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Vögel zwitschern. Die Sonne strahlt in mein Zimmer. Ich richte mich im Bett auf. Es ist ein altmodisches Bett. Aus Fichte. Mein Urgroßvater hat es vor über 50 Jahren gebaut. Ich finde es wunderschön. Joachim wollte es schon in den Müll werfen, aber ich habe ihn davon abgehalten. Das war vor einem Jahr. Es war genau so ein Tag wie heute. Warm, fröhlich und aufgeweckt. Aber heute ist etwas anders. Ich wundere mich über den großen Blumenstrauß aus roten Rosen, der seit gestern auf meinem Nachtisch liegt, denn heute sieht der Strauß anders aus. Er strahlt so, als ob jede Rose ein kleiner Stern ist. Aber so was kann nicht sein. Der Strauß ist genau der gleiche wie gestern, rede ich mir ein. Rosen beginnen nicht über Nacht sich zu verändern. Mühsam steige ich aus meinem Bett. Ich gehe wie jeden Morgen zum Spiegel und sehe in mein verschlafenes Gesicht. Dann stakse ich zu meinem Schreibtisch und betrachte die Zeichnung, die ich gestern Nacht gemalt hatte. Eine zierliche Frau sitzt da auf einem Sessel, der aussah, als wäre er aus Rosenblättern genäht. Diese Frau hat ein bodenlanges, glitzerndes Kleid an. Und das wichtigste, wie ich finde, sind ihre Flügel. Richtige Feenflügel. Ich nehme meine Zeichnung und hänge sie an meine Kleiderschranktür. Ich betrachte die Zeichnung noch einmal. Die Frau sieht wirklich schön aus, denke ich.
„Sonja“, schimpft meine Mutter plötzlich. Ich habe gar nicht gemerkt wie sie ins Zimmer gekommen ist. „Hier sieht es ja noch schlimmer als gestern aus. Wann räumst du endlich dein Zimmer auf?“ Ich kann es nicht leiden, wenn jemand mir sagt was ich tun soll. Oder schlimmer noch in meinem Zimmer herumkommandiert. Da könnte ich jedes Mal zu schreien beginnen. Aber heute ist etwas anders. Ich fühle mich, als ob mich nichts mehr aus der Ruhe bringen könnte. Ich beschließe nichts zu sagen und setze mich einfach auf den Boden. „Sonja?“, fragt meine Mutter zaghaft. Ich nicke kurz. „Ist etwas?“, hakt sie nach. Ich schüttele den Kopf und frage mich, wann meine Mutter endlich wieder geht. Gerade möchte ich den Mund öffnen um etwas zu sagen, als ein ohrenbetäubendes Getrommle ertönt. Meine Mutter stürmt wutentbrannt aus dem Zimmer. Aber ich sitze immer noch ruhig auf dem Boden. Irgendetwas stimmt nicht mit mir, denn normalerweise raste ich aus, wenn mein kleiner Bruder Nils zu trommeln beginnt. Aber heute ist etwas anders. Ich rühre mich nicht. Sitze einfach gelassen da.
Ich weiß nicht wie viel Zeit verstrichen ist, als es an der Tür klopft. Ich antworte nicht. Die Tür öffnet sich einen Spaltbreit. Roman linst herein. Er ist fünf Jahre jünger als Nils und viel ruhiger. „Sonja? Kann ich dein Fernglas haben? Bitte!“ Ich nicke kurz und Roman flitzt auf mein Regal zu. Er schnappt sich das Glas und verschwindet. Ich denke nach. Über meine 4 Brüder, über meine große Schwester, über meine Eltern, über die Schule, über Fußball, über alles was in meinem Kopf zu finden ist. Aber ich finde keine Erklärung. Wieso bin ich heute so anders?
