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Prolog

Der Geruch von frisch gekochten Klößen machte sich breit, als Tara und ich zu Hause ankamen. Sie war tatsächlich kurz darauf wieder aufgewacht, allerdings waren ihre Erinnerungen sehr verworren. Sie erinnerte sich daran, dass Blake dagewesen war. Sie betonte immer wieder, dass er ein Lügner war, jedoch wusste sie nicht mehr, wieso und was genau er gesagt hatte.

„Ich verstehe nicht, warum du so was sagst, Tara“, sagte Mum und stellte eine Schüssel Rotkohl auf dem Tisch. „Ich habe ihn heute Morgen als ich auf dem Weg zur Arbeit war mit seinem Vater, Mr Farrel O’Conner – ein übrigens sehr gutaussehender Mann – hinten an der Brücke getroffen. Die beiden haben am Geländer gestanden und geredet. Als sie mich gesehen haben, haben sich mich zu sich gewunken. Blake hat mir einen Brief überreicht, den ihm die Feuerwehr nach dem Brand gegeben hat und Farrel hat beteuert, wie leid es ihm doch tut. Es sind wirklich nette Menschen!“

Taras Gesicht hatte sich verfinstert. „Er ist ein Lügner!“, schrie sie wütend. „Ein dreckiger, gemeiner, widerlicher, stinkender Lügner!“

Wütend stemmte Mum die Hände in die Hüften. „Tara Lydia Kane!“, begann sie streng. „Ich erwarte von dir, dass du dem Jungen, der dich gerettet hat, Respekt und Dankbarkeit gegenüber bringst.“

„Er hat mich nicht gerettet!“, keifte Tara. „Das hat er nicht!“

Mum seufzte erschöpft. „Du hast sicher zu viel Rauch eingeatmet!“

„Habe ich nicht!“, kreischte Tara.

„Sei still!“, fuhr Mum sie an. „Ich kann das gerade nicht hören! Iss und halt den Mund!“

Tara schwieg und schob sich einen Kloß in den Mund.

„Ich mag keinen Rotkohl“, maulte Fen leise. Stöhnend setzte sich meine Mutter hin. „Wenigstens einen Löffel, Fen!“

Mein kleiner Bruder tat sich etwas Rotkohl auf den Teller und roch kurz daran. Dann verzog er angeekelt das Gesicht. „Ich glaub, mir wird schlecht.“

Ich wechselte schnell das Thema, bevor Mama völlig ausrastete. „Was stand in dem Brief?“

Verwirrt sah mich Mum an. „In welchem?“

„In dem, den Blake dir gegeben hat. Von der Feuerwehr.“ Ich merkte plötzlich wie hungrig ich war und packte mir zwei Knödel auf den Teller.

„Ach so. Nur ein paar Routine-Checks, die ich mit ihr durchgehen soll, damit sicher ist, dass sie keine bleibenden Schäden davonträgt. Nichts Gravierendes.“ Mrs Kane stapelte sich einen Berg Rotkohl auf den Teller. „Dieser Blake ist wirklich ein netter Junge und er sieht gut aus, findest du nicht, Aylia?“

Ich schwieg. Ständig versuchte meine Mutter mich zu verkuppeln. Einmal hatte ich sogar einen Freund gehabt, den hatte sie gemocht.

„Ich mag Blake nicht!“, sagte Tara stur.

„Ich auch nicht“, ergänzte Fen und biss in einen Kloß, der auf seiner Gabel steckte.

Mum schüttelte den Kopf. „Ich verstehe euch nicht, Kinder!“ Hilfesuchend sah sie mich an.

„Ich kann ihn auch nicht leiden“, gab ich vorsichtig zu. Mutter ließ sich im Stuhl zurückfallen. Ihr Mund war offen und sie sah uns drei der Reihe nach an. „Ihr alle?“ Sie sah plötzlich unglaublich müde aus. Kurz darauf räusperte sich. „Nun ja, da kann man wohl nichts machen. Man kann ja nicht jeden mögen, nicht wahr?“

Plötzlich war mir der Appetit vergangen. „Ich treffe mich gleich mit Mailin und Caja. Wir gehen zum Strand“, sagte ich und stand auf.

„Du hast doch kaum etwas gegessen!“, protestierte meine Mutter.

„Ich bin pappsatt!“, erklärte ich und legte einen Hand auf meinen Bauch, um meine Aussage zu verdeutlichen.

Mum gab sich geschlagen. „Schön! Sag Grüße an die Mädchen und sag Caja, dass sie ihre Eltern von mir grüßen soll!“

„Mach ich!“ Ich lächelte sie an.

Meine Mutter stutzte. „Du siehst heute aber hübsch aus. Hast du eine neue Schminke?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Deine Haut ist so unglaublich rein. Wie hast du das gemacht? Sowas könnte ich auch gebrauchen.“

„Ich weiß nicht, wovon du redest, Mum“, sagte ich schnell und ging auf mein Zimmer, um mein Zeug zusammenzupacken. Was war heute nur los? Ob es wohl wirklich daran lag, dass meine Pickel einfach so verschwunden waren? Aber ich hatte doch schon immer sehr wenig Pickel gehabt. Ich warf mein Handtuch in die Badetasche und suchte nach meinem türkisen trägerlosen Bikini. Dann schrieb ich Caja und Mailin schnell eine Nachricht, ob wir uns jetzt schon treffen könnten.

Cajas Eltern und meine Mutter kannten sich schon sehr lange. Am Anfang hatten Caja und ich nicht so viel miteinander zu tun. Sie war sehr gut mit Scarlett befreundet gewesen, aber eines Tages hatte Scarlett eine dumme Bemerkung mir gegenüber gemacht und Caja hatte mich verteidigt. Seitdem konnten Scarlett und Caja sich nicht mehr ausstehen und Caja und ich hingen zusammen wie Pech und Schwefel.

Caja hatte schon den Führerschein und sogar ein eigenes Auto und bot an, Mailin und mich abzuholen. Der Strand zu dem wir wollten, war zwar nicht allzu weit entfernt, aber wenn eine von uns nun schon volljährig war und den Führerschein hatte, konnte man das doch nicht abschlagen. Caja wollte unbedingt zu dem Strand mit der Ruine. Früher waren wir in dieser Ruine immer umher getollt und hatten uns Geschichten ausgedacht. Heute waren wir nur noch selten da, um das alte Gemäuer zu betrachten. Dafür gab es am Strand viel zu gutaussehende Typen. Zu dritt diskutierten wir, wer die coolste Frisur, den geilsten Körper oder die besten Tricks auf dem Surfbrett vollführte.

Ich packte ein großes Handtuch ein, eine warme Decke und noch einen warmen Pullover. Dann ging ich runter in die Küche, um nach etwas essbarem zu suchen. Ich fand ein paar Äpfel und eine Chip-Packung, die ich beides einpackte. Draußen hörte ich die Hupe von Cajas Auto.

„Tschüß!“, rief ich aus dem Flur, während ich mir meine braunen Boots und meine schwarze Lederjacke anzog.

„Tschüß, mein Engel! Viel Spaß!“, rief meine Mutter aus dem Wohnzimmer.

„Danke!“ Ich packte mir eine Wasserflasche, die gestapelt neben der Haustür standen und stürzte nach draußen. Caja hatte sich aus dem Fenster gelehnt. Ihre roten Haare hatte sie zu einem hohen Dutt gebunden. „Komm schon, Süße! Lass uns Spaß haben!“, rief sie mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Mailin saß auf dem Beifahrersitz und schüttelte amüsiert den Kopf.

„Wow! Du siehst heute aber echt heiß aus!“ Caja blieb der Mund offen stehen. Ich ignorierte sie und setzte mich hinten auf die Rückbank von Cajas silbernem Volvo. „Kann losgehen!“

Caja lachte laut und ließ den Motor aufheulen, dabei klang sie wie eine entlaufene Patientin aus dem Irrenhaus.

„Verdammt, Caja“, rief Mailin über den Motor hinweg. „Übertreib es nicht!“

„Sei nicht so eine Spielverderberin, Mai“, erwiderte Caja gutgelaunt und fuhr mit einem kleinen Hopser los. Mailin hielt sich verkrampft an ihrem Sitz fest. Caja bedachte sie mit einem spöttischem Lächeln. „Du siehst aus wie Aylia in der Geisterbahn. Keine Sorge, ich fahre gut!“

„Würdest du während dem Fahren bitte auf die Straße schauen?!“, sagte Mailin beunruhigt. Ich lachte. Die beiden waren besser als jedes Unterhaltungsprogramm.

Wir fuhren nicht sehr lange. Vielleicht zwanzig Minuten. Gerade als wir von der Straße runter auf einen steinigen Kiesweg fuhren, verschwand die Sonne und dunkle Wolken zogen auf.

„Das ist ja richtig windig“, maulte Caja, als wir aus dem Auto stiegen und den kleinen Weg hinunter zum Strand liefen.

„Ist doch schön“, meinte ich und streckte die Arme aus. „Ich mag Wind! Das ist als könne man fliegen.“

Caja verdrehte die Augen. „Fliegen? Nein, danke! Ich habe Höhenangst!“

Mailin kicherte. „Aber Geisterbahnen liebst du.“

„Die sind ja auch nicht tausend Meter über den Wolken“, erklärte Caja.

„Ich hasse Geisterbahnen!“ Ich konnte mir nicht vorstellen, wie es jemandem gefallen konnte, erschreckt zu werden. Die ganze Zeit bereitete man sich auf diesen Schreckmoment vor, weil man genau wusste, dass der kommen würde und trotzdem bekam man jedes Mal aufs Neue einen Herzinfarkt. Aber Caja liebte so etwas. Mir waren die hohen Achterbahnen viel lieber. Man fühlte sich so leicht und frei. Ich liebte das Kribbeln in der Bauchgegend, wenn es bergab ging.

Es waren hohe Wellen. Eine handvoll Surfern war draußen und kämpfte mutig gegen die Fluten an. Wir steuerten auf unseren Lieblingsplatz zu. Ein großer flacher Felsen, auf den wir uns immer zu dritt auf unsere Handtücher legten und alles überschauen konnten.

Mailin kletterte als erste nach oben. „Ich bin gespannt wie Blake sich bei diesem Wind schlägt“, sagte sie und hielt Ausschau nach den Surfern, die übermütig in den Wellen herumtollten.

„Blake?“, fragte ich alarmiert und kletterte ihr nach.

„Oho! Miss Ich-lass-keinen-an-mich-ran scheint ein Auge auf den neuen Jungen geworfen zu haben.“ Caja schwang sich nach oben und piekste Mailin in die Seite, die gerade ihr Handtuch ausbreitete. Mailin lachte und wehrte Caja ab.

„Ich kann’s dir nicht verübeln“, plapperte Caja weiter und legte wissend einen Arm um Mailin. „Er sieht wirklich gut aus.“

„Blake ist hier?“, fragte ich energischer und ließ meine Tasche neben den beiden fallen.

Caja nickte. „Ja. Dean hat ihn heute mit den anderen Jungs zum Surfen eingeladen.“

Ich zog mein Handtuch aus der Tasche. „Ich will ihn nicht sehen!“

Verwirrt sahen mich meine beiden Freundinnen an. Mailin runzelte die Stirn und Caja legte fragend den Kopf schräg. „Warum nicht?“, fragte Caja.

Ich legte mein Handtuch neben Mailins und setzte mich darauf. Wie sollte ich das erklären. Abwartend starrten beide zu mir hinunter. Caja, Mailin und ich hatten keine Geheimnisse voreinander. Nie. Ich entschied mich, ihnen die Wahrheit zu sagen.

„Als ich Tara heute Morgen aus dem Krankenhaus abholen wollte, war er schon da und saß in ihrem Zimmer“, begann ich zögerlich. Caja breitete ihr rotes Handtuch vor uns aus und legte sich auf den Bauch, das Gesicht zu mir gedreht. „Aber das ist doch total süß von ihm“, sagte sie. Ich war einen Moment aus der Fassung. „Ja. Nein! Also...ja! Ja, ist es, aber als Blake Tara gesagt hatte, er habe sie bei dem Brand im Schulgebäude gefunden, da hat sie gemeint, er würde lügen und hat sogar angefangen zu weinen.“

„Tara hat geweint?“, fragte Mailin ungläubig.

Ich nickte. „Ja und ich weiß, das klingt seltsam, aber irgendwie hat er sie wieder zum Einschlafen gebracht.“

„Inwiefern?“, fragte Caja mit hochgezogenen Augenbrauen. „Hat er ihr was vorgesungen, oder was?“

„Nein, er hat die Hand auf ihre Stirn gelegt und sie angesehen.“

Meine Freundinnen schwiegen. Verständlich, ich hätte auch nicht gewusst, was ich darauf hätte sagen sollen.

Ich suchte nach den Surfern und versuchte auszumachen, wer von ihnen wohl Blake sein könnte.

„Hat er noch irgendetwas zu dir gesagt?“, fragte Mailin. Ich nickte langsam. „Ja, er hat mich gepackt und gefragt, was ich weiß! Da hatte ich echt Angst vor ihm! Er war richtig unheimlich. Bevor er aus dem Zimmer gegangen ist, hat er noch gemeint, ich könne nicht weglaufen.“

„Weglaufen wovor?“, fragte Caja.

Ich zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung.“

„Das klingt alles ziemlich seltsam“, meinte Mailin.

Caja setzte sich auf. „Naja, Fakt ist, dass Aylia Blake nicht sehen will. Was ich vollkommen verstehen kann, nach so ’ner Aktion!“

Ich lächelte sie dankbar an. Mailin nickte. „Also, falls er auf uns zukommt, zischen wir sofort mit dir ab!“

„Nein, das müsst ihr nicht tun. Wenn du ihn magst, dann sollst du meinetwegen nicht auf ein nettes Gespräch verzichten“, wehrte ich ab.

„Apropos Blake!“ Caja wischte sich kurz die Schminke unter den Augen weg. „Als du mich heute Nacht angerufen hat, wolltest du mir doch etwas über ihn erzählen, oder?“

Ich winkte ab. Inzwischen kam mir die Vorstellung Blake mit Flügeln gesehen zu haben so dämlich vor, dass ich sie selbst kaum glauben konnte. „Ach, nicht so wichtig!“

Mailin legte sich auf ihr Handtuch und streckte sich. „Ihr tretet eurer eigenen Freiheit in den Weg, wenn Ihr Euren Freunden Euren Kummer verheimlicht“, zitierte sie.

„Von wem diesmal?“, fragte Caja. „Tschechow?“

Mailin sog scharf die Luft ein. „Schande über euch, Miss McMahon! Shakespeare natürlich!“

Caja verdrehte die Augen. „Klar, wer sonst!“

Mailin grinste. Sie war verrückt nach Lyrischen Texten. Besonders Gedichte und die gelben kleinen Reklame-Heftchen hatten es ihr angetan. Als Schullektüre waren diese Heftchen überall verhasst, aber Mailin liebte sie. Nicht selten zitierte sie aus Tschechow, Shakespeare und sogar Schiller. Caja und mich hatte sie dazu gezwungen Hamlet und Der Sturm zu lesen, damit sie mit uns darüber reden konnte. Ich wettete, Caja hatte sich bloß die Zusammenfassung im Internet durchgelesen. Ich aber hatte sie wirklich gelesen und ich musste zugeben, dass sie mir gefallen hatten. Mailins absolute Lieblingsperson aus Hamlet war Laertes, der Bruder von Ophelia, der Hamlet herausforderte, um ihren Tod zu rächen. Die ganze Geschichte war ein Geflecht aus Verrat, Trug und Rache.

„Ich wünschte, ich hätte so einen großen Bruder“, schwärmte sie jedes Mal und jedes Mal verdrehte Caja die Augen und erzählte von ihrem großen Bruder, der vor zwei Jahren nach Edinburgh gezogen war. „Sei froh, dass du ein Einzelkind bist“, schloss sie jedes Mal.

„Jetzt erzähl aber mal, Aylia! Was wolltest du über Blake sagen?“, hakte Caja unnachgiebig nach.

