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Bodenlos

 

Bodenlos

 

 

Mein großer Bruder Liam hatte mir sein Leben des Öfteren als bodenlos beschrieben.

„Es ist dunkel. Du kannst nichts sehen“, hatte er versucht zu erklären. „Du fällst. Du fällst immer weiter und du hast keine Chance, dich an irgendetwas festzuhalten.“

Ich hatte ihn fasziniert angesehen.

Mein großer Bruder, der doch so viel mehr vom Leben wusste als ich und der so viel mehr mitbekam. „Und dann?“, hatte ich neugierig gefragt. Er hatte mit den Schultern gezuckt. „Es gibt keinen Aufprall. Nur einen Fall...Einen Fall ins Bodenlose.“ Mehr hatte er dazu nie gesagt und so oft ich ihn auch gefragt hatte, er wollte mir nicht mehr darüber erzählen.

„Du wirst es selbst sehen“, wiederholte er immer wieder. Damals war ich acht gewesen und seit dem hatte sich vieles verändert. Es fing damit an, dass Liam immer seltener nach Hause kam. Er stritt viel mit Mutter. Ich verstand nie, worum es ging. Irgendwann kam er überhaupt nicht mehr. Mutter begann zu trinken, schimpfte, fluchte und weinte. Sie verglich Liam mit Vater, der auch einfach gegangen war. Ich war vierzehn Jahre alt, doch ich wusste, was zu tun war. Ich musste verhindern, dass Mutter den Boden unter den Füßen verlor. Ich musste dafür sorgen, dass sie standfest blieb, so wie es von uns erwartet wurde. Doch dann wurde die Leiche meines Bruders gefunden und meine Mutter begann zu schweigen. Er war von einem Hochhaus gesprungen. Ich war wütend. Am liebsten hätte ich ihm in sein totes kaltes Gesicht geschrien. „Du Lügner!“, hätte ich gebrüllt, hätte ihn an den Schultern gepackt und seine Leiche geschüttelt. „Du dreckiger Lügner! Du hast mir erzählt, es gäbe keinen Aufprall in deinem Leben! Du sagtest, es sei bodenlos! Du hast gelogen! Du hast mich angelogen!“

Mutter schloss sich abends in ihr Zimmer ein. Sie machte nicht auf, wenn ich klopfte.

Mein Bruder war alles für mich gewesen. Ich hatte ihn vergöttert. Ich hatte so sein wollen, wie er. Doch ich hasste ihn dafür, was er unserer Mutter angetan hatte. Was er mir angetan hatte.

Und mit seinem Tod kamen die Albträume...

 

Ich fiel in ein dunkles, schwarzes Loch. Die Angst griff mit langen Fingern nach mir. Meine Augen waren weit aufgerissen, während ich immer schneller fiel. Ich schlug mit den Händen um mich. Versuchte etwas zu fassen, das meinen Fall aufhalten würde. Doch da war nichts. Nur die kalte, unangenehme Leere, die überall um mich herum war. Ich spürte sie an meiner Kehle, wie einen zu eng geschnürten Mantel und ich spürte sie noch meilen- und meilenweit von mir entfernt in alle Richtungen. Ich bekam keine Luft und öffnete den Mund so weit ich konnte. Der Wind zerrte an meinen Kleidern und meinen Haaren, doch er verweilte nicht in meinen Lungen. Mein ganzer Körper zitterte. Ich würde sterben. Wenn ich nicht aufhören würde zu fallen, würde ich sterben! Meine Hilflosigkeit trieb mir Tränen in die Augen. Ich kniff die Augen zu, riss den Mund noch weiter auf und schrie...

Schweißgebadet wachte ich auf. Mein Atem ging schwer und keuchend. Mit weit aufgerissenen Augen sah ich mich in meinem Zimmer um. Es war klein und unordentlich. Alles wie immer. Alles war in Ordnung. Langsam beruhigte ich mich wieder. Jede Nacht war es genau der selbe Traum. Jede Nacht fiel ich und konnte nichts daran ändern. Ich setzte mich vorsichtig auf und schwang die Beine über die Bettkante. Behutsam setzte ich meine Füße auf dem dunkelbraunen Parkett auf und atmete tief ein. Der Boden gab nicht nach. Ruhig und sicher lag er vor mir. Ich schloss die Augen und versuchte so langsam wie möglich zu atmen. „Oh, Liam. Was hast du gedacht, als du gefallen bist?“, flüsterte ich leise. Ich öffnete die Augen wieder und genoss das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu spüren. Ob Liam es sich im Fall anders überlegt hatte? Ob er wohl versucht hatte, nach etwas zu greifen und nichts da war, was ihm hätte Halt geben können? Ich vergrub das Gesicht in den Händen. „Denk nicht nach!“, befahl ich meinem Gehirn. „Halt die Klappe!“ Doch die Bilder von Liam, wie er versuchte sich irgendwo fest zu halten, blieben unbarmherzig in meinem Kopf. Ich stand auf, ging ins Badezimmer und drehte den Wasserhahn auf. Mit den Händen klatschte ich es mir ins Gesicht. Dann besah ich mich im Spiegel. Mein dunkles Haar fiel mir in nassen Strähnen über die Stirn. Nass von Wasser und Schweiß. Unter meinen geröteten Augen waren deutliche Schatten zu erkennen und meine Pupillen waren viel zu geweitet. Ich seufzte und trocknete mein Gesicht mit einem Handtuch, das neben dem Waschbecken hing. Es kratzte und rieb unangenehm an meiner Haut. Ich sah aus dem Fenster. Es wurde schon hell. Der graue Himmel sah aus wie eine Betondecke. Auch die breite Straße, die von hier oben so klein aussah, war grau und dreckig. Ich ging zurück in mein Zimmer und schaltete das Licht an. Dann ging ich zu meinem Schrank und suchte mir etwas zum Anziehen heraus. Eine schwarze Hose, darüber ein graues Top. Schlicht und einfach. Nicht zu auffällig. In diesen Farben fühlte ich mich wohl.

Ich ging die Treppe hinunter. Plötzlich trat mein Fuß ins Bodenlose und ich stolperte die restlichen Stufen hinunter. Zum Glück konnte ich mich schnell wieder fangen. Ich ging in die Küche und machte den Kamin an. Das Feuer loderte gemütlich, während ich am Herd ein paar Eier in die Pfanne schlug. Ab und an knackte das Holz. Ich begann zu summen. An kalten Tagen war es in unserer Wohnung viel gemütlicher als an warmen Tagen. An sonnigen Tagen fiel auf, wie schäbig alles aussah. Die dreckigen Dielen, die abgeblätterten grauen Wände, die alten Möbel und das viel zu helle unangenehme Licht der Deckenlampen. An grauen trüben Tagen allerdings wirkte unsere kleine, enge Wohnung fast gemütlich. Meine Mutter kam die Treppe hinunter. Sie sah mich nicht an, nahm sich einen Teller und setzte sich an den Tisch.

