Es war ein Mädchen. Sie saß allein und blickte ins Weite. Noch weiter als sie hätte blicken können. Ihre Gedanken waren verstreut, genau wie die gelben und roten Blätter, die auf dem Boden lagen.
Es war ein Herbsttag. Ein Wolf lag neben ihr. Er hatte den Kopf auf die Pfoten gelegt und schlief. Das weiße Fell schillerte in der Abendsonne.
Die Blätter raschelten und er fragte sich, wann sie wohl endlich aufstehen würde. Sie saß nun schon seit einer Ewigkeit dort. Saß da und stierte ins Leere.
Das Gras unter seinen nackten Füßen fühlte sich unangenehm kühl an.
Ein Windstoß zauste dem Mädchen das blonde schulterlange Haar. Er schloss die Augen als der Wind über sein Gesicht strich. Ein weiteres Rauschen ging durch die Bäume. Blätter fielen sanft zu Boden. Er blickte in die Baumkronen über sich. Orange, gelb, braun...Herbst.
Etwas endet. Er war sich nicht sicher...vielleicht verlor in dieser Zeit auch etwas sein Leben.
Und dann kommt der Winter...
Er schluckte. Winter...Schnee. Letztes Jahr war es so kalt gewesen, dass er in einer Nacht fast erfroren war.
Im Winter wird alles, was hässlich aussieht von den Schneeflocken überzogen und – was ihm irgendwie unheimlich war – der Schnee verschluckte alle Geräusche. Und nachdem Winter würde der Frühling kommen...Ein Neuanfang! Ein neues Leben. Eine neue Geschichte...so kam es ihm jedenfalls vor. Er freute sich auf den Frühling und wünschte sich so sehr, dass dunkle Kapitel des Winters schon hinter sich gelassen zu haben.
Er sah sich wieder zu dem Mädchen um. Sie saß immer noch dort...regungslos.
Sollte er sich bemerkbar machen? Nein. Er liebte es, sie zu beobachten. Er wollte unbedingt verstehen, wie sie dachte und was sie fühlte. Noch nie hatte er sich so sehr für einen Menschen interessiert.
Ob er ihr etwas bedeutete? Er dachte nach. Ja, doch...oder etwa nicht? Sie hatte sich schließlich oft genug für ihn eingesetzt. Das hätte sie doch nur getan, wenn sie etwas für ihn empfand...oder?
Ach, was verstand er schon von Menschen?! Er hatte nie viel mit ihnen zu tun gehabt. Er hatte sie umgebracht und er hatte von nur einem akzeptiert werden wollen, von dem er nun wusste, dass er nie wieder von ihm akzeptiert werden würde. Er seufzte. Zu kompliziert...alles viel zu lange...viel zu anstrengend. Weder wert um darüber nachzudenken, noch dazu wert erzählt zu werden.
Er lehnte sich an den Baum und blickte wieder in den Himmel, der aussah, als würde er von den Ästen gefangen gehalten. Der Himmel hinter Gittern.
Oder? War er vielleicht selbst hinter Gittern? Und der Himmel das einzige wirklich freie Land?
Er musste nach vorne schauen. Er musste sich von der Vergangenheit loslösen und an die Zukunft denken - und an die, die darin vorkamen...
„Noch einmal!“ Sliker klopfte ihr ermutigend auf die Schulter. „Du bist doch schon besser geworden!“
Lee atmete schwer und sah ihn mit einer Mischung aus Dankbarkeit und Gereiztheit an.
Der blonde siebzehnjährige Elbenjunge drückte ihr dir nächsten Shuriken in die Hand. Lee seufzte.
„Na los! Noch mal!“
Das Mädchen nahm einen der Shuriken waagrecht in die rechte Hand zwischen Daumen und Zeigefinger. Dann versuchte sie es, mit der selben geschmeidigen Drehung des Handgelenks, zu werfen, wie Sliker es ihr vor mindestens schon drei Stunde vorgemacht hatte. Das Shuriken verfehlte die Zielscheibe, die wie gewohnt einen Sprung zur Seite gemacht hatte.
Lee seufzte resigniert. „Ich schaffe das einfach nicht!“, knurrte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen.
„Ja...du hast recht! Es war nicht besonders geschickt“, meinte Sliker fachmännisch und betrachtete Lee interessiert.