Ich seufzte. „Es klingt aber ziemlich verrückt.“

„Klang die Geschichte im Krankenhaus auch schon!“, grinste Mailin.

Ich sah sie an. „Das, was ich jetzt erzähle ist noch schlimmer! Als ich in die Schule gerannt bin, um nach Tara zu suchen, da habe ich Blake mit ihr im Arm auf der Treppe gesehen und durch die Flammen – oder so – sah es aus als hätte er zwei große weiße Flügel.“

Cajas Augen weiteten sich. „Wow! Das ist eigentlich richtig spannend.“

Mailin nickte. „Ja, stimmt.“

„Wahrscheinlich habe ich mir das nur eingebildet!“, sagte ich erleichtert, ihnen jetzt endlich alles erzählt zu haben.

„Naja, was denkst du, wie viel Adrenalin durch deinen Körper geschossen ist? Ich meine, du bist in ein brennendes Haus gerannt! Da kann so was schon mal passieren“, meinte Mailin beruhigend.

„Eben“, sagte Caja und wandte sich wieder zu den Surfern.

Wahrscheinlich hatten sie recht. Der Kopf vor meinem Fenster in der Nacht, war sicher auch nur Einbildung gewesen. Bestimmt gab es ganz logische Erklärungen für das alles. Und ganz sicher hatten Blakes Worte auch einen Grund gehabt, den ich einfach nicht verstanden oder nicht erkannt hatte.

Inzwischen hatten sich die Jungs aus den Wellen gekämpft. Sie hatten ihre Surfbretter unter die Arme geklemmt und jagten sich übermütig durch den Sand. Dean winkte uns und kam mit den Anderen auf uns zu.

Es waren fünf. Zwei von ihnen waren nicht aus unserer Schule und verabschiedeten sich per Handschlag bei den Anderen bevor sie uns erreichten.

Dean zog sich als erster auf unseren Stein hoch. Hinter ihm Mick und dann Blake. Sie hatten diese enganliegenden Surferanzüge an. Deans hellbraune Locken waren klatschnass und zur Begrüßung schüttelte er sich einmal über Caja, die quietschend aufsprang.

„Iiiih! Dean, lass das!“ Sie schlug ihm gegen die Schulter. Dean lachte nur und breitete die Arme aus. „Krieg ich keine Umarmung zur Begrüßung?“

„Du bist klatschnass!“, protestierte Caja. Dean legte den Kopf schief und lächelte hinreißend. Caja hatte schon immer eine Schwäche für Dean gehabt. Sie wurde rot. „Schau nicht so bescheuert!“, feixte sie, während Dean ihr immer näher kam und sie immer mehr zurückwich. Schließlich sprang sie vom Felsen und rannte unter hysterischen Lachanfällen davon. Dean jagte ihr sofort hinterher.

„Los, schnapp sie dir!“, grölte Mick. Er war das, was man sich unter einem typischen Iren vorstellte. Er hatte rotes Haar, helle Haut und Sommersprossen. Außerdem war er sehr schnell gewaltbereit und bei jeder Prügelei dabei. Das hieß aber nicht, dass er gefährlich war. Nein, er hatte sich immer im Griff und er zettelte auch nicht absichtlich eine Prügelei an. Trotzdem nahm ich mich vor ihm in Acht. Obwohl mir klar war, dass er niemals ein Mädchen schlagen würde. Das wäre unter seiner Würde. Das hatte er mir schon einmal erklärt. Ich hatte ur genickt und gelächelt. Ich mochte es nicht, wenn Leute zu viel über sich und ihre Charaktereigenschaften redeten. Das war als würden sie von Anfang an sicherstellen wollen, dass sie viel cooler waren als sie es scheinbar auf andere wirkten. Mick sah Mailin und mich mit einem breiten Grinsen an. Blake dagegen beachtete uns kaum. Es schien als wäre das im Krankenzimmer nie passiert. Ich versuchte ebenfalls nicht daran zu denken. Was würde mir das auch bringen? Ich wusste ja ohnehin nicht, was sein Verhalten bedeutet hatte und ich wollte ihn auch nicht darauf ansprechen.

Mick setzte sich neben mich und erzählte mir von den Wellen und was für einen tollen Trick er gemacht hatte. Ich sah kurz zu Mailin und verdrehte die Augen. Sie unterdrückte ein Lachen und wandte sich Blake zu.

„Wie war das Surfen?“, fragte sie.

„Cool“, erwiderte Blake.

Mick lachte laut. „Übertreib mal nicht, Blaky! Es war der Hammer!“

„Blaky?“, fragte ich amüsiert und zog eine Augenbraue hoch.

Blake lächelte gequält. Mailin lachte.

„Was habt ihr denn?“, fragte Mick. „Ist doch voll der krasse Spitzname.“

„Ist gut, Micky Maus!“, sagte Dean, der plötzlich mit Caja am Rand des Steines stand.

„Nenn mich nicht so!“, rief Mick wütend. Seine Augen funkelten. Ich rückte ein wenig von ihm ab, doch Dean lachte nur. „Was ist? Willst du dich mit mir schlagen?“

Um Micks Mundwinkel spielte ein schräges Lächeln. „Nur zu gern.“

„Nicht jetzt, Jungs!“, stöhnte Caja, kletterte wieder auf den Stein und legte sich auf ihr Handtuch. Dean folgte ihr und Mick seufzte enttäuscht.

„Dean, versprich mir, dass es bald mal wieder jemanden hier gibt, der ’ne tracht Prügel verdient!“, flehte er und setzte sich wieder.

Dean grinste. „Da finden wir sicher schnell jemanden.“

Blake starrte mich an. Ich spürte seine viel zu hellen blauen Augen auf mir. Mich schauderte. Ich stand auf. Alle Blicke richteten sich auf mich.

„Tut mir leid. Mir geht es nicht gut“, sagte ich. „Bleibt ruhig hier. Ich werde ein bisschen Spazieren gehen.“

„Sollen wir mitkommen?“, fragte Caja.

„Nein!“, sagte ich schnell. Wohl ein wenig zu schnell, denn sie runzelte die Stirn. „Nein, danke“, versuchte ich es noch einmal. „Ich will lieber alleine sein. Ich bin auch nicht lange weg.“

„Wenn du in einer Stunde nicht wieder da bist, gehen wir dich suchen“, meinte Mailin.

Ich nickte und lächelte ihr zu.

„Du solltest nicht allein gehen“, meinte Blake. Er hielt meinen Blick fest und ich sah etwas in ihm, was ihn beunruhigte. War er besorgt?

„Besonders, wenn es dir nicht gut geht“, argumentierte er. „Du könntest ohnmächtig werden und irgendwo hinunterfallen.“

„Danke, aber ich kann auf mich selbst aufpassen. Außerdem habe ich ein Handy.“

Blakes Miene verfinsterte sich, doch er schwieg. Seine nassen, schwarzen Haare hingen ihm wirr ins Gesicht. Ich kletterte vom Felsen.

„Pass auf dich auf!“, rief Caja mir noch hinterher.

„Klar!“, erwiderte ich. Dann drehte ich ihnen den Rücken zu und lief auf die Dünen zu. In die Richtung, wo die Ruine war. Ich mochte die Ruine. Ich war gerne dort. Mein letzter Besuch war schon ein paar Monate her. Das musste ich ändern.

Die Ruine war klein. Ein paar hohe Mauern, die hohe, große Räume andeuteten und eine kleine Umrandungsmauer. Dazu einen alten hohen Turm. Oft genug hatte ich schon versucht, ihn hochzuklettern, doch ich hatte es nie ganz geschafft. Ab zwanzig Metern gab es keine Möglichkeit mehr, sich irgendwo festzuhalten, egal von welcher Seite, ich es aus versucht hatte.

Ich setzte mich auf eine kleine Mauer und starrte aufs Meer hinaus. Der wind fuhr mir durch die Haare. Ich erinnerte mich daran, wie ich heute Morgen im Spiegel ausgesehen hatte. Ob mich deshalb alle so angestarrt hatten. Es war furchtbar gewesen. Ich versuchte, so gut wie möglich nie in den Mittelpunkt zu geraten. Ich hasste es, wenn man mich anstarrte. Ich fuhr mir mit den Fingern über die Haut. So weich war sie noch nie gewesen. Plötzlich hörte ich schräg über mir ein Geräusch. Ich fuhr erschrocken herum. Da saß ein junger Mann auf einer größeren Mauer hinter mir. Er hatte blondes Haar, dass ihm in wirren Strähnen bis zu den Augen reichte. Er hatte eine gerade Nase und ein schmales Gesicht. Seine Lippen waren leicht geöffnet. Vielleicht vor Erstaunen. Seine Augen hatten ein hellbraunes fast rötliches braun. Er war groß und muskulös und etwas ging von ihm aus, was mich anzog. Ich wollte näher bei ihm sein. Wollte ihn berühren. Ich war wirklich kein oberflächlicher Mensch, aber dieser Junge war der schönste, den ich je gesehen hatte. Oder, wie Caja sagen würde: „Ein echtes Schnittchen“.

Oh mein Gott, was dachte ich denn da? Ich musste diesen intensivern Blickkontakt sofort beenden. Wie lange starrten wir uns nun schon an?

Der Fremde schloss den Mund und zog die Augenbrauen zusammen. Etwas in mir flehte, dass er etwas sagen würde. Dass ich seine Stimme hören konnte.

„Hallo“, brachte ich schließlich zögernd heraus. Ich wagte es nicht, mich zu bewegen. Er stand auf und sprang mühelos von der hohen Mauer. Dann kam er langsam auf mich zu. Vorsichtig, als könnte er mich verscheuchen.

„Bist du eine Keltin?“, fragte er. Seine Stimme war weich, dunkel und sanft. Ich spürte, wie mich ein wohliges Gefühl durchströmte. Dabei war es mir ganz egal, was er sagte. Er hätte auch tausendmal „Rhabarber“ sagen können und ich hätte es für das schönste Wort auf der Welt gehalten. Als er begriff, dass ich ihm nicht antwortete, versuchte er es anders. „Wie heißt du?“

Ich wollte schon den Mund öffnen, um ihm meinen Namen zu verraten, als mich plötzlich etwas packte und von der Mauer riss. Ich machte mich auf einen Aufprall gefasst, aber stattdessen wurde ich sanft auf der anderen Seite der kleinen Mauer abgesetzt und hinter eine große Person geschoben mit ungefähr der gleichen Statur wie der Fremde sie hatte.

„Sag kein Wort!“, zischte Blake. Ich wusste nicht weshalb, aber ich gehorchte und verbat meinen Lippen sich voneinander zu lösen.

Der Fremde sah Blake ruhig an, doch ich sah, sich seine Muskeln anspannten.

„Verschwinde von hier, Taran!“, sagte Blake laut.

Der Fremde legte den Kopf schräg und lächelte ein umwerfendes Lächeln. „Was kümmert es dich, wo ich stecke?“

„Am liebsten würde ich dich hier auf der Stelle umbringen!“, knurrte Blake.

In den Augen des Fremden spielte sich etwas Belustigtes wieder. „Versuch es doch, Lug!“

Mir brummte der Kopf. Ich spürte, wie mein Brustkorb immer enger wurde. Als würde mich etwas erdrücken. Das Bild verschwamm langsam vor meinen Augen.

„Hau endlich ab!“, rief Blake wütend. „Diese hier bekommst du nicht!“

Der Fremde schwieg. „Ich wollte sie auch nicht“, erwiderte er leise.

Verschwommen nahm ich zwei große schwarze Flügel wahr, die aus dem Rücken des Fremden sprossen. Mit einem kräftigen Flügelschlag schoss der Fremde in den Himmel.

Ich brach zusammen.

 

Kapitel 1

 „Aylia! Du kommst zu spät! Wach endlich auf!“

Mit einem Grummeln zog ich mir die Decke über den Kopf. „Ich fühl mich heute ganz komisch!“

Die Tür wurde geöffnet und meine Mutter trat ins Zimmer. „Kommt nicht in Frage, Lia! Steh jetzt sofort auf!“

Ich stöhnte. „Ja, ist gut.“

Immer musste sie so einen Stress machen. Mein Wecker würde erst in ein paar Minuten klingeln. Ich schlug die Decke zurück und rieb mir die Augen.

Der erste Schultag nach den Sommerferien. Der erste Tag in der Oberstufe.

Während ich mich für die Schule fertig machte, hörte ich meine kleine Schwester Tara lauthals durch die Wohnung singen. Sie war acht Jahre alt und ging nun in die dritte Klasse der National School in Liscannor. Es war eine Gesamtschule und momentan auch die einzige in unserem kleinen Dorf.

„Halt endlich die Klappe!“, fauchte mein Bruder Fen sie an.

Wir gingen alle zusammen zur Schule. Das war wahrscheinlich auch besser so. Die beiden würden die Schule sonst nie lebend erreichen.

Am Frühstückstisch war Fens Laune immer noch nicht besser. Er war dreizehn und kam gerade in den Stimmbruch, worüber er sich tierisch aufregte. Ich fand es eher amüsant.

Tara summte schon wieder vor sich hin.

Ich setzte mich neben Fen auf meinen gewohnten Platz.

„Ich stopf ihr gleich das Maul!“, knurrte Fen und starrte Tara hasserfüllt an.

Tara matschte mit einem Löffel in ihrem Müsli herum.

„Ich bin sicher, sie hat dich auch lieb“, entgegnete ich und goss mir ein Glas Milch ein. Irgendwie hatte ich heute keinen Hunger.

Auf dem Weg zur Schule trafen wir eine von Taras Klassenkameradin. Die beiden liefen tratschend nebeneinander her.

Fen hatte sich Kopfhörer in die Ohren gestopft und starrte vor sich auf den Boden.

Mein kleiner Bruder war ein Einzelgänger. Das lag nicht daran, dass er keine Freunde hätte haben können. Ich war mir sicher, dass viele Kinder gern mit ihm befreundet wären, aber Fen wollte keine Freunde. Er verstand sich mit jedem gut, aber er ließ niemanden zu nah an sich ran.

Mam vermutete, dass das mit unserem Vater zu tun hatte.

Kurz nachdem wir nach Irland gezogen waren, ist er einfach gegangen. Er hatte sich nicht einmal von uns verabschiedet.

Fen und ich konnten uns an ihn erinnern. Es war nun schon acht Jahre her. Ich war damals neun gewesen und Fen fünf.

Tara konnte sich an nicht viel erinnern. Damals war sie gerade erst geboren worden. Aber Fen...Fen konnte sich an so vieles erinnern. An so viele Versprechen und Träume.

Nachdem uns unser Vater verlassen hatte, sperrte Fen sich tagelang in sein Zimmer ein. Er aß nichts und ging nicht zur Schule. Damals hatten Mam und ich uns große Sorgen um ihn gemacht.

„Lia! Lia! Lia!“ Meine beste Freundin Caja rannte auf mich zu und fiel mir um den Hals. Ihr rotes Haar war viel länger als ich es in Erinnerung hatte.

„Man, wir haben uns so lange nicht gesehen! Wie geht es dir?“, fragte sie.

Sie war das typische irische Mädchen. Rote Haare, grüne Augen, blasse Haut und Sommersprossen.

„Gut. Wir waren die ganzen Ferien über in London bei meinen Großeltern“, erwiderte ich.

Caja nickte aufmerksam. Ich wusste, dass sie mich gleich voll tratschen würde, was hier Neues vorgefallen war. Die neuesten Klatschgeschichten.

„Du wirst es nicht glauben, aber Scarlett und Dean haben sich getrennt. Er hat ihr anscheinend ein paar richtig krasse Dinge an den Kopf geworfen. Ich kann ihn voll verstehen. Sie ist einfach eine richtig falsche Schlange. Nur weil ihr Vater der Bürgermeister ist, hat sie keine Erlaubnis dazu die anderen Mitschüler zu tyrannisieren.“

Vor uns ragte das Schulgebäude in die Höhe. Für 180 Schüler war es sogar etwas zu groß.

„Hast du schon gehört? Wir haben einen Neuen bei uns in der Klasse“, fuhr Caja fort.

