, dann schließe ich die Tür hinter mir und meine zu Luca: „Beeil’ dich!“
„Ist das deine Art Konflikten aus dem Weg zu gehen?“ fragt er plötzlich und wirft mir einen spöttischen Blick zu.
„Bis jetzt hat es immer geklappt“ Ich zucke mit den Schultern und trete hinter Luca aus dem Haus und sehe schon seinen schwarzen Mercedes. „Es könnte allerdings sein, dass meine Mutter nun nicht mehr ganz so begeistert von dir ist“
Er zieht nur eine kurze Grimasse, dann hält er mich sanft am Arm fest und küsst mich zärtlich, bevor ich ins Auto einsteigen kann: „Du siehst toll aus!“
Ich merke, wie ich erröte und sage leise: „Danke“.
Luca lässt mich wieder los, geht um die das Auto herum und lässt sich dann neben mich auf den Fahrersitz fallen. „Du hast Maleen von deiner Essstörung erzählt?“ fragt er, während er den Motor startet.
Ich zucke zusammen und lache bitter: „Na, das spricht sich ja schnell rum!“
„Nein, sie hat es nur mir erzählt. Ich meine, ich bin dein Freund…“
Ich unterbreche ihn: „Ja, schon gut – Sie hat mich drauf angesprochen, und ich habe geantwortet“ Meine Stimme klingt zickiger, als ich es beabsichtigt habe.
Sanft streicht er mir mit der Hand über die Wange: „Hey, schon okay. Das war nicht als Vorwurf gemeint“
„Ich weiß doch“ flüstere ich, dann wechsele ich schnell das Thema. „Wo sind deine Eltern und dein Bruder?“
„Die sind schon dort“
„Ich bin nervös“
„Warum?“ Ungläubig und auch ein wenig misstrauisch schaut er mich von der Seite an.
„Ich wollte deine Eltern eigentlich nicht so früh kennen lernen“ Ich kichere unsicher – nach wie vor eine dumme Eigenart von mir.
Er schweigt eine ganze Weile, lenkt den Wagen zur Auffahrt des Heidelberger Kongresshauses und meint dann: „Ich bin ehrlich zu dir, meine Eltern sind nicht ganz leicht. Aber meinen Bruder wirst du mögen“
„Wie alt ist er noch mal?“
„Elf. Hat gerade seine erste Freundin“ Er zwinkert mir zu und bringt das Auto auf dem Parkplatz zum Stehen.
Ich muss leise lachen, schnalle mich ab und will gerade aussteigen, als Lucas Stimme mich davon abhält: „Bleib’ ja sitzen!“ mahnt er mich, steigt aus und läuft um das Auto herum, um mir die Tür aufzumachen.
Sichtlich gerührt steige ich aus und greife nach seiner Hand. Sofort verschränken sich unsere Finger ineinander und er beugt sich zu mir herunter und küsst mich sanft auf die Schläfe.
Der Ballsaal im Kongresshaus ist beeindruckend. Die langen Tische sind mit weißen Tischdecken versehen und mit rosa Rosengestecken verziert. Durch die großen, weiten Fenster fallen die letzten Sonnenstrahlen des Tages.
Auf der Bühne steht schon die Direktorin und überprüft das Mikrophon. Hier und da rennen ein paar Kellner herum und auch Sophia entdecke ich sofort. Sie lächelt mir vielsagend zu und stellt ein paar Wassergläser auf einen Tisch.
„Ich glaube, wir sind spät“ flüstert Luca mir zu und ich muss ihm leise lachend zustimmen.
Zaghaft umschließt er schließlich meinen Ellenbogen und führt mich zu einem Tisch, ziemlich am Ende des Saales. Die Tafel ist vollbesetzt, bis auf zwei Stühle ganz am Ende des Tisches.
„Luca, du bist spät!“ Ein etwas älterer Mann mit leicht ergrautem Haar, dunkelgrauem Anzug, der die Farbe seiner Haare hat, schaut Luca tadelnd an. Und an der Intensität seiner grünen Augen, weiß ich sofort, dass er Lucas Vater ist.
„Ich weiß“ Beiläufig rückt er mir den Stuhl zurecht, was mich sichtlich rührt. Doch für ihn scheint das keine große Geste zu sein.
Ich setze mich; neben mir Luca. Und noch während ich mich setzte, fragt die Frau, die mir gegenüber sitzt: „Und du musst Lydia sein“
Ich bin überrascht über ihren französischen Akzent und frage mich, ob sie wohl in Frankreich aufgewachsen ist. Warum hat Luca mir verschwiegen, dass er Halb-Franzose ist?
Seine Mutter reicht mir höflich ihre Hand, deren Finger mehrere Ringe zieren, die bestimmt nicht ganz billig gewesen sind. Ihr Händedruck ist erstaunlich fest für eine so kleine Person.
