Cover

Der Umzug in die Hölle



"Cat! Ich werde dich unheimlich vermissen, bitte versprech mir, dass wir weiter in Kontakt bleiben!", schluchzte meine beste Freundin Gabriella, Gabbs, aufgelöst in meinen Armen. Auch mir kamen so langsam die Tränen. Dieser Tag war eine einzige Katastrophe. Ich liebte meine Freunde und mein Leben hier in New York! Verdammt, ich wollte sie nicht verlieren. Es kam mir so vor, als würde wir uns niemals wieder sehen. Diese Gedanken schmerzten in meiner Brust. Ich kannte Gabbs schon so lange, und hatte sie noch nie so zerbrechlich gesehen. "Schsch, wir sehen uns bestimmt nochmal wieder. Komm schon, Gabbs. Sei nicht traurig. Wir werden uns nicht verlieren.", diese Worte kamen aus meinem Mund, hörten sich aber so fremd an wie noch nie. War meine Stimme schon immer so merkwürdig? In mir brodelte nur ein Cocktail aus Gefühlen und es war schwer, das alles auseinander zu halten. Wenn ich es nicht besser wüsste würde ich sagen ich wäre schwanger, denn meine Laune änderte sich in jeder Sekunde. Zum einen war ich so unendlich traurig, dass ich mich tagelang nur im Bett hin und her wälzen wollte, zum anderen war ich stinksauer, dass mein Vater mir sowas hier für eine dumme Kuh wie Samantha Richmond antat! Sie sollte meine Stiefmutter werden, dass ich nicht lache. Sie würde niemals meine Mutter sein, ich würde sie niemals als solche sehen. Es machte mich krank zu wissen, dass mein Vater Harrold die Erwartung hatte, dass ich sie irgendwann Mom nennen würde. Meine echte Mutter würde sich wohl im Grabe umdrehen, wenn sie wüsste, was sich hier abspielte. Dabei war sie gerade mal ein halbes Jahr... tot. Und fassen konnte ich es immer noch nicht. "... Ich will nicht, dass du geht, Cady. Du bist meine beste Freundin.", hörte ich Gabriella leise sagen. Bei dem Klang ihrer weinerlichen Stimme rutschte mir das Herz - und die Zuversicht gleich mit - in die Hose. Ich drückte sie fester an mich, schloss flehend die Augen. "Wir sehen uns wieder. Versprochen.", hauchte ich leise, ehe ich sie losließ. Immerhin standen hier, vor meinem alten Haus, noch einige andere meiner "Freunde", von denen ich mich noch verabschieden musste. Ehrlichgesagt fiel mir das bei Kylie Blackwood auch nicht schwer. Sie konnte mich noch nie wirklich leiden und ich sie auch nicht. Sie hing nur mit mir herum, weil ich so wie sie beliebt war. Alle dachten zwar wir wären Freundinnen, aber dem war nie so gewesen. "Auf Wiedersehen, Cat.", sagte sie so traurig und überzeugend mit ihren Schmollmund, dass ich es ihr fast abgekauft hätte. Auch wenn ich es nicht tat, wusste ich, dass die anderen hier es glaubten. Also spielte sich mein leichtes, aufmunterndes Lächeln auf die Lippen. "Ja, wir sehen uns bestimmt noch mal wieder.", erwiderte ich gespielt zaghaft. Der Drang zu weinen kam erst wieder hoch, als Tyler mich umarmte. "Viel Glück in Virginia, Schätzchen. Du wirst uns fehlen.", hörte ich in leise an meinem Ohr flüstern, und ich schlang instinktiv meine Arme um ihn. "Versprich mir, dass ich mir dort mal besuchen kommt, ja?", fragte ich ihn leise. Ich hatte ihn so lieb wie einen Bruder. Der gute war vom anderen Ufer, doch irgendwie hatte ich das Gefühl, dass diese Tatsache ihn mir viel sympatischer gemacht hatte, als ich ihn