Ich entscheide, dass es wohl besser ist, einfach abzuwarten. Also stehe ich auf und gehe aus dem Zimmer. Ich brauche erst einmal was zu essen. Ich marschiere zielstrebig in Richtung Esszimmer und sehe, dass meine Mutter mir ein Brot gemacht hat. Normalerweise esse ich die Brote meiner Mutter nie. Aber heute greife ich mir das Brot und esse es genüsslich auf. Dann gehe ich zur Kommode und suche in der linken Schublade nach Zettel und Stift. Schließlich finde ich einen angenagten Bleistift und ein halb zerrissenes Blatt Papier, auf welches ich in Großbuchstaben „Danke“ schreibe. Dieses Wort regt meine Gedanken erneut an. Seit wann bin ich eigentlich so nett? Ich beschloss auch dieses Mal, dass es nicht viel brachte, sich darüber den Kopf zu zerbrechen.
„Sonja!“, schreit meine Mutter. „Ich muss schnell noch in die Stadt. Könntest du so lange auf Amelia aufpassen? Ich bin auch bald wieder da. Dauert nur eine halbe Stunde.“ Amelia ist meine 2-jährige Schwester. Sie ist ziemlich nervig und deshalb mag ich sie nicht babysitten. Aber heute finde ich macht es keinen Unterschied. Meine Mutter bringt mich sowieso immer dazu, dass ich es doch tue, also warum sollte ich mich wehren? Also ging ich zu meiner Mutter. „Ja, Mum, ich passe solange auf sie auf, bis du wieder da bist.“ Meine Mutter schaut mich verblüfft an. Normalerweise schimpfe ich erst, warum gerade ich wieder auf sie aufpassen solle. „Nun gut, Sonja. Bis später.“ Meine Mutter zieht sich ihre Jacke über und geht zum Auto. „Ich weiß zwar nicht, warum du heute so anders bist, aber ich finde es gut.“ Nun ist es an mir verblüfft zu sein. Ich habe selten ein solches Lob von meiner Mutter bekommen.
Als ich mich wieder gefangen habe, ist meine Mutter bereits losgefahren. Plötzlich höre ich lautes Geschrei aus dem 1. Stock, wo unsere Kinderzimmer sind. Pflichtbewusst gehe ich nach oben. Amelia liegt in ihrem Bett und schreit. „Was ist denn Amy?“, frage ich sie besorgt. „Lulla!“, schluchzt sie tränenüberströmt. Oh nein, sie hat ihre Lulla verloren. Das ist das Schlimmste was Amy passieren kann. Ohne sie kann Amy nicht einschlafen. Ich muss sie unbedingt wiederfinden. „Roman? Nils? Joachim?“, schreie ich durchs Haus. Joachim steckt den Kopf durch Amys Zimmertür. „Was ist denn, Sonja?“, fragt er besorgt. „Amy findet ihre Lulla nicht.“ Joachim verdreht die Augen. „Kann sie nicht einmal diesen dummen Teddy vergessen? Ich hab ihr doch so viele neue Stofftiere geschenkt. Wieso hängt sie immer noch so an ihrem alten, kaputten Teddy?“ Eigentlich hat Joachim ja recht und das sage ich ihm auch immer, doch heute hat er unrecht. Wenn Amy so an ihrer Lulla hängt, dann soll sie sie auch behalten. Auch wenn Lulla nicht mehr die Neuste oder Schönste ist, so ist es doch Amys Teddy, den sie über alles liebt. Und wenn man etwas liebt, dann will man es auch nicht verlieren, auch wenn es beträchtliche Makel vorweist.
Also mache ich mich auf die Suche nach Amys geliebter Lulla. Ich suche in ihrem Zimmer, in Romans und Nils’ Zimmern und in Melanies Zimmer. Aber keine Spur von Lulla. Ich suche im Schlafzimmer meiner Mutter. Auch im Wohnzimmer unter der Couch finde ich Lulla nicht. Ich bin so eifrig am Suchen, dass es mich nicht einmal stört, dass ich mich mindestens fünf Mal angestoßen habe. Gewöhnlich fange ich zu Schimpfen an, wenn ich mir auch nur einmal den Kopf stoße. Aber heute ist etwas anders. Mir ist es plötzlich egal, wie oft ich mir weh tue oder wie lange ich suchen muss, denn nur eins ist jetzt wichtig. Amys Teddy Lulla zu finden. Und ich gebe nicht auf bevor ich Lulla nicht gefunden habe.
„Was machst du da?“ Erschrocken sehe ich auf und stoße mir den Kopf am Tischeck. Da steht Nils mit einem Grinsen im Gesicht. „Suchst du was?“, fragt er grinsend. Ich rappele mich mühsam auf und reibe mir meinen Kopf. „Ja. Amy hat ihre Lulla verloren.“ „Warum sagst du das nicht gleich? Ich weiß wo sie ist. Mama hat sie doch gewaschen.“ Er grinst mich immer noch an. Ich nicke kurz. „Weißt du auch, wo Lulla jetzt ist?“ Nils lächelt: „Sicher. Sie hängt auf der Wäscheleine.“ Eigentlich müsste ich Nils jetzt schimpfen, was ihm eigentlich einfiele, es mir erst so spät zu sagen, wo Lulla ist. Aber heute ist etwas anders. „Danke Nils.“ Nils sieht mich an, als ob ich ein Alien wäre. Ich lächle.
„Ich bin wieder da.“, ertönt ein Schrei aus dem Flur. Ich erschrecke. Ist die halbe Stunde schon vorbei? Ich sehe auf die Uhr, die in der Küche hängt. Es ist kurz vor elf. „Sonja? Hilfst du mir beim Tragen?“ Normalerweise schleiche ich mich immer davon, wenn meine Mutter mir was aufträgt zu tun. Aber heute ist etwas anders.
Ich gehe in den Flur, packe den Einkaufskorb und trage ihn in die Küche. „Was gibt es heute?“, fragt Joachim. Ich habe gar nicht gemerkt, dass er in die Küche gekommen ist. Ich drehe mich um und sage: „Lass dich überraschen.“ Meine Mutter sieht mich entgeistert an. „Seit wann kochst du?“ Ich lächle. „Seit jetzt.“ Meine Mutter sieht mich noch einmal skeptisch an, dann verlässt sie die Küche. Auch Joachim zieht sich zurück. Warum möchte ich heute kochen? wundere ich mich. Ich beschließe, mir den Kopf nicht weiter darüber zu zerbrechen.
Erstmal werde ich den Einkaufskorb ausräumen, beschließe ich. Obst und Gemüse, Backmischungen und Mehl, Öl und Essig, Wurst und Käse, Eier und Milch. All das räume ich in den Kühlschrank und die Speisekammer. Als ich fertig bin, suche ich Mamas altes Kochbuch, das auch schon meiner Oma gehört hat. Ich blättere gedankenverloren darin, bis ich auf ein Rindsrouladen-Rezept stoße. Joachim und meine Geschwister lieben Rouladen, aber da meine Mutter nicht die beste Köchin ist, gibt es sie nur 2 Mal im Jahr. Also mache ich mich an die Arbeit. Ich suche alles, was ich brauche, zusammen.
Eine halbe Stunde später schiebe ich die Rouladen in den Ofen. Dann gehe ich in mein Zimmer, aber zuerst sperre ich die Küche zu, damit keiner zuvor probieren kann. Ich schnappe mir ein Fantasy-Buch aus meinem riesigen Bücherregal.
Nach einer Stunde lege ich das Buch beiseite und gehe hinunter in die Küche. Es duftet wunderbar. Ich schließe die Tür auf. Ich hole Teller und Besteck und richte es fein säuberlich auf den Tisch. Dann hole ich die Rouladen aus dem Ofen. Sie sehen sehr lecker aus. „Mum! Joachim! Nils! Roman!“, schreie ich durchs Haus. Joachims Kopf taucht aus dem Wohnzimmer auf. „Ist das Essen schon fertig?“, fragt er zweifelnd. „Ja.“, sage ich kurz. „Das riecht ja super.“, freut sich Nils. „Ab ins Esszimmer. Wir wollen doch Sonjas wundervolles Essen probieren.“, freute sich meine Mutter. Roman, Nils und Joachim setzen sich gespannt auf den Tisch. Meine Mutter kommt zu mir in die Küche und sagt: „Ich finde es sehr nett von dir, dass du heute mal das Mittagessen gekocht hast. Das könntest du öfter tun.“ Normalerweise stört es mich, wenn meine Mutter mir aufträgt, was ich tun soll. Aber heute ist etwas anders. Ich will mir nicht weiter das Gehirn zermatern, also beschließe ich, erst einmal abzuwarten, was noch passiert. Ich gehe hungrig ins Esszimmer. Joachim, Roman und Nils essen, als wären sie halb verhungert. Meine Mutter hingegen hatte gewartet, bis auch ich zu Tisch kam. Dann beginnen auch wir beide zu essen.
