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Es ist mein erster Einsatz im Irak nach nun schon mehr als vier Jahren. Eigentlich habe ich mir vorgenommen, nie wieder hier her zurück zukehren und so viel Elend zu sehen. Doch die Situation dort hat sich über Nacht so sehr zugespitzt, dass sie mich fragten, ob ich nicht noch einmal zurück kommen würde. Ich dachte, an die Menschen und Kinder die dort unschuldig sterben müssen und habe mich entschieden, wieder die weite Reise anzutreten.
Früher haben wir in unserer Truppe gesagt: „Unsere zweite Heimat“ und es war wirklich so. Wir fühlten und in unserem kleinen Zelt wie zuhause. Wir spielten Karten, hörten Musik, lachten viel und wenn wir unsere sogenannten Ruhetage hatten, haben wir Party gemacht. Nun bin ich wieder hier. In unserem alten Zelt, wo jetzt nicht mehr unsere sechs Betten stehen, sondern inzwischen zwölf mit Verletzten.
„Schön, dass du gekommen bist.“ begrüßt mich mein ehemaliger Kamerad und guter Freund Tony.
„Du weißt schon, dass ich nie wieder hier her wollte?“ frage ich ein wenig sarkastisch.
„Ich weiß, aber du siehst ja selbst, was hier los ist. Wir müssen unsere Zelte opfern, damit die Verletzten geschützt sind. Du kannst hier halt nur Ruhe reinbringen. Das konntest du früher schon.“ Tony ist nun schon zum obersten Leutnant ernannt worden, damit war er es, der mich gefragt hat, ob ich wieder zurück komme.
„Ich weiß.“ antworte ich nur und lächle leicht.
„Ach, komm her.“ sagt er und zieht mich in seine Arme.
„Ich hab dich vermisst.“ flüstert er mir ins Ohr.
„Ich dich auch, Tony.“ ich schließe meine Arme um ihn und genieße die paar Sekunden.
„So, jetzt muss ich aber.“ sage ich schließlich und lasse ihn los. Ich beginne in meiner Tasche zu kramen und hole eine kleine Schachtel vor. Lächelnd streiche ich über die mit rotem Samt bezogene Schachtel, bevor ich sie öffne. Tony kommt zu mir, nimmt die Binde mir dem großen roten Kreuz raus und legt sie mir am rechten Oberarm an. Ich nicke dankbar und gehe zu einem kleinen Schränkchen. Wahrscheinlich ist das der einzige Fleck im ganzen Land, der halbwegs steril ist. Mit Stethoskop, Gummihandschuhe, drei großen Ampullen Morphium, Kanülen und Desinfektionsmittel bewaffnet, gehe ich zu den Verletzten, die darauf warten, endlich in ein Krankenhaus geflogen zu werden.
Sieben der neunundzwanzig Männern, die hier in den Zelten liegen und sitzen, habe ich schon untersucht, als plötzlich Schüsse zuhören sind. Zwei Sekunden ist Ruhe, bevor wir das Feuer erwidern. Ich hole schnell die restlichen Morphiumfläschchen aus dem kleinen Schrank, um gleich Vorort den Verletzten helfen zu können.
Zusammen mit Tony gehe ich vor das Zelt und glaube nicht was ich sehe. Bestimmt an die fünfzig Mann liegen entweder schon Tot oder schwer verletzt am Boden. Das Feuer wurde bereits eingestellt und die bewaffneten Iraker sind abgezogen. Zwischen all dem Staub der umher rennenden Männer und den Toten, sehe ich ein kleines Mädchen am Boden liegen und bitterlich weinen. Ich vergesse alles, renne zu ihr, nehme sie hoch und trage sie in eines der anderen Zelte. Ich habe die geringe Hoffnung, da weniger Verletzte vorzufinden, aber Fehlanzeige. Auch hier sind mehr als zwanzig verletzte Männer. Das kleine Mädchen hat sich in der Zwischenzeit an mir festgekrallt und hat ihr kleines hübsches Gesicht in meine Schulter vergraben. Nachdem ich in diesem Zelt keinen ruhigen Platz gefunden habe, erinnere ich mich an die Küche.