„Ich gehe heute wieder in die Grube“, sagte ich ihr. So nannten wir die Kohlemine außerhalb der Stadt. Mit dem Bus dauerte es etwa eine halbe Stunde, um sie zu erreichen. Liam hatte dort gearbeitet und ich hatte als er starb seinen Platz eingenommen. Meine Mutter war nicht fähig, irgendwie zu arbeiten. Deshalb hatte man mich ihr wegnehmen wollen...

Nach meinen Schuljahren, für die ich verpflichtet war, hatte ich sofort damit begonnen in der Grube zu arbeiten.

Mutter reagierte nicht.

Ich nahm die Pfanne vom Herd und gab ihr ein wenig Rührei auf den Teller. Dann stellte ich die Pfanne auf den dunklen Holztisch, deckte mir ebenfalls einen Teller und holte zwei Gabeln aus der Schublade. Die eine legte ich neben meine Mutter. Mit der anderen kratzte ich mir selbst ein wenig Rührei aus der Pfanne und begann zu essen. Meine Mutter bewegte sich nicht.

„Wenn ich Glück habe und es heute gut läuft, bekomme ich vielleicht demnächst mehr Geld“, sagte ich und stocherte in meinem Rührei. „Hast du Durst?“, fragte ich, stand auf und stellte zwei Gläser auf den Tisch. Dann nahm ich den Orangensaft und füllte beide Gläser bis zum Rand. Ich trank vorsichtig, ohne etwas zu verschütten. Meine Mutter starrte abwesend auf den Holztisch. An ihr Verhalten war ich schon lange gewöhnt. Ich aß weiter. Schnurrend rieb sich etwas an meinem Bein. Ich lehnte mich herunter und streichelte Tinnie. Seit ich denken konnte, war Tinnie ein Teil unserer Familie. Unsere rot getigerte Katze. Tinnie sprang auf einen freien Stuhl neben mir und starrte gierig auf das Essen.

„Du verfressene Katze!“ Ich schüttelte den Kopf und aß weiter. Mit einem Satz war Tinnie auf dem Tisch und stierte auf das Frühstück. „Ksch!“, machte ich und schubste sie leicht. „Geh runter, Tinnie!“

Sie fauchte mich kurz an und sprang dann wieder auf den Stuhl, von dem sie mich argwöhnisch beobachtete. Ich stand auf, nahm meinen inzwischen leeren Teller mit und stellte ihn in die Spüle. Im Flur lagen ein paar Haargummis auf der Kommode. Ich nahm mir eines und band meine schwarzen Haare zu einem Knoten zusammen. Dann zog ich mir meine schwarzen Arbeitsschuhe und die lange schwarze Jacke an. Sie war zwar leicht, doch aus ekligem Plastik. Außerdem stank sie, egal, wie oft ich sie wusch. „Um vier bin ich wieder da!“, rief ich ins Esszimmer. Ich bekam keine Antwort. Ich zog die Haustür hinter mir zu, vergrub meinen Hausschlüssel in der Innentasche meiner Jacke und stieg die Treppen des Hochhauses hinunter. An der Bushaltestelle wartete niemand außer mir. Die meisten Leute in diesem Wohnviertel ließen sich draußen nicht blicken. Auch im Bus waren nur eine handvoll Fahrgäste. Sie alle waren unterwegs zur Grube. Mir fiel eine Frau auf, die Ende dreißig zu sein schien. Sie sah unendlich müde aus. Wahrscheinlich hatte sie Kinder zu Hause, die sie ernähren musste und die Grube schien der einzige Ort zu sein, an dem sie arbeiten konnte. Während die Welt draußen an mir vorbeizog, dachte ich über Liam nach. Liam und sein bodenloses Leben, das in einem Aufprall geendet hatte. Wieso war er gesprungen? So oft hatte ich meine Mutter gefragt, doch nie hatte sie mit mir geredet. Sie kam nur ab und an aus ihrem Zimmer. Ich erinnerte mich daran, dass sie früher so etwas Ähnliches schon einmal getan hatte. Früher als Vater noch da war. Immer, wenn sie sich gestritten hatten, hatte sie sich in ihr Zimmer eingesperrt. Manchmal nur für ein paar Stunden, doch manchmal waren es auch Tage oder sogar Wochen gewesen. Liam hatte mir erklärt, dass niemand zu ihr hereindürfe. Dass es mir strengsten verboten sei, ihr Zimmer zu betreten. Ich hatte es akzeptiert und ich akzeptierte es auch heute noch.

Ich sah in den Himmel. Wann hatte ich zuletzt die Sonne gesehen? Ein paar kurze Erinnerungen vom Sommer waren mir geblieben, aber der letzte wirkliche Sommer, der war Jahre her. Blumen hatte ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen und Bäume waren eine Rarität. Hier war es grau, neblig, düster... und das nun schon seit fünf Jahren. Seit Liams Tod hatte ich begonnen, die Welt mit anderen Augen zu sehen. Seit seinem Tod hatte sich meine Welt verändert. War es Zufall oder Schicksal?

Sollte sich diese Welt für mich auf diese Art und Weise verändern? Hatte es einen Sinn, dass Liam sich das Leben genommen hatte? Hatte sein Tod eine Bedeutung?

Oder war alles nur ein Zufall? Liams Tod nur eine Kurzschlusshandlung und das Schweigen meiner Mutter nur eine Folge seiner Entscheidung?

Wie ich es auch drehte, es war geschehen. Ob Zufall oder Schicksal spielte letztendlich keine Rolle. Es dem Schicksal zuzuschreiben wäre tröstlicher, aber dennoch genauso sinnlos.

Der Bus hielt. Zusammen mit den anderen Fahrgästen stieg ich aus. Vor mir lag die Grube. Ein zwei Meter hoher Gang klaffte in dem Berg, der sich bis hoch in den Himmel erstreckte. Ich folgte den anderen, die mit mir im Bus gesessen hatten, in den Berg hinein. Der steinerne Gang war hell beleuchtet. An der Decke hingen helle, flackernde Lampen, die ab und an knisterten. Wir bogen in eine kleine Nebenhöhle ab, die als Umkleideraum diente. An den Wänden führten Bänke entlang und darüber waren Haken, an denen Helme, Jacken und Arbeitshosen baumelten. Es war laut, stickig und es stank. Hier war der einzige Ort, den ich kannte, an dem man neue Leute kennenlernen konnte...vorausgesetzt man wollte diese Leute kennenlernen. Es gab hier alle möglichen Sorten von Menschen: Mörder, Vergewaltiger, Diebe, Arbeitslose und Leute wie mich. Die Grube bot jedem Menschen einen Arbeitsplatz und nahm jeden auf, der nach einem fragte. In der Stadt war es schier unmöglich einen Job zu bekommen. Ich quetschte mich durch die vielen Menschen hindurch, um zu meinem Platz zu gelangen. Als ich endlich angekommen war, nahm ich meine Arbeitshose vom Haken und zog sie über meine schwarze Alltagshose. Dann nahm ich den schwarzen Helm mit dem Licht vorne und setzte ihn mir auf. Ich war immer darauf bedacht, keinen Kontakt zu Fremden einzugehen. Oft genug schon hatte ich mich wehren müssen. Plötzlich legte sich eine Hand auf meine Schulter. Ich fuhr herum.