kennenlernte. Sein trainierter Körper, die blonden Haare und die jadegrünen Augen machten ihn nämlich unheimlich attraktiv. Wenn man ihn so sah, würde man sich niemals wünschen, dass er schwul wäre. Mit einem vertrauensvollen Lächeln löste er sich von mir und wuschelte mir neckend durch meine blonde Mähne, was mir ein empörtes "Hey!" entlockte. Schmollend strich ich mir meine Haare wieder glatt. "Klar kommen wir dich besuchen. Bist doch meine kleine Schwester, nicht wahr?", grinste er, während ich ihn immer noch mit einem schmollenden Blick betrachtete. "Cadence, beeil dich, wir müssen los, wenn wir noch früh genug ankommen wollen!", drängte mein Vater schon, und zerstörte damit die gute Stimmung, die sich gerade ein wenig in mir breit gemacht hatte. Mein Lächeln verschwand, wurde durch einen grimmigen, wütenden Gesichtsausdruck getauscht. Am liebsten hätte ich meinen Dad angeschrien, dass er mir wenigstens noch die Zeit lassen sollte, mich zu verabschieden, wenn er mich schon von hier wegbringen musste. "Hey Süße - mit dem Lächeln hast du mir besser gefallen.", hörte ich eine mir vertraute Stimme amüsiert sagen, ehe ich überrascht zur Seite blickte. "James.", entfuhr es mir etwas überrascht. Er war mit der heißeste und beliebteste Junge meiner Schule. Er hat mich mal gefragt, ob wir was unternehmen wollen, aber ich hatte abgelehnt. Er war ganz nett, aber nicht mein Typ vom Charakter her. Er umarmte mich kurz, blickte dann auf mich herab. Nun, mit meinen 177cm war ich nicht klein, aber immernoch zu klein um mit ihm auf Augenhöhe zu sein. "Wir werden dich vermissen. Ich hoffe, dass alles dort so wird, wie du es dir wünschst. Du packst das schon, Mieze.", grinste er mich kokett an, doch ich hatte Mühe ihn nicht anzugiften. Mieze, warum musste der Kerl mich auch Mieze nennen? Dachte der nur weil ich jetzt abhaue, hatte er das Recht, mich Mieze zu nennen?! Ich seufzte nur leise. "Danke. Nun -", wollte ich noch weiterreden, doch mein entnervter Dad fuhr dazwischen:" Los jetzt, ab ins Auto. Wir müssen los, sonst kommen wir noch wirklich zu spät." Ich warf Tyler und Gabbs noch einen Blick zu, lächelte leicht. Ich wollte nicht gehen, ich wollte meine Freunde nicht verlassen. Sie waren für mich schon wie eine Familie geworden. Es fühlte sich an, als müssten alle die mir wichtig sind von mir gehen oder ich müsste von ihnen gehen. Verdammt, es tat weh sie zurück zu lassen. "Auf Wiedersehen.", brachte ich noch leise herraus, war mir nicht sicher, ob sie es überhaupt gehört hatten. Ich öffnete widerwillig die Autotüre, meine schöne Kawasaki Ninja ZX-6R war immerhin schon in Virginia. Gott, alleine wenn ich an diesen Ort dachte wurde mir übel. Oder es lag an diesem ekelhaften Geruch von Samanthas Parfüm, der sich auf den Sitzen breitgemacht hatte. Mein Vater startete ohne zu Zögern den Motor, nachdem ich mich angeschnallt hatte und die Türe zuzog. Mein Blick war starr aus dem Fenster gerichtet, sah diejenigen an, die dort noch standen und zusahen, wie ich fuhr. Für immer. Ich würde nicht mehr zurückkehren. Diese Tatsache machte sich so breit in meinem Magen, dass ich erschöpft die Augen schloss und meine Stirn gegen die Scheibe lehnte. Das würde immerhin eine lange Fahrt werden. Am liebsten würde ich nie wieder aufwachen.