Genervt drehte sie sich zu ihm um. „Dankeschön!“
„Du denkst immer noch nicht wie dein Gegner“, erwiderte Sliker ohne auf Lees Kommentar einzugehen.
„Ich kann nicht, wie eine Zielscheibe denken!“, fauchte Lee wütend, „Das ist wissenschaftlich, nein, rein biologisch schon überhaupt nicht möglich!“
Sliker schüttelte den Kopf. „Nein...du sollst dich nicht in die Zielscheibe hineinversetzen. Du sollst dir vorstellen, DU selbst seiest die Zielscheibe und dann überlegen, was du machen würdest!“
„Und wieso sollte ich auf mich selbst schießen?“, erwiderte Lee zickig. „Außerdem will ich keine Zielscheibe sein!“
Sliker seufzte. „Okay, du machst jetzt Pause!“
„Was?“ Entgeistert sah sie ihn an. „Nein! Ich will keine Pause machen! Ich will das jetzt lernen!“
Wieder schüttelte Sliker den Kopf. Als wäre er ein weiser alter Mann, der versucht einem Kind beizubringen, wieso es jetzt ins Bett müsse.
Das machte Lee erst recht wütend.
„Du hast es noch nicht verstanden, Lee!“
„Dann erklär es mir!“
„Nein, das reicht jetzt erst mal! Heute Nachmittag können wir weiter machen!“ Sliker sah sie streng an und Lee kam sich plötzlich vor wie ein Kleinkind. Sie fühlte sich plötzlich ziemlich mickrig und müde. Sie seufzte kurz, öffnete ihren Zopf und griff in ihr blondes langes Haar.
Sliker beobachtete sie interessiert.
Sie zog ein wenig an ihren Strähnen bis es ziepte und biss sich auf die Unterlippe.
„In Ordnung“, sagte sie schließlich und begann sich ihren Zopf wieder zu flechten. „Dann gehen wir etwas essen.“
Sliker nickte und legte die Shuriken zurück in die Holzkiste an der Mauer.
Sie verließen die Arena. Es war ungewöhnlich leer auf dem Trainingsplatz. Eine Gruppe kleiner Kinder, zwischen sechs und acht Jahren, standen in einer Reihe und sahen ihrem Lehrer, einem jungen, dunkelhaarigen Elben aufmerksam zu, wie dieser seinen Bogen spannte.
Sie verließen die Arena über eine Treppe, die nach oben auf die Tribünen führte und gleichzeitig durch die Kantine hindurch.
Eine rundliche Elbenfrau in Schürze stand hinter der Theke und unterhielt sich mit einem Mann ihres Alters, der ihr sehr ähnelte.
„Kaila!“ Sliker ging auf die rundliche Elbin zu und verbeugte sich knapp. Lee hatte bis heute nicht verstanden, wieso Sliker so etwas machte. Er hatte ihr einmal geantwortet, dass es für ihn eine Geste des Respekts war, vor älteren und weitaus weiseren Elben seine Unterwürfigkeit zu demonstrieren. Lee hatte ihn damals nur verständnislos angesehen, weswegen Sliker die Augen verdreht und geseufzt hatte, dass er von einem Menschenmädchen wohl nicht verlangen konnte, ihn zu verstehen. Es sei ihm ein Rätsel, weshalb er überhaupt versucht hatte, es ihr zu erklären.
Ja, Sliker war nicht immer einfach. Er war eitel und arrogant. Respekt und Ehre waren für ihn die höchsten Tugenden. Seiner Meinung nach war Lee, ein verzogenes, jammerndes, freches und respektloses, kleines Menschenmädchen. Ach ja, und egoistisch war sie natürlich. Wie jeder, den Sliker kannte.
Die Elbenfrau drehte sich zu Sliker um. „Soso, wir haben uns ja Ewigkeiten nicht gesehen, mein Kleiner! Deine guten Manieren hast du zum Glück nicht verloren.“ Sie sah ihn prüfend an. „Dafür aber anscheinend etwas sehr viel Wichtigeres.“
Sliker antwortete nicht.