Jake stand vor mir. Er war ein guter Freund meines Bruders gewesen. Ich vertraute ihm.

„Ich hab’ dich gestern schon vermisst!“, rief er über die Stimmen, der anderen hinweg.

„Mir ging’s nicht so gut“, erwiderte ich genauso laut.

Er nickte. „Gehen wir runter?“

Wir kämpften uns bis zum Ausgang und liefen weiter den Gang entlang ins Innere des Berges. Ich musterte Jake. Sein Gesicht war schon schwarz von der Kohle und er sah müde aus.

„Wie lange bist du schon hier?“, fragte ich.

„Die ganze Nacht“, erwiderte er.

„Warst du nicht zu Hause?“, fragte ich verwundert.

Er zuckte mit den Schultern. „Was soll ich da?“

Wir kamen am Schalter an. Ein Fenster in der dunklen, steinernen Wand. Auf der anderen Seite saß ein alter Mann, der unsere Namen aufschrieb und uns Werkzeuggürtel und je eine Spitzhacke gab. In den Gürteln waren zwei Hammer, ein Seil, Pinsel, Batterien für die Helmlampe, eine Taschenlampe, ein Zentimetermaß und weitere Gegenstände befestigt, die ich noch nie gebraucht hatte.

„Gang 17 ist heute gesperrt“, sagte der Alte mit krächzender Stimme und hustete, während Jake und ich uns die schweren Gürtel umschnallten. „Ist gestern eingestürzt.“ Er rückte seine Brille zurecht und kratzte sich am Kopf. Ich musterte ihn. Er war immer hier. Immer an derselben Stelle. Wusste er überhaupt noch wie Tageslicht aussah? Wann hatte er zuletzt frische Luft eingeatmet?

„Wir wollten zu 5“, sagte Jake.

Der Alte sah Jake und mich an. Dann nickte er. „Genehmigt!“, krächzte er und drückte uns beiden eine Plakette mit der Zahl „5“ auf den Helm.

Es dauerte nicht mehr lange und wir hatten den Aufzug erreicht. Ein Aufseher prüfte unsere Helmplaketten und ließ uns dann in den Aufzug steigen. Ich hasste den Aufzug. Er bestand aus einer hüfthohen Holz-Umzäumung und alten Holzplanken. Der Aufseher legte einen Hebel um und der Aufzug sank langsam immer tiefer in ein dunkles schwarzes Loch. Er ächzte bei jeder Bewegung. Bis jetzt war noch nie einer abgestürzt, doch trotzdem hasste ich die Fahrt bis nach ganz unten. Wir hatten zwar Lampen an unserem Helm, doch mit denen konnte man nicht bis auf den Boden sehen. Der Lichtschein wurde nach ein paar Metern von der Dunkelheit verschluckt. Eine Fahrt ins Bodenlose. Ich bekam jedes Mal aufs Neue eine Gänsehaut.

Jake schien es nichts auszumachen. Er kannte die Grube wie seine eigene Westentasche. Ich war hier unten immer nur mit ihm unterwegs. Er wusste immer, wo es lang ging, egal, wohin man wollte und er verlief sich nie in dem Wirrwarr von Gängen.

Mit einem dumpfen Aufprall kam der Aufzug in einer kleinen beleuchteten Höhle zum Stehen. Ich spürte den Druck auf meinen Ohren. Von hier winkelten sich ein paar dunkle Gänge ab, mit Schildern über ihren Eingängen. Gang 5 lag genau gegenüber von uns. Jake öffnete den Riegel, der kleinen Pforte und stieg aus dem Aufzug. Ich tat es ihm nach und zog dann einmal kräftig an einer Schnur, die neben dem Aufzug hing. Diese Schnur führte nach oben und war mit einer Glocke verbunden, wenn diese Glocke läutete, wusste der Aufseher, dass der Aufzug wieder nach oben gebracht werden konnte oder dass jemand der unten war, wieder nach oben wollte. Jeder der 32 Aufzüge hatte seine eigene Glocke.

„Du musst dir ansehen, was ich heute Nacht entdeckt habe!“, sagte Jake und ging in den dunklen Gang hinein. Ich schauderte. Es war eindeutig kälter als oben.

„Was hast du entdeckt?“, fragte ich und folgte ihm vorsichtig. Einen Fuß vor den andern setzend.

„Wirst du gleich sehen“, erwiderte er. Ich umfasste meine Spitzhacke fester und spürte ihr Gewicht, das meinen Arm nach unten zog. Als ich das erste Mal hier war, hatte ich sie kaum halten können.

„Ich habe ein wenig gegraben“, fuhr er fort „und etwas Fantastisches entdeckt.“

„Kohle?“, fragte ich und leuchtete mit meinen Helm auf dem Boden, um nicht zu stolpern.

Er schüttelte den Kopf. Das heißt, ich nahm an, dass er es tat, denn es war zu dunkel, als das ich alles von ihm genau erkennen konnte. „Nein, das leider nicht.“

„Wie kann es dann fantastisch sein?“, fragte ich mit hochgezogener Augenbraue. Ich hob meinen Kopf und ließ den Lichtkegel meines Helms über seinen breiten Rücken streifen.

Er blieb stehen und drehte sich zu mir um, sodass wir uns gegenseitig sehen konnten. „Weil es so schön ist“, sagte er mit einem aufgeregten Funkeln in den Augen.

Verständnislos erwiderte ich seinen Blick. Er wandte sich wieder um. „Komm weiter!“

Wir liefen eine ganze Weile den dunklen Gang entlang. Ich fluchte ab und zu, wenn mein Fuß sich an einem Vorsprung stieß oder die Decke ganz plötzlich niedriger wurde. Es wäre so viel praktischer, wenn jeder Gang beleuchtet werden könnte. Doch das war finanziell nicht möglich. Auch die Gänge, die gegraben wurden, waren allein das Werk der Arbeiter. Wir waren Amateure. Jederzeit könnte einer von ihnen einstürzen. Aber das war unser Risiko für einen gut bezahlten Job und somit für unser Überleben.

Mutter hatte es gehasst, wenn Liam so oft hier unten war. Ob sie mit mir ebenfalls darüber streiten würde, wenn sie bei klarem Verstand wäre?

Plötzlich hörte ich Wasserrauschen. Ich blieb stehen. Argwöhnisch lauschte ich. Wasser in der Nähe war gefährlich. Mit der Zeit fraß es sich durch alles hindurch. Sogar durch Stein.

„Jake“, wisperte ich.

„Ich bin hier“, hörte ich ihn neben mir sagen. „Wir müssen hier entlang!“

Er griff nach meinem Arm und zog mich nach rechts. Jake hatte also einen Bogen gegraben, der von Gang 5 abwich. Die Geräusche des Wassers wurden immer leiser. Auf einmal sah ich etwas Helles vor mir leuchten. Es war bläulich und Jake steuerte direkt darauf zu.

„Was...Was ist das?“, brachte ich verwirrt heraus. Es konnte unmöglich Tageslicht sein.

„Das wirst du gleich sehen!“ Jake lief ein wenig schneller. Ich erkannte, das Ende des Ganges und dahinter lag eine Art Höhle. Das Wasserrauschen wurde wieder lauter. Ich bekam Angst.

„Jake...Was wenn der Gang einstürzt?“, fragte ich und wehrte mich aus seinem Griff.

„Das wird er nicht! Vertrau mir! Ich habe ihn gegraben!“ Er hielt mich fest und sah mich an. Durch das helle Licht, dass vom Ende des Ganges hereinströmte, konnte ich ihn gut erkennen. Er sah mich flehend an. „Bitte! Ich brauche irgendjemandem, mit dem ich das hier alles teilen kann!“

Ich biss mir auf die Lippe und nickte schließlich. Wenn Jake diesen Gang gebaut hatte, war er sicherer als all die anderen. Ich vertraute Jake. Er war wirklich gut in so etwas und machte das schon viel länger als sonst irgendjemand in unserem Alter. Außerdem wusste er unglaublich viel über seine Arbeit. Ich durfte nicht in Panik verfallen. So schnell kam man aus den Gängen nicht heraus. Das dauerte und wenn man dann nicht ruhig blieb...

Ich ließ mich von Jake bis zum Ende des Tunnels ziehen und blieb staunend stehen. Der Gang mündete in eine riesige Höhle. Wasserfälle stürzten von der Decke herab. Kristalle glitzerten in der Decke und in den Wänden. Regenbögen brachen sich in den einzelnen Wassertropfen und wurden von den Kristallen gespiegelt.

Jake ging ein paar Schritte in die Höhle hinein und breitete mit einem breiten Grinsen die Arme aus. „Ist das nicht unglaublich?“, fragte er. Ich folgte ihm langsam.

„Wow! Das ist wunderschön“, brachte ich langsam heraus. „Wo kommt dieses bläuliche Licht her?“ Interessiert sah ich mich nach dieser mysteriösen Lichtquelle um.

„Von den Kristallen!“, erklärte Jake begeistert, nahm mich an der Hand und zog mich zu einem besonders großen hellen Kristall. „Sie spiegeln die Farbe des Wassers wieder... auf so faszinierende, unglaubliche Art.“

Ich staunte und fuhr mit der Hand über die unebene Oberfläche. Der Kristall fühlte sich scharf und kalt an und doch hatte er irgendetwas... Magisches an sich.

„Zu Schade“, murmelte ich in Gedanken.

„Was?“, fragte Jake immer noch fasziniert von seiner Entdeckung.

„Dass sie nichts wert sind“, sagte ich und sah mich um.

Jake nickte. „Ja...das stimmt wohl! Für uns sind sie nichts wert. Wir können sie nicht gegen Geld eintauschen. Die kauft keiner mehr. Aber sieh doch, wie schön sie sind.“

Ich betrachtete das Farbenspiel, das sich mir bot. Das Wasser, dessen Tropfen ich auf meiner Haut spürte. „Ja, das sind sie wirklich.“

„Ich habe die ganze Nacht hier verbracht“, fuhr Jake fort. „Es hat etwas Beruhigendes. Zum ersten Mal seit langem konnte ich wieder richtig schlafen.“

Ich lächelte ihn an, um ihm zu zeigen, dass ich genau nachempfinden konnte, was er meinte. Ob Jake wohl auch von Albträumen geplagt wurde? Ich getraute mich nicht, ihn zu fragen. Ich würde nie über meine Albträume reden wollen und er bestimmt auch nicht.

Diese Wasserfälle reizten mich. Ich ging zu einem hin und wollte nachsehen, worin er mündete. Doch das Einzige, was ich sehen konnte, war ein schwarzes Loch im Höhlenboden, in dem das Wasser verschwand. Ich zog die Taschenlampe aus meinem Gürtel und leuchtete hinein, doch ich konnte keinen Grund sehen. Ein bodenloses, dunkles Loch. Bodenlos.

Mein Leben ist bodenlos, hörte ich Liams Stimme in meinem Kopf.

Ich schluckte. Jake musterte mich besorgt. „Hey. Ist alles okay bei dir?“

„Ja“, sagte ich mit rauer Stimme. „Können wir anfangen, Kohle abzubauen? Ich will heute Abend wieder zu Hause sein und das am Besten mit Geld in der Tasche. Es gibt fast nichts Essbares mehr im Kühlschrank.“

Jake nickte verständnisvoll. „Klar. Lass uns gehen!“

Nach ein paar Stunden war ich völlig erschöpft. Wir hatten sicher zehn Kilogramm Kohle abgetragen. Jake hatte alles in einen großen Kartoffelsack gesteckt. Im Aufzug begann er wieder zu husten. Ich machte mir Sorgen um ihn. Als wir oben angekommen aus dem Aufzug stiegen, nahm ich ihm den Sack mit der Kohle ab. „Du solltest dich weniger hier unten herumtreiben“, sagte ich, während ich den linken Gang hinunter lief, um die Kohle an einem zweiten Schalter abzugeben.

„Ich kann gut auf mich selbst aufpassen“, murrte Jake.

„Dann tu es auch!“, erwiderte ich und übergab der Frau am Schalter den Sack. Sie machte ihn kurz auf und betrachtete die Kohle. Ich erkannte sie. Es war die müde Frau, die mit mir im Bus gesessen hatte. Sie stellte den Sack auf eine Waage.

„Das sind zwanzig für jeden von euch“, sagte sie.

„Zwanzig?“, fragte Jake fassungslos. „Für zehn Kilo habe ich alleine hundert verdient!“

Die Frau hinter dem Schalter fühlte sich sichtlich unwohl. Es kam mir vor als würde sie schrumpfen. „Tut mir leid. Es gibt neue Richtlinien. Für zehn Kilo gibt es ab heute nur noch vierzig.“

Mit einem wütenden Knurren wandte sich Jake von der Frau ab, die mir das Geld in die Hand drückte. Ich gab Jake seinen Teil. „Meine Eltern werden verzweifeln“, sagte er leise. „Wie soll ich meine kleinen Geschwister ernähren? Sie schaffen das nicht allein. Wir sind zu acht zu Hause und ich bin der Älteste. Nach mir kommt Liz und die ist erst dreizehn! Ich will nicht, dass sie auch anfangen muss, hier zu arbeiten.“

Ich legte Jake tröstend eine Hand auf die Schulter. Ich kannte seine Familie. Seine Eltern waren nette Leute. Jake war der Älteste, nach ihm seine Schwester Liz und nach ihr die beiden elfjährigen Zwillinge. Dann Marcus, aber der war erst fünf und schließlich Minoo. Sie war die Jüngste und sicher erst ein halbes Jahr alt. Keiner von ihnen war bereit Jake zu helfen. Sie alle hatten keine Vorstellung davon, was es bedeutete in der Grube zu arbeiten. Genauso wenig wie ich, als ich Liam, um seine Arbeit beneidet hatte.

Hätte ich gewusst, wie furchtbar es hier unten war, dann... Ich schüttelte den Kopf. Ja, dann was?

Ich sah auf das Geld in meiner Hand. Diese seltsamen schwarzen Münzen...Ich würde es nie verstehen, warum manche Menschen so versessen darauf waren. Zu Hause gab es nur meine Mutter, Tinnie und mich. Wir brauchten nicht viel. Für heute würden zehn erst mal reichen. Morgen würde ich noch früher herkommen und noch länger bleiben.

Ich drückte Jake die Hälfte von meinem Teil in die Hand. Entsetzt sah er mich an.

„Nein, vergiss es! Das kann ich nicht annehmen!“

„Du kannst und du musst!“, unterbrach ich ihn schnell. „Ich brauche nicht so viel. Ich habe keine kleinen Geschwister.“

„Aber das ist dein Teil der Arbeit!“, widersprach er und wollte mir das Geld zurückgeben, doch ich hob die Hände und trat zurück.

„Du hast viel mehr gearbeitet als ich.“ Ich legte den Kopf schief und lachte. „Komm schon, das macht mir nichts aus!“

Ich sah einen erleichterten Ausdruck über Jakes Gesicht huschen. Er umarmte mich fest. „Danke! Du hast was gut bei mir!“

„Vergiss das aber nicht!“, feixte ich. Er löste sich von mir und nahm mir mein Werkzeug ab.

„Ich bringe das für dich zurück. Das ist das Mindeste, was ich tun kann.“

Ich verdrehte die Augen. „Das ist nicht nötig!“

„Ich bestehe darauf!“ Er grinste. Ich zuckte mit den Schultern. „Na gut, dann erwische ich vielleicht noch den früheren Bus, wenn ich nicht in der Schlange stehen muss.“

Wir liefen einen weiteren Gang entlang. Am Schalter mit dem Alten mussten wir anstehen. Irgendein Idiot schien sich über die neuen Preisverhältnisse bei ihm aufzuregen. Dabei konnte der Alte daran überhaupt nichts ändern. Das kam alles von oben.

„Lauf schon! Du willst doch deinen Bus erwischen“, meinte Jake. „Wir sehen uns ja morgen!“

Ich zögerte. „Du gehst doch jetzt auch nach Hause, oder Jake?“

Er zuckte mit den Achseln. „Wahrscheinlich schon!“

„Du musst hier raus!“, sagte ich ernst. „Deine Lungen brauchen die frische Luft. Du stirbst hier drinnen, wenn du so weiter machst.“

Er lächelte amüsiert. Es schien ihm zu gefallen, dass ich mich um ihn sorgte. „Ich verspreche dir, dass ich heute Nacht zu Hause schlafe. Okay?“

Ich nickte zufrieden. „Okay!“

Bevor mir die Situation zu unangenehm wurde, wandte ich mich um und rannte den Gang hinunter in den Umkleideraum. Dort hängte ich meinen Helm und meine Hose an den Haken. Ich mochte Jake. Ich mochte Jake sehr. Aber ich war viel zu unsicher, wenn es um Gefühle ging. Ich verließ die Grube und musste mir die Hand vor Augen halten, als ich nach draußen trat. Nein, es schien keine Sonne, doch trotzdem war es ungemein hell. Ich sah den Bus an der Haltestelle stehen und rannte auf ihn zu. Der Busfahrer wartete auf mich und öffnete mir die Türen. Ich murmelte ein schnelles „Dankeschön“ und setzte mich schnell auf den noch einzigen freien Platz neben einem Mann in normaler Alltagskleidung. Er kam wohl aus der Stadt hinter der Grube. Was er hier wohl wollte? Vielleicht besuchte er jemanden.

Ich starrte an die Decke. Der Mann musterte mich. Ich beobachtete ihn aus den Augenwinkeln. Er sah mich fast mitleidig an. Ich hatte es satt von allen als klein und hilflos angesehen zu werden. Ich konnte gut für mich selbst sorgen und deswegen musste es mir kein bisschen schlechter gehen als allen anderen.

„Was?“, fauchte ich ungehalten.

„Tut mir leid“, erwiderte der Mann schnell und sah zur Seite. Ich beließ es dabei. Hauptsache er ließ mich in Ruhe. Ich stieg in Stadtmitte aus und kaufte ein wenig Butter und etwas Käse.

Es gelang mir, nicht das ganze Geld auszugeben. Ein wenig blieb mir noch. Gerade noch genug für eine Packung Milch. Tinnie wird sich freuen, dachte ich zufrieden. Den Rest lief ich nach Hause. Es war nicht mehr weit. In unserem Treppenhaus bemerkte ich, wie sehr meine Arme vom Halten der Spitzhacke schmerzten. Als ich die Tür aufschloss, huschte Tinnie, um die Ecke, um mich zu begrüßen. Ich kniete mich zu ihr herunter und streichelte sie. Sie schnurrte und rieb sich an meiner Hand. Ich lächelte. Dann richtete ich mich auf und zog Jacke und Schuhe aus. „Ich bin wieder da!“, rief ich laut. Der Spiegel im Flur teilte mir unmissverständlich mit, dass ich mich dringend duschen sollte. Mein Gesicht war von Ruß total verdreckt. Schnell sprang ich unter die Dusche und schrubbte mich so lange bis ich meinte, dass nun auch der letzte schwarze Fleck endgültig verschwunden sei. Ich wickelte mir ein Handtuch um die Haare und ging hinunter in die Küche, um das Abendessen für Mutter und mich vorzubereiten. Ich legte ein paar Scheiben Toast in die Pfanne und wartete bis sie braun wurden. Danach bedeckte ich sie mit je einer Scheibe Käse, die unter der Hitze der Toasts zu schmelzen begannen. Es roch wunderbar. So wunderbar, dass Tinnie sich begierig die Schnauze leckte.

„Keine Angst, für dich habe ich auch etwas“, sagte ich liebevoll und machte ihr eine kleine Schüssel Milch, die ich ein wenig mit Leitungswasser verdünnte. Einer Katze tat es nicht gut, pure Milch zu trinken. Das war schlecht für die Verdauung. Ich stellte die Toasts auf den Tisch und deckte zwei Gläser. Da stand immer noch der Teller meiner Mutter von heute Morgen. Zu meiner Erleichterung war er leer. Sie hatte also etwas gegessen. Ich stellte den Teller in die Spüle und ging nach oben, um meine Mutter zu holen. Das Tür war geschlossen. Ich klopfte. „Mama? Es gibt Essen.“

Keine Antwort.

Mit einem schlechten Gefühl im Bauch ging ich wieder nach unten und setzte mich alleine an den Tisch. „Ich darf nicht in das Zimmer gehen“, sagte ich leise und wiederholte den Satz immer wieder, als wäre in ihm irgendeine Botschaft versteckt, die es mir ermöglichte, doch irgendwie in das Zimmer hineinzusehen. Die Tür zu diesem Zimmer war immer geschlossen. Ich wusste nicht, wie es aussah oder was meine Mutter darin machte. Lustlos kaute ich auf dem Käsetoast herum. Ich nahm mir vor, das Abendessen vor die Tür meiner Mutter zu stellen. Vielleicht war sie krank und schaffte es körperlich nicht, die Treppe hinunter zu gehen. Als ich fertig war, stellte ich ihren Teller auf ein Tablett und stellte auch ein Glas Wasser dazu. Langsam ging ich die steile Treppe hinauf, um bloß nichts zu verschütten. Wie ein Blitz schoss Tinnie urplötzlich an mir vorbei. Ich schwankte gefährlich, doch konnte mich gerade im letzten Moment noch halten.