"...Cadence, aufwachen! Wir sind da.", vor Schreck zuckte ich zusammen und konnte mir einen leisen Schrei nicht verkneifen, als mein Vater ein meiner Schulter rüttelte und versuchte mich wach zu bekommen. Mein Herz hämmerte in der Brust, und ich starrte Harrold mit vor Schreck aufgerissenen Augen an. "Sagmal geht's noch?! So erschrecken musst du mich nun auch nicht!", brachte ich zickig heraus, während ich versuchte mich allmählich wieder abzureagieren. Tief ein- und ausatmen, dann wird alles wieder gut, bestimmt. Auf jeden Fall. Es musste wieder gut werden, jetzt, sofort. Mein Vater seufzte nur und rieb sich über die Augen. Etwas unschlüssig blickte ich ihn an, fragte mich, ob das jetzt wegen mir war und er einem Wutausbruch nahe war, oder er einfach nur müde war. Vorsichtshalber stieg ich schon mal aus dem Wagen und schlug die Türe hinter mir zu. Der Himmel hatte nun einen leicht blau-gelblichen Ton angenommen, die Sonne ging langsam unter. Wohlwollend starrte ich in den wolkenlosen Himmel, ließ mich von der kalten Luft die eine Gänsehaut auf meiner Haut verursachte nicht beirren. "Hey meine Süßen! Harrold Liebling, da bist du ja!", die schrille Stimme die ich plötzlich hörte lies mich zusammenzucken. Ein Blick über die Schulter reichte mir um mitzubekommen, wie diese sonnenstudiogebräunte, platinblonde geldgeile Kuh sich in die Arme meines Vaters warf. Ich ballte meine Hände zu Fäusten und presste die Kiefer zusammen, um dieser Frau nicht direkt den Schädel abzureißen. Ich sah zu, wie sie meinen Vater einen Schmatzer auf die Lippen drückte und sich mit einem breiten, irgendwie falsch wirkenden Lächeln zu mir umdrehte. "Cadence, schön dich zu sehen. Geh du nur schon einmal rein und sieh dich um. Dein Vater und ich werden das restliche Gepäck aus dem Kofferraum noch einräumen.", bot diese falsche Schlange mir an. Ich ersparte mir den Streit und gab ein höfliches Nicken als Zeichen von mir, ehe ich die Fassade dieses Hauses - bessergesagt dieser Villa - musterte. Es kam mir vor, als würden meine Augen beinahe riesig werden. Aber hallo! Dort ließ es sich wohl ganz gut leben! Also, das Stück musste sie ja schon von wem geerbt haben, oder es könnte einem ihrer Exmänner gehören. Wer weiß. Aber fragen würde ich ganz sicher nicht, so dreist war ich nicht. Oder nun gut, im Moment nicht. Nach einigem Zögern betracht ich diese lichtdurchflutete Villa. Der Boden bestand aus edlem Parkett, die Wände waren strahlend weiß. Designermöbel ohne Ende, und selbst im Gartenbereich befand sich ein Pool. Hammer, echt der Wahnsinn! In New York hatten wir soetwas noch nie gehabt. Meine Laune sank schlagartig auf den Nullpunkt; New York. Beinahe hatte ich vergessen, dass ich jetzt hier in West Virginia war und nicht mehr in meiner geliebten Heimat, bei meinen geliebten Freunden. Ja selbst meinen nervigen Lehrer Mr. Cooper begann ich zu vermissen, auch wenn der alte Griesgram mich so oft zum Nachsitzen verdonnert hatte wie andere atmeten. Mit einem schweren Seufzer ging ich die ebenfalls elegant verzierte Wendeltreppe hinauf. Ein gutes hatte es bis jetzt jedoch; Ich war Maison, meinem Stiefbruder, bis jetzt noch nicht über den Weg gelaufen. So könnte das von mir aus auch ruhig weitergehen, ich hatte nicht das Bedürfnis diesen schmierigen Heini früher als nötig zu Gesicht zu bekommen. Ich stieß eine der Türen auf und staunte nicht schlecht über das was ich sah; Ein wunderschönes, geräumiges Zimmer, mit schönem Parkett und einem weißen, großen Himmelbett an der Wand. Auf dem Nachttisch daneben sah ich ein Foto von mir und meiner besten Freundin Gabbs stehen. Dies hier war also mein Zimmer, warum sollte hier sonst auch dieses Foto aus der 4. Klasse stehen? Tränen traten mir in die Augen, als ich mich auf das Bett setzte und behutsam das Bild in meine Finger nahm. Ich vermisste dieses tollpatschige, freche Mädchen schon jetzt, als wären wir Jahre voneinander getrennt gewesen. Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Meine Gedanken schwebten immer wieder um die Ereignisse, die wir seit wir klein waren zusammen erlebt hatten. Und immer wieder wenn ich darüber nachdachte, trieb es mir Tränen in die Augen. Irgendwie lächerlich, wir konnten uns ja immer noch sehen. Aber nicht mehr so oft wie damals. Höchstens in den Ferien. "Cadence, Maison, Essen ist fertig!", holte mich Samanthas Stimme von unten aus meinen Gedanken. Verwirrt runzelte ich die Stirn. Essen? Ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass es schon spät war. Also stand ich auf und fuhr herum wollte aus meinem Zimmer gehen - doch da stand Maison in der Türre. Verschreckt blieb ich wie angewurzelt stehen, blickte ihn verwirrt an. "Wie lange stehst du denn schon da? Hast du nicht gehört? Essen ist fertig!", giftete ich ihn an. Sein komischer Blick brachte es fertig, dass sich mir die Nackenhaare aufstellten. "Da hast du Recht - Ich gehe schon zum Nachtisch über.", raunte er mir zu und leckte sich so ekelerregend über die Lippen, dass mir schier das Blut in den Adern gefror. Ohne Vorwarnung trat er auf mich zu, packte mich an den Handgelenk und drückte mich gegen die Wand. Perplex und angewidert starrte ich ihn an. "Was soll das, du Vollidiot?!", keifte ich atemlos. Er sagte kein Wort, kam mir stattdessen mit seinem Gesicht immer näher, und ich spürte auch, wie sich seine Erregung gegen meinen Oberschenkel presste. Angewidert verzog ich mein Gesicht und blickte zur Seite. "Nimm deine Finger weg, du Schwein!", fauchte ich und trat ihm kraftvoll auf den Fuß. Ich hatte nicht geglaubt dass es so weh tat, es musste eher am Überraschungseffekt gelegen haben. Klasse. Ich hatte nicht nur einen gestörten, sondern auch noch ekelhaften und perversen Stiefbruder! "Das wirst du bereuen!", vernahm ich noch seine warnende Stimme, doch das war mir egal. Ich stürmte nach unten in die Küche und setzte mich hastig auf den Platz neben Samantha und meinem Dad, solange ich nicht neben Maison sitzen musste war mir das so auch ziemlich recht. Samanthas verwirrter Blick entging mir nicht, doch ich sagte nichts. Glauben würden mir die Beiden ohnehin nicht, also konnte ich das auch bleiben lassen. Was war der gerade gewesen? Hatte Maison wirklich versucht, das zu tun, wovon ich dachte dass er das tun wollte? Er widerte mich schon jetzt an! Wie sollte ich mit so einem "Bruder" zusammenleben?! Ein krankes, perverses Mistschwein war das! Ich würde mir das unter Garantie nicht gefallen lassen, niemals. Ich nahm mir gedankenverloren einen Teller voll von den Nudeln mit dieser leckeren Sauce, begann gemächlich zu Essen. An dem Gespräch der Beiden nahm ich nicht Teil, reagierte nur mit einem Schulterzucken als Harrold mich fragte, was mit Maison sei. Samantha erklärte mir, dass ich mit Maison zusammen auf die Paradise Highschool, die nicht weit entfernt von hier zu sein schien, gehen würde. Man, alleine bei diesem Namen Paradise Highschool drehte sich mir der Magen um. Kaum eine halbe Stunde später, in der mein Teller fast vollkommen leergeputzt war, stand Maison in der Türe. Sein geheimnisvoller, beunruhigender Blick ließ meine Nackenhaare stehen. Allerdings nicht auf die angenehme Art und Weise - wäre auch zu merkwürdig gesehen. "Tut mir Leid, ich hatte keinen Hunger. Ich leg mich jetzt hin, bis morgen dann.", seine Worte ließen mich misstrauisch werden, aber zumindest hatte er sein Problem in der Hose in den Griff bekommen - wortwörtlich. Angewidert bei dem Gedanken musste ich mich zusammenreißen, keine Grimasse zu ziehen. "Maison", hörte ich Samanthas Stimme verwirrt sagen, "bist du dir sicher mein Junge? Geht es dir nicht gut?" Diese Frage hätte diese Schlange sich sparen können! Deren Sohn war ein Psycho! Hallo, wie konnte es dem denn da noch gut gehen?! "Ja, alles besten. Schlaft gut.", versicherte Maison. Sein gedehnter Unterton bei seinem letzten Satz war mir nicht entgangen. Ich starrte ihn an, und er erwiderte meinen Blick, bis er aus dem Sichtfeld verschwunden und die Treppe hochgegangen war. Ich musste hier weg, so schnell wie möglich. "Danke, das Essen war lecker. Ich geh mich dann jetzt duschen und dann auch ins Bett. Gute Nacht.", sagte ich noch etwas abwesend, bevor ich die Treppe hochging und mir erstmal eine angenehme, beruhigende Dusche gönnte. Danach schlüpfte ich in meinen lecker nach Vanille duftenden Pyjama und legte mich ins Bett. Es dauerte nicht lange, da versank ich schon im Schlaf...