Ich schüttelte den Kopf. „Nein! Ist er hergezogen?“

„Das ist ja das Unheimliche. Niemand weiß, von wo er kommt und er selber will anscheinend nicht darüber reden. Mailin hat mir erzählt, dass er anscheinend richtig gut aussieht. Er soll ganz schwarze Haare haben und Augen“, schwärmte Caja.

Ich kicherte. „Hey, was ist denn mit dir los?“

Caja lachte. „Ich hab ihn ja noch gar nicht gesehen. Das habe ich alles von Mailin. Die hat allerdings einen guten Geschmack.“

Wir liefen die Treppe hinauf, während wir weiter über Mailins Jungs-Geschmack diskutierten.

In unserem Klassenzimmer herrschte Aufruhr. Alle Schüler waren um einen Tisch weiter hinten gedrängt. Es war ziemlich laut.

Caja und ich setzten uns an unseren gewohnten Platz. Neugierig reckten wir die Köpfe, um etwas von dem neuen Jungen zu erhaschen.

Er sah wirklich gut aus.

„Sein Name ist Blake O’Conner“, wisperte mir Caja zu.

Ich nickte.

Misses Doyle, eine kleine rundliche Frau, betrat das Klassenzimmer und ermahnte alle sich an ihren Platz zu setzen.

„Ich nehme an, dass Sie alle unseren neuen Schüler bereits kennengelernt haben, deshalb würde ich nun gerne mit meinem Englisch-Unterricht beginnen“, sagte sie laut und sah uns der Reihe nach an. „Willkommen in der Klasse, Mr. O’Conner!“

Der Neue nickte höflich. „Danke!“

Seine Stimme war warm und sanft und doch so geheimnisvoll. Fasziniert sah ich ihn an.

Plötzlich erwiderte er meinen Blick. Ich schrak zusammen. Seine Augen waren hellblau und sein Blick so intensiv, dass ich schnell wegschauen musste.

Na toll. Musste ich jetzt die ganze Zeit mit der Gewissheit im Unterricht sitzen, dass er hinter mir saß und mit seinen hellblauen Augen nach vorne starrte? Ich wusste nicht wieso, aber es beunruhigte mich.

„Miss McMahon“, sagte Misses Doyle streng „öffnen Sie bitte das Buch auf Seite 36 und lesen Sie vor!“

Caja nickte, schlug gehorsam ihr Buch auf und begann zu lesen.

Der Neue, Blake O’Conner, ging mir nicht aus dem Kopf. Ich konnte mich nicht auf das konzentrieren, was Caja momentan vorlas.

Nein, ich wollte nichts von diesem Blake. Ich fühlte mich unwohl. Sehr sogar. Ich konnte es nicht sehen, doch ich fühlte, wie seine kalten blauen Augen auf mir lagen.

Ich bekam eine Gänsehaut und versuchte verzweifelt mit den Gedanken zum Unterricht zurückzukommen.

„Miss Kane!“, hörte ich Misses Doyles schneidende Stimme. „Können Sie noch einmal wiederholen, was Miss McMahon Ihnen vorgelesen hat?“

Ich zuckte zusammen. Caja neben mir zog mich geschickt aus der Affäre, indem sie mir leise Stichworte zuflüsterte, die ich schnell ein wenig ausschmückte.

In solchen Sachen waren wir ein eingespieltes Team.

Zum Glück war Misses Doyle zufrieden mit meiner Antwort und fuhr mit dem Unterricht fort. Ich schenkte Caja ein dankbares Lächeln. Sie grinste.

In der Pause zog ich Caja aus dem Klassenzimmer.

„Irgendwas stimmt mit diesem Blake O’Conner nicht“, wisperte ich, während wir uns ans Fenster auf die Heizung setzten.

„Wie meinst du das?“ Caja strich sich ihre roten Haare hinter die Ohren.

Ich schüttelte den Kopf. „Ich kann es nicht beschreiben, aber er macht mir Angst!“

Caja zog eine Augenbraue hoch. „Weshalb?“

„Hast du seine Augen gesehen?“

Sie sah mich vorwurfsvoll an. „Hast du was gegen blaue Augen?“, fragte sie scherzhaft.

„Es geht nicht um die Farbe!“, erwiderte ich. „Es geht um den Ausdruck darin.“

Caja öffnete den Mund, um etwas zu antworten, doch sie wurde von einer Stimme unterbrochen.

„Na, ihr beiden?“

Erschrocken fuhr ich hoch. Blake O’Conner stand vor uns und sah mit einem freundlichen Lächeln auf uns herab.

„Oh, hey!“, sagte Caja und lächelte zurück.

Ich rang mich ebenfalls zu einem Lächeln ab. „Du hast mich ziemlich erschrocken.“

„Tut mir leid!“ Verlegen kratzte er sich am Hinterkopf und grinste entschuldigend.

Caja neben mir schmolz sofort dahin. „Ach, das ist doch kein Problem. Ich bin übrigens Caja McMahon und der Angsthase da ist Aylia Kane“, sagte sie und deutete auf mich.

„Hey!“, rief ich beleidigt aus. „Ich bin kein Angsthase!“

„Das Einzige, was dir fehlen, sind die Ohren“, stichelte Caja.

Ich grinste. „Pass bloß auf, du Kobold!“

Caja stöhnte gespielt wehleidig auf. „Ach, es ist so grausam. Niemals werde ich grün tragen können!“

Blake lachte. „Nicht so schlimm. Ich mag sowieso kein grün.“

Ich war kurz davor, ihm klarzumachen, dass Caja ihre Klamottenfarbe sicher nicht nach seinem Geschmack auswählte, doch ich verkniff es mir. Da sah man ja, dass dieser Blake sich für etwas ganz Tolles hielt.

„Dann bist du hier aber eindeutig an den falschen Ort gezogen“, erwiderte Caja.

Blake nickte und sah zwischen Caja und mir durch das Fenster. Draußen regnete es.

„Ja, da hast du wohl recht. Aber ich hab das nicht entschieden. Mein Vater ist mit mir hierher gezogen wegen seinem Job. Unsere Großeltern haben hier schon einmal gelebt.“

Ich musterte ihn. Seine blauen Augen starrten ins Weite. Seine schwarzen Haare waren nach oben gestylt. Sein Gesicht war rein und makellos. Kein einziger Pickel. Keine einzige unreine Stelle. Er hatte irgendetwas an sich, was mich abschreckte. Er löste irgendein unbekanntes Gefühl in mir aus vor dem ich Angst hatte.

„Von wo kommst du denn eigentlich?“, fragte Caja.

„Aus Manchester. Meine Familie und ich haben am Irwell gewohnt. Das ist dieser Fluss, der sich durch die Stadt schlängelt.“

„Das ist ja eine ziemliche Umgewöhnung“, stellte ich fest, „Von der Großstadt aufs Land zu ziehen.“

Blake nickte. „Ja, schon. Hier ist alles so ruhig.“

Mir wurde kalt. Ich schlang meine Arme um mich.

Kapitel 2

Als ich nach Hause kam, stand meine Mutter am Telefon. Meine Mutter telefonierte nie! Nach jedem Telefonat gab es etwas zu verkünden. Ich zog meine Schuhe aus und versuchte an ihrer Stimme zu erkennen, um was es sich handeln könnte. Ich ging ins Wohnzimmer, legte meine Schultasche aufs Sofa und setzte mich daneben. Meine Mutter stand mit dem Rücken zu mir am Fenster, hatte einen Arm um sich geschlungen und hielt sich mit dem anderen verkrampft das Telefon ans Ohr.

„Mhm...ja....oh“ machte sie die ganze Zeit.

Gespannt wartete ich darauf, das irgendein Wort fallen würde, das mir sagte, worum es sich handelte. Sie drehte sich zu mir um. Ich zog abwartend eine Augenbraue hoch. Sie sah durch mich hindurch. Plötzlich wurde ihr Gesichtsaudruck eisig.

„Hören Sie, dass er ihn geschlagen hat, war falsch. Das will ich nicht leugnen, aber zu behaupten mein Sohn sei aggressiv oder schlecht erzogen ist eine Unverschämtheit. Mein Sohn hatte seine Gründe. Aber keine Sorge. Ich werde mich darum kümmern, dass er sich bei Ihrem Sohn entschuldigt.“

Mir klappte der Mund auf. Ging es um Fen?

Meine Mutter lauschte der anderen Person am Telefon.

Ich versuchte die ganze Sache zu begreifen. Fen hatte jemanden geschlagen? Fen?!

Endlich hatte Mam das Gespräch beendet und setzte sich seufzend neben mich auf das Sofa.

„Ich weiß nicht, was das soll“, begann sie leise und vergrub den Kopf in den Händen „das hat er noch nie getan. Erst muss ich ihn beim Rektor abholen, jetzt vergräbt er sich in seinem Zimmer und antwortet mir nicht und dann musste ich noch mit dieser nervtötenden Mutter telefonieren. Dazu kommt, dass die Bank uns kein Geld mehr leihen will, weil die alten Schulden noch nicht bezahlt sind, aber ich kann nicht noch mehr arbeiten.“

Ich legte meine Hand auf ihre Schulter. In mir machte sich dieses beklemmende Gefühl breit, das man hat, wenn man merkt, dass Eltern verzweifelt oder traurig sind. Ich hasste es. Wieso konnte ich nicht noch klein sind? So klein, dass meine Mama ihre Probleme vor mir verbarg und ich die Augen davor verschließen konnte. Doch diese Zeiten waren schon lange vorbei und ich sehnte mich zurück nach ihnen. Andererseits tat es meiner Mutter wahrscheinlich gut, mir so etwas zu erzählen.

„Aylia...könntest du...bitte mit ihm reden? Du hast eine engere Bindung zu ihm. Er lässt mich nicht rein.“ Meine Mutter schluchzte. Ich nickte und küsste sie auf die Stirn.

Sie lächelte gequält. „Danke, mein Engel!“

Sie hatte mich schon immer mein Engel genannt. Auch wenn ich jetzt schon siebzehn war. Ich mochte es, wenn sie mich so nannte. Das erinnerte mich an die alte Zeit. Die Zeit mit meinem Vater...

„Fen?“ Ich klopfte zaghaft an die Tür.

Stille.

„Fen! Mach auf! Ich bin’s!“

Ich hörte langsame Schritte über den Parkettboden schleifen, dann öffnete er die Tür.

Seine Augen waren rot. Er hatte geweint. Trotzig wischte er sich mit dem Handrücken übers Gesicht.

„Was willst du?“, fragte er mit belegter Stimme.

„Dich trösten“, erwiderte ich.

„Ich brauch keinen Trost! Du kannst wieder gehen!“ Er vermied es mich anzusehen und starrte finster zur Seite.

„Fen“, sagte ich leise, „Was ist passiert?“

Mein kleiner Bruder trat ein paar Schritte zurück und setzte sich aufs Bett. Ich ging ihm nach und zog die Tür hinter mir zu.

Fen schwieg und vergrub das Gesicht in den Händen.

Ich wartete. Aus Erfahrung wusste ich, dass ich ihn nicht berühren durfte und warten sollte, bis er meine Frage beantwortet hatte. Sonst würde er wütend werden und mich rauswerfen.

Er hob das Gesicht. „Er hat ihn beleidigt...“

„Wer hat wen beleidigt?“, fragte ich.

„Dieser McGregory aus meiner Klasse!“, fauchte Fen und biss die Zähne zusammen. „Er hat behauptet, ich sei ein Muttersöhnchen, aber das wäre ja kein Wunder, wenn ich einen Vater hatte, der uns nicht aushielt und abgehauen ist.“

Er atmete scharf ein.

Mir blieb der Mund offen stehen.

„Das ist doch nicht wahr. Du weißt, dass es nicht so ist, Fen.“

„Und woher?“ Seine Augen füllten sich mit Tränen. „Woher soll ich das wissen? Er ist einfach abgehauen, Lia! Er ist weg! Ohne irgendein Lebenszeichen! Ohne uns irgendetwas zu erklären! Ohne sich zu verabschieden!“ Er unterdrückte ein Schluchzen und biss sich auf die Lippe.

Ich schwieg betroffen.

„Ich erinnere mich nicht einmal mehr an sein Gesicht.“ Fen sah auf ein Photo auf seinem unordentlichen Schreibtisch. Es war eingerahmt, doch es war zerrissen. Die eine Hälfte fehlte. „Findest du es nicht merkwürdig“, fuhr er fort „dass Mama alle Bilder von ihm entwendet hat? Das wir nichts mehr von ihm im Haus haben? Das einzige, was ich noch habe, ist das!“ Er hielt mir sein silbernes Sturmfeuerzeug entgegen. „Das hatte er hiergelassen. Ich habe es mir genommen, bevor Mama es an sich nehmen konnte. Warum lässt sie uns keine Erinnerungen an ihn?“

Ich strich ihm über die dunklen Locken. „Wahrscheinlich schmerzt es sie selber zu sehr, an ihn erinnert zu werden.“

Fen sah finster auf den Boden. „Ich glaube, sie ist schuld.“

Ich stockte. „Was?“

„Du hast mich schon verstanden“, knurrte Fen. „Sie ist Schuld! Sie war die Einzige von uns, die es hätte bemerken müssen. Die ihn hätte aufhalten können!“

„Fen!“, unterbrach ich ihn streng. „So etwas darfst du nicht einmal denken!“

„Warum verteidigst du sie?“, rief Fen wütend. „Sie hat ihn gehen lassen!“

„Denkst du denn, sie hätte etwas ändern können?“, fragte ich ruhig.

„Sie wäre die Einzige gewesen, die die Chance dazu hatte.“

Ich schüttelte den Kopf. Nein. Ich wollte Mama nicht die Schuld geben. Sie war genau wie wir am Boden zerstört und allein gewesen. Sie hatte es geschafft darüber hinwegzukommen, uns Kindern trotzdem eine Kindheit zu bieten und sich mit dem Geld, dass sie verdiente über Wasser zu halten.

„Das ist nicht fair von dir!“

„Pah!“ Fen drehte den Kopf weg.

Ich stand auf. „Was ist los mit dir? Mama hat so viel für uns getan! Wie kannst du so über sie reden?“

Wütend fuhr Fen hoch. „Sie ist Schuld, Lia! Sie war die Einzige, die es hätte ändern können und sie hat es nicht getan!“ Er funkelte mich an, versuchte verzweifelt größer zu wirken, obwohl er noch mindestens einen ganzen Kopf kleiner war als ich. Seine dunkelbraunen Locken fielen ihm wirr ins Gesicht. Er ballte die Hände zu Fäusten und zitterte vor Wut. Ich schüttelte langsam den Kopf, suchte seinen Blick, doch die honigfarbenen Augen wichen mir aus. Wieder einmal fiel mir auf, wie verschieden wir waren. Ich hatte blaue Augen und blondbraunes Haar. Tara allerdings hatte grüne Augen und pechschwarzes Haar. Die einzige Gemeinsamkeit, die uns Geschwister verband, waren unsere welligen Locken. Oft genug hatte ich daran gezweifelt, ob wir drei wirklich von den gleichen zwei Menschen abstammten, aber ich traute meiner Mutter keine Seitensprünge zu. Außerdem fiel mir bei jedem von uns etwas auf, dass mich an unseren Vater erinnerte. Fen zum Beispiel, da war ich mir sicher, hatte die gleichen Gesichtszüge und die gleiche gerade Nase. Bei Tara waren es unverkennbar die schwarzen Haare und ich hatte die gleichen blauen Augen wie er.

Unsere Mutter war ganz anders. Sie war blond, hatte Sommersprossen und grüne Augen. Nicht selten wurde sie gefragt, was für eine Färbung sie benutzte. Vielen Leuten schien es schwer zu fallen zu glauben, dass so eine goldblonde Haarfarbe wirklich von Natur aus entstehen konnte. Ich meinte mich an ein altes Familienbild zu erinnern. Mein Blick fiel auf das Photo, welches auf Fens Schreibtisch stand. Nur noch zur Hälfte vorhanden. Durchgerissen, damit die andere Person nicht mehr zu sehen war. Fens stolzes Lächeln. Er hatte einen Golfball in der Hand.