„In der Küche wird es kleine Verletzten geben und ruhig wird es da auch sein.“ denke ich mir schnell. Und ich behielt recht. Niemand war in der Küche. Immer noch mit ihr auf dem Arm setze ich mich in eine Ecke und probiere sie ein wenig zu beruhigen. Ich wippe hin und her und summe leise vor mich her.
Nach einer Weile wird sie ruhiger. Immer wieder funkt mich Tony an, aber erst, als sie sich vollständig beruhig hat, funke ich zurück.
„Wo steckst du?“ fragt er mich.
„Ich habe hier ein besonders verletztes Mädchen.“ sage ich ruhig.
„Bleibe kurz hier. Ich komme gleich wieder.“ sage ich auf arabisch, weil ich der Meinung bin, dass sie von hier ist. Ich setze sie vorsichtig in die Ecke und streiche ihr über den Kopf. Ich habe mich gerade mal zwei Schritte von ihr entfernt, als sie wieder zu wimmern beginnt.
„Bleibe hier. Ich hab angst.“ sagt sie auf deutsch. Geschockt bleibe ich stehen und sehe sie an. Sie sieht mich bittend an und wieder sind ihre Wangen nass von den Tränen. Ich hocke mich vor sie.
„Ich gehe nicht weg. Ich bleibe hier, aber ich muss trotzdem kurz Beschied sagen gehen, wo ich bin. Sie suchen schon nach mir. Ich verspreche dir, ich werde gleich wieder kommen. Es dauert nicht lange, okay?“ sie nickt kurz, zieht ihre Knie an die Brust und verschränkt ihre Amre darum.
„Hier, wenn es dir zu lange dauert, drücke einfach diesen Knopf hier und Rufe nach mir. Dann werde ich gleich kommen.“ ich drücke ihr das Funkgerät in die Hand und stehe auf.
„Ich komme gleich wieder.“ sage ich noch einmal und gehe. Draußen wartet Tony auf mich.
„Komm, wir brauchen dich hier.“ und schon ist er auf dem Weg zu den Verletzten.
„Tony, halt! Es geht nicht. Ich habe hier ein kleines Mädchen, höchstwahrscheinlich hat sie gerade gesehen, wie ihre Eltern erschossen wurden.“ sage ich durchdringend.
„Bitte lass mich bei ihr bleiben. Sie braucht mich jetzt.“ leicht entgeistert sieht er mich an. Ich drücke ihm die restlichen Morphiumampulen, die ich noch in meiner Hosentasche habe in die Hand.
„Die braucht ihr jetzt.“
„Check sie durch und geb mir Bescheid.“ sagt er knapp und geht. Kopfschüttelnd gehe ich wieder zurück zu dem Mädchen, welches immer noch in der Ecke sitzt und das Funkgerät fest umklammert.
„So, da bin ich wieder.“ sage ich ruhig, setze mich neben sie auf den Boden und schon ist sie auf meinem Schoß geklettert.
„Wie heißt du?“ frage ich nach einer Weile.
„Suzie.“ sie heißt also Suzie. Ein schöner Name.
„Und was machst du hier?“ frage ich weiter.
„Mami und ich wollten Papa besuchen gehen. So ein Mann am Telefon hat gesagt, dass wir hier her kommen dürfen und Papa ist zum Flugplatzt gekommen. Er hat uns abgeholt und dann kamen die bösen Männer.“ sie beginnt wieder zu weinen.
„Schon gut. Alles wird gut.“ sage ich und fange wieder an sie vorsichtig zu wippen.
„Ich vermisse sie sosehr.“ sagt sie weinend in meine Schulter.
„Wen?“ eigentlich weiß ich genau, wen.
„Mama und Papa.“ ich kann mir vorstellen, wie die kleine Familie auf dem Weg vom Flugplatz in die Stadt verschleppt wurde. Wahrscheinlich haben sie ihre Eltern vor ihren Augen erschossen. Wahrscheinlich kurz darauf haben sie die Entführer aufgespürt und die Kleine retten können. Was auch erklären würde, was sie hier hinten am äußeren Rand des Lagers zu suchen hat. Keine zehn Minuten vor dem Angriff wurde Tony angefunkt, dass ein Jeep unterwegs mit befreiten Geiseln hier her ist, wahrscheinlich war sie da bei.
„Möchtest du erzählen, was passiert ist?“ sie schütteln leicht den Kopf und weint noch immer in mein T-Shirt. Ich bleibe solange ruhig sitzen und wippe, bis sie sich beruhig hat. Erst dann setzte ich mich in eine bequemere Position. Etwas zwei Stunden später kommt Tony in die Küche.
„Hey ihr zwei.“ sagt er leise, als er sieht, wie wir beide auch dem Boden in einer Ecke verkrochen sitzen.
„Psst, sie ist eingeschlafen.“ flüstere ich und zeige auf Suzie. Er nickt und winkt mir zu. Ich nicke, stehe vorsichtig auf und folge ihm. Er bringt mich zu dem Zelt, in dem er und seine Kameraden nun die Nächte verbringen.
„Leg sie hier hin und deck sie ein wenig zu. Sonst kühlt sie noch aus. Die Küche ist zu kalt, um da über drei Stunden auf dem Boden zu sitzen.“ ich nickte und decke sie sanft zu. Er hat Recht, lange hätte ich es da nicht mehr ausgehalten.
„Komm.“ flüstert er und nimmt mich an die Hand.
„Ich hab mit Chefchen telefoniert. Kai sollte sich schon vor drei Tagen bei ihm melden, er hat es nicht.“ beginnt er, als wir vor dem Zelt stehen.
„Und?“
„Kai, du kennst ihn nicht, er kam zu uns, nachdem du weg warst, wollte seine Frau und seine 5 jährige Tochter vom Flugplatz abholen und mit ihren in die nächste Stadt fahren, um dort ein Wochenende zu verbringen. Dort sind sie nie angekommen. Ich habe zwei Männer losgeschickt, um sie zu suchen. Auf dem Hinweg zum Flugplatz fanden sie einen verlassenen Jeep, nicht weit davon war eine Höhle, dort fanden sie etwas sechs gefangen Genommene, darunter auch Kai, seine Frau und Suzie. Drei Leute waren noch am Leben. Auf dem Rückweg mit den Dreien, sind die Entführer ihnen wohl gefolgt und haben uns angegriffen.“ er gibt mir ein Foto in die Hand.
„Das hatte Kai noch immer fest in seiner Hand, ich glaube, die Kleine freut sich darüber.“ ich sehe mir das Foto an und erkenne sofort Suzie darauf. Auf der Rückseite steht: „Wir lieben dich, Mama und Suzie.“ ich muss schlucken, meine Vermutung ist zur Tatsache geworden.
„Hier, die beiden Rucksäcke haben sie im verlassenen Jeep gefunden.“ sagt er leise, überreicht sie mir.
„Danke.“ mehr kann ich einfach nicht sagen.
„Morgen früh fliegen sie zum Flugplatz. Von da aus nach Hause. Ich begleite euch und bringe die Kleine dann zum Jugendamt.“ sagt er.
„Leg dich noch hin. Du siehst fertig aus. Morgen früh um fünf kommt der Hubschrauber.“ er dreht sich um und geht, ohne noch einmal zurückzuschauen. Er weiß, wie schwer es mit fällt, Suzie nach dem Schicksal, was sie erlebt hat, wieder her zugeben. Ich wische mir die Tränen aus dem Gesicht und gehe zu dem kleinen Mädchen.
„Es tut mir so Leid, kleine Maus.“ sage ich leise, streiche ihr über die weichen Wangen und lege mich in die Pritschen neben sie.

Irgendwann nachts merke ich eine kleine Hand an meinem Arm. Ich drehe mich um und sehe in die, im Mondlicht strahlenden blauen Augen.
„Was ist los?“ flüstere ich und setz mich auf.
„Ich kann nicht schlafen.“ sagt sie und guckt mich traurig an.
„Nimm deine Decke, ich zeig dir was, okay?“ sie nickt und ich helfe ihr, sich in ihre Decke einzuwickeln. Ich nehme meine Decke und halte ihr die Hand hin. Sofort ergreife sie sie und geht leise mit mir nach draußen. Der Himmel ist klar und man sieht zig Millionen Sterne. Das war das Einzige, was ich vermisst habe, als ich wieder nach Hause geflogen bin. Diese wunderschönen klaren und ruhigen Nächte. Es weht ein kühler Wind, der mich frösteln lässt. Ich lege meine Decke auf einen kleinen Hügel, hinter dem das Zelt steht und setzt mich drauf. Links neben mir klopfe ich auf die Decke. Suzie lächelt vorsichtig und setzte sich zu mir. Das erste Mal seit dem ich sie zwischen den Männern gefunden habe. Sie löst den Knoten ihrer Decke und legt mir einen Teil über die Schultern und kuschelt sich an mich.
„Warum kannst du nicht schlafen?“ frage ich nach einer Weile.
„Ich weiß nicht, ich glaube ich habe angst.“ sagt sie nachdenklich und sieht in den klaren Himmel.
„Du glaubst?“ ich wundere mich über ihre aussage.
„Ja, ich glaube, ich hab angst.“ ich lege meinen Arm um sie und ziehe sie an mich ran.
„Weißt du, meine beiden Geschwister sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Ich war die Einzige die von uns drei überlebt hat. Sie waren die Einzigen in meinem Leben, denen ich vertraut habe. Sie waren meine Familie.“ beginne ich von mir aus zu erzählen.
„Was ist mit deiner Mama und deinem Papa?“
„Meine Mutter ist gestorben, als ich gerade mal drei Jahre alt war. Es gab Probleme bei der Geburt von meiner Schwester. Mein Vater war mit uns drei überfordert und ist eines Nachts nicht mehr nach Hause gekommen. Da war ich so alt wie du jetzt. Mein großer Bruder hat mich und meine Schwester aufgezogen. Sie waren die Einzigen, die ich damals hatte, sie waren meine Familie.“ mir steigen Tränen in die Augen, noch immer kann ich es nicht glauben, das man mir Beide genommen hat. Suzie legt mir eine ihrer kleinen Hände auf den Rücken.
„Sie sehen von dort oben zu und passen auf uns auf. Genauso wie Mama und Papa.“ sagt sie und zeigt mit der anderen Hand in den Himmel.
„Ich weiß.“ gedankenverloren sehe ich in dem Himmel.
„Sieh mal, eine Sternschnuppe. Wünsch dir was!“ sage ich zu meiner kleinen neuen Freundin und zeige in den Himmel. Sie schießt die Augen, dreht sich zu mir und öffnet sie dann.
„Weißt du, was ich mir gewünscht habe?“
„Das darf man doch nicht sagen, sonst geht es nicht in Erfüllung.“ sage ich.
„Ich will aber, dass du es weißt.“ sagt sie und lächelt leicht.
„Na gut.“
„Ich hab mir gewünscht, dass wir ewig zusammenblieben können. Ich will zu niemanden anderen.“ sagt sie und sieht wieder in die Himmel. Mir bricht das Herz, aber ich muss ihr die Wahrheit sagen.
„Also, ich denke nicht, dass das gehen wird. Ich würde dich sehr gern bei mir aufnehmen, aber es wird nicht gehen. Du wirst in eine andere wundervolle und liebe Familie kommen.“ sage ich vorsichtig.
„Nein! Das will ich nicht. Ich will bei dir bleiben. Ich will zu keinem anderen!“ sie fängt an zu weinen.
„Bitte! Schick mich nicht weg. Bitte!“ fleht sie nun.
„Suzie, das wird nicht gehen. Ich habe eine winzige Wohnung und außerdem bin ich nicht verheiratet.“ probier ich ihr zu sagen, aber sie will nicht hören.
„Nein, bitte nicht.“ sie wirft sich mir um den Hals und vergräbt ihr Gesicht in meine Haare. Ich umschließe sie und wiege sie hin und her.
„Ich werde dich regelmäßig besuchen kommen, versprochen.“ verspreche ich unter Tränen. Nun lasse ich ihnen freien Lauf, ich kann sie einfach nicht mehr zurück halten. Sie reagiert nicht auf mein Versprechen. Sie liegt einfach nur in meinen Armen und weint leise vor sich hin. Wir sitzen noch eine ganze Weile auf den kleinen Hügel, bis sie in meinem Arm eingeschlafen ist. Ich wickel sie richtig in die Decke ein und nehme sie auf meinem Arm. Meine Decke schmeiß ich mir selber über die Schulter und trage sie zurück in das Zelt. Den Rest der Nacht schlafe ich nicht. Ich sitze die ganze Zeit neben ihr und halte ihre kleine Hand fest in meiner.

„Guten Morgen. Warum bist du schon wach?“ fragt Tony um halb fünf Uhr morgens.
„Wir konnten nicht schlafen. Wir waren sie halbe Nacht draußen und haben uns den Himmel angesehen. Ich hab ihr gesagt, dass sie nicht mit mir kommen kann, darauf hat sie sich wieder in den Schlaf geweint.“ erzähle ich ihm leise und sehe ihn mit hoch roten Augen an.
„Du hast geweint?“ er fragt zwar, aber ich merke, das es ehr eine Feststellung war, die ihn doch etwas aus der Fassung bringt. Es ist auch kein Wunder, er hat mich nie weinen sehen.
„Ich kann sie nicht her geben.“ sage ich leise und wieder rollen mir Tränen über die Wangen.
„Das geht nicht, und das weißt du.“ ich nicke nur und sehe das kleine, friedlich schlafende Mädchen an.
„Lass sie ruhig noch schlafen, der Hubschrauber kann hier nicht nicht landen. Wir werden wohl zum Flugplatz fahren müssen. Ich sage dir Bescheid, wenn der Jeep betankt ist.“ sagt er und geht. Tony ist über die Jahre, die wir uns nicht gesehen haben, richtig gefühlskalt geworden. Den Tony, den ich kenne, oder gekannt habe, hatte Mitgefühl und hat uns in schwierigen Zeiten hin weg getröstet, uns zugehört. Zwischendurch ist er wie er damals war, aber schnell legt er dies wieder ab.
Es ist kein Wunder. Wäre ich damals hier geblieben, hätte ich sie wahrscheinlich nur durchgecheckt und mit dem nächsten Krankentransport in die Stadt geschickt und sie ihrem Schicksal überlassen. Es ist verständlich, das man seine Gefühle verliert, wenn man täglich Tod, Hass und Leid sieht. Ich hänge meinen Gedanken nach und merke gar nicht, wie die Zeit verfliegt.
„Lisa? Der Jeep ist fertig, wir warten hier auf euch.“ sagt Tony und verschwindet wieder. Ich nicke, packe meine und Suzie‘s Sachen zusammen. Das Foto von ihren Elter steck ich mir in meine Hosentasche.
„Hey. Suzie. Aufwachen. Wir müssen los.“ wecke ich liebevoll das Mädchen. Sie richtet sich auf und reibt sich verschlafen die Augen. Ich richte etwas ihre langen Haare, hebe sie auf dem Arm und nehme die Rucksäcke in die andere Hand. Suzie hat es sich mir ihrem Kopf auf meiner Schulter bequem gemacht und krallt sich in meinem T-Shirt fest. Die ganze Fahrt zum Flugplatz, der Flug mit dem Hubschrauber zum Flughafen und der Flug nach Hause sitzt sie die ganze Zeit auf meinem Schoß und sagt kein Wort.
„Suzie? Wir steigen jetzt in einen Bus, der zum Krankenhaus fährt. Ich muss früher aussteigen und Tony wird dann auf dich aufpassen, ja?“ sage ich auf dem Weg vom Flugzeug zum Bus.
„Nein!“ sagt sie laut und beginnt sofort an zu weinen. Ich muss schwer schlucken.
„Es geht nicht anders.“ flüstere ich und halte sie dennoch fest an mich gedrückt.
„Singst du mir was vor?“ fragt sie leise, als wir im Bus sitzen.
„Na klar.“ flüstere ich und krame in meinem Gedächtnis die alten Kinderlieder raus, die mein großer Bruder uns damals vorgesungen hat. Ich beginne leise irgendwelche Strophen zu irgendwelchen Melodien zu singen, weil mir einfach keines mehr einfallen will. Als ich merke, dass es im Bus immer ruhiger wird und alle meiner Stimme lauschen, werde ich lauter. Suzie wird ruhiger und alle anderen im Bus lauschen in gespannter Ruhe zu. Nach einer Weile versagt meine Stimme, weil mir ein Dicker Kloß im Hals steckt. Ich bekomme einfach kein Wort mehr raus.
„Was ist los?“ fragt Suzie und sieht mich an.
„Du darfst ruhig weinen, dass ist nicht schlimm.“ sagt sie und streicht mit ihrem Finger vom Auge über die Wange. Wie von Geisterhand rollen meine Tränen ihrem Finger nach. Sie lächelt und legt sich wieder auf meine Schulter. Unter laufenden Tränen beginne ich wieder zu singen.
Als der Bus anhält höre ich auf und sehe nach draußen. Der Bus hält in meiner Straße. Ich nicke Tony zu und er nimmt Suzie zu sich auf den Platz.
„Nein! Lass mich nicht hier! Bitte! Ich will bei dir bleiben! Lass mich nicht allein! Bitte!“ ruft sie sofort, fängt an zu strampeln und schreien. Es tut mir im Herzen weh. Schnell nehme ich meinen Rucksack und hole das Foto aus meiner Hosentasche. Ich gehe zu ihr, gebe ihr das Foto.
„Ich werde dich besuchen kommen, versprochen.“ flüstere ich und steige aus dem Bus. Noch immer höre ich sie schreien und weinen. Der Bus fährt los und ich bleibe stehen, um ihm nachzusehen. Ich sehe wie sie auf die Sitze ganzen hinten klettert und wie wild an die Scheibe hämmert und nach mir ruft. Ich lasse meinen Rucksack fallen und sehe dem Bus unter laufenden Tränen hinterher. Tony holt die Kleine vom Fenster weg und sie ist aus meinem Blickfeld verschwunden. Ich reiße mich von dem Bild los, nehme meinen Rucksack wieder auf, drehe mich um und gehe los zu meiner Wohnung.
Plötzlich höre ich ein quietschen, drehe mich um und sehe wie der Bus hält. Die Tür geht auf und erst landen zwei Taschen auf dem Boden, dann wird Suzie raus gehoben. Ich fange unweigerlich an zu lachen. Tony streckt seinen Kopf raus und wirft mir einen Luftkuss zu. Dann schließen sich die Türen und der Bus setzt sich wieder in Bewegung. Ich kann es einfach nicht glauben und stehe wie versteinert da. Auch Suzie steht nur da und sieht zu mir. Auf einmal rennt sie los und ich renne ihr entgegen. In der Mitte treffen wir uns, ich hebe sie hoch, drücke sie an mich und dreh mich zweimal mit ihr im Kreis. Schnell laufen nicht mehr tränen der Traurigkeit, sondern der Freunde.
Nach fünf Minuten lasse ich sie runter und zusammen sammeln wir alle Gepäckstücke ein.
„Hier, dass soll ich dir geben.“ sie drückt mir einen Briefumschlag in die Hand. Dann zieht sie mich am T-Shirt runter zu sich und gibt mir einen Kuss auf die Wange.
„Und den auch.“ sagt sie lachend. Ich öffne den Umschlag und überfliege den Brief von Tony. Ich kann es nicht glauben. Tony hat sich und mich, als die Adoptiveltern eingeschrieben. Am Ende des Briefes hat er „Ich zahle aber keinen Unterhalt! :)“ geschrieben.
„Suzie, ich glaube, du kannst doch bei mir bleiben und zwar für immer.“ sage ich leise, weil es mir einfach an Stimme fehlt.
„Wirklich?“ fragt sie freudig und strahl das erste Mal.
„Das ist der Adoptiv Vertrag. Tony hat uns als deine nun gesetzlichen Eltern eingetragen.“ erzähle ich ihr. Scheinbar ist er doch nicht so gefühlskalt geworden, wie ich anfangs dachte. Sie lacht, nimmt meine Hand und gemeinsam gehen wir in meine, nein unsere Wohnung.
„Siehst du, mein Wunsch ist doch in Erfüllung gegangen.“ sagt sie und lächelt mich an. Ich lächle zurück. Mehr kann ich einfach nicht machen oder sagen. Mir fehlen die Worte…

Impressum

Texte: Text und Foto fallen unter mein Copyright! © Lily Turner
Tag der Veröffentlichung: 02.03.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Dieses Mal widme ich dieses Buch all denen, die unschuldige, geliebte Menschen durch Dritte verloren haben!

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