Schläfrig wälzte ich mich von einer Seite auf die andere, versuchte die Sonnenstrahlen zu ignorieren, die mich aus meinem erholsamen Schlaf reißen wollten. Ich würde alles dafür geben, hier liegen bleiben zu können. Die stille Hoffnung, dass der gestrige Tag nur ein schlechter Scherz gewesen sein könnte, wurde immer realistischer - zumindest in meinen Augen. Aber eine so kranke Fantasie die so einen Tag hätte erzeugen können, besaß ja nichtmal mehr ich. Glaubt mir, das will schon was heißen. Aber Moment mal - warum klingelte mein Wecker eigentlich nicht? Ein herzhaftes Gähnen entfuhr mir und ich streckte mich ausgiebig. Ein wohliges Gefühl breitete sich in mir aus, als mir der Vanilleduft in die Nase stieg - doch dieses Gefühl wurde zunichte gemacht, als mein Blick auf die Uhr fiel. "Scheiße!", stieß ich aus und sprang hektisch aus meinem Bett. Warum hat dieser nutzlose Wecker nicht geklingelt?! Ich war mir doch sicher gewesen, dass... Maison. Ich würde meinen Kopf darauf verwetten, dass dies hier sein Werk war. Ich dumme Kuh hatte ihn gestern ja auch alleine noch in meinem Zimmer stehen lassen, obwohl er mir gedroht hatte, dass ich das bereuen würde. Typisch ich, mal wieder. Wenn die Schule um 8:10 begann, dann hatte ich noch knapp eine halbe Stunde Zeit. Das würde nicht mal reichen, um mir mein Gesicht zu waschen! Fahrig zog ich mir wahllos ein schwarzes Top, eine helle Röhrenjeans, Unterwäsche und schwarze Chucks aus meinem Schrank. Die Schuhe ließ ich einfach auf den Boden fallen, mit den restlichen Sachen stürmte ich ins Bad. Nun, vielleicht sollte ich es ja positiv sehen, so musste ich zumindest nicht mit Maison zusammen fahren. Wer weiß, was dieses Schwein da sonst abgezogen hätte. Ich wollte darüber aber auch garnicht mehr so lange nachdenken, wenn ich ehrlich war. Schnell putzte ich mir die Zähne und kämmte mir meine blonde Mähne, die mir bis unter die Brust fiel. Glätten musste ich mir meine Haare nicht, sie waren sowieso schon ziemlich glatt. Insgesamt hatte mich mein Spiegelbild schon immer an meine Mom Emily erinnert, besonders meine grau-blauen Augen die von einem schwarzen Wimpernkranz umrahmt wurden, betonten alles nur noch mehr. Nachdem ich noch dezent Make-Up aufgelegt hatte, spähte ich herüber auf die Uhr. Super, ich hatte zwanzig Minuten damit zugebracht mich zu waschen, bürsten und zu schminken. Die Tatsache, dass ich normalerweise viel länger brauchte, stimmte mich zufrieden. Auch wenn ich nur noch zehn Minuten Zeit hatte, um pünktlich zu erscheinen. Na Bravo, ich würde wohl schon am ersten Schultag an der Paradise Highschool zu spät kommen! Während ich mir meine Kleidung anzog, dachte ich über diesen kitschigen Namen "Paradise Highschool" nach. Gingen denen etwa die Ideen für Namen aus, oder wie sollte man das verstehen? Wieder in meinem Zimmer angekommen setzte ich mich auf mein Bett und zog mir hastig meine schwarzen Chucks an, streifte mir danach noch meine Jeansjacke über und hastete die Treppe runter. Meine Tasche lag gepackt auf dem Frühstückstisch. Misstrauisch zog ich eine Augenbraue hoch, ich könnte schwören, dass Maison da auch wieder