Sie sieht Luca überhaupt gar nicht ähnlich. Sie hat feines, blondes Haar und strahlend blaue Augen. Und ich vermute, dass Luca eher nach seinem Vater kommt. Allerdings ist Lucas Bruder das Ebenbild seiner Mutter. Und mit den blonden Locken sieht er aus wie ein Engel, aber laut Lucas Erzählungen ist er eher ein kleiner Teufel.
„Freut mich Sie kennen zu lernen“ sage ich schließlich unsicher und spüre Lucas Hand auf meinem Knie, was mir eine leichte Gänsehaut über die Haut jagt.
„Nenn’ mich Marie“ meint Lucas Mutter persönlich.
Sein Vater stellt sich mit den Vornamen Ralph vor und Lucas Bruder, Fabrice, erweißt mir erst die Ehre, mir seinen Namen zu nennen, nachdem er von seiner Mutter getadelt wurde.
Auch, wenn Lucas Familie auf den ersten Blick ganz nett wirkt, so werde ich das Unbehagen nicht los, das mich seit dem Beginn des Abiballs umschließt.
Ich lasse meinen Blick durch den Saal schweifen, bis er den von Maleen trifft. Sie lächelt mich an und hebt ihr Sektglas. Eine freundliche Geste und fast bin ich dabei, ihr ihre biestigen Kommentare zu verzeihen.
„Du hast uns zwar erzählt, dass sie hübsch ist, mein Guter, aber nicht, dass sie so hübsch ist!“ reißt mich die laute Stimme von Ralph aus meinen Gedanken. Erschrocken schaue ich auf und mein Blick geht von Ralph zu Luca. Wenn, dann soll nur er sehen, dass ich knallrot anlaufe.
„Ich dachte, das kannst du dir denken“ gibt Luca zurück und lächelt seinen Vater an. Doch es ist kein warmes Lächeln und zum ersten Mal beschleicht mich das Gefühl, dass Luca kein gutes Verhältnis zu seinem Vater hat.
Fabrice trommelt unruhig mit den Fingern auf dem Tisch herum und zieht ein sichtlich gelangweiltes Gesicht: „Es ist öde!“
In diesem Moment wird das Licht gedämmt und die Direktorin tritt auf die Bühne. Und ab da schalte ich ab. Die monotone Stimme wirkt beinahe einschläfernd auf mich, aber das ist von unserer Schulleiterin ja nur bekannt.
Lediglich die Diashows mit lauter Bildern von der 5. Klasse bis dato sind ein wenig interessant – moderiert von John, der immer gerne unnötige Kommentare zu allem abgibt; Klassenbilder, Bilder von Ausflügen und Klassenfahrten, Bilder der SMV-Sitzungen, wobei man bei diesen bemerken muss, dass es nicht so aussieht, als würden die Leute dort irgendetwas tun – auch Luca sieht bei diesen Veranstaltungen eher teilnahmslos aus; meistens mit einer Zigarette in der Hand.
„Du solltest aufhören zu rauchen!“ zischt ihm seine Mutter zu, was er nur gelassen mit einem Lächeln abtut.
Das nächste Bild – viel zu nahe und völlig überbelichtet - zeigt ihn mit drei qualmenden Zigaretten im Mund. „Und das machte unser Schülersprecher auf Klassenfahrten, wenn er paar Gläser zu viel gezwitschert hatte“ John zwinkert ihm zu und auch wenn seine Mutter völlig empört schaut und sein Vater nur grinst, so muss ich plötzlich lachen. „Das ist ja eine ganz neue Seite an dir“
Er dreht sich zu mir um, küsst mich vor seinen Eltern – was ich etwas unpassend finde – und sagt dann: „Du kennst viele Seite an mir nicht“ Er grinst mich verschwörerisch an, wendet sich danach aber von mir ab, um weiter Johns Vortrag zu lauschen.
Ich weiß nicht, ob ich von seinem Kommentar beunruhigt oder amüsiert sein soll.
Als das Buffet eröffnet wird, stöhne ich innerlich auf. Die Auswahl ist einfach viel zu groß für jemanden, der sowieso nicht wirklich etwas essen will; das Essen ist zu fettig.
Doch ich kann nicht nichts Essen. Lucas Eltern würden mich für seltsam und vielleicht sogar verrückt halten, also stehe ich brav mit auf, hole mir einen Teller und begutachte missmutig das Essen in den Behältern.
Ohne mich weiter bei den warmen Gerichten aufzuhalten gehe ich zu den Rohkostspeisen über und entscheide mich für Blattsalat mit ein wenig Joghurtdressing.
„Ich hoffe, das ist nur deine Vorspeise“ meint Luca leise, welcher neben mich getreten war. Sein Teller sieht natürlich ganz anders aus als meiner!
Traurig sehe ich zu ihm hoch: „Ich kann nicht. Nicht heute. Ich bin immer noch so nervös, und…“
Ich werde von Maleen unterbrochen, welche zu uns getreten war: „Wie ich sehe isst Lydia wieder ihr Hasenfutter“
Und dann ist es das erste Mal, dass ich Luca wütend erlebe. Er funkelt Maleen zornig an und sagt heftig: „Halt’ einfach die Klappe und geh’ weiter!“
An der Art, wie sich Maleens Miene ändert, weiß ich, dass selten mit ihr so geredet wird. Doch anscheinend wurde es mal bitter nötig.
„Danke“ sage ich leise, als weitergegangen war.
Er winkt meinen Kommentar nur ab und meint: „Iss’ bitte noch etwas anderes, als den Salat. Mir zuliebe… Im Zoo konntest du schließlich auch ein Eis essen“ Er zwinkert mir zu und ich seufze leise, während wir uns wieder an unsere Plätze setzen.
Ich betrachte ihn kurz von der Seite und seufze leise. Ihm zuliebe…
„Sag’ mal, bist du auf Diät?“ Zum ersten Mal an diesem Abend wendet Fabrice das Wort an mich. Und bevor ich antworten kann, plappert er weiter: „Weil, weißt du, meine Mama macht so was auch mindestens einmal im Monat“
Sichtlich beschämt, dass ihr Diät-Geheimnis gelüftet wurde, nehmen Maries Wangen eine rötliche Farbe an, dann sagt sie: „Aber ich habe weitaus weniger Erfolg“
Ich lache unsicher und schüttele mit dem Kopf: „Ich mache keine Diät“ Ich atme tief durch und weiß, dass wenn ich jetzt das sage, was ich sagen will, mich dazu verpflichtet noch mehr zu essen. Und das bei einem Magen, der im Moment sowieso das Bedürfnis hat sich zu entleeren. Doch ich sage es; Luca zuliebe. „Das ist nur meine Vorspeise“
Die gelblichen Ölflecke, die auf der Bratensoße oben schwimmen, widern mich an. Das Fett an dem Fleisch widert mich an. Die Süßkartoffeln widern mich an. Sogar das Gemüse widert mich an.
Seit ich aus der Klinik draußen bin, habe ich mir angewöhnt wieder mehr zu essen. Doch bisher habe ich immer darauf geachtet, fettige Fast Food Gerichte zu vermeiden. Ich aß Salat, Obst, mal eine Scheibe Tost mit Butter bestrichen. Hier und da mal ein paar Gummibärchen, die mir Alina aufschwatzte.
Der Teller der jetzt vor mir steht, ist Neuland für mich. Natürlich gab es in der Klinik einmal in der Woche einen Teller, der so ähnlich gefüllt war. Doch ich wohne seit 3 Monaten nicht mehr in der Klinik. Und so bescheuert es klingt, ich bin überfordert. Vielleicht kann man das Essen hier mit dem Kantinenessen bei uns in der Schule vergleichen. Doch das vermeide ich ja so gut es geht.
Ich versuche Zeit zu schinden, indem ich irgendetwas erzähle, doch da mir nichts Schlaues einfällt von dem ich reden könnte, höre ich nur den Gesprächen von Luca und seinem Vater zu und beginne zu essen; eine Portion, die noch nicht einmal als Kinderportion durchgehen kann.
Und noch während ich esse, wird das Licht wieder gedämmt – anscheinend soll das Programm weiter gehen und Luca steht auf und sagt leise zur mir: „Ich muss die dummen Auszeichnungen verlesen“ Er verdreht die Augen und geht dann in Richtung Bühne, während ich mich seiner Familie allein am Tisch sitzen bleibe.
Ich bin dankbar dafür, dass nur wenig später Sophia vorbeikommt und meinen Teller an sich nimmt: „’tschuldigung, dass ich den Teller mitnehmen muss. Aber wir müssen abräumen“
Ich weiß sofort, dass sie lügt, denn einige anderen essen auch noch. Doch sage nichts, sondern reiche ihr den Teller und forme mit den Lippen ein stummes „Danke“.
„Na ja, du warst ja fast fertig“ Ralph zwinkert mir zu und kurz habe ich das Gefühl, Luca in 20 Jahren anzuschauen.
Ich lache leise und nicke, doch ich sage nichts. Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll. Also schweige ich und höre weiterhin den Auszeichnungen zu, die Luca vorliest. Reihenweise Abiturienten gehen vor auf die Bühne und holen sich ihren Preis für das beste Abitur in XY ab.
Wenn man Luca nicht gut kennt, würde man meinen, er verlese die Namen mit Begeisterung und aufrichtigem Interesse vor. Doch ich höre aus seiner Stimme heraus, dass er auf die ganze Sache gar keine Lust hat.
Manchmal frage ich mich überhaupt, wie er Schülersprecher geworden ist, wenn ihm diese Sache so offensichtlich so wenig Spaß macht. Vielleicht erwarten es seine Eltern – und bei seinem Vater kann ich mir das sogar gut vorstellen.
Ich verspreche bald weiter zu schreiben ich muss jetz aber erstml meinen abschluss schaffen bis dann leute :*
Tag der Veröffentlichung: 11.07.2011
Alle Rechte vorbehalten