Ich erinnerte mich an den Tag. Papa und er waren raus gefahren zum Golf spielen und Fen hatte einen Golfball aus dem Teich gefischt, von dem er überzeugt war, dieser würde ihn von nun an Glück bringen. Mein Blick suchte nach dem Ball. Endlich fand ich ihn auf seinem Regal liegen.

Ich sah Fen an. Er starrte auf den Boden. Schwieg. Er hatte sich wieder beruhigt. Seine Hände hingen kraftlos an seiner Seite.

Ich ging auf ihn zu und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Verwundert über meinen festen Griff sah er mich an. Ich war selbst überrascht von meiner Entschlossenheit.

„Fen! Was auch immer Papa für einen Grund hatte, er ist weg!“

Mein Bruder zeigte keine Regung.

„Aber das heißt nicht, dass er nicht wiederkommt. Das heißt nicht, dass er uns nicht lieb hatte. Ganz sicher hatte er auch Mama lieb. Wenn Papa sich entschlossen hatte zu gehen, dann hätte ihn niemand aufhalten können. Ich wette, es war zu unserem Besten! Und ich will nicht, dass du weiter darüber nachdenkst. Papa hätte sicher nicht gewollt, dass du nach seinem Verschwinden in Depressionen verfällst und ganz sicher auch nicht, dass du einen Mitschüler verprügelst.“

Fen senkte den Blick.

Ich lächelte hoffnungsvoll. „Wir schaffen das. Wir schaffen das alle zusammen, okay?“

Er wischte sich mit dem Handrücken über die Augen und nickte. Dann hob er den Kopf und sah mich flehend an. „Hilfst du mir ein Bild von ihm zu finden?“

Ich nickte und wuschelte ihm durchs Haar. Er lächelte gequält. „Du hast meine Frisur zerstört.“

Kapitel 3

Mailin Foley malte mir einen Strich ins Heft. Ich grinste sie an und rächte mich mit einem krakeligen Durcheinander auf ihrem Block. Sie kicherte. Ihre schwarzen schulterlangen Haare schwangen hin und her, als sie mir eifrig etwas auf einen Zettel schrieb.

Mailin war die verrückteste Person, die ich kannte. Eine gewisse Mischung aus Punk und Emo, aber dennoch richtig witzig. Ich mochte sie gern. Ihre Augen waren immer dunkel geschminkt und sie war sehr blass und schlank. Ihre Haare hatten violette Strähnen, aber am verrücktesten war ihr Klamottenstil.

Eine Netzstrumpfhose dazu violette Ballerinas, dann einen kurzen schwarzen geriffelten Rock mit einem schräg hängendem Nietengürtel. Dazu einen langärmligen schwarz-weiß gestreiften Pullover und fingerlose quietschgrüne Handschuhe. Irgendwie passte es nicht, aber andererseits sah es richtig cool aus.

 

Was machst du heute?

 

Mailin schob mir den Zettel rüber.

 

Muss mich um Fen und Tara kümmern

 

Ich schob ihr den Zettel zurück und zuckte entschuldigend mit den Schultern.

 

Kann ich dir helfen? Meine Eltern streiten sich mal wieder...

Klar, wenn du willst.

 

Mailin lächelte mich erleichtert an und formte mit den Lippen das Wort „Danke“. Ihre Eltern wollten sich scheiden lassen und da sie Einzelkind war, stritten sie sich um das Sorgerecht. Mailins Vater wollte nach Boston ziehen und ihre Mutter wollte dableiben. Keiner der beiden Elternteile wollte nachgeben.

Mailin wollte hier bleiben.

„Dieser Weg beweist uns also, dass es nur einen Schnittpunkt geben kann.“ Mr Smith, der von allen immer Smitty genannt wurde, rückte seine Hornbrille zurecht. Er hatte seinen Spitznamen allein deshalb erhalten, weil er unglaublich klein war. Ich überragte ihn um einen halben Kopf und Mailin war ungefähr genauso groß wie er, was sie sehr freute.

„Dean!“, sagte Smitty und räusperte sich. Wahrscheinlich um seiner viel zu hohen Stimme einen Hauch von Autorität zu geben. Dean, der gelangweilt aus dem Fenster gesehen hatte, drehte den Kopf nach vorne und sah seinen Mathelehrer abwartend an.

Aus der Ecke, wo Scarlet mit ihren Freundinnen saß, ertönte hysterisches Gekicher.

Dean war groß und muskulös und echt nett. Allerdings hatte er so gut wie nichts in der Birne. Insgesamt wirkte er wie ein großer Beschützer-Teddy.

„Könntest du das bitte für alle noch mal wiederholen!“

„Ich glaube nicht, dass die das alle noch mal hören möchten!“, rief ein Spaßkeks aus der letzten Reihe und die Ecke um Scarlet gackerte wieder los. Ich verdrehte grinsend die Augen. Mailin starrte nur stur auf ihr Blatt. Sie interessierte sich nicht für die Leute aus unserer Schule. Zum großen Bedauern aller männlichen Wesen in unserer Stufe und der Stufe über uns. Denn Mailin war echt hübsch. Ich kannte sie seit der Unterstufe. Ich hatte kaum jemanden gekannt, als ich auf diese Schule kam. Ich ging damals das erste Mal in meinem Klassenzimmer und sah Mailin alleine am Fenster sitzen. Ich hatte mich neben sie gesetzt und sie angelächelt. Sie hatte zurückgelächelt und mich gemustert.

„Ich mag dich!“ Das war das erste, was sie je zu mir gesagt hatte.

Inzwischen hatte Dean angefangen, die Worte von Smitty brüchig und unvollständig zu wiederholen, worauf Scarlet und ihre Freundinnen mit albernem Gekicher reagierten. Nachdem Dean mit ihr Schluss gemacht hatte, schien sie alles zu tun, um ihn lächerlich zu machen. Typisch, Scarlett! Ich kannte sie nicht gut, aber ich hatte schon genug mitbekommen, um mir ein Bild von ihr machen zu können. Damals im Landschulheim hatte sie sich geweigert mit Mailin in einem Zimmer zu schlafen, weil sie es nicht ertragen könnte, einen so erbärmlichen Kleidungsstil zu sehen. Wir waren erst in der sechsten Klasse und Mailin hatte versucht, Scarletts Bemerkungen zu ignorieren. Die Lehrer gaben nach als Scarlett drohte, ihren Vater, den Bürgermeister, anzurufen, der ein sehr mächtiger Mann mit viel Ansehen war. Für ihren Vater war sie die perfekte Tochter. Was auch immer sie ihm erzählte, sie war nie die Schuldige in seinen Augen. Scarlett bekam, was auch immer sie wollte.

Ein durchdringendes Schrillen unterbrach meine Gedanken. Für einen kurzen Moment dachte ich, die Stunde sei vorbei und es wäre jetzt Pause, bis ich plötzlich bemerkte, dass dieses Schrillen viel lauter und energischer war. Mir fiel ein, dass nach der dritten Stunde gar keine Pausenglocke läutete. Mailin seufzte genervt. „Der Feueralarm!“

Ich nickte. So etwas kam häufiger vor, um die Jüngeren auf einen ernsthaften Vorfall vorzubereiten. Dean sah sichtlich erleichtert aus.

Smitty räusperte sich. „Okay! Lasst alles liegen und lauft auf den Schulhof!“

Laut plappernd standen alle auf.

„Was wollen wir heute machen?“, fragte Mailin mich.

„Wir könnten mit Tara an den Strand gehen oder zur Ruine. Vielleicht kommt Fen sogar mit.“ Ich schob mich mit ihr durch die engen Schulflure, die nun voll drängelnder lauter Schüler waren.

„Wieso sollte er nicht mitkommen?“, fragte Mailin und runzelte die Stirn. Sie kannte uns gut genug, um zu wissen, dass Fen nicht wegen seiner Faulheit zu Hause bleiben würde.

„Gestern hat er einen Klassenkameraden geschlagen, weil sie sich gestritten haben und der Junge unseren Vater erwähnt hat.“ Wir traten auf den Schulhof. Mailin sog scharf die Luft ein. „Mist!“

Ich nickte. Wir stellten uns zur anderen Hälfte unserer Klasse, die wegen fehlender Lehrstunden bei einem anderen Mathelehrer hatte. Wir waren fast in jedem Hauptfach geteilt. Caja winkte uns hektisch zu. Ihre roten Haare hüpften wild auf und ab.

„Habt ihr Blake O’Conner gesehen?“, fragte sie, als wir uns den Weg durch unsere Mitschüler zu ihr gekämpft hatten.

„Nein“, sagte ich verwirrt und Mailin schüttelte den Kopf. „Wieso?“, fragte sie.

„Er ist verschwunden! Seit dem Alarm hat ihn niemand mehr gesehen und keiner weiß, wo er sein könnte!“ Ihre grünen Augen funkelten vor Aufregung. Mailin zuckte mit den Schultern. „Der taucht schon wieder auf.“

Plötzlich gab es einen lauten Aufschrei. Immer mehr Schüler schrien wild durcheinander und zeigten auf ein Schulfenster im dritten Stock, aus dem sich Flammen züngelten. In der Ferne hörte ich Sirenen aufheulen. Instinktiv sah ich mich nach Fen und Tara um. Zum Glück entdeckte ich Fens braunhaarigen Lockenkopf bei meiner Englisch-Lehrerin Misses Doyle. Hektisch sah ich mich nach Tara um. Ich drängelte mich durch meine Schulkameraden durch, achtete nicht auf die Rufe meiner Freundinnen, sondern hielt Ausschau nach den jüngeren Schülern. Da war Taras Klassenkameradin mit der sie jeden Morgen zur Schule lief, aber keine Spur von Tara. Inzwischen kam fast aus allen Fenstern das knackende Geräusch von zischenden Flammen. Mir war nicht klar, wie sich ein Feuer so schnell ausbreiten konnte.

„Tara!“, rief ich laut. Alle Gesichter wandten sich zu mir. Ich drehte mich im Kreis, doch meine Hoffnung schwand, sie hier draußen zu finden. Bei so wenig Schülern, die auf unsere Schule gingen, hätte ich sie schon längst finden müssen. Weggerannt war sie sicherlich nicht. Dafür war sie zu neugierig.

Ich stand vor dem Eingang der Schule. Hinter mir der Pulk von Lehrern und Schülern. Tara war da drinnen. Das wusste ich. Ich spürte, dass sie in Gefahr war. Ich hörte Fen hinter mir Taras Namen rufen. Misses Doyle versuchte ihn zu beruhigen.

Mehr nahm ich nicht mehr wahr. Ohne weiter zu überlegen, stürmte ich los. Mit aller Kraft zog ich an der schweren Schultür. Das Metall des Griffes war heiß, doch ich ignorierte den Schmerz, der durch meine Hände schoss. Dichter Qualm schlug mir ins Gesicht, als ich in den Schulflur strauchelte. Ich hustete und zog mir schnell den Ausschnitt meines weißen Tops über den Mund. Natürlich, hatte ich ausgerechnet heute das schöne weiße Top an, das sich nun mit immer mehr grauen Flecken schmückte.

Ich versuchte zwischen den Rauchschwaden irgendetwas zu erkennen.

„Tara!“, rief ich mit aller Kraft. Ich rannte zu den Treppen. Die jüngeren Schüler hatten ganz oben ihre Klassenzimmer.

Kurz bevor ich die Treppe erreicht hatte, hörte ich ein ohrenbetäubendes Krachen. Gerade noch rechtzeitig sprang ich zur Seite als ein Stück Betondecke genau an der Stelle herunterschmetterte, an der ich eben noch gestanden hatte.

Hitze schlug mir entgegen und Betonstaub wirbelte um mich herum. Ich hielt mir die Hand vor die Augen und hustete.

Die lodernden Flammen breiteten sich immer weiter. Ich kniff die Augen zusammen und sah zur Treppe.

Da stand jemand.

Es war ein Junge. Er hatte ein kleines Mädchen auf dem Arm.

Ich versuchte zu erkennen, wer der Junge war, doch dann erstarrte ich.

Mir blieb der Mund offen stehen und der Stoff vom Top rutschte mir vom Gesicht. Ich musste husten, da mir Rauch und Staub in den Mund wirbelte.

„Bist du verrückt?“, rief der Junge. Er rannte die Stufen hinunter, kletterte über die am Boden liegende Betondecke und packte mich am Arm.

Es war Blake. Er hielt Tara mit einer Hand an sich gepresst. Sie hatte die Augen geschlossen. Ich war nicht fähig mich zu bewegen. Ich konnte ihn nur anstarren.

Blake zog mich mit sich. „Komm raus hier!“

Ich bekam kaum mit, wie wir auf den Schulhof liefen und die Feuerwehrmänner sich sofort um meine Schwester und mich kümmerten. Blake fragte nach einer Jacke.

Einer der Feuerwehrmänner gab ihm eine. Der Junge zog sie sich schnell über.

Stimmen redeten auf mich ein. Fragten mich etwas, doch es kam kein Ton über meine Lippen. Ich sah Fen, der sich neben mich setzte und etwas sagte.

Ich konnte nicht glauben, was ich gerade gesehen hatte...

Blake kam zu mir und sah mich an. Seine hellblauen Augen waren noch durchdringender, als an dem Tag, wo ich ihn das erste Mal gesehen hatte.

Ich erwiderte seinen Blick. Schaute nicht weg.

Was war mit diesem Jungen?

Nein, er war nicht nur irgendein Junge.

Er war der Retter meiner Schwester!

Er war anders. Ohne Zweifel.

Fassungslos sah er mich an. Dann drehte er sich kommentarlos um und verschwand zwischen den Schülern. Mir wurde schlagartig klar, dass ich mir das vorher nicht eingebildet hatte. Als er auf der Treppe stand, hatte ich es ganz deutlich erkennen können. Trotz dem Qualm und den Flammen.

Blake O’Conner hatte Flügel!

 

Kapitel 4

Jetzt da ich wusste, das was mit Blake O’Conner nicht in Ordnung war, war er mir nicht nur noch unsympathischer, sondern regelrecht unheimlich.

Ich saß auf meinem Bett und starrte auf das gegenüberliegende große Fenster. Draußen war es dunkel. Ich konnte das Licht der Straßenlaterne sehen.

Man hatte Tara und mich ins Krankenhaus gebracht.

Tara musste dableiben. Sie war ohnmächtig geworden. Hatte viel giftigen Rauch eingeatmet. Die Ärzte wollten sie über Nacht im Krankenhaus behalten, damit sie sicher gehen konnten, dass sie stabil blieb. Ich konnte mich an ihr Wimmern erinnern, als Mama, Fen und ich aus ihrem Zimmer gehen mussten. Süße, arme, kleine Tara.

Die Schule muss die ganze restliche Woche über gesperrt bleiben. Dabei war erst Dienstag und das neue Schuljahr hatte gerade erst begonnen.

Ich zog mir meine Decke über die Beine. Es wurde wirklich kalt. Wie spät war es?

Schon 3:14 Uhr. Ich starrte weiter nach draußen.

Da Mailin und ich uns nachdem ich mit ins Krankenhaus musste aus den Augen verloren hatten, hatten wir per SMS ausgemacht, dass wir uns morgen treffen und zum Strand gehen würden.

Alleine. Fen würde sich wahrscheinlich Fehl am Platz fühlen und Tara wurde erst morgen Abend entlassen.

Blake O’Conner.

Ich verzog das Gesicht. Seine hellblauen Augen waren so kalt. Sein schwarzes Haar so finster. Aber er hatte meine Schwester gerettet.

Ich schloss die Augen und versuchte mir das Bild in Erinnerung zu rufen.

Er auf der Treppe. Zwei große, weiße, gefiederte Schwingen auf seinem Rücken. Auf seinem Arm meine kleine Schwester. Die Flammen züngelten um ihn herum und tunkten alles in hellrotes Licht. Seine schwarzen Haare, die hellblauen Augen, die weißen Flügel.

Er sah aus wie ein ... wie ein Engel.

Dabei gab es doch gar keine Engel ... oder? Ich erinnerte mich daran, wie er vor mir gestanden und mich angesehen hatte. Er hatte nichts gesagt, um sich zu verteidigen oder um sicherzugehen, ob ich es auch wirklich gesehen hatte. Nein, er war einfach wortlos verschwunden.

Ich muss mich bei ihm bedanken!, schoss es mir urplötzlich durch den Kopf.

Ja, das musste ich. Ich hatte schon die Decke weggeschlagen und war aufgestanden, als mir einfiel, dass ich gar nicht wusste, wo Blake überhaupt wohnte. Ich setzte mich auf die Bettkante. Dann würde ich es ihm eben morgen in der Schule sagen. Mist, morgen war ja gar keine Schule. Vielleicht wusste Caja, wo er wohnt. Caja wusste so etwas immer. Ich griff nach meinem Handy und wählte ihre Nummer. Es dauerte endlos, bis sie abnahm.

„Hallo?“, meldete sie sich mit belegter Stimme.

„Hey, Caja. Weißt du, wo Blake O’Conner wohnt?“, erwiderte ich und wippte ungeduldig mit den Beinen hin und her.

„Was?“, erwiderte sie verwirrt.

„Alles okay bei dir?“ Ich runzelte die Stirn. „Du klingst so - “

„Verschlafen?“, unterbrach Caja mich gereizt. „Lia, weißt du wie spät es ist?“

Ich bekam sofort ein schlechtes Gewissen. Das hatte ich völlig vergessen. „Tut mir leid“, sagte ich schnell „Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist. Irgendetwas ist ganz komisch. Ich fühle mich total seltsam. Heute als ich ins brennende Gebäude gerannt bin - “

„Da hast du uns übrigens einen ziemlichen Schrecken eingejagt! Mach so etwas nie wieder!“ Caja klang schon viel wacher.

„Nein“, sagte ich schnell „Keine Sorge! Es ist nur ... Da ist mir Blake entgegen gekommen  und ... und“ Ich überlegte fieberhaft, wie ich mich ausdrücken sollte, ohne dass sie mich für verrückt hielt.

Caja räusperte sich. „Lia. Süße, du solltest schlafen gehen. Das war ein anstrengender Tag“, sagte sie vorsichtig.

Ich bemerkte selbst, wie seltsam ich mich benahm. Sie hatte wahrscheinlich recht.

„Tut mir leid, Caja, dass ich dich geweckt habe. Ich sollte wahrscheinlich wirklich schlafen gehen.“

„Sehen wir uns morgen?“, fragte Caja und gähnte. „Dann kannst du mir alles noch mal erzählen.“

„Mailin und ich wollten an den Strand“, sagte ich.

„Ich kann ja mitkommen!“

Ich überlegte kurz. „Ja. Ich schreibe dir morgen noch mal. Mailin geht’s nicht so gut.“

„Ach so!“ Caja schwieg kurz. „Dann frag sie vorher, ob es in Ordnung ist, wenn ich eure Zweisamkeit störe. Aber, äh, Lia?“

„Ja?“

„Frag sie nicht jetzt!“

Ich lachte. „Nein, tut mir leid. Gute Nacht!“

„Gute Nacht! Bis morgen!“ Sie legte auf. Ich legte das Handy auf meinen Nachttisch und zog mir eine hellblaue Boxershorts und ein altes graues T-Shirt an. Dann kuschelte ich mich unter die Decke.

Was ist nur los mit mir?

Das Licht der Straßenlaterne fiel direkt auf mich. Ich seufzte. Na toll! Ich hatte die Jalousien nicht heruntergelassen.

Plötzlich bemerkte ich einen Schatten am Fenster. Es war ein Kopf, der zu mir hereinsah.

Erschrocken fuhr ich hoch. Der Kopf verschwand ruckartig zur Seite.

Ich stürmte zum Fenster!

Mein Zimmer lag im ersten Stock! Hatte es etwa jemand geschafft an der Hauswand hochzuklettern?

Ich öffnete das Fenster und hielt den Kopf raus. Der Wind zauste mein Haar.

Nichts zu sehen.

„Ich werde verrückt“, murmelte ich leise. Mein Herz klopfte unregelmäßig und viel zu schnell.

Ich griff mir mit einer Hand in meine blonden Locken.

Nach ein paar Minuten schloss ich das Fenster wieder und floh ins Bett.

Ich zog mir die Decke über den Kopf und rollte mich so klein wie möglich zusammen.

Was passiert mit mir?

Ich wachte auf. Die Sonne strahlte gleißend hell durch die Glasscheibe meines Fensters. Blinzelnd hob ich die Hand vor Augen. Ich hatte die Jalousie nicht hinuntergelassen.

Seufzend sah ich auf mein Handy. Halb neun. Viel zu früh. Ich ließ meinen Kopf ins Kissen fallen und zog mir die Decke über den Kopf. Doch schon bald wurde es mir zu stickig und ich zwang mich dazu, mich aufzusetzen. Ich stand auf und streckte mich. Draußen hörte ich Vogelgezwitscher. Ich rieb mir die Augen. Egal, was gestern alles passiert war, ich musste es mir eingebildet haben. Mit Sicherheit hatte es keinen Schatten an meinem Fenster gegeben und mit noch größerer Sicherheit hatte Blake O’Conner keine Flügel. Wahrscheinlich waren das alles nur Schockvorstellungen gewesen. Ich betrachtete mich prüfend in meinem großen Schrankspiegel. Ich sah normal aus. Das hieß, so normal, wie man nun mal aussah, wenn man gerade erst aufgewacht war. Prüfend tastete ich mein Gesicht ab. Ich wusste nicht, wonach ich suchte. Vielleicht, dass etwas anders war als sonst...und das war es auch. Meine Haut fühlte sich unglaublich weich an. Ich begutachtete mich genauer im Spiegel. Ein kurzer Aufschrei entfuhr mir. Meine Haut war rein und eben. Ich hatte nie wirklich viele Pickel gehabt, aber so glatt war meine Haut noch nie. Doch nicht nur meine kleinen seltenen Pickel waren verschwunden, auch die handvoll Leberflecken, die sich bei mir normalerweise an Hals und Wangen befanden, waren nicht mehr zu sehen. Genauso wie meine Sommersprossen. Diese waren zwar schon immer sehr klein gewesen, aber man hatte sie deutlich sehen können. Nun war da nichts mehr. Auch keine Augenringe. Nichts. Ich sah aus wie die Models auf einem Bild, das mit Photoshop bearbeitet wurde. Ungläubig starrte ich mich an, fuhr mir immer wieder mit der Hand über die Wange. Ich zog mir mein graues T-Shirt aus. Nichts. Alles rein und glatt. Nirgendwo irgendwas. Es kam mir sogar vor als hätte ich abgenommen. Ich atmete langsam ein und versuchte mich zu beruhigen. Das ist ganz normal. Du kommst aus der Pubertät raus. Da hat man solche Merkmale um Einiges weniger. Die Sommersprossen sind vielleicht nur sehr schlecht zu erkennen. Schließlich ist schon Herbst.

Ich versuchte nicht weiter darüber nachzudenken und zog mich um. Dann lief ich die Treppe hinunter und ging in die Küche. Der dreckige Abwasch stand noch da. Unsere Spülmaschine war schon wieder kaputt. Mutter hatte es wohl nicht mehr geschafft gestern noch abzuwaschen. Ich überlegte, was ich heute essen wollte. Brot? Meine Mutter backte es selbst und verkaufte es manchmal auch an den Markttagen von Liscannor in der Stadt. Ich setzte mich an den Esstisch. Ich hatte keinen Hunger.

Vielleicht sollte ich joggen gehen. Die Kopfhörer aufsetzen und so weit laufen, wie ich konnte. Leise schlich ich die Treppe wieder nach oben. Darauf bedacht Fen und meine Mutter nicht zu wecken. In meinem Zimmer zog ich mir schnell Sportklamotten an, band meine Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen, griff nach meinem I-Pod und meinen Kopfhörern und verließ das Haus. Ich stellte meinen I-Pod auf Zufallsmodus und lief los. Ich hatte so ziemlich alles an Musik. Jedes Genre. Doch am liebsten hörte ich Alternativ-Rock. Ich liebte die Texte und die Melodien. Was auch oft vertreten war, waren Soundtracks. Soundtracks mit Geigen und Flöten und allem möglichen. Ich lief immer weiter. Beim Joggen hatte ich noch nie darauf geachtet, wie lange oder wohin ich lief. Beim Joggen hatte ich nichts im Kopf außer der Musik. Sie spornte mich dazu an, weiterzulaufen. Ich bemerkte, wie ich aus unserem kleinen Dorf hinauslief. Die kleinen Wege führten mich auf die andere Seite unserer Landzunge. Der Landstreifen auf dem Liscannor lag war nur etwa fünf Kilometer breit. Ich lief weiter. Um mich herum waren nur grüne Wiesen. Kaum Bäume. Die Musik dröhnte in meinem Kopf. Ich versuchte alles zu vergessen, was passiert war. Alles zu vergessen, was ich geglaubt hatte zu sehen. Ich lief schneller. Bis ich irgendwann nur noch sprintete. Ich rannte querfeldein. Plötzlich sah ich die steilen Klippen. Cliffs of Moher. Ich wurde langsamer und näherte mich den Klippen. Schon seit ich klein war, hatte ich Höhenangst. Ich hasste Achterbahnen. Mein Problem war nicht die Geschwindigkeit, sondern die Höhe. Das Gefühl ins Nichts zu fallen. Ich hatte kein Problem damit auf einer Klippe zu stehen und hinunterzusehen. Egal, wie tief es war. Doch eine zwei Meter hohe Leiter war für mich ein unüberwindbares Hindernis. Auf Bäume zu klettern, fiel mir leichter. Allerdings gab es hier wenig Bäume. Allem, was von Menschenhand gefertigt worden war, vertraute ich nicht. Der Wind fuhr durch mein Haar und kühlte meine schweißnasse Stirn. Die Möwen kreischten über mir. Das Meer rauschte. Rechts von mir stand die Sonne. Ich blickte auf das Meer. Es war als würde die Zeit still stehen. Nichts zählte mehr. Nur noch der Wind, das Meer, die Strahlen der Sonne, die sich im Wasser spiegelten und die Möwen, die durch die Luft flogen.

Inzwischen musste es zehn Uhr sein. Eine Weile stand ich noch da. Dann machte ich mich auf den Rückweg.

Kapitel 5

Als ich wieder in Liscannor ankam, entschied ich mich schnell bei meiner Schwester vorbeizuschauen. Sie lag im Krankenhaus von Ennistimon. Dafür müsste ich den Inagh River überqueren. Zu Fuß konnte das eindreiviertel Stunden dauern. Mit dem Bus allerdings nur zwanzig Minuten. Als ich unsere Haustür aufschloss war es immer noch sehr still. Es war inzwischen Viertel vor Elf. Ich sprang schnell unter die Dusche und wusch mir den Schweiß vom Körper. Dann zog ich mir eine helle Jeans und ein hellblaues Top an. Als ich wieder runter in die Küche kam, war von meiner Mutter oder Fen immer noch nichts zu sehen. Womöglich hatte Mutter heute Frühdienst im Labor und Fen schlief wahrscheinlich noch.

Ich war fast die Einzige im Bus. Eine alte Frau saß hinten mit drei dicken Einkaufstaschen. Während der Bus über die Wiesen fuhr, starrte ich aus dem Fenster. Wie es Tara wohl ging? Durfte ich sie wieder mit nach Hause nehmen?

Ennistimon war die nächste größte Stadt in der Umgebung. Ich drückte die Glastüren des Hospitals auf und ging zur Rezeption.

„Hallo!“, begrüßte ich die ältere Frau hinter dem Tisch. „Ich bin die Schwester von Tara Kane. Ist sie noch im selben Zimmer?“

Die ältere Frau tippte etwas in ihren Computer und nickte. „Ja, Zimmer 28. Sie hat gerade Besuch, aber Sie können ruhig hineingehen.“

Ich lächelte. „Danke.“ Scheint als wäre meine Mutter schon zu Tara gefahren. Ich eilte die Treppen hoch in den zweiten Stock. Das Krankenhaus war nicht sehr groß. Trotzdem waren die Flure sehr lang und ich würde es sicherlich schaffen, mich hier zu verlaufen. Zielstrebig lief ich auf Zimmer 28 zu, klopfte und trat ein.

Ich erschrak, als ich die Person erkannte, die neben dem Krankenbett meiner kleinen Schwester auf einem Stuhl saß. Er hatte die Hände in seinen schwarzen Haaren vergraben und hielt den Kopf gesenkt, doch allein wegen dem unwohlen Gefühl, das mich überkam, wusste ich wer er war. Ich schloss die Tür hinter mir.

Ruckartig hob Blake O’Conner den Kopf. Er sah müde aus. Furchtbar müde.

„Hi“, sagte er. Seine Stimme klang schwach. Er räusperte sich.

„Hi“, erwiderte ich zögernd. „Was machst du hier?“

Blake sah zu Tara, die friedlich schlief. „Ich wollte sehen, wie es ihr geht.“

Ich musterte ihn. Sein Haar war völlig durcheinander und seine Klamotten sahen irgendwie zerknittert aus.

„Hast du hier etwa geschlafen?“, fragte ich.

„Ach was!“ Er winkte ab. „Ich war die ganze Nacht über unterwegs. Hatte was zu tun.“

Ich zog eine Augenbraue hoch. „Was denn?“

Blakes hellblaue Augen richteten sich auf mich. Mir kam es vor, als würde er sich zu einem Lächeln zwingen. „Schon seltsam. Ich hab’ echt voll den Schock bekommen, als du plötzlich vor mir zwischen den Flammen standest.“

Ich wich seinem Blick aus. Irgendetwas stimmte hier nicht. Er deutete auf einen Stuhl neben sich. „Hier. Setz dich doch.“

Ohne Tara aus den Augen zu lassen, setzte ich mich neben Blake. Er vergrub das Gesicht in den Händen und seufzte ermattet. Ich versuchte mein warnendes Gefühl für einen Moment zu unterdrücken. Er hatte schließlich meine Schwester gerettet.

„Ich wollte mich noch bei dir bedanken. Dafür, dass du sie gerettet hast.“ Ich vermied es ihn anzusehen. Seine Augen waren einfach zu unheimlich.

Er hob den Kopf und sah mich lächelnd an. „Kein Problem. Dafür bin ich da.“

Mich packte die Wut. Dieses verdammte aufgesetzte Lächeln kann er sich sonst wo hin schieben. Ich versuchte mich zu beherrschen und wollte gerade etwas erwidern, als ein Arzt ins Zimmer kam.

„Guten Tag!“, sagte er freundlich. „Ich bin Doktor Ross.“ Er reichte uns beiden die Hand. Doktor Ross fing an Tara zu untersuchen. Sein Haar war genauso weiß, wie sein Kittel. Aber er sah dennoch sehr jung aus. Er hatte einen kleinen Klemmblock dabei und verglich ein paar Zahlen.

Fachmännisch hob er Taras Augenlider an und leuchtete ihr mit einer kleinen Taschenlampe vorsichtig hinein. Dann fühlte er kurz ihre Stirn und nickte lächelnd.

„Ihr geht es schon viel besser.“ Doktor Ross wandte sich an Blake und mich. „Sobald sie aufgewacht ist, machen wir noch ein paar Routinechecks mit ihr und dann können Sie das Mädchen wieder mitnehmen.“

Ich seufzte erleichtert. „Danke. Wann wird sie denn aufwachen?“

„Das kann ich Ihnen nicht sagen, Miss Kane. Doch ich bin mir sicher, dass es in der nächsten Stunde geschehen wird.“ Doktor Ross gab uns erneut die Hand. „Einen schönen Tag noch.“ Mit diesen Worten verschwand er aus dem Zimmer.

Blake und ich schwiegen eine Weile. Seine Anwesenheit schüchterte mich so sehr ein, dass ich mich nicht traute, mich zu bewegen. In meinem Kopf geisterte eine Frage herum. Die Worte prickelten mir auf der Zunge. Ich wusste, dass ich diese Frage stellen würde. Dass sie gleich wie eine Quelle aus mir hinaussprudeln würde.