seine Finger im Spiel hatte. Aber Zeit das zu überprüfen hatte ich ohnehin nicht, also warf ich mir die Tasche über und schnappte mir die Schlüssel für meine Kawasaki Ninja. Ich liebte mein Baby (ja, ich nenne mein Motorrad Baby) über alles. Würde Samantha oder irgendeiner dieser gestörten Familie auch nur einen Finger daran setzen, wäre hier die Hölle los. So schnell wie möglich stieg ich auf mein Baby und bretterte auch schon über den Asphalt. Dass dies meine Haare in Mitleidenschaft zog, war mir egal. Da müssten die jetzt mal durch, auch wenn es mir selbst schon missfiel. Es dauerte ungefähr zehn Minuten, bis ich an meiner neuen Schule ankam. Ich stellte mein Baby ab und zog den Schlüssel heraus, stieg herunter und musterte dieses größte Gebäude. Nun, eigentlich waren es mehrere Gebäude. Ich nahm an, dass die beiden großen nur für den "normalen" Unterricht gedacht waren, und die etwas weiter entfernte Halle für Sport gedacht war. Immerhin lag diese auch direkt am Football-Feld. Zaghaft nahm ich meine Schultasche und trat in das größere Gebäude ein. Alles wirkte hier wie ausgestorben, der Unterricht hatte schon seit - ich warf einen kurzen Blick auf die Uhr im Gang - fünf Minuten begonnen. Innerlich seufzte ich schwer, blieb stehen und kramte in meinem Rucksack. Es brachte ja nichts, wenn ich sowieso keine Ahnung hatte wo ich hin musste. "Maison, ich bring dich um!", zischte ich wütend. Dieser Kerl muss mir den Stundenplan geklaut haben! Ich war völlig aufgeschmissen ohne diesen Fetzen der mir sagte, in welchen Kurs ich denn jetzt musste. Als wäre das nicht schon genug gewesen, musste ich schon so langsam mal auf Klo. Langsam traf es nicht ganz, eher ziemlich dringend, wenn hier nicht gleich ein Unfall passieren sollte. Man, ich liebte mein neues Leben schon jetzt (hatte ich schon erwähnt, dass ich ein richtiger Sarkasmus-Fan bin?). Drängend lief ich durch die Gänge, bis ich endlich die heiß ersehnte Toilette fand und in eine der Kabinen huschte. Äh - Moment mal. Seit wann war es üblich, dass in Mädchen-WC's Toiletten standen, bei denen man im Stehen pinkeln sollte? Oh-oh. Super gemacht Cadence. Jetzt bist du nicht nur die Neue, sondern auch noch die perverse Spannerin auf Jungenklos. Ok, keine Panik. Ich musste einfach nur rausgehen und - Oh Scheiße, da kam jemand rein! Wie erstarrt stand ich in der Kabine, sprach ein stummes Gebet aus, dass er mich nicht sah. "Hey Kumpel, wie lang brauchst du noch?", diese Stimme kam direkt von vorne. Der Typ musste mich gemeint haben. Anstatt ihm zu antworten (was ich so oder so nicht tun wollen würde!) war ich immer noch fasziniert von seiner Stimme. Er hörte sich tief, melodisch und einfach wunderbar an. Wie die Stimme eines Engels, so könnte man das sagen. "Hallo?!", knurrte besagter Engel und klopfte gegen die Kabinentüre. In dem Moment war ich froh, dass er mich nicht sah. Sonst hätte er auch gesehen, wie rot ich war. Ich konnte noch nie gut Stimmen verstellen, aber was anderes blieb mir nicht übrig. "Noch sehr lange.", gab ich von mir. Scheiße! Ich hörte mich so piepsig an wie noch nie! Ich versuchte das mit einem gestellten