Als die Rouladen gegessen waren, räumte ich den Tisch ab und spülte das Geschirr mit der Hand. Normalerweise bin ich zu faul, es mit der Hand zu waschen, sondern räume es in die Spülmaschine. Aber heute ist etwas anders. Mir macht es Spaß, das Geschirr im Seifenwasser zu waschen.
Als ich fertig bin, ziehe ich mich wieder in mein Zimmer zurück. Das Fantasy-Buch liegt immer noch auf dem Nachtkästchen, also da, wo ich es vor dem Mittagessen hingelegt habe. Ich sehe den Bucheinband genauer an. Es ist ein Greif abgebildet, der eine zierliche Frau auf dem Rücken trägt. Er fliegt durch einen Wald mit den schönsten Blumen, die ich je gesehen habe. Mich fasziniert der Bucheinband sehr. Das wundert mich. Normalerweise sehe ich den Einband nur einmal kurz an und lasse ihn dann einfach unbeachtet. Aber heute ist etwas anders. Ich betrachte den Einband mindestens fünf Minuten, bevor mir wieder einfällt, dass ich das Buch eigentlich lesen wollte. Ich setze mich auf mein Bett und fange zu lesen an.
„Sonja?“, fragt eine Stimme zaghaft. Ich habe gar nicht gemerkt, dass Roman in mein Zimmer gekommen ist. „Was ist denn, Roman?“ „Spielst du Playstation mit mir?“ Roman liebt seine Playstation über alles und deshalb freut er sich, wenn jemand mit ihm spielt. „Ja klar spiel ich mit dir.“, willigte ich ein. Ich schnappe mir meine Gummibärchentüte, die immer unter meinem Bett liegt und marschiere in Romans Zimmer. „Hier!“, sagt Roman und drückt mir einen Controller in die Hand. Ich stelle die Gummibärchentüte auf den Boden und schalte die Playstation ein. Dann wählen Roman und ich das Spiel aus und dann spielen wir.
Nach zwei Stunden mag Roman nicht mehr und wir schalten die Playstation wieder aus. Normalerweise mag ich nach zehn Minuten schon nicht mehr. Aber heute ist etwas anders. Ich könnte noch drei Stunden spielen, nur um Roman eine Freude zu machen. Ich beschließe wieder in mein Zimmer zu gehen um weiter zu lesen. Und wieder sehe ich erst den Einband an. Er fasziniert mich. Der Greif sieht richtig echt aus und die Frau sieht aus, als wäre sie aus dem Märchenland davongelaufen. Ich kann mich nur schwer vom Einband loseisen, aber schließlich beginne ich doch weiter zu lesen.
„Sonja! Abendessen!“, schreit meine Mutter. Ich wundere mich, dass es schon wieder so spät ist. Mühsam stehe ich vom Bett auf und sehe auf meinen Wecker. Es ist fast halb sieben. Wie schnell die Zeit doch vergeht, wenn man beschäftigt ist.
Im Esszimmer angekommen lasse ich mich auf einen Stuhl fallen. Meine Mutter hat das Abendessen schon auf den Tisch gestellt. Es gibt einen Nudelauflauf. Ich mag Nudeln eigentlich nicht. Aber heute ist etwas anders. Wortlos, aber mit einem Lächeln auf dem Gesicht esse ich eine Portion Auflauf.

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Tag der Veröffentlichung: 01.04.2012

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