„Bescheuerte Katze!“, schimpfte ich. Zum Glück war alles auf dem Tablett geblieben. Tinnie hatte sich durch das Dachfenster gequetscht und war nach draußen verschwunden. Perfekt, so konnte sie sich nichts von Mutters Essen krallen. Ich schloss das Fenster. Morgen früh würde ich es wieder öffnen. Ich stand nun mit dem Tablett vor Mutters Tür und stellte es auf dem Boden ab. „Mama, ich habe dir das Essen vor die Tür gestellt! Bitte, iss etwas!“

Ich erwartete keine Antwort und trotzdem hoffte ich auf irgendein Geräusch, das sie machen würde. Doch es blieb still.

Ich ging in mein Zimmer und warf mich aufs Bett. Ich konnte nicht aufhören an Jake zu denken. Hoffentlich war er inzwischen zu Hause. Die Grube war gefährlich und das nicht nur für die eigene Gesundheit. „Bitte, lass ihn zu Hause sein“, flehte ich leise. Ein paar Sekunden später, spürte ich, wie mich der Schlaf übermannte.

 

Irgendeine Last drückte auf meinen Rücken und beschleunigte meinen Fall. Ich versuchte mich zu drehen, doch war nicht fähig, mich irgendwie zu bewegen. Schweiß rann mir über die Stirn. Ich hatte das Gefühl zerquetscht zu werden. Meine Haare wurden mir in den offenen Mund geweht. Was war da über mir? Es fühlte sich an, wie eine Mauer...Eine Mauer, die mich nach unten drückte. Eine Mauer, die mich zerquetschen würde, sobald ich aufkam. Ich versuchte mich zu beruhigen. Versuchte mir einzureden, dass das alles nur ein Tram war. Dass in meinen Träumen noch nie ein Aufprall vorgekommen war. Dass meine Träume bodenlos waren.

Ein Lichtstrahl flog an mir vorbei. Erschrocken wandte ich den Kopf und sah ihm nach. Es war ein Kristall. Er fiel um Einiges schneller als ich. In seinem Schein konnte ich nichts ausmachen außer Dunkelheit. Angst übermannte mich. Was hatte es mit dieser Dunkelheit auf sich? Panisch versuchte ich dieses Ding über mir von mir zu drücken, als mich plötzlich ein lautes Klimpern wieder davon abhielt. Schockiert starrte ich nach unten. Der Kristall fiel nicht mehr. Er lag da. Ruhig.

Er war aufgekommen. Es gab einen Boden. Es gab einen Aufprall...

Ich kniff die Augen zu und machte mich so klein wie möglich.

Lass es schnell vorbei sein“, flehte ich verzweifelt.

Ich wachte sogar noch vor dem Klingeln meines Weckers auf. Schweißgebadet, wie jeden Morgen. Durch mein kleines Fenster fiel schon Tageslicht, dabei war es erst sechs Uhr und das im November. Ungewöhnlich hell für diese Zeit. Ich setzte mich auf und fuhr mir mit der Hand durch die Haare. Ich war wieder gefallen diese Nacht, aber dieses Mal war es anders gewesen. Der Albtraum hatte sich verändert. Dieses Mal war diese steinerne Mauer mit mir gefallen. Als wäre ich in der Grube und sowohl Boden als auch Decke würden plötzlich einstürzen. Ich war bisher immer ins Bodenlose gefallen...nicht heute. Heute hatte es einen Aufprall gegeben und von diesem Aufprall war ich aufgewacht. Ich versuchte mich zu beruhigen, ging wie gewohnt ins Bad und klatschte mir eine handvoll kaltes Wasser ins Gesicht.

Ich zog die Sachen von gestern an. Ich ging sowieso in die Grube. Wieso sollte ich dafür andere Kleidungsstücke dreckig machen? Als ich die Tür öffnete und auf den Flur trat, fiel mir sofort das Tablett mit Essen ins Auge. Es stand noch immer vor der Zimmertür meiner Mutter. Unangerührt. Ein paar Fruchtfliegen begannen sich auf den geschmolzenen Käse zu setzen. Ich klopfte an ihre Zimmertür. „Ich gehe heute früher in die Grube“, rief ich und wartete auf eine Reaktion. Wenigstens ein Rascheln der Bettdecke. Ein Räuspern. Das Knarren des Bettgestells. Irgendetwas...

Es blieb still. Ich überlegte, sollte ich ihr Essen hier stehen lassen? Es war wahrscheinlich nicht mehr so appetitlich, aber dafür genießbar und wählerisch hatten sie noch nie sein dürfen. Ich entschied mich dafür, es stehen zu lassen und ging die Treppe hinunter in die Küche. Dort aß ich eine Scheibe Toast mit Butter und trank ein Glas Milch.

Etwas war anders an diesem Tag, doch ich konnte nicht beschreiben, was genau anders war.

Als ich an der Grube ankam, dachte ich an den heutigen Traum. Der Kristall, der an mir vorbei geschossen war, hatte ausgesehen wie die Kristalle aus Jakes Höhle. Ob Jake schon hier war? Ich ging in den Berg hinein, zog mir meine Arbeitsklamotten an und ging zum Schalter mit dem alten Mann. Jake und ich trafen uns immer in Gang 5. Wenn er schon da war, arbeitete er dort sicher schon.

„Gang 5“, teilte ich dem Alten mit, als ich an der Reihe war.

„Abgelehnt. Gang 5 ist gesperrt“, sagte er und kratzte sich am Hals.

Ein ungutes Gefühl beschlich mich. „Weshalb?“

„Ist eingestürzt.“ Der Alte steckte sich kurz einen Finger ins Ohr und betrachtete interessiert seinen Ohrenschmalz. „Heute Nacht. Alle Nebengänge, alle Höhlen, alles futsch.“

Ich spürte wie mein Herz für einen Schlag lang aussetzte und mir die ganze Luft aus den Lungen gepresst wurde. „Was?“, brachte ich schließlich heraus. „Nein, das kann nicht sein!“ Überzeugt lehnte ich mich näher zu ihm hin. „Das ist nicht möglich. Der Gang kann nicht eingestürzt sein.“

Verwirrt sah der Mann zu mir auf. „Du kannst ja mit dem Aufzug runter fahren und es dir ansehen, wenn du Lust hast, aber darin arbeiten, kannst du nicht.“

Ich schluckte. Ohne ein weiteres Wort rannte ich zum Aufzug. Ich drängte mich am Aufseher vorbei und betätigte den Hebel setzt.

„Hey!“, rief er mir nach. „Du hast keine Plakette am Helm!“

Ich ignorierte ihn. Was kümmerte mich diese Scheiß-Plakette? Dieses Mal war ich allein im Aufzug und fuhr allein ins dunkle Loch hinunter. Jake. Jake. Jake. Bitte lass ihn nicht die ganze Nacht hiergeblieben sein. Ich stellte mir vor, wie er in seiner Höhle mit den Kristallen stand und plötzlich die Decke über ihm zusammenbrach. Unsanft setzte der Aufzug auf dem Boden auf. Das Licht an meinem Helm war stark genug, um Gang 5 aus sicherer Nähe zu betrachten. Der Eingang war nicht eingestürzt, doch als ich hinein sah, erblickte ich den Geröllhaufen, der den Gang versperrte. Jakes Gang war eindeutig verschüttet worden. Das war klar. War er die Nacht über hiergeblieben? Er hatte mir versprochen, dass er nach Hause gehen würde! Ich sprang schnell wieder in den Aufzug und zog an der Schnur. Langsam setzte sich der Aufzug in Bewegung. Er hatte es mir versprochen. Ein Teil von mir versuchte sich zu beruhigen, aber ich kannte Jake inzwischen zu gut, um zu wissen, dass er wahrscheinlich die ganze Nacht hiergeblieben war und gearbeitet hatte. Mein Atem ging immer schneller. Ich hatte Angst. Angst, dass Jake was passiert war. Angst, dass sich meine Vermutungen bestätigten. Jake war für mich dagewesen als Liam gesprungen war. Ich durfte ihn nicht verlieren. Kaum war der Aufzug zum Stillstand gekommen, sprang ich über das Geländer und packte den Aufseher am Kragen.

„War jemand da unten als der Gang einstürzte?“, rief ich hysterisch.

Der Mann versuchte meinen Griff zu lockern, doch ich hielt ihn unbarmherzig fest.

„War jemand dort unten?“, schrie ich.

Verängstigt sah der Mann mich an. „N-Nur einer!“, stotterte er. Ich ließ ihn los und fiel auf die Knie. Ich musste nicht fragen. Ich wusste es bereits. Doch etwas in mir wollte die Hoffnung nicht aufgeben, obwohl ich es eigentlich viel schlimmer fand, wenn meine Hoffnung enttäuscht werden würde. „Wer?“, fragte ich leise.

Der Aufseher sah mich mitleidig an. Er erkannte mich. Er wusste, dass ich immer nur mit Jake gearbeitet hatte. „Es tut mir leid“, sagte er leise.

Ich starrte auf den harten, kalten Steinboden. Tränen verschleierten meine Sicht. Ich schluchzte.

Ich weiß nicht, wie ich es bis nach Hause geschafft hatte. Ich lag auf meinem Bett. Tränen rannen mir über die Wangen, aber meine Schluchzer hatten sich verflüchtet. Ich wollte zu meiner Mutter, aber die Tür war immer noch verschlossen und das Essen davor noch immer unangerührt. Wieso hast du nicht auf mich gehört, Jake? Wieso bist du nicht einfach nach Hause gegangen? Wie sollen deine Geschwister dich ersetzen? Weißt du, was du deiner Familie angetan hast? Weißt du, was du mir damit angetan hast?

Jetzt begannen die Schluchzer wieder. Ich griff nach meinem Kissen und drückte es an mich, während ich mich weinend krümmte. Ich hatte mich noch nie so lebendig und wach gefühlt. Jake hatte in mir etwas bewegt. Gefühle, die ich bisher unterdrückt hatte, kamen an die Oberfläche. Das erste Mal seit langem, fühlte ich mich wirklich wach und aufnahmefähig. Vielleicht schaffte ich es diese Nacht, nicht zu schlafen. Noch so einen Traum würde ich nicht überleben. Ob mein Traum etwas mit Jakes Tod zu tun gehabt hatte? Ich hoffte, dass dies nur ein Zufall und nicht vom Schicksal gewollt war...

Ein lautes Maunzen drängte sich an mein Ohr. Das Dachfenster! Ich hatte es seit gestern Abend nicht mehr geöffnet. Ich wischte mir mit der Hand über die Augen und versuchte ruhig zu atmen und die Schluchzer zu unterdrücken. Dann trat ich in den Flur. Tinnie kratzte mit der Pfote an der Glasscheibe. Ich zögerte. Irgendetwas an Tinnie war anders. Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, was es war. Das Fell dieser Katze war nicht rot getigert, sondern grau. Eine graue Katze mit weißen Pfoten. Sie maunzte ganz genau wie Tinnie und kratzte ungeduldig am Fenster...ganz genau wie Tinnie. Verwirrt starrte ich die Katze an. Endlich öffnete ich das Dachfenster. Die Katze sprang sofort herein, rieb sich an meinem Bein und lief die Treppe hinunter. Ich folgte ihr. Schnurrend sprang die Katze auf einen Küchenstuhl und drückte ihre Krallen in das Polster. Genau wie Tinnie es immer machte. Sie ähnelte Tinnie so sehr. Nur das Aussehen stimmte nicht.

„Mutter?“, rief ich.

Schweigen. Ich bekam Angst. Es war als würde der Boden unter meinen Füßen nachgeben... wie in meinen Träumen. Irgendetwas stimmte hier nicht. Ich eilte die Treppe nach oben. Das Essen stand noch immer da. Ich klopfte an Mutters Tür. „Mutter!“, rief ich verzweifelt. „Bitte! Bitte, antworte mir!“ Mein Klopfen wurde zu einem panischen Hämmern. „Mutter! Ich rede mit dir! Lass mich hier nicht alleine! Komm raus, bitte!“

Keine Antwort.

Mach die Tür auf, sagte eine Stimme in mir.

Ich legte meine Hand auf die Klinke. „Nein...“, sagte ich leise. „Ich darf das nicht! Liam hat es mir verboten. Ich darf das nicht...“

Geschlagen nahm ich das Tablett mit dem unangerührten Essen und trug es nach unten in die Küche, in der ich es auf den Esstisch stellte. Die fremde Katze hatte es sich inzwischen auf dem Stuhl gemütlich gemacht. Mir steckte ein Kloß im Hals. Ich ging in den Wohnraum und setzte mich auf das Sofa. Die Katze schnurrte. Dieses Schnurren war mir viel zu vertraut. Ich würde es überall wieder erkennen. Diese fremde Katze musste Tinnie sein. Es gab keine andere Erklärung. Aber was war passiert? Wieso sah sie so anders aus?

Tinnie...Tinnie...Tinnie.

Ich versuchte mich an alles zu erinnern, was ich mit dieser Katze erlebt hatte. Wenn sie ihren Kopf an meinem Bein gerieben hatte. Wenn sie kläglich gemaunzt hatte, um hinein- oder herausgelassen zu werden. Wenn sie auf den Tisch gesprungen war, obwohl sie es nicht durfte. Wenn sie auf meinen Schoß gesessen und ich sie gestreichelt hatte. Als Liam gegangen war und Mutter und mich zurückgelassen hatte, da war Tinnie nicht da gewesen. Ich runzelte die Stirn. Da war sie sogar schon eine ganze Weile nicht da gewesen. Eine sehr lange Zeit hatte ich mich ganz alleine gefühlt. Ich hatte Mutter und Tinnie nicht gesehen. Ich versuchte angestrengt, mich zu erinnern. Wann war Tinnie wieder aufgetaucht? Wann? Als meine Mutter wieder aus ihrem Zimmer kam... Zu der Zeit war auch Tinnie wieder aufgetaucht...oder zumindest eine Katze, die ich für Tinnie gehalten hatte. Ein furchtbare Ahnung beschlich mich. Mir wurde übel. War ich verrückt? Hatte ich mir aus lauter Einsamkeit eingebildet meine langjährig geliebte Katze sei wieder aufgetaucht? Aber was war dann mit Tinnie passiert?

Oder war Jakes Tod ein zu großer Schock für mich und ich wurde genau jetzt in diesem Moment verrückt und dachte deshalb, Tinnie hätte graues Fell?

Mein Kopf fühlte sich klar an. Als wäre ich aus einem Traum aufgewacht und wusste genau, was real war und was nicht. Nein...ich war bei vollem Verstand, aber dachten das nicht alle, die verrückt wurden?

Vom Esstisch waren schlabbernde Geräusche zu hören. Ich stand auf. Die Katze war auf den Tisch gesprungen und begann Mutters Essen in großen Bissen herunterzuschlingen.

Plötzlich schoss mir ein Gedanke durch den Kopf.

„Mutter...“, flüsterte ich fassungslos. Was, wenn Mutter auch reine Einbildung gewesen war? Was, wenn sie deshalb plötzlich nur noch geschwiegen hatte und das Essen vor ihrer Tür vergammeln ließ? Wenn die Katze immer Mutters Frühstück aufgegessen hatte, als ich nicht dagewesen war? Mir wurde schlecht. Was passierte hier?

Es gab nur einen Weg herauszufinden, was mit mir los war...

Wieder stand ich oben vor ihrer Tür. Wie so viele, viele Male in den letzten fünf Jahren.

Ich klopfte.

Schweigen.

Was hatte ich auch erwartet? Ich atmete tief durch und legte erneut die Hand auf die Klinke. Gleich würde ich sehen, ob ich verrückt war oder nicht. Was würde mich in diesem Zimmer erwarten? Ganz langsam und vorsichtig drückte ich die Klinke hinunter und stieß die Tür auf. Ich erstarrte. Das Zimmer war bodenlos. Es hatte nichts. Nur vier graue, abgeblätterte Wände, aber der Boden fehlte. Mir stockte der Atem. Vorsichtig sah ich nach unten. In einen dunklen, bodenlosen Schacht hinab. Was war hier los? Ich taumelte nach hinten und fiel hin. Wie hatte ich die letzten fünf Jahre gelebt? Mutter hatte nicht mit mir gesprochen, was war passiert? Was war passiert? Ich schlug mir die Hand vor den Mund. Meine Augen füllten sich mit Tränen. Ich hatte alles verdrängt. Das alles hier hatte ich verdrängt. Jetzt fiel es mir wieder ein...

So schnell ich konnte, rappelte ich mich auf, rannte zur Tür und lief das Treppenhaus nach oben. Hin und wieder stolperte ich über eine Stufe, doch das hielt mich nicht auf. Ich wollte nach ganz oben. Auf das Dach! An die Luft! Ich musste raus aus dieser Wohnung! Ich musste ungestört sein. Ich brauchte einen kühlen Kopf. Endlich hatte ich die Tür erreicht, die auf das Dach führte. Ich riss sie auf und stürzte nach draußen. Dort fiel ich vornüber und krabbelte bis zu einer steinernen kleinen Mauer, die mich vom Abgrund trennte. Ich hielt mir die Ohren zu und schloss die Augen.

Mein Leben ist bodenlos, hörte ich Liam immer und immer wieder sagen.

Bodenlos...Bodenlos...Bodenlos...Bodenlos...

Ich zog die Beine an und machte mich so klein wie möglich.

Es gibt nur einen Fall und keinen Aufprall.

„Sei ruhig!“, kreischte ich, während mir Tränen über die Wangen rannen. Die Stimme in meinem Kopf verstummte. Langsam kam meine Erinnerung zu mir zurück. Liam und Mutter hatten sich immer gestritten. Worum war es gegangen? Ich meinte, mich daran zu erinnern, dass sie die Grube erwähnt hatten und dass Mutter ihn beschimpft hatte. Er sei wie sein Vater. Dann war Liam gesprungen und Mutter hatte sich eingeschlossen. Mir klappte der Mund auf. Aber nicht in diesem Raum. Nein! Dieser Raum war nie benutzt worden. Vielleicht war es mal ein Fahrstuhl gewesen oder etwas ähnliches, aber ich war mir sicher, dass wir diese Tür nie geöffnet hatten. Liams Worte kamen mir in den Sinn: „Du darfst dieses Zimmer niemals betreten, hörst du?“

Ich griff mir mit der Hand ins Haar und zog so sehr daran, dass es weh tat. Meine Mutter hatte sich in der Küche erhängt. Sie war von einem Stuhl gesprungen. Ich erinnerte mich daran, wie ihre Beine über dem Boden gehangen hatten. Ich erinnerte mich daran, dass die Polizei dagewesen war und mich mitgenommen hatte. Sie hatten mich meiner Mutter weggenommen. Ich war abgehauen. Es hatte sie nicht interessiert oder vielleicht dachten sie auch, ich sei alt genug, um für mich selbst zu sorgen...mit vierzehn Jahren...

Ich stand langsam auf. Der Wind fuhr durch mein Haar. Ich sah vom Hausdach hinunter. Die kleine Mauer, die mich vom Fall trennte, war nicht groß. Sie stellte kein Hindernis da.

Nach dem Tod meiner Mutter hatte ich sie mir weiterhin eingebildet. Sie hatte nie etwas gesagt. Es hatte nie einen Beweis dafür gegeben, dass sie da war und auch die fremde Katze kam meinem verzweifeltem Unterbewusstsein wie gerufen. Ich schauderte. Die ganze Zeit über hatte ich allein in dieser Wohnung gelebt. Hatte allein am Tisch gesessen. Hatte Essen vor eine Tür gestellt, die in ein bodenloses Zimmer führte und zugesehen, wie es vergammelte.

Jake war real gewesen. Da war ich mir sicher. Es konnte nicht anders sein. Aber jetzt war Jake nicht mehr da. Niemand war mehr da. Ich war ganz allein.

„Mein Leben ist bodenlos“, flüsterte ich und kletterte auf die kleine Mauer, um hinunter auf die Straße zu sehen. Der Wind zerrte an meinem Haar und an meinen Klamotten.

Schon mein ganzes Leben lang war ich gefallen. Heute Nacht hatte ich von einem Aufprall geträumt. Ich war davon aufgewacht. Vorsichtig balancierte ich stehend auf der Mauer.

„Liam...ich weiß jetzt, was du meinst. Es gibt keinen Aufprall. Nur einen Fall“, sagte ich leise. „Mein Leben ist bodenlos.“

 

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Tag der Veröffentlichung: 27.01.2015

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