„Wieso warst du noch im Schulgebäude? Wie hast du Tara gefunden?“ Ich vermied es ihn anzusehen und konzentrierte mich deshalb auf Taras weiße Decke, die sich an ihrer Brust gleichmäßig hob und senkte.

Blake sagte nichts.

Ein ungutes Gefühl beschlich mich und ich zwang mich den Kopf zu ihm zu drehen und ihn anzusehen. Er hatte wieder sein freundliches Lächeln aufgesetzt und sah mich eindringlich an. Seine Augen waren noch kälter als sonst. Ich spürte, wie ich eine Gänsehaut bekam.

Er beugte sich zu mir vor. Hielt mich fest mit seinem Blick.

„Was hast du gesehen?“, flüsterte er gefährlich leise.

Ich schluckte. Meine Hände wurden eiskalt. „Was...Was meinst du?“

„Du weißt, was ich meine“, erwiderte Blake. Noch leiser und noch bedrohlicher. Ich riss mich von seinem Blick los und starrte wieder auf Taras Decke. „Was hast du gesehen?“

Innerlich betete ich, dass irgendetwas passierte. Dass irgendjemand in das Zimmer kam. Einfach nur irgendwas, damit Blake und ich nicht mehr alleine in diesem kleinen engen Raum waren. Dieser kleine enge Raum mit den viel zu weißen Wänden. Meine Lippen bebten. Was würde er mit mir machen? Würde er mich töten? Ich traute es ihm sofort zu.

„Aylia?“ Die schwache Stimme meiner Schwester befreite mich aus meiner Erstarrung. Ich sprang auf und stürzte an ihr Bett und umarmte sie. Der Junge hinter mir, schien keine Gefahr mehr für mich darzustellen. Am liebsten hätte ich schadenfroh gelacht, stattdessen half ich Tara sich aufzusetzen. Sie hustete.

„Was ist passiert?“, fragte sie mit brüchiger Stimme.

„Du warst ohnmächtig.“ Blake hatte sich neben mich gestellt und sah Tara liebevoll an. Ich fixierte ihn misstrauisch. Wenn er meiner kleinen Schwester etwas zu Leide tat, konnte er was erleben...

Tara sah ihn an und runzelte die Stirn, als versuchte sie verzweifelt, sich an etwas Wichtiges zu erinnern. Schließlich senkte sie den Kopf. „Ich weiß nicht mehr, was passiert ist“, sagte sie verstört.

Ich nahm tröstend ihre Hand. „Deine Erinnerung wird schon wieder kommen.“

„Ich habe dich in einem der Flure ganz oben gefunden“, sagte Blake sanft. „aber da warst du schon ohnmächtig!“

Taras Kopf schoss ruckartig nach oben. Sie sah Blake wütend an. „Das stimmt nicht!“

Der ältere Junge runzelte die Stirn und musterte das kleine Mädchen argwöhnisch. Tara hielt seinem Blick stand.

„Wie ist es denn gewesen?“, fragte Blake. Ich sah zu meiner Schwester und bemerkte erstaunt, dass ihre Augen sich mit Tränen füllten. Tara war eines der Mädchen, die niemals heulten. Ob sie nun hinfiel oder sich mit jemandem stritt. Sie weinte nicht, wegen solcher belanglosen Ereignisse. Als unser Kater Sammy vor zwei Jahren gestorben war, da hatte ich sie das erste Mal weinen gesehen. Ansonsten hatte Tara ein sehr hitziges Gemüt. Sie wurde schnell wütend und sie war stolz. Meine Mutter war oft überfordert mit ihr, denn Tara wollte nichts einsehen oder Fehler zugeben. Die Worte „Danke“ und „Bitte“ hatte man förmlich in sie reinprügeln müssen.

Tara funkelte Blake wütend an. „Ich weiß nicht, wie es gewesen ist! Aber du hast gelogen! So war es nicht!“ Sie biss sich auf die Lippe. Ich wusste, dass sie versuchte, ihre Tränen zu unterdrücken, doch sie schaffte es nicht. Tara schluchzte.

„Tara...“, sagte ich verwundert und streichelte über ihre schwarzen lockigen Haare. Taras Schluchzen vollzog sich durch ihren ganzen Körper. Es sah aus, als würde es sie fast zerreißen.

Blake war zurückgetaumelt und stützte sich mit der rechten Hand an der Wand ab, um Halt zu finden. Die andere Hand hatte er sich auf die Stirn gepresst, als hätte er Kopfweh. Sein Gesicht war schmerzverzerrt und ich bemerkte, wie verzweifelt er versuchte die Kontrolle über sich zu behalten.

„Blake“, fragte ich vorsichtig. „Alles in Ordnung?“

Er richtete sich wieder auf und verzog das Gesicht. „Ja“, erwiderte er schwach. Er atmete tief durch, dann ging er zielstrebig auf die immer noch weinende Tara zu. Er legte eine Hand auf ihre Stirn und sah ihr direkt in die grünen Augen. Tara verstummte schlagartig und starrte ihn mit offenem Mund an. Blake hielt den Kontakt zwischen ihnen aufrecht. Nach ein paar Sekunden seufzte er erschöpft und nahm die Hand von Taras Stirn. Meine kleine Schwester blinzelte ein paar Mal schläfrig. Dann schloss sie ihre Augen und war kurz davor nach hinten zu kippen, aber Blake hielt sie fest. Erschrocken starrte ich meine kleine Schwester an.

„Was hast du getan?“, rief ich aus.

Vorsichtig legte Blake sie in das Kissen und deckte sie zu. „Sie wird ein wenig schlafen.“

„Bist du verrückt?“ Wut packte mich. „Sie ist eben erst aufgewacht!“

„In fünf Minuten ist sie wieder putzmunter.“ Blake musterte Tara. „Wie alt ist sie?“

„Das geht dich nichts an!“, zischte ich.

Angestrengt schloss Blake die Augen und massierte sich die Schläfen. „Du hast noch einen weiteren Bruder. Fen, nicht wahr?“

Ich zuckte zusammen, als er den Namen meines Bruders erwähnte.

„Was willst du?“, fragte ich zornig.

„Du verstehst es nicht!“, rief Blake genervt aus. Er kam auf mich zu und packte mich an den Schultern. „Was weißt du?“, fauchte er. „Sag mir, was du weißt!“

Ich spürte, wie die Angst mich erneut lähmte. Mit aller Kraft wehrte ich mich dagegen. Ich würde nicht wieder, wie ein verschrecktes Reh vor ihm stehen.

„Lass mich los!“, brüllte ich wütend und versuchte ihn von mir zu schubsen, doch er hielt mich fest und ich meinte, ein amüsiertes Grinsen auf seinem Gesicht zu sehen.

„Und was wenn nicht?“, fragte er spöttisch. „Was willst du dann tun?“

„Denk nicht, dass ich wehrlos wäre!“, fauchte ich zwischen zusammengebissenen Zähnen „Das bin ich nicht! Wenn du mir wehtust, weiß ich mich zu wehren!“

Etwas in Blakes Gesicht veränderte sich. Er sah fast ein wenig verletzt aus. Langsam ließ er mich los und wandte sich zur Tür. Ich rührte mich nicht. Blake stand mit dem Rücken zu mir und bewegte sich nicht. Sein Kopf war gesenkt und ich sah wie seine Hände sich zu Fäusten geballt hatten.

„Du kannst nicht weglaufen“, sagte er leise. Dann ging er mit schnellen Schritten aus dem Zimmer.

 

Kapitel 6

Der Geruch von frisch gekochten Klößen machte sich breit, als Tara und ich zu Hause ankamen. Sie war tatsächlich kurz darauf wieder aufgewacht, allerdings waren ihre Erinnerungen sehr verworren. Sie erinnerte sich daran, dass Blake dagewesen war. Sie betonte immer wieder, dass er ein Lügner war, jedoch wusste sie nicht mehr, wieso und was genau er gesagt hatte.

„Ich verstehe nicht, warum du so was sagst, Tara“, sagte Mum und stellte eine Schüssel Rotkohl auf dem Tisch. „Ich habe ihn heute Morgen als ich auf dem Weg zur Arbeit war mit seinem Vater, Mr Farrel O’Conner – ein übrigens sehr gutaussehender Mann – hinten an der Brücke getroffen. Die beiden haben am Geländer gestanden und geredet. Als sie mich gesehen haben, haben sich mich zu sich gewunken. Blake hat mir einen Brief überreicht, den ihm die Feuerwehr nach dem Brand gegeben hat und Farrel hat beteuert, wie leid es ihm doch tut. Es sind wirklich nette Menschen!“

Taras Gesicht hatte sich verfinstert. „Er ist ein Lügner!“, schrie sie wütend. „Ein dreckiger, gemeiner, widerlicher, stinkender Lügner!“

Wütend stemmte Mum die Hände in die Hüften. „Tara Lydia Kane!“, begann sie streng. „Ich erwarte von dir, dass du dem Jungen, der dich gerettet hat, Respekt und Dankbarkeit gegenüber bringst.“

„Er hat mich nicht gerettet!“, keifte Tara. „Das hat er nicht!“

Mum seufzte erschöpft. „Du hast sicher zu viel Rauch eingeatmet!“

„Habe ich nicht!“, kreischte Tara.

„Sei still!“, fuhr Mum sie an. „Ich kann das gerade nicht hören! Iss und halt den Mund!“

Tara schwieg und schob sich einen Kloß in den Mund.

„Ich mag keinen Rotkohl“, maulte Fen leise. Stöhnend setzte sich meine Mutter hin. „Wenigstens einen Löffel, Fen!“

Mein kleiner Bruder tat sich etwas Rotkohl auf den Teller und roch kurz daran. Dann verzog er angeekelt das Gesicht. „Ich glaub, mir wird schlecht.“

Ich wechselte schnell das Thema, bevor Mama völlig ausrastete. „Was stand in dem Brief?“

Verwirrt sah mich Mum an. „In welchem?“

„In dem, den Blake dir gegeben hat. Von der Feuerwehr.“ Ich merkte plötzlich wie hungrig ich war und packte mir zwei Knödel auf den Teller.

„Ach so. Nur ein paar Routine-Checks, die ich mit ihr durchgehen soll, damit sicher ist, dass sie keine bleibenden Schäden davonträgt. Nichts Gravierendes.“ Mrs Kane stapelte sich einen Berg Rotkohl auf den Teller. „Dieser Blake ist wirklich ein netter Junge und er sieht gut aus, findest du nicht, Aylia?“

Ich schwieg. Ständig versuchte meine Mutter mich zu verkuppeln. Einmal hatte ich sogar einen Freund gehabt, den hatte sie gemocht.

„Ich mag Blake nicht!“, sagte Tara stur.

„Ich auch nicht“, ergänzte Fen und biss in einen Kloß, der auf seiner Gabel steckte.

Mum schüttelte den Kopf. „Ich verstehe euch nicht, Kinder!“ Hilfesuchend sah sie mich an.

„Ich kann ihn auch nicht leiden“, gab ich vorsichtig zu. Mutter ließ sich im Stuhl zurückfallen. Ihr Mund war offen und sie sah uns drei der Reihe nach an. „Ihr alle?“ Sie sah plötzlich unglaublich müde aus. Kurz darauf räusperte sich. „Nun ja, da kann man wohl nichts machen. Man kann ja nicht jeden mögen, nicht wahr?“

Plötzlich war mir der Appetit vergangen. „Ich treffe mich gleich mit Mailin und Caja. Wir gehen zum Strand“, sagte ich und stand auf.

„Du hast doch kaum etwas gegessen!“, protestierte meine Mutter.

„Ich bin pappsatt!“, erklärte ich und legte einen Hand auf meinen Bauch, um meine Aussage zu verdeutlichen.

Mum gab sich geschlagen. „Schön! Sag Grüße an die Mädchen und sag Caja, dass sie ihre Eltern von mir grüßen soll!“

„Mach ich!“ Ich lächelte sie an.

Meine Mutter stutzte. „Du siehst heute aber hübsch aus. Hast du eine neue Schminke?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Deine Haut ist so unglaublich rein. Wie hast du das gemacht? Sowas könnte ich auch gebrauchen.“

„Ich weiß nicht, wovon du redest, Mum“, sagte ich schnell und ging auf mein Zimmer, um mein Zeug zusammenzupacken. Was war heute nur los? Ob es wohl wirklich daran lag, dass meine Pickel einfach so verschwunden waren? Aber ich hatte doch schon immer sehr wenig Pickel gehabt. Ich warf mein Handtuch in die Badetasche und suchte nach meinem türkisen trägerlosen Bikini. Dann schrieb ich Caja und Mailin schnell eine Nachricht, ob wir uns jetzt schon treffen könnten.

Cajas Eltern und meine Mutter kannten sich schon sehr lange. Am Anfang hatten Caja und ich nicht so viel miteinander zu tun. Sie war sehr gut mit Scarlett befreundet gewesen, aber eines Tages hatte Scarlett eine dumme Bemerkung mir gegenüber gemacht und Caja hatte mich verteidigt. Seitdem konnten Scarlett und Caja sich nicht mehr ausstehen und Caja und ich hingen zusammen wie Pech und Schwefel.

Caja hatte schon den Führerschein und sogar ein eigenes Auto und bot an, Mailin und mich abzuholen. Der Strand zu dem wir wollten, war zwar nicht allzu weit entfernt, aber wenn eine von uns nun schon volljährig war und den Führerschein hatte, konnte man das doch nicht abschlagen. Caja wollte unbedingt zu dem Strand mit der Ruine. Früher waren wir in dieser Ruine immer umher getollt und hatten uns Geschichten ausgedacht. Heute waren wir nur noch selten da, um das alte Gemäuer zu betrachten. Dafür gab es am Strand viel zu gutaussehende Typen. Zu dritt diskutierten wir, wer die coolste Frisur, den geilsten Körper oder die besten Tricks auf dem Surfbrett vollführte.

Ich packte ein großes Handtuch ein, eine warme Decke und noch einen warmen Pullover. Dann ging ich runter in die Küche, um nach etwas essbarem zu suchen. Ich fand ein paar Äpfel und eine Chip-Packung, die ich beides einpackte. Draußen hörte ich die Hupe von Cajas Auto.

„Tschüß!“, rief ich aus dem Flur, während ich mir meine braunen Boots und meine schwarze Lederjacke anzog.

„Tschüß, mein Engel! Viel Spaß!“, rief meine Mutter aus dem Wohnzimmer.

„Danke!“ Ich packte mir eine Wasserflasche, die gestapelt neben der Haustür standen und stürzte nach draußen. Caja hatte sich aus dem Fenster gelehnt. Ihre roten Haare hatte sie zu einem hohen Dutt gebunden. „Komm schon, Süße! Lass uns Spaß haben!“, rief sie mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Mailin saß auf dem Beifahrersitz und schüttelte amüsiert den Kopf.

„Wow! Du siehst heute aber echt heiß aus!“ Caja blieb der Mund offen stehen. Ich ignorierte sie und setzte mich hinten auf die Rückbank von Cajas silbernem Volvo. „Kann losgehen!“

Caja lachte laut und ließ den Motor aufheulen, dabei klang sie wie eine entlaufene Patientin aus dem Irrenhaus.

„Verdammt, Caja“, rief Mailin über den Motor hinweg. „Übertreib es nicht!“

„Sei nicht so eine Spielverderberin, Mai“, erwiderte Caja gutgelaunt und fuhr mit einem kleinen Hopser los. Mailin hielt sich verkrampft an ihrem Sitz fest. Caja bedachte sie mit einem spöttischem Lächeln. „Du siehst aus wie Aylia in der Geisterbahn. Keine Sorge, ich fahre gut!“

„Würdest du während dem Fahren bitte auf die Straße schauen?!“, sagte Mailin beunruhigt. Ich lachte. Die beiden waren besser als jedes Unterhaltungsprogramm.

Wir fuhren nicht sehr lange. Vielleicht zwanzig Minuten. Gerade als wir von der Straße runter auf einen steinigen Kiesweg fuhren, verschwand die Sonne und dunkle Wolken zogen auf.

„Das ist ja richtig windig“, maulte Caja, als wir aus dem Auto stiegen und den kleinen Weg hinunter zum Strand liefen.

„Ist doch schön“, meinte ich und streckte die Arme aus. „Ich mag Wind! Das ist als könne man fliegen.“

Caja verdrehte die Augen. „Fliegen? Nein, danke! Ich habe Höhenangst!“

Mailin kicherte. „Aber Geisterbahnen liebst du.“

„Die sind ja auch nicht tausend Meter über den Wolken“, erklärte Caja.

„Ich hasse Geisterbahnen!“ Ich konnte mir nicht vorstellen, wie es jemandem gefallen konnte, erschreckt zu werden. Die ganze Zeit bereitete man sich auf diesen Schreckmoment vor, weil man genau wusste, dass der kommen würde und trotzdem bekam man jedes Mal aufs Neue einen Herzinfarkt. Aber Caja liebte so etwas. Mir waren die hohen Achterbahnen viel lieber. Man fühlte sich so leicht und frei. Ich liebte das Kribbeln in der Bauchgegend, wenn es bergab ging.

Es waren hohe Wellen. Eine handvoll Surfern war draußen und kämpfte mutig gegen die Fluten an. Wir steuerten auf unseren Lieblingsplatz zu. Ein großer flacher Felsen, auf den wir uns immer zu dritt auf unsere Handtücher legten und alles überschauen konnten.

Mailin kletterte als erste nach oben. „Ich bin gespannt wie Blake sich bei diesem Wind schlägt“, sagte sie und hielt Ausschau nach den Surfern, die übermütig in den Wellen herumtollten.

„Blake?“, fragte ich alarmiert und kletterte ihr nach.

„Oho! Miss Ich-lass-keinen-an-mich-ran scheint ein Auge auf den neuen Jungen geworfen zu haben.“ Caja schwang sich nach oben und piekste Mailin in die Seite, die gerade ihr Handtuch ausbreitete. Mailin lachte und wehrte Caja ab.

„Ich kann’s dir nicht verübeln“, plapperte Caja weiter und legte wissend einen Arm um Mailin. „Er sieht wirklich gut aus.“

„Blake ist hier?“, fragte ich energischer und ließ meine Tasche neben den beiden fallen.

Caja nickte. „Ja. Dean hat ihn heute mit den anderen Jungs zum Surfen eingeladen.“

Ich zog mein Handtuch aus der Tasche. „Ich will ihn nicht sehen!“

Verwirrt sahen mich meine beiden Freundinnen an. Mailin runzelte die Stirn und Caja legte fragend den Kopf schräg. „Warum nicht?“, fragte Caja.

Ich legte mein Handtuch neben Mailins und setzte mich darauf. Wie sollte ich das erklären. Abwartend starrten beide zu mir hinunter. Caja, Mailin und ich hatten keine Geheimnisse voreinander. Nie. Ich entschied mich, ihnen die Wahrheit zu sagen.

„Als ich Tara heute Morgen aus dem Krankenhaus abholen wollte, war er schon da und saß in ihrem Zimmer“, begann ich zögerlich. Caja breitete ihr rotes Handtuch vor uns aus und legte sich auf den Bauch, das Gesicht zu mir gedreht. „Aber das ist doch total süß von ihm“, sagte sie. Ich war einen Moment aus der Fassung. „Ja. Nein! Also...ja! Ja, ist es, aber als Blake Tara gesagt hatte, er habe sie bei dem Brand im Schulgebäude gefunden, da hat sie gemeint, er würde lügen und hat sogar angefangen zu weinen.“

„Tara hat geweint?“, fragte Mailin ungläubig.

Ich nickte. „Ja und ich weiß, das klingt seltsam, aber irgendwie hat er sie wieder zum Einschlafen gebracht.“

„Inwiefern?“, fragte Caja mit hochgezogenen Augenbrauen. „Hat er ihr was vorgesungen, oder was?“

„Nein, er hat die Hand auf ihre Stirn gelegt und sie angesehen.“

Meine Freundinnen schwiegen. Verständlich, ich hätte auch nicht gewusst, was ich darauf hätte sagen sollen.

Ich suchte nach den Surfern und versuchte auszumachen, wer von ihnen wohl Blake sein könnte.

„Hat er noch irgendetwas zu dir gesagt?“, fragte Mailin. Ich nickte langsam. „Ja, er hat mich gepackt und gefragt, was ich weiß! Da hatte ich echt Angst vor ihm! Er war richtig unheimlich. Bevor er aus dem Zimmer gegangen ist, hat er noch gemeint, ich könne nicht weglaufen.“

„Weglaufen wovor?“, fragte Caja.

Ich zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung.“

„Das klingt alles ziemlich seltsam“, meinte Mailin.

Caja setzte sich auf. „Naja, Fakt ist, dass Aylia Blake nicht sehen will. Was ich vollkommen verstehen kann, nach so ’ner Aktion!“

Ich lächelte sie dankbar an. Mailin nickte. „Also, falls er auf uns zukommt, zischen wir sofort mit dir ab!“

„Nein, das müsst ihr nicht tun. Wenn du ihn magst, dann sollst du meinetwegen nicht auf ein nettes Gespräch verzichten“, wehrte ich ab.

„Apropos Blake!“ Caja wischte sich kurz die Schminke unter den Augen weg. „Als du mich heute Nacht angerufen hat, wolltest du mir doch etwas über ihn erzählen, oder?“

Ich winkte ab. Inzwischen kam mir die Vorstellung Blake mit Flügeln gesehen zu haben so dämlich vor, dass ich sie selbst kaum glauben konnte. „Ach, nicht so wichtig!“

Mailin legte sich auf ihr Handtuch und streckte sich. „Ihr tretet eurer eigenen Freiheit in den Weg, wenn Ihr Euren Freunden Euren Kummer verheimlicht“, zitierte sie.

„Von wem diesmal?“, fragte Caja. „Tschechow?“

Mailin sog scharf die Luft ein. „Schande über euch, Miss McMahon! Shakespeare natürlich!“

Caja verdrehte die Augen. „Klar, wer sonst!“

Mailin grinste. Sie war verrückt nach Lyrischen Texten. Besonders Gedichte und die gelben kleinen Reklame-Heftchen hatten es ihr angetan. Als Schullektüre waren diese Heftchen überall verhasst, aber Mailin liebte sie. Nicht selten zitierte sie aus Tschechow, Shakespeare und sogar Schiller. Caja und mich hatte sie dazu gezwungen Hamlet und Der Sturm zu lesen, damit sie mit uns darüber reden konnte. Ich wettete, Caja hatte sich bloß die Zusammenfassung im Internet durchgelesen. Ich aber hatte sie wirklich gelesen und ich musste zugeben, dass sie mir gefallen hatten. Mailins absolute Lieblingsperson aus Hamlet war Laertes, der Bruder von Ophelia, der Hamlet herausforderte, um ihren Tod zu rächen. Die ganze Geschichte war ein Geflecht aus Verrat, Trug und Rache.

„Ich wünschte, ich hätte so einen großen Bruder“, schwärmte sie jedes Mal und jedes Mal verdrehte Caja die Augen und erzählte von ihrem großen Bruder, der vor zwei Jahren nach Edinburgh gezogen war. „Sei froh, dass du ein Einzelkind bist“, schloss sie jedes Mal.

„Jetzt erzähl aber mal, Aylia! Was wolltest du über Blake sagen?“, hakte Caja unnachgiebig nach.

Ich seufzte. „Es klingt aber ziemlich verrückt.“

„Klang die Geschichte im Krankenhaus auch schon!“, grinste Mailin.

Ich sah sie an. „Das, was ich jetzt erzähle ist noch schlimmer! Als ich in die Schule gerannt bin, um nach Tara zu suchen, da habe ich Blake mit ihr im Arm auf der Treppe gesehen und durch die Flammen – oder so – sah es aus als hätte er zwei große weiße Flügel.“

Cajas Augen weiteten sich. „Wow! Das ist eigentlich richtig spannend.“

Mailin nickte. „Ja, stimmt.“

„Wahrscheinlich habe ich mir das nur eingebildet!“, sagte ich erleichtert, ihnen jetzt endlich alles erzählt zu haben.

„Naja, was denkst du, wie viel Adrenalin durch deinen Körper geschossen ist? Ich meine, du bist in ein brennendes Haus gerannt! Da kann so was schon mal passieren“, meinte Mailin beruhigend.

„Eben“, sagte Caja und wandte sich wieder zu den Surfern.

Wahrscheinlich hatten sie recht. Der Kopf vor meinem Fenster in der Nacht, war sicher auch nur Einbildung gewesen. Bestimmt gab es ganz logische Erklärungen für das alles. Und ganz sicher hatten Blakes Worte auch einen Grund gehabt, den ich einfach nicht verstanden oder nicht erkannt hatte.

Inzwischen hatten sich die Jungs aus den Wellen gekämpft. Sie hatten ihre Surfbretter unter die Arme geklemmt und jagten sich übermütig durch den Sand. Dean winkte uns und kam mit den Anderen auf uns zu.

Es waren fünf. Zwei von ihnen waren nicht aus unserer Schule und verabschiedeten sich per Handschlag bei den Anderen bevor sie uns erreichten.

Dean zog sich als erster auf unseren Stein hoch. Hinter ihm Mick und dann Blake. Sie hatten diese enganliegenden Surferanzüge an. Deans hellbraune Locken waren klatschnass und zur Begrüßung schüttelte er sich einmal über Caja, die quietschend aufsprang.

„Iiiih! Dean, lass das!“ Sie schlug ihm gegen die Schulter. Dean lachte nur und breitete die Arme aus. „Krieg ich keine Umarmung zur Begrüßung?“

„Du bist klatschnass!“, protestierte Caja. Dean legte den Kopf schief und lächelte hinreißend. Caja hatte schon immer eine Schwäche für Dean gehabt. Sie wurde rot. „Schau nicht so bescheuert!“, feixte sie, während Dean ihr immer näher kam und sie immer mehr zurückwich. Schließlich sprang sie vom Felsen und rannte unter hysterischen Lachanfällen davon. Dean jagte ihr sofort hinterher.

„Los, schnapp sie dir!“, grölte Mick. Er war das, was man sich unter einem typischen Iren vorstellte. Er hatte rotes Haar, helle Haut und Sommersprossen. Außerdem war er sehr schnell gewaltbereit und bei jeder Prügelei dabei. Das hieß aber nicht, dass er gefährlich war. Nein, er hatte sich immer im Griff und er zettelte auch nicht absichtlich eine Prügelei an. Trotzdem nahm ich mich vor ihm in Acht. Obwohl mir klar war, dass er niemals ein Mädchen schlagen würde. Das wäre unter seiner Würde. Das hatte er mir schon einmal erklärt. Ich hatte ur genickt und gelächelt. Ich mochte es nicht, wenn Leute zu viel über sich und ihre Charaktereigenschaften redeten. Das war als würden sie von Anfang an sicherstellen wollen, dass sie viel cooler waren als sie es scheinbar auf andere wirkten. Mick sah Mailin und mich mit einem breiten Grinsen an. Blake dagegen beachtete uns kaum. Es schien als wäre das im Krankenzimmer nie passiert. Ich versuchte ebenfalls nicht daran zu denken. Was würde mir das auch bringen? Ich wusste ja ohnehin nicht, was sein Verhalten bedeutet hatte und ich wollte ihn auch nicht darauf ansprechen.

Mick setzte sich neben mich und erzählte mir von den Wellen und was für einen tollen Trick er gemacht hatte. Ich sah kurz zu Mailin und verdrehte die Augen. Sie unterdrückte ein Lachen und wandte sich Blake zu.

„Wie war das Surfen?“, fragte sie.

„Cool“, erwiderte Blake.

Mick lachte laut. „Übertreib mal nicht, Blaky! Es war der Hammer!“

„Blaky?“, fragte ich amüsiert und zog eine Augenbraue hoch.

Blake lächelte gequält. Mailin lachte.

„Was habt ihr denn?“, fragte Mick. „Ist doch voll der krasse Spitzname.“

„Ist gut, Micky Maus!“, sagte Dean, der plötzlich mit Caja am Rand des Steines stand.

„Nenn mich nicht so!“, rief Mick wütend. Seine Augen funkelten. Ich rückte ein wenig von ihm ab, doch Dean lachte nur. „Was ist? Willst du dich mit mir schlagen?“

Um Micks Mundwinkel spielte ein schräges Lächeln. „Nur zu gern.“

„Nicht jetzt, Jungs!“, stöhnte Caja, kletterte wieder auf den Stein und legte sich auf ihr Handtuch. Dean folgte ihr und Mick seufzte enttäuscht.

„Dean, versprich mir, dass es bald mal wieder jemanden hier gibt, der ’ne tracht Prügel verdient!“, flehte er und setzte sich wieder.

Dean grinste. „Da finden wir sicher schnell jemanden.“

Blake starrte mich an. Ich spürte seine viel zu hellen blauen Augen auf mir. Mich schauderte. Ich stand auf. Alle Blicke richteten sich auf mich.

„Tut mir leid. Mir geht es nicht gut“, sagte ich. „Bleibt ruhig hier. Ich werde ein bisschen Spazieren gehen.“

„Sollen wir mitkommen?“, fragte Caja.

„Nein!“, sagte ich schnell. Wohl ein wenig zu schnell, denn sie runzelte die Stirn. „Nein, danke“, versuchte ich es noch einmal. „Ich will lieber alleine sein. Ich bin auch nicht lange weg.“

„Wenn du in einer Stunde nicht wieder da bist, gehen wir dich suchen“, meinte Mailin.

Ich nickte und lächelte ihr zu.

„Du solltest nicht allein gehen“, meinte Blake. Er hielt meinen Blick fest und ich sah etwas in ihm, was ihn beunruhigte. War er besorgt?

„Besonders, wenn es dir nicht gut geht“, argumentierte er. „Du könntest ohnmächtig werden und irgendwo hinunterfallen.“

„Danke, aber ich kann auf mich selbst aufpassen. Außerdem habe ich ein Handy.“

Blakes Miene verfinsterte sich, doch er schwieg. Seine nassen, schwarzen Haare hingen ihm wirr ins Gesicht. Ich kletterte vom Felsen.

„Pass auf dich auf!“, rief Caja mir noch hinterher.

„Klar!“, erwiderte ich. Dann drehte ich ihnen den Rücken zu und lief auf die Dünen zu. In die Richtung, wo die Ruine war. Ich mochte die Ruine. Ich war gerne dort. Mein letzter Besuch war schon ein paar Monate her. Das musste ich ändern.

Die Ruine war klein. Ein paar hohe Mauern, die hohe, große Räume andeuteten und eine kleine Umrandungsmauer. Dazu einen alten hohen Turm. Oft genug hatte ich schon versucht, ihn hochzuklettern, doch ich hatte es nie ganz geschafft. Ab zwanzig Metern gab es keine Möglichkeit mehr, sich irgendwo festzuhalten, egal von welcher Seite, ich es aus versucht hatte.

Ich setzte mich auf eine kleine Mauer und starrte aufs Meer hinaus. Der wind fuhr mir durch die Haare. Ich erinnerte mich daran, wie ich heute Morgen im Spiegel ausgesehen hatte. Ob mich deshalb alle so angestarrt hatten. Es war furchtbar gewesen. Ich versuchte, so gut wie möglich nie in den Mittelpunkt zu geraten. Ich hasste es, wenn man mich anstarrte. Ich fuhr mir mit den Fingern über die Haut. So weich war sie noch nie gewesen. Plötzlich hörte ich schräg über mir ein Geräusch. Ich fuhr erschrocken herum. Da saß ein junger Mann auf einer größeren Mauer hinter mir. Er hatte blondes Haar, dass ihm in wirren Strähnen bis zu den Augen reichte. Er hatte eine gerade Nase und ein schmales Gesicht. Seine Lippen waren leicht geöffnet. Vielleicht vor Erstaunen. Seine Augen hatten ein hellbraunes fast rötliches braun. Er war groß und muskulös und etwas ging von ihm aus, was mich anzog. Ich wollte näher bei ihm sein. Wollte ihn berühren. Ich war wirklich kein oberflächlicher Mensch, aber dieser Junge war der schönste, den ich je gesehen hatte. Oder, wie Caja sagen würde: „Ein echtes Schnittchen“.

Oh mein Gott, was dachte ich denn da? Ich musste diesen intensivern Blickkontakt sofort beenden. Wie lange starrten wir uns nun schon an?

Der Fremde schloss den Mund und zog die Augenbrauen zusammen. Etwas in mir flehte, dass er etwas sagen würde. Dass ich seine Stimme hören konnte.

„Hallo“, brachte ich schließlich zögernd heraus. Ich wagte es nicht, mich zu bewegen. Er stand auf und sprang mühelos von der hohen Mauer. Dann kam er langsam auf mich zu. Vorsichtig, als könnte er mich verscheuchen.

„Bist du eine Keltin?“, fragte er. Seine Stimme war weich, dunkel und sanft. Ich spürte, wie mich ein wohliges Gefühl durchströmte. Dabei war es mir ganz egal, was er sagte. Er hätte auch tausendmal „Rhabarber“ sagen können und ich hätte es für das schönste Wort auf der Welt gehalten. Als er begriff, dass ich ihm nicht antwortete, versuchte er es anders. „Wie heißt du?“

Ich wollte schon den Mund öffnen, um ihm meinen Namen zu verraten, als mich plötzlich etwas packte und von der Mauer riss. Ich machte mich auf einen Aufprall gefasst, aber stattdessen wurde ich sanft auf der anderen Seite der kleinen Mauer abgesetzt und hinter eine große Person geschoben mit ungefähr der gleichen Statur wie der Fremde sie hatte.

„Sag kein Wort!“, zischte Blake. Ich wusste nicht weshalb, aber ich gehorchte und verbat meinen Lippen sich voneinander zu lösen.

Der Fremde sah Blake ruhig an, doch ich sah, sich seine Muskeln anspannten.

„Verschwinde von hier, Taran!“, sagte Blake laut.

Der Fremde legte den Kopf schräg und lächelte ein umwerfendes Lächeln. „Was kümmert es dich, wo ich stecke?“

„Am liebsten würde ich dich hier auf der Stelle umbringen!“, knurrte Blake.

In den Augen des Fremden spielte sich etwas Belustigtes wieder. „Versuch es doch, Lug!“

Mir brummte der Kopf. Ich spürte, wie mein Brustkorb immer enger wurde. Als würde mich etwas erdrücken. Das Bild verschwamm langsam vor meinen Augen.

„Hau endlich ab!“, rief Blake wütend. „Diese hier bekommst du nicht!“

Der Fremde schwieg. „Ich wollte sie auch nicht“, erwiderte er leise.

Verschwommen nahm ich zwei große schwarze Flügel wahr, die aus dem Rücken des Fremden sprossen. Mit einem kräftigen Flügelschlag schoss der Fremde in den Himmel.

Ich brach zusammen.

 

Kapitel 7

Ich wälzte mich unruhig hin und her. Schweiß trat mir auf die Stirn. Mein Kopf tat höllisch weh. Ich kuschelte mich ins Kissen und kniff die Augen zusammen.

Der Geruch, der mir in die Nase stieg war beruhigend, doch ich kannte ihn nicht. Langsam gewann mein Bewusstsein wieder die Oberhand. Erschrocken riss ich die Augen auf. Wie war ich hierhergekommen? Wo war ich?

Ich war in einem hellen Zimmer mit hellblauen Wänden und einem großen Fenster an der gegenüberliegenden Wand. Das Zimmer war voll gestellt mit einem Schrank, einem Tisch, der am Fenster stand und einem Sessel. Auf dem Boden lag ein bunter Teppich und an der Wand hingen Landschaftsbilder von verschiedenen Städten. Mir wurde klar, dass das Zimmer, in dem ich gerade lag, jemandem gehörte. Dass hier jemand wohnte. Nach den Schminksachen auf der braunen Kommode war es ein Mädchen. Vielleicht sogar in meinem Alter.

Mein Blick glitt über die hohe Decke bis rüber zu der hölzernen Flügeltür zu meiner rechten. Was war passiert? Wo war ich?

Verzweifelt versucht ich mich zu erinnern, was geschehen war. Da war dieser Junge gewesen, dann war Blake aufgetaucht und irgendwie hatte ich mich plötzlich ganz komisch gefühlt. Ich schlug die Decke zurück und setzte mich auf die Bettkante. Meine Klamotten von gestern hatte ich noch an. Oder war überhaupt schon Morgen?

„Sie ist wach“, sagte eine Stimme. Ich sah in Richtung Tür. Da stand ein Mädchen in meinem Alter. Sie war groß und schlank, hatte eine dunkle Haut und schwarze lockige Haare. Blake tauchte hinter ihr auf und ging auf mich zu. Er kniete sich vor mich, fühlte meine Stirn, dann umfasste er mein Handgelenk und maß nachdenklich meinen Puls.

„Was ist passiert?“, fragte ich schwach. Meine Stimme kratzte im Hals. Als hätte jemand versucht mich zu erwürgen. Das dunkelhäutige Mädchen lehnte sich an den Türrahmen und verschränkte die Arme vor der Brust. „Was hast du dir dabei gedacht, Blake?“, fragte sie schnippisch.

„Sei ruhig, Neyla! Hol lieber Yorrick hierher!“ Blake packte mich an den Schultern und zwang mich, ihm in die Augen zu sehen. Neyla verzog ihren Mund zu einem dünnen Strich und fuhr herum.

„Wo bin ich?“, fragte ich und versuchte aufzustehen, doch Blake drückte mich wieder zurück.

„Du hast Glück gehabt, weißt du das?“, erwiderte er, ohne auf mich einzugehen.

„Glück?“

„Er hätte dich töten können!“

Ich runzelte die Stirn. „Wie hieß er noch mal?“

Er zog eine Augenbraue hoch. „Woher soll ich das wissen?“

„Du hast ihn doch bei seinem Namen genannt“, beharrte ich. „Da bin ich mir sicher.“

Blake schüttelte den Kopf über mich. „Nein, das war nicht sein Name. Er ist ein Taran!“

„Ein Taran?“ Ich verstand nur Bahnhof.

„Weißt du noch, wie er mich genannt hat?“, fragte Blake und stand wieder auf.

Ich schüttelte den Kopf.

Blake schwieg kurz. „Er nannte mich: ‚Lug’!“, sagte er dann.

„Lug“, wiederholte ich, ohne ihn anzusehen. Was war hier los? „Er hat mich gefragt, ob ich eine Keltin sei“, erinnerte ich mich.

Blakes Blick wurde fest. „Was hast du ihm geantwortet?“

„Nichts“, sagte ich mit einem Schulterzucken. Er seufzte erleichtert.

„Blake!“ Ein großer Mann stürzte ins Zimmer. Er hatte schwarzes, dichtes Haar, reine Haut und hellblaue Augen. Es war nicht nötig zu fragen, wer das war. Die Ähnlichkeit war kaum zu übersehen.

„Dad!“, meinte Blake und trat von mir zurück. Blakes Vater kniete sich nun vor mich, genau wie Blake vorhin. Er befühlte ebenfalls meine Stirn.

„Hallo, Aylia. Ich bin Yorrick O’Conner“, stellte er sich mit sanfter Stimme vor „Mein Sohn hat mir erklärt, was passiert ist.“

„Ich denke, da hätte ich eine Erklärung eher nötig“, sagte ich mit einem schwachen Lächeln. Yorrick schmunzelte. „Das stimmt wohl.“ Er ließ mich los und richtete sich wieder auf. Das dunkelhäutige Mädchen kam gerade mit einem Glas Wasser ins Zimmer und reichte es mir. „Hier!“, sagte sie forsch. „Du hast lange geschlafen.“

Erschrocken sah ich sie an. „Wie lange?“

Das Mädchen machte eine unbestimmte Handbewegung. „Vierzehn Stunden bestimmt.“

„Vierzehn Stunden!“ Ich fuhr hoch, bereute es allerdings sofort wieder, denn mein ganzer Oberkörper tat höllisch weh.

„Bleib ruhig!“ Yorrick O’Conner stützte mich und führte das Glas Wasser, das ich noch in meiner Hand hielt, an meinen Mund und zwang mich ein paar Schlucke zu trinken. Sofort spürte ich, dass es mir dadurch besser ging. Ich trank das Glas aus und stellte es auf einen kleinen Nachttisch neben dem Bett. Neyla und Blake sahen mich schweigend an, während Yorrick mich wieder vorsichtig los ließ und zu seinem Sohn ging.

„Meine Mutter wird sich Sorgen machen“, platzte es aus mir heraus. „Und was ist mit Caja und Mailin? Wissen sie, wo ich bin?“

„Keine Angst.“ Yorrick hob beruhigend eine Hand. „Ich habe mit deiner Mutter telefoniert und auch deine Freundinnen wissen Bescheid. Ich konnte deine Mutter überreden, dich für diese Nacht hier zu behalten. Es ist besser, wenn du unter ärztlicher Aufsicht bist.“

Ich fuhr mir mit einer Hand durch das Haar. „Was ist bei der Ruine passiert?“

Yorrick schwieg und sah Blake an, doch dieser wich dem Blick seines Vaters aus.

„Blake hat dich gerettet“, sagte Neyla schließlich. „Wenn er nicht wär, wärst du vermutlich nicht mehr am Leben.“

„Wieso?“ Verwirrt sah ich Blake an. „Wer war das?“

Blake sah mich nicht an. Er starrte zur Seite. „Ein Taran“, sagte er schließlich. „Ein Kelte. Tarans sind für das Unglück auf dieser Welt zuständig. Sie sind die Söhne des Gottes Taranis. Der Todesgott der Kelten.“

„Aber er hatte Flügel“, warf ich ein. Plötzlich merkte ich, wie hirnrissig das alles klang. „Ich meine, er...er konnte fliegen! Oh mein Gott! Wie...Warum...Ich verstehe nicht -“

„Du musst wissen“, unterbrach Yorrick mich „dass die Keltischen Stämme an eine Wiedergeburt geglaubt haben. Es hat sich herausgestellt, dass die wiedergeborenen Kelten, immer magische Kräfte besitzen. Besondere Kräfte. Sie sind auserwählt das Glück und das Unglück der Menschen im Gleichgewicht zu halten. Deshalb gibt es zwei Gruppen von wiedergeborenen Kelten: Die Tarans und die Lugs.“

„Die Tarans sind für das Unglück zuständig“, fuhr Neyla fort, die mich schräg musterte. „Sie töten Menschen oder zerstören Dinge. Manchmal stellen sie sich ihnen auch einfach in den Weg und im schlimmsten Fall, vergewaltigen sie. Sie kennen keine Scheu. Das Kind von einem Taran und einem Menschen ist eine Art, wie soll ich sagen – wir nennen sie: Dämonen.“ Sie lehnte sich an die Wand. „Doch so etwas kommt zum Glück eher selten vor, denn solche Dämonen bereiten nichts als Chaos. Sie sehen zwar aus wie Menschen, wenn sie sich beherrschen, doch nur die kleinste Kleinigkeit kann sie zu einer Verwandlung bringen und dann drehen sie durch und zerstören alles in ihrer Nähe. Und glaub mir, es ist mega anstrengen sie zu töten!“ Sie seufzte und besah sich ihre Fingernägel.

„Die andere Gruppe wird ‚Lug’ genannt“, sagte Blake. Diesmal sah er mich an. „Wir drei gehören zu dieser Gruppe. Lug war ein heiliger Gott mit vielen Fähigkeiten. Oft wird er auch als der Sonnengott bezeichnet. Wir sind für das Glück der Menschen zuständig. Wir retten Leben und helfen Menschen. Wir töten Dämonen und auch Tarans. Denn anders als sie, sind wir in Gruppen unterwegs, während die Tarans oft alleine sind.“

Mir dröhnte der Kopf. Das waren vorerst eindeutig zu viele Informationen. „Moment! Ihr gehört also zu den Lugs und der Junge, den ich bei den Ruinen getroffen hatte, war ein Taran?“

Yorrick nickte. „Genau. Tarans und Lugs können einander spüren. Wie zwei Magnete. Es gibt einen negativen und einen positiven Pol. Die beiden Gruppen ziehen sich sozusagen gegenseitig an. Auch das ist dafür da, um das Gleichgewicht zu wahren. Tarans und Lugs müssen gegeneinander kämpfen, wenn sie sich begegnen. Du hingegen, da du eine Keltin bist, dich allerdings noch nicht gewandelt hast, wirst eine gewisse Abneigung gegen Lugs und eine starke Anziehung gegenüber Tarans empfinden.“

Ich runzelte die Stirn. Das könnte erklären, wieso ich Blake nicht leiden konnte. „Wieso?“, hakte ich nach.

„Ihr Menschen zieht das Unglück an. So war es schon immer. Das Glück, was wir bereit halten, fühlt sich für Kelten aufgezwungen an. Etwas in euch fühlt sich nicht wohl, diese Kraft plötzlich in sich drinnen zu spüren.“

„Wir versprühen also auch eine gewisse Glücksaura“, erklärte Neyla. „Unser Glück für die Menschen ist nicht nur durch das Handeln wirksam. Manchmal reicht unsere bloße Anwesenheit aus, damit sich ein Mensch wohl fühlt.“

„Doch du“, ergriff Yorrick wieder das Wort „eine Keltin, die sich noch nicht gewandelt hat, kann diese Kraft von uns Lugs und Tarans spüren und dein Körper, der gerade dabei ist, sich zu entscheiden, zu welcher Seite du gehörst, wehrt sich dagegen.“

Mir wurde schwindlig. Ich fasste mir mit einer hand an den Kopf. „Als Blake mich vor diesem Taran beschützt hat, da habe ich mich gefühlt, als ob mich etwas erdrücken würde.“

Yorrick O’Conner nickte wissend. „Das war, weil die beiden gegenteiligen, keltischen Kräfte zu viel für deinen menschlichen Körper waren. Du kannst sie zwar aufnehmen, aber das heißt noch lange nicht, dass du sie ertragen kannst.“

„Und ich bin eine Keltin?“, fragte ich langsam. Es klang irgendwie komisch.

Alle drei nickten.

„Und ich werde mich wandeln?“, fragte ich weiter.

Wieder nickten alle.

„Wann?“

„An deinem 18. Geburtstag“, antwortete Blake. Ich zitterte. Das waren nur noch ein paar Wochen.

„Und dann wird sich entscheiden, ob ich...“ Ich konnte den Satz nicht beenden. Es war auch nicht nötig. Alle wussten, was ich meinte. Ob ich für das Glück oder für das Unglück wiedergeboren wurde. Ob ich gut oder böse war. Ein Lug oder ein Taran.

Mir wurde übel. „Ich muss nach Hause“, sagte ich schwach.

Yorrick nickte. „Ich fahre dich gleich vorbei. Ich hoffe, dir ist bewusst, dass du mit niemandem darüber reden darfst. Wenn das an die Öffentlichkeit käme...Nicht auszudenken, was dann geschehen würde.“

Ich nickte. Das war mir klar, aber ich musste das alles erstmal verarbeiten.

„Ihr nennt euch ‚Kelten’, aber wäre ‚Engel’ nicht der bessere Begriff?“, fragte ich.

„Nun“, begann Neyla, „die Engel kommen aus dem Christentum. Die Kelten hatten eine ganz eigene Art von Religion.“

Ich nickte. „Verstehe.“

Yorrick half mir auf. „Es wird Zeit. Du musst dich ausruhen und all das verarbeiten. Wenn du dir mit allen im Klaren bist, wirst du wahrscheinlich eine Menge Fragen haben, aber fürs Erste reicht das. Ich bringe dich nach Hause.“

 

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Tag der Veröffentlichung: 21.07.2014

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