Kaila schnalzte abwegig mit der Zunge. „Na, wir werden sehen! Lee, mein Goldengel! Du bist ja auch da!“
Lee lachte. „Ja! Nach so hartem Training darf ich mir das erfreulicherweise erlauben.“
„Recht hast du, Kindchen!“ Kaila wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab und stieß den Mann neben ihr mit dem Ellbogen in die Rippen. „Los, du Faulpelz. Die beiden möchten sicher etwas essen!“
„Jaja“ Der Mann zwinkerte Lee verschwörerisch zu. „Ich mache mich doch schon auf den Weg!“
„Beeil dich, bitte, Kyle!“, rief Kaila ihm nach und deutete mit einer auf einen kleinen Tisch, von dem aus man aus dem Fenster in die Arena sehen konnte. „Setzt euch doch!“
Sliker verbeugte sich und schritt zu einem der dunklen Holzbänke, die zu zwei Seiten des Marmortisches standen.
Lee setzte sich ihm gegenüber auf die andere Band.
Als sie Kaila und Kyle das erste Mal zu sehen bekommen hatte, hatte sie gedacht, die beiden wären verheiratet gewesen. Doch ein wenig später hatte sich herausgestellt, dass die beiden Geschwister waren. Beide verabscheuten sowohl das Kämpfen als auch das Zaubern, dafür liebten sie das Kochen umso mehr.
Und das mit dem Heiraten hier, war ja eh so eine Sache. Bis jetzt hatte Lee noch kein einziges verliebtes Paar herumlaufen sehen und vielleicht hatte Sliker in dieser Hinsicht recht, die Elben sind egoistisch. Klar, sind sie immer für alle da, aber nur wenn es sich um Personen handelt, die sie mögen. Sie schienen alle weitaus wichtigere Sachen zu tun zu haben, als sich zu verlieben.
„Sliker, was hat sie eigentlich gemeint?“
„Wer?“ Sliker drehte den Kopf zu ihr.
„Kaila!“
„Was meinst du?“, fragte er desinteressiert.
„Sie sagte, deine Manieren hättest du nicht verloren, aber dafür etwas weitaus Wichtigeres!“
Sliker wandte den Blick ab. Lee fragte sich, was er wohl dachte. „Ich weiß nicht“, sagte er schließlich.
„Du lügst“, erwiderte Lee und versuchte seinen Blick einzufangen.
„Das geht dich nichts an, Lee!“, sagte Sliker scharf. „Das geht niemanden etwas an.“ Er stand auf und stieg über die Bank. „Ich werde Ray sagen, dass er kommen soll, um dich im Bogenschießen zu trainieren.“
„Was?“, fragte Lee verständnislos. „Aber Ray und ich würden doch erst morgen trainieren. Heute soll ich mit den Shuriken üben!“
„Du hast genug geübt!“, fiel Sliker ihr ins Wort. „Und du bist ein ganzes Stück besser geworden.“
„Aber...aber ich kann das noch nicht, Sliker! Ich bin eine Niete im Werfen!“
„Wir trainieren an einem anderen Zeitpunkt weiter!“, erwiderte er ohne sie anzusehen und ging ohne sich noch einmal nach ihr umzusehen, die Treppe hinunter.
„Hey! Sliker!“, rief Lee ihm nach, doch er kam nicht zurück. Sie seufzte. Hatte sie etwas falsches gesagt?
„Ist Sliker gegangen?“ Kaila stand mit zwei Tabletten voll Kartoffelbrei und Mais an ihrem Tisch.
Lee nickte. „Ja...ich habe glaube ich etwas angesprochen, worüber er nicht reden wollte.“ Sie verschränkte ihre Finger auf der Tischplatte und starrte darauf, nur um nicht in Kailas Gesicht sehen zu müssen.
„Oh...oh...nun, das ist aber sehr schade. Wer soll denn jetzt das Essen zu sich nehmen?“ Kailas Bedauern, um das Essen war ihr anzuhören, doch Lee hörte auch so etwas wie Mitleid gegenüber ihr oder vielleicht auch Sliker heraus.
„Nun, weißt du, Lee. Ich werde einfach mit dir essen. Und du kannst mir ja erzählen, was passiert ist.“ Sie setzte sich ihr gegenüber und stellte eines der Tablette vor sie.
Lee stöhnte. Sie hatte keine Lust darüber zu reden, nur um zu hören, in was für ein Fettnäpfchen sie nun schon wieder getreten war. Doch Kaila ließ sich nicht so leicht abschütteln. Sie begann den Kartoffelbrei zu verspeisen.
Lee nahm sich die Gabel und stocherte lustlos darin herum.
„Also, was für ein Thema sollst du angesprochen haben?“, fragte Kaila, die sich ihre Gabel gerade mit Mais voll häufte.
„Ich habe ihn gefragt, was er verloren hat“, meinte Lee, die wieder auf ihre Hände sah.
„Was er verloren hat?“, fragte Kaila verständnislos.
Lee seufzte verzweifelt auf. „Das hast du doch zu ihm gesagt! Seine Manieren habe er nicht verloren, aber dafür etwas sehr viel Wichtigeres. Ich habe ihn gefragt, was du damit gemeint hast.“
Kaila sah sie erstaunt an. Die Gabel war auf halbem Weg zum Munde in ihrer Hand erstarrt. Jetzt ließ sie ihre Hand unwohl sinken.
„Das...das ist ein sehr empfindliches Thema für ihn. Mir ist es einfach rausgerutscht. Wenn ich meine Zunge zügeln und vorher meinen Kopf einsetzen könnte, hätte ich es nie gesagt.“ Sie führte die Gabel wieder zu ihrem Mund. „Aber so bin ich nun mal. Woher soll ich wissen, was ich denke, wenn ich nicht höre, was ich sage, weißt du?“
Lee schwieg. „Kaila?“
Abwartend sah die Elbin sie an.
„Was ist passiert? Ich meine, was hat er verloren? Wieso ist es so schlimm für ihn darüber zu sprechen?“
Kaila schwieg für einen Moment. „Ich glaube, dass ist etwas, das er dir lieber selber erzählen sollte.“
„Er würde es mir doch niemals erzählen!“, protestierte Lee. „Und er wird auch nie herausfinden, dass ich es weiß.“
Die Elbin seufzte. „Du bist zu neugierig! Irgendwann wird dir noch jemand deine Nase abbeißen, wenn du sie überall hereinsteckst!“
„Bitte, Kaila! Bitte!“
„Ach, Lee! Das würde er sicher nicht wollen...Nein! Hör auf, mich so zu angucken! Das ist doch nicht fair.“ Sie seufzte. „Ich schwöre dir, Lee, wenn er herausbekommen sollte, dass du irgendetwas von mir über seine Vergangenheit erfahren hast, werde ich dir nie wieder etwas erzählen!“
Lee nickte eifrig. „Ich werde schweigen wie ein Grab!“
„In einem Grab könntest du auch landen, sollte er etwas bemerken“, erwiderte Kaila.
Lee schluckte. „Was? Wirklich?“
Kaila kicherte. „Ich mache doch nur Spaß, Kindchen. Also, hör zu, aber iss auch schön. Du musst viel kräftiger werden!“
Lee nahm sich schnell ihre Gabel und schaufelte sich so schnell sie konnte immer mehr Kartoffelbrei in den Mund.
Kaila beugte sich etwas vor. „Er war nämlich nicht immer so. Als kleines Kind war er ein durch glücklicher und witziger Junge. Ja, ich glaube sogar, dass er mehr gelacht hat als Ray damals.“
Lee versuchte sich vorzustellen, wie Sliker lächelte, aber scheiterte schon bei dem Versuch ihn nur den Mund verziehen zu lassen. Bei Ray konnte sie sich gut vorstellen, wie er als kleines Kind gewesen war. Er war genauso alt wie Sliker, also siebzehn, was für einen Elben, die bis zu Tausend Jahre alt werden konnten, noch sehr jung war. Doch irgendwie schienen er und Sliker etwas Besonderes zu sein, denn sie wurden von allen geachtet und letztes Jahr hatten sie Lee und Jenny sogar trainiert, bevor sie aufgebrochen waren, um ihre zweite Prophezeiung zu erfüllen. Lee verbot sich weiter an Jenny zu denken und spürte automatisch einen Kloß im Hals, was allerdings auch am Kartoffelbrei liegen konnte.
„Doch dann geschah die Geschichte mit seiner Mutter“, fuhr Kaila unbeirrt fort. „Der arme, arme Junge.“ Sie hatte den Blick auf die Tischplatte gerichtet und schüttelte mitleidig den Kopf.
„Was...Was war mit seiner Mutter? Ist sie tot?“, fragte Lee leise.
Kaila hob den Blick. „Oh nein! Sie ist nicht tot. Sie lebt. Aber sie ist krank. Geisteskrank. Sie ist verrückt geworden. Damals war Sliker gerade erst acht Jahre alt und sein Vater gab ihm die Schuld daran. Hat ihn geschlagen und unter lautem Brüllen aus dem Haus geschmissen. Es war furchtbar. Ich habe gesehen, wie er auf der Straße gestanden hat mit Tränen in den Augen und seinen Vater angefleht hat.“ Sie machte eine kurze Pause. „Er war noch so jung, Lee. Und so verwundbar. Sein Vater verbot ihm je wieder Heim zu kommen. Noch in der selben Nacht flüchtete er mit seiner Frau aus der Stadt. Niemand weiß wohin sie flohen und vor was. Vor der Krankheit? Das war wohl kaum möglich, so würden sie doch keinen Nutzen daraus ziehen.“
„Warte!“, unterbrach Lee sie. „Das...Das verstehe ich nicht! Wieso gab sein Vater ihm die Schuld? Was kann er dafür?“
Kaila senkte den Kopf abschätzend zur Seite. „So genau weiß das leider keiner. Es gibt Unmengen von verschiedenen Gerüchten.“
„Und was passierte dann?“, fragte Lee gespannt.
„Sahara nahm ihn zu sich auf bis er vierzehn war. Ab da an bekam er sein eigenes Haus zugeteilt und seit diesem Zeitpunkt habe ich ihn kein einziges Mal lachen sehen. Höchstens ein kurzes Lächeln, wenn Ray ihm eine seiner irrwitzigen Geschichten erzählt.“
Als Kaila nicht weiterredete, verstand Lee, dass es mehr dazu nicht zu erzählen gab. Das konnte doch nicht schon alles sein!
„Aber woher weißt du denn, dass seine Mutter noch lebt?“, fragte sie verständnislos. „Man hat sie doch nie wieder gesehen!“
„Wenn jemand über Sliker Mutter spricht, dann rastet Sliker manchmal völlig aus. Er wird nie laut, doch vielleicht hast du es schon einmal mitbekommen, wenn sich so ein eisiger Hauch in seine Stimme schleicht. Er besteht darauf, dass seine Mutter lebt und dass sie zurückkommt und vor allem durch das Wolfsauge, das wir nun besitzen, gesund werden wird.“
Lee starrte sie fassungslos an. „Das Wolfsauge?!“
Das Kraut von ihrer letzten Reise, dass der Vorbote des Friedens sein sollte, weil es jeden heilen könnte. Sowohl zerstörtes Land als auch einen verrückten Geist.
„Ja, du weißt doch bestimmt, dass es im Moment in Zuchthäusern ganz prächtig gedeiht. Wir brauchen sehr viel von dieser Pflanze, um das alles wieder gut zu machen, was Lubomir zerstört hat.“ Kaila begann ihr bereits leeres Geschirr aufzustapeln. Lee schwieg beklommen.
Ja...das wusste sie. Lubomir! Dieser hinterhältige Schamane.
Seine Tochter Sasuun hatte Lees Vater gefangen gehalten. Er war eines Tages einfach verschwunden. Das war vor fast drei Jahren. Sie war gerade erst zwölf Jahre geworden. Immer wieder hatte sie von ihrem Vater geträumt und schließlich hatte sie sich auf den Weg gemacht, um ihn zu suchen. Mit nichts außer einer vagen Vermutung und dem Gefühl, dass es das Richtige war. Zusammen mit ihren drei Freunden Jan, Jenny und Lui stahl sie Onkel Bobs Flugzeug. Sie gerieten in einen Sturm und strandeten auf einer eigenartigen Insel, auf der Lubomirs Sohn Marek versuchte sie zu töten, bis er schließlich selbst auf grausame Art ums Leben kam.
Von Schlangen zerfetzt...
Lee schüttelte sich. Es war ihr als würde sie seine Schreie noch immer hören.
Zum Glück wurden sie von einem Schiff mitgenommen und kamen schließlich zu den Wakati-Indianern. Sie erzählten ihnen von ihrer Prophezeiung und von Sasuun Mareks Zwillingsschwester, die Lees Vater geraubt hatte, um ihm seine Kraft zu entreißen und sie selbst zu besitzen.
Auf dem Weg zu ihr trafen sie ihre Seelenverwandten Wölfe. Luke, Jason, Jamie und Lilian. Sie alle waren miteinander verbunden, was leider hieß, dass, sobald sie mit ihren Wölfen eins geworden waren, diese sich auflösen und in sie übergehen würden. Wenn Lilian in sie überging war Lee fähig sich in ihre Gestalt zu verwandeln, nur um einiges größer. Ungefähr so groß wie ein Pferd.
So etwas wurde Seelenwolf genannt. Aber Lui ... Lui war nicht zu einem Seelenwolf geworden, so wie Jan. Nein, er war zur einem Wolfskopf mutiert.
Durch Leyla, die Mutter der vier Wolfswelpen. Sie opferte sich damals für ihn als er schon nicht mehr atmete, indem sie ihr Blut mit seinem vermischte. Dadurch starb sie und er erwachte zu neuem Leben mit ihrem Blut in sich. Das bedeutete, dass er auch Lukes Blut, sein seelenverwandter Wolf, in sich hatte. Und als Luke starb, bevor sie sich richtig vereinigen konnten, veränderte sich Lui. Ganz langsam.
Erst redete er kaum noch, war kalt und schon einen Monat später verwandelte er sich. Wolfsköpfe können sich nicht kontrollieren, wenn sie wütend sind. Das war das Gefährliche.
Was würde aus Lui werden? Wie es ihm wohl erging?
Oh warum wurden sie nur getrennt? Wie ging es Jan und Jenny? Und warum durfte sie nicht zu ihnen?
Kaila räusperte sich. „Lee? Schätzchen?“
Lee schrak aus ihren Gedanken hoch. „Äh ja?“
„Hast du mich gehört?“, fragte Kaila mit besorgter Miene.
Lee schüttelte entschuldigend den Kopf.
„Ich wollte wissen, ob du das noch essen willst“, wiederholte Kaila und deutete auf Lees Maisportion.
„Nein, danke! Ich bin satt!“, sagte Lee.
Kaila zog eine Augenbraue hoch. Lee wusste, dass sie ihr am liebsten noch ein paar Portionen mehr gegeben hätte, doch Kaila schwieg und räumte Lees Tablett auf ihres. „Wo ist eigentlich Lilian?“, fragte Kaila.
Lee zuckte kurz mit den Schultern. „Wahrscheinlich liegt sie in irgendeiner Wiese und sonnt sich. Es ist schließlich nicht mehr lang etwas von der Sonne da.“
Lilian war ausgewachsen. Nicht mehr so süß klein wie früher und Lee konnte sie auch nicht mehr hochheben. Nun hing Lilian nicht mehr so sehr an Lee. Sie waren zwar die meiste Zeit zusammen, doch manchmal zog sich ihr weißer Wolf zurück und Lee ließ es zu ohne danach zu fragen. Sie wusste zwar, dass ihr nicht mehr viel Zeit mit Lilian blieb, aber sie wollte sie nicht bedrängen. Denn wenn Lilian sich bedrängt fühlte, tat Lee es automatisch auch. Ihre Gefühle waren fast komplett ineinander übergegangen.
Sie stand auf. „Ich gehe wieder in die Arena. So wie ich Ray kenne, ist er wahrscheinlich schon da.“
Kaila nickte und lächelte Lee breit an. „Ja, das denke ich auch. Komm bald mal wieder vorbei, hörst du?“
Lee nickte und wandte sich zum Gehen.
„Und vergiss nicht stillschweigen über Slikers Vergangenheit zu bewahren!“, rief Kaila ihr nach.
Ach ja, Slikers Vergangenheit...
„Klar doch!“, versicherte Lee ihr.
„Lui?“
Der Junge drehte sich um. „Saya? Was gibt es?“
„Navaje sucht dich!“ Ein Mädchen in seinem Alter mit roten Locken stand hinter ihm und legte grinsend den Kopf schief. „Was machst du denn da?“
Lui schloss die Augen und konzentrierte sich. Er spürte, wie seine schwarzen Wolfsohren sich wieder in die Kopfhaut zurückzogen bis sie schließlich wieder ganz verschwunden waren.
„Oh!“ Das Mädchen mit den roten Haaren sah ihn bewundernd an. „Wie hast du das denn hinbekommen?“
Lui grinste und stand auf. „Navaje hat mir beigebracht, dass ich mich nur genug konzentrieren muss.“
„Kann ich das auch lernen?“, fragte Saya hoffnungsvoll.
Lui zuckte mit den Schultern. „Ich denke schon.“
„Bringst du es mir bei?“, hakte sie nach.
„Ja, ich kann er versuchen“, erwiderte Lui. Diese Antwort schien das Mädchen vorübergehend zufrieden zu stellen.
„Was will Navaje von mir?“, fragte Lui.
„Ich weiß nicht, aber ich glaube, es geht um einen Besuch bei den anderen Völkern.“
Lui klappte der Mund auf. „Ernsthaft? Oh mein Gott, ich muss sofort zu ihr!“
Mit einem großen Satz verwandelte er sich in den schwarzen Wolf und raste durch das Unterholz. Er würde Jenny wiedersehen. Er würde Jan wiedersehen. Und er würde Lee wiedersehen. Er vermisste sie alle furchtbar. Es war ungewohnt, dass sie nicht mehr zu viert waren.
So schnell er konnte rannte er an der Trainingslichtung vorbei, an der sich ein paar junge Seelenwölfe einen erbitterten Kampf lieferten.
Als er hier ankam, war er erst verwirrt gewesen. Häuser gab es keine, aber dafür kleine, rundliche, selbstgebaute Höhlen, die mit Leder überzogen waren. Und es gab hier sowohl gewandelte Seelenwölfe als auch ungewandelte. Von Wölfen und Menschen wimmelte es in ihrem Bau. So nannten sie ihr kleines Höhlendorf. Sie waren wirklich nicht viele. Möglicherweise 300 bis 400 Personen und von denen, waren immer viele unterwegs oder hatten furchtbar wichtige geheime Sachen zu erledigen.
Lui stoppte abrupt, als vor ihm ein kleines Kind mit seinem Welpen in den Weg rannte. Geschickt sprang er über den kleinen Jungen hinweg und verwandelte sich kurz vor dem Bau wieder in seinen menschlichen Körper.
Es gab ein Alphatier. Der König aller hier, doch den hatte Lui noch nie zu Gesicht bekommen. Er war sich aber sicher, dass er sehr streng und sehr stark war. Von Allem, was ihm hier erzählt wurde, schien sich niemand hier für nichts in ganz Vardell mit diesem Alphawolf anlegen zu wollen.
Lui stand auf und klopfte sich etwas Staub von den Klamotten. Zwei ältere Wölfe sahen ihn misstrauisch an.
Natürlich hatte es ein großes Aufsehen gegeben, als den Seelenwölfe bekannt gemacht wurde, dass der Wolfskopf zu ihnen ins Lager käme. Viele hatten protestiert, andere waren dafür. Insbesondere ältere Wölfe behandelten ihn sehr distanziert und beobachteten ihn vorsichtig.
Lui lächelte den beiden älteren Wölfen zu, die sofort in eine andere Richtung sahen und hinter ihm zu tuscheln anfingen.
Praktisch, dass Lui sie verstehen konnte. Auch das hatte sich mit der Zeit entwickelt, um Wölfe zu verstehen, musste er nicht immer in seiner Wolfsgestalt sein. Er musste nur genau hinhören und sich konzentrieren.
„Warum ist er überhaupt hier?“, fragte der eine abwertend.
„Er gehört hier nicht hin!“, stimmte ihm der Andere grummelnd zu.
„Der Junge stürzt uns alle noch ins Unglück“, erwiderte wieder der Erste.
Lui konzentrierte sich auf die kleinen Kieselsteine, die im Weg lagen und versuchte sich nicht weiter auf das Gespräch der beiden einzulassen, doch die Worte stachen wie Nadeln in seine Ohren.
„Was erhofft man sich von ihm? Er hat noch nicht einen Einzigen Auftrag erfüllt.“
„Das kommt schon noch...“
„Denkst du? Ich würde mich nie im Leben auf einen Wolfskopf verlassen! Außerdem habe ich gehört, dass diese vier Kinder sowieso bald verschwinden werden.“
„Verschwinden? Wie meinst du das?“
„Tja, ich war beim Treffen der Völker dabei. König Evallan wollte mit mir reden und dass ich zuhörte, um Navaje etwas auszurichten. Er sagte, da ich der Erfahrenste und Rudelälteste sei, würde sie möglicherweise auf mich hören.“
„Und? Was wurde besprochen?“
„Lui!“
Erschrocken sah der Junge auf und das Gespräch in seinem Kopf verebbte.
„Da bist du ja endlich!“ Navaje kam auf ihn zugelaufen.
Mist! Gerade, wo es so interessant wurde!
Navaje lächelte ihn an und machte eine Geste, ihr zu folgen. „Komm! Ich muss mit dir reden!“
Schweigend folgte Lui ihr.
„Was ist denn los?“, fragte Navaje und sah ihn stirnrunzelnd an.
„Wieso?“, fragte Lui und bemühte sich schnell um ein fröhlicheres Gesicht.
Navaje zog eine Augebraue hoch. „Du bist so ruhig.“
„Ich war nur in Gedanken.“
„Über was?“
„Stimmt es, dass ich die anderen wieder sehen werde?“, platzte es aus ihm heraus.
Navaje nickte. „Ja, schon. Allerdings...“
„Das ist der Wahnsinn!“, rief Lui und jubelte auf.
Navaje verdrehte die Augen. „Ja, das kommt mehr nach dir.“ Sie kroch in ihren Bau. Lui folgte ihr grinsend. „Wann werden wir aufbrechen?“
„Nun Mal langsam!“, erwiderte Navaje gereizt. Sie setzte sich auf ein Fell und bedeutete Lui sich auf das andere zu setzen. Gehorsam setzte sich der Wolfskopf.
„Lui, was ich dir jetzt erzähle ist wichtig! Du darfst mit niemandem darüber reden und es niemals vergessen.“ Eindringlich sah sie ihn an.
Lui schluckte. „Okay“, sagte er misstrauisch.
Navaje musterte ihn kurz. "Es wird anders sein, wenn du die Anderen wieder siehst", begann sie. Abwartend sah Lui sie an. "Sie waren nun ein ganzes Jahr in unterschiedlichen Völkern. Wie du weißt, befinden wir uns in einem schlechten Verhältnis zueinander. Ihr seid die Kinder aus der Prophezeiung und einer von euch wird Lubomir töten und uns den Frieden bringen. Sie werden ihren jeweiligen Schützlingen versucht haben einzureden, dass ihr Volk das Gute ist und die restlichen Böse. Sie werden Misstrauen säen."
"Wieso?", fragte Lui irritiert. "Die anderen und ich müssen doch zusammen halten, um Lubomir zu töten."
"Einer von euch wird ihnen reichen! Zusammen seid ihr eine Gefahr! Sie wollen euch auseinander bringen und erwarten nur von ihrem einen Schützling, dass er stark genug wird, um Lubomir zu töten. Dieses Volk wäre dann am Mächtigsten. Dieses Volk könnte über alle anderen herrschen."
Wütend ballte Lui die Fäuste. "Ich verstehe das nicht! Ihr benutzt uns für euren verdammten Machtkampf! Wir sind Lebewesen! Wir haben Gefühle! Ihr interessiert euch überhaupt nicht für uns. Hauptsache genug Macht, habe ich Recht?"
Navaje schwieg. "Du bist unfair", sagte sie schließlich. "Die Menschen, die in Vardell leben brauchen Hilfe. Wir Völker können nicht herrschen. Wir sind zu uneins. Einer muss die Entscheidungen fällen. Ich erzähle dir das, weil ich glaube, dass du dich vorbereiten musst. Du musst wissen, was dich erwartet."
Lui stand auf. "Und wenn ihr uns nicht mehr braucht? Was macht ihr dann mit uns? Uns umbringen?"
Navaje schwieg.
Lui blieb der Mund offen stehen. "Na...Navaje..."
"Ich würde nie zulassen, dass euch etwas passiert. Das weißt du doch!", sagte sie und sah ihn fest an. "Aber sollten sich die anderen drei gegen uns wenden, kann ich nicht viel für sie tun."
"Das werden sie nicht", sagte Lui überzeugt. "Wann gehen wir los?"
"Heute Abend", erwiderte Navaje. Lui nickte und ging aus dem Zelt. Navaje hörte ein lautes Knurren und vier große Pfoten, die in den Wald hineinrasten. Sie fühlte sich ein wenig unwohl, ihm das alles gesagt zu haben. Aber es war nur zu seinem Eigenen Besten. Sie traute den anderen Völkern nicht und sie würde ihnen zutrauen, dass es stimmte, was sie sagte. Außerdem war es besser, wenn die Kinder nicht so viel Kontakt hatten. So konnten sie viel zu schnell Informationen weitergeben, die andere nicht wissen sollten...
Fortsetzung folgt!
Tag der Veröffentlichung: 07.04.2014
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