Husten zu vertuschen, aber das hörte sich noch grausamer an. Sein amüsiertes Lachen sorgte für eine angenehme Gänsehaut - und außerdem sorgte es dafür, dass ich innerlich begann zu kochen vor Wut. "Mädchen, mach dass du da raus kommst!", prustete er. Na jetzt würde ich erst recht nicht rauskommen! Der würde denken, dass ich eine Tomate wäre. Nur hatte dieses Arsch mit seinem (eigentlich ziemlich schönen) Gelache einen Nerv getroffen. Schwungvoll öffnete ich die Türe und hörte einen dumpfen Schlag. Diesmal war ich es, die lachte. Ich hatte dem Arsch die Türe voll ins Gesicht geschlagen! Ich huschte aus der Kabinentüre vorbei und blickte ihn an. Durfte ich sabbern? Er sah unheimlich gut aus, mit dieser Engelsvermutung könnte ich beinahe richtig liegen. Sein schwarzes, etwas längeres Haar war durchzogen von einem gesunden Schimmer, er hatte einen Körper wie ein Gott. Unter seinem weißen Shirt konnte man schon sehnige Muskeln erahnen, und sein Gesicht war so markant wie auch weich. Hallo, Erde an Cadence! Atmen nicht vergessen! Er musste bemerkt haben, wie ich ihn angesehen habe. Sein amüsiertes Schmunzeln ließ doch wieder die Wut in mir hochkommen. "Was ist?!", blaffte ich ihn empört an. "Noch nie gesehen, wie sich jemand in der Tür geirrt hat?!", diese gereizte Frage ließ ihn nur noch mehr grinsen, und trieb mich fast zur Weißglut. Aber nur fast, denn er sah dabei verboten gut aus. "Blondie, reg dich ab.", erwiderte er gelassen und hob abwehrend die Hände, doch ich sah ihm an, dass er sich das Lachen verkneifen musste. "Ich bin völlig ruhig, also sag mir nicht, dass ich mich abregen soll!", mein Rumgezicke kam mir selbst schon leicht albern vor, aber was soll's. Ich hasste es zudem, wenn man mich Blondie nannte. "Nenn mich gefälligst nicht Blondie!", keifte ich ihn dann noch an. Er verschränkte die Arme vor der Brust und betrachtete mich so durchdringend mit diesen grauen Augen, dass mir die Knie weich wurden. "Wenn du mir deinen Namen verrätst, gerne.", huch, der Junge konnte ja auch ganz charmant klingen und hielt es sogar für nötig, mir ein anzügliches Lächeln zuzuwerfen. Ich hob nur die Augenbraue und presste die Kiefer zusammen. Baggerte der mich jetzt schon an oder was?! "Cadence.", gab ich dann doch meinen Namen nach einigem Zögern preis. "Geht doch, ich bin Alec.", sein geht doch machte mich schon wieder fuchsteufelswild. Normalerweise war ich nicht so. Aber dieser Kerl schaffte es mir in so kurzer Zeit schon einen halben Herzinfarkt erleiden zu lassen! Ich schenkte ihm ein zuckersüßes Lächeln. "Weißt du, ich denke, ich nenne dich doch lieber Arsch oder vielleicht sogar Arschgesicht, okay? Also, ich muss dann auch zusehen, dass ich meinen Klassenraum finde. Auf nimmer Wiedersehen, Ale- ich meine Arschgesicht.", gab ich so gespielt freundlich wie ich nur konnte von mir, was ihn wohl wirklich überraschte. Mir war das egal, denn ich stolzierte hoch erhobenen Hauptes aus dem Jungsklo. Wenn ihr mich fragt, war das ein klasse Abgang.

Impressum

Bildmaterialien: weheartit.com
Tag der Veröffentlichung: 24.11.2012

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /