„Wohin willst du?“
„Weg!“
„Ja, aber wohin?“
Ich schwieg.
„Geht dich nichts an!“, erwiderte ich schließlich.
„Was meinst du damit? Wir sind doch Freunde!“
Ich steckte die Hände in die Jackentaschen. „Freunde.“ Ich schüttelte den Kopf. „Ich brauche keine Freunde!“
Die junge Frau erstarrte. Ich drehte ihr den Rücken zu.
„Warte!“, rief sie verzweifelt.
Ich seufzte, doch ich drehte mich nicht um, damit sie meinen Blick nicht sehen konnte. Ich wollte ja nicht gehen...aber ich musste.
„Bree, lass mich gehen!“, sagte ich leise - und ich war stolz auf mich, dass es fast wie eine Drohung klang.
Ich hörte, wie Bree hinter mir nach Luft schnappte. „ Wir können das gemeinsam schaffen! Du musst nicht gehen! Bleib bei mir, bitte!“ Sie schluchzte. „Außer dir habe ich doch sonst niemanden. Du bist wie eine kleine Schwester für mich!“
Ich sah auf die Haustür. Der braune Lack war schon fast vollständig abgeblättert. Wir standen im Flur. Hinter uns war die brüchige Steintreppe, die sich bis ins 34. Stockwerk erstreckte.
Bree und ich lebten im 21. Stockwerk.
Es waren kleine Wohnungen. Ich hatte sie von Anfang an nicht gemocht. Hatte mich eingeengt gefühlt. Bin wie ein Tiger im Käfig auf und ab gegangen.
Ich zog mir die Kapuze meines blauen Pullovers ins Gesicht und hielt mich an den Riemen meines Rucksacks fest.
„Ich muss, Bree! Bald ist es zu spät!“
„Ich kann dir helfen“, erwiderte sie.
Ich schüttelte den Kopf. „Du weißt, dass du das nicht kannst!“
„Aber - “
„Halt den Mund!“ Ich fuhr herum. Sie wich ängstlich zurück, als sie meinen Gesichtsausdruck sah.
„Wenn ich meinen Namen nicht finde, dann ist es vorbei!“, schrie ich sie an. „Dann werde ich niemals frei sein können! Du hast wohl vergessen, was mit einer wie mir passiert, wenn sie volljährig wird. Die werden mich mitnehmen und - “ Ich biss mir auf die Lippe. Nein, nicht daran denken. Nicht...
„Ich habe es nicht vergessen, Kleine“, sagte Bree sanft. „Diese ... Leute, wieso bist du dir so sicher, dass sie dich finden werden?“
„Meine Mutter haben sie auch gefunden“, antwortete ich, ohne sie anzusehen.
Bree schwieg. „Das tut mir leid.“
Ich ging zur Haustür und öffnete sie zitternd.
„Ich wünschte, ich könnte dich begleiten“, sagte Bree leise.
„Danke“, erwiderte ich. „Wenn alles gut läuft, komme ich wieder.“
„Gib auf dich Acht!“
Ich nickte und zog die Tür hinter mir zu.
Es war kalt und es regnete. Ich war allein in der Stadt. So kam es mir jedenfalls vor.
Das einzige Geräusch, das ich hörte, waren meine Schritte, die von den Häusern widerhallten.
Ich hielt mich von den Straßenlaternen fern. Um diese Zeit erwischt zu werden, wäre glatter Selbstmord für mich. Die Schatten gaben mir Sicherheit.
„Finde ihn!“
Vorsichtig schlich ich weiter.
„Du musst ihn finden!“ Sie schrie auf, als sie einer der Männer an den Haaren mit sich riss.
Ich bog um eine Hausecke und sah mich wachsam um.Bald würde ich die Stadt verlassen haben.
„Mama!“
Ein großer Mann kam drohend auf mich zu. Ich schluchzte und schmiegte mich an die Wohnzimmerwand.
Ich versteckte mich in einem Türeingang, als ich ein paar Schritte hörte. Ich kauerte mich an der Wand zusammen und schloss die Augen. Ich wollte nicht daran denken!
„Kleine!“, rief meine Mutter und wehrte sich in dem Griff des Mannes. „Lasst sie in Ruhe! Sie ist noch lange nicht volljährig! Sie hat ein Recht auf eine Kindheit!“
Ich hielt mir die Ohren zu.
„Lass sie!“, rief der Mann, der meine Mutter festhielt. „Noch bringt sie uns ohnehin nichts und wir haben so oder so schon genug zu tun. Sobald sie volljährig ist, werden wir wissen, wo sie ist!“
Der Mann vor mir fletschte mit den Zähnen.
„Kleine!“, rief meine Mutter verzweifelt. „Du musst ihn finden! Hörst du mich?“
Ich schnappte nach Luft und presste mir die Hand auf den Mund.
Tränen flossen mir über die Wangen. Wieso dachte ich daran? Wieso? Ich wollte nicht daran denken! Ich wollte es vergessen!
Ich zitterte am ganzen Körper und wimmerte leise vor mich hin, bis sie aus der Wohnung verschwunden waren. Und meine Mutter hatten sie mitgenommen...
Die Schritte, die ich gehört hatte, waren verschwunden. Ob ich sie mir nur eingebildet hatte oder ob wirklich jemand die Straße hinauf gelaufen war, konnte ich nicht mit genauer Sicherheit sagen.
Eine Weile blieb ich noch sitzen. Es gab nur eine Möglichkeit, an meinen Namen zu gelangen. Überall hatte ich recherchiert. Ich war in alten Bibliotheken gewesen, in denen die letzten Bücher überlebt hatten.
Ich stand auf.
Es war immer noch verdächtig still.
So lange hatte ich gesucht. So vieles hatte ich gelesen bis ich auf diesen einen Satz gestoßen war:
„Die Suche nach dem eigenenNamen ist eine Reise ohne Ziel. Nur in einer Odyssee kann man zu sich selbst finden und wird möglicherweise zur Erkenntnis gelangen.“
Ich hatte nicht gewusst, was Odyssee bedeutete, also recherchierte ich weiter. Ich lernte viel über griechische Mythen und den Helden Odysseus, der viele Jahre versucht hatte, mit seinem Schiff nach Hause zu gelangen.
Ich zog den linken Ärmel meines Pullovers nach oben. Die schwarze Zahl prangte wie ein ekliges Insekt auf meinem Unterarm.
Ich war Nummer 2129. Ich war kein Mensch. Ich war eine Zahl. Eine unbedeutende, nichtssagende Zahl. Ich gehörte dem Staat. Ich war nicht frei.
Meine einzige Rettung war mein Name. Wenn ich ihn fand, bevor ich volljährig wurde, würde die Nummer auf meinem Arm verschwinden.
Ich lief die Straße hinunter. Da war das Tor. In dieser riesigen Mauer. Dunkel und bedrohlich wirkte es.
Normale Menschen konnten den Bezirk nicht verlassen, in dem sie geboren worden waren.
Ich konnte es.
Ich brauchte nur meinen Daumen gegen den Scanner zu drücken und der Computer würde das Tor für mich öffnen.
Um auf eine Odyssee gehen zu können, musste ich den Bezirk verlassen. Ich musste ins Ungewisse gehen. Irgendwohin, wo ich noch nie gewesen war.
Wie sollte ich ohne ein Ziel zu haben reisen, wenn ich jeden Stein und jede Hausecke kannte?
Außerdem machte mir dieser Bezirk Angst.
Ich schluckte und blieb zögernd stehen.
Wieso eigentlich? Wieso sollte sich das Tor für mich öffnen?
„Wegen den wissenschaftlichen Untersuchungen können Zahlen zwischen den Bezirken wechseln. Sie wurden genetisch verändert, um von den Scannern angenommen und von den Kraftfeldern hinter den Toren nicht eliminiert zu werden.“
Auch diesen Satz hatte ich mir gemerkt.
Bebend hob ich meine Hand.
„Bitte, lass es funktionieren...“, flüsterte ich leise.
Ich schloss die Augen und legte meinen Daumen auf den Scanner.
Nach ein paar Sekunden vernahm ich das Quietschen des Tores.
Ich wurde wach, als ein Rabe neben mir landete und anfing an meinen schwarzen Haaren zu zupfen. Ich verscheuchte ihn, dann griff ich in meinen Rucksack, um etwas zu trinken. Leider war ich als Zahl genauso auf Essen und Trinken angewiesen, wie ein menschliches Wesen. Was würden sie machen, wenn ich volljährig war und meinen Namen nicht gefunden hatte? Wissenschaftliche Experimente?
Ich stammte zwar von einer Maschine ab, aber ich konnte fühlen. Und nicht nur das! Ich konnte auch eigenständig und kreativ denken. Ich hatte meinen eigenen Charakter.
Nachdenklich verstaute ich meine Wasserflasche im Rucksack und zog den Reißverschluss zu.
Ich hatte in einer staubigen Seitengasse gelegen. Ich erhob mich und klopfte meine Sachen ab. Die Gegend hier draußen ähnelte der einer Stadt. Allerdings war sie verlassen und zerstört. Vereinzelte Häuser standen am Rande der Pflasterstraße. Ansonsten war das Flachland um mich herum nur mit Ruinen geschmückt.
Mir waren keine Leute begegnet, seit ich gestern durch das Tor gegangen war.
Ich war allein auf dieser riesigen Straße.
Wieder zog ich meinen Ärmel zurück.
2129
Die Zahl brannte in meinen Augen. Wie sollte ich einen Namen finden, wenn ich nicht wusste, wohin ich gehen sollte?
Ein Schatten flog über mich hinweg. Ich zuckte zusammen und sah nach oben.
Schon wieder dieser Rabe!
Der schwarze Vogel krächzte ein paar Mal und flog davon. Ich blieb stehen und sah ihm nach.
Plötzlich hatte ich das beunruhigende Gefühl, beobachtet zu werden.
Schnell zog ich mir den Ärmel meines Pullovers wieder bis zum Handgelenk hinunter, so dass er die Zahl verdeckte.
Vorsichtig ging ich weiter. Den ganzen Tag lief ich die Straße entlang, ohne mich umzudrehen. Ab und zu machte ich eine Pause, um etwas zu trinken.
Als ich mich auf eine kleine Steinmauer setzte, um etwas zu essen aus meinem Rucksack zu holen, spürte ich plötzlich einen harten Schlag auf dem Hinterkopf und dann wurde alles schwarz.
„Ist sie tot?“
„Ich weiß nicht.“
„Du hast zu fest zugeschlagen!“
„Heul nicht rum! Sie hat noch nicht mal eine Wunde!“
„Man kann auch an inneren Verletzungen sterben, Seth!“
„Die ist nicht tot!“
Ich stöhnte und öffnete die Augen. Rote Flecken tanzten in meinem Sichtfeld. Schnell schloss ich sie wieder.
„Siehst du! Ich hab’ doch gesagt, sie lebt noch!“
Ich blinzelte und sah mich kurz um. Mein Schädel brummte.
Über mich hatten sich ein junger Mann und eine junge Frau gebeugt. Die Wände aus grauem Stein waren in elektrisches Licht getaucht. Unter mir fühlte ich ein raues, zerlöchertes Laken.
Das Licht flackerte. Meine Augen taten sich schwer daran, ihr Umfeld genau wahrzunehmen.
Ich wollte mich aufsetzen, doch das Mädchen drückte mich zurück.
„Nein!“, sagte sie energisch. „Du bist noch nicht in der Verfassung, aufzustehen.“
Ich drückte sie zur Seite und setzte mich auf die Kante des Bettes. Wo war mein Rucksack? Ich sah mich suchend um.
„Keine Sorge, wir haben dir nichts weggenommen!“ Der Junge, den das Mädchen vorher Seth genannt hatte, lehnte sich nun an die Wand und musterte mich.
Ich ignorierte ihn.
„Wo ist mein Rucksack?“, wandte ich mich an das Mädchen.
Sie zögerte. „Ich habe ihn an die Kommode gelehnt. Aber du solltest wirklich noch nicht aufstehen.“
Ich folgte dem Blick des Mädchens. Es war eine große Holzkommode, die den ohnehin schon kleinen Raum noch kleiner wirken ließ. Das Mädchen beobachtete mich aufmerksam.
Ich versuchte mich zu erheben, aber meine Beine wollten mich nicht tragen. Das Mädchen stützte mich schnell.
„Ich bin Mina!“, sagte sie mit einem Lächeln.
Ich nickte nur müde und ließ mir von ihr wieder auf das Bett helfen, auf dem ich mit hängendem Kopf sitzen blieb.
„Und wie heißt du?“, fragte sie freundlich.
Ich kontrollierte, ob der Ärmel meines Kapuzenpullis wirklich bis zu meinem Handgelenk reichte. Ja, die Zahl war nicht zu sehen.
„Hat sie schon etwas gesagt?“ Ein großer, muskulöser Mann stand in der Tür und sah zu Mina und mir herüber.
Seth schüttelte den Kopf. „Sie hat gefragt, wo ihr Rucksack ist, aber einen Namen scheint sie nicht zu haben!“
Entrüstet drehte sich Mina zu ihm um. „Du hast viel zu hart zugeschlagen! Deswegen ist sie so benommen!“
Seth verdrehte die Augen.
Der Mann kam auf mich zu und betrachtete mich eingehend.
„Kannst du mich verstehen?“, fragte er mit tiefer, rauer Stimme.
Ich nickte.
„Tut dir irgendetwas weh?“, fragte er weiter.
„Nein...“, log ich und wich seinem Blick aus.
„Wie wirst du genannt?“
Ich schwieg kurz. „Sie nennen mich Kleine.“
„Wer nennt dich so?“ Der Mann runzelte die Stirn.
„Alle nennen mich so“, erwiderte ich unbestimmt.
Seth gab ein abfälliges Schnauben von sich, worauf Mina ihm einen vernichtenden Blick zuwarf. Nun konnte ich mehr Erkennen. Minas Haare waren schulterlang und hatten eine sehr intensive rötliche Farbe. Ich musste den Blick abwenden.
„Wieso bist du außerhalb deines Bezirkes?“, fragte der Mann. Er hatte sehr kantige Gesichtszüge und kurze braune Haare.
Was wollten sie von mir? Wieso hatten sie mich hierher verschleppt?
„Antworte gefälligst, wenn man dich fragt“, sagte Seth genervt.
Ich wurde wütend. Was dachte sich dieser eingebildete Typ eigentlich?
„Wieso sollte ich?“, fauchte ich. „Weil ihr so super nett zu mir seid? Erst schlagt ihr mich bewusstlos und verschleppt mich hierher und dann soll ich euch auch noch meine Lebensgeschichte erzählen?“
Ein Schmerz durchfuhr meinen linken Unterarm. Ich biss die Zähne zusammen.
„Sei lieber dankbar, dass wir dich hierhergebracht und dich nicht auf der Straße gelassen haben.“ Seth hob das Kinn und sah mit seinen eisblauen Augen arrogant zu mir herüber. „Ansonsten würdest du wahrscheinlich gar nicht mehr leben!“
„Seth!“, fiel der Mann ihm ins Wort.
„Danke! Vielen Dank!“, knurrte ich, mit dem größten Hass, den ich aufbringen konnte. „Aber ich kann auf mich selbst aufpassen!“ Diesmal war der Schmerz in meinem Arm so stechend, dass ich kurz aufkeuchte.
Der Mann sah mich scharf an. „Es reicht jetzt!“
Ich sah zu Boden.
„Seth hat recht!“, fuhr der Mann fort. „Es hat einen Grund, warum wir dich zu uns geholt haben.“
Seth grinste mich arrogant an und ich unterdrückte das Bedürfnis, ihm die Zunge rauszustrecken.
„Da du allein auf der Straße warst, musst du aus einem Bezirk geflohen sein und ganz egal, wie du das geschafft hast. Jemand, der vor dem Staat flieht, ist bei uns immer willkommen.“ Der Mann lächelte. „Wenn wir dich nicht geschnappt hätten, hätten es andere getan.“ Er verstummte und sah mich erwartungsvoll an. Irritiert erwiderte ich seinen Blick.
„Und?“, fragte Mina.
„Und was?“, fragte ich verwirrt.
„Wirst du mit uns kämpfen?“
Ich überlegte schnell. Wenn ich hierblieb, konnte ich meine Reise nicht fortsetzen...allerdings hatte ich sowieso kein Ziel. Und was, wenn mich das Schicksal genau hierher gebracht hatte, damit ich kämpfte? Was, wenn das ein Teil meiner Irrfahrt war? Und wenn ich „nein“ sagen würde? Würden sie mich gehen lassen?
„Ich...Ich muss weiter“, sagte ich verunsichert.
„Wohin willst du?“, fragte der Mann.
„Weg“, erwiderte ich.
Schweigen.
„Du wirst sterben, wenn du nicht bei uns bleibst“, sagte Mina leise „Du hast Glück gehabt, dass sie dich bis jetzt noch nicht gefangen genommen und wegen Verrats zu Tode verurteilt haben.“
Ich holte tief Luft. „Ihr werdet sterben, wenn ich bleibe!“
„Wie meinst du das?“, fragte Seth und fuhr sich durch die hellbraunen Haare.
Vielleicht würden sie mich gehen lassen, wenn ich die Wahrheit sage...
Ich zog meinen linken Ärmel bis zum Ellbogen hoch. „Ich bin kein Mensch!“
Mina schnappte erschrocken nach Luft, als sie die Zahl erkannte.
Seth blieb der Mund offen stehen.
Der Mann lächelte nur. „Verstehe. Du bist auf der Suche nach deinem Namen, richtig?“
Ich nickte.
„Man nennt mich Jay. Ich kann dir helfen.“
Ich folgte Jay durch die dunklen Gänge. Er hatte mir erklärt, dass wir uns in einem riesigen Tunnelsystem unter der Erde befanden. Das alles war viel größer, als ich anfangs gedacht hatte.
Jay blieb vor einer großen Holztür stehen. Er klopfte kurz und trat ein. Ich folgte ihm.
Wir betraten einen kleinen Raum. Er erinnerte mich ein wenig an eine Gefängniszelle. Es gab einen Holztisch und einen Sessel, ansonsten nichts außer nacktem Stein.
„Ordin?“ Jay trat auf den Sessel zu. Darin saß ein alter Mann mit weißen Haaren. Er hatte die Augen geschlossen und die Hände lagen gefaltet auf seinem Bauch.
„Ordin!“
Ich blieb im Türrahmen stehen.
„Nicht jetzt, nicht jetzt“, murrte der alte Mann mit geschlossenen Augen und machte abwehrende Handbewegungen.
„Ich bringe dir interessanten Besuch“, fuhr Jay fort und bedeutete mir, herzukommen. Urplötzlich riss der Alte die Augen weit auf und starrte mich an.
Ich schluckte.
„Kleine, zeig ihm deinen Arm!“, befahl Jay.
Langsam ging ich auf den Alten zu und zog meinen Ärmel nach oben.
Der alte Mann erstarrte. „Das gibt es doch nicht“, flüsterte er und sah mich fassungslos an. Ohne Vorwarnung packte er meinen Arm und zog ihn näher zu sich. „Erstaunlich...erstaunlich“, murmelte er. Dann brummte er etwas Unverständliches in seinen weißen Stoppelbart und schließlich fixierte er mich mit wirrem Blick.
Ich wartete geduldig, obwohl ich mich in seiner Gegenwart sehr unwohl fühlte. Konnte er mir wirklich helfen? Er sah aus, wie ein seniler, verrückter alter Mann.
„Kennst du dich mit Menschen aus?“, fragte er plötzlich. „In ihrer Struktur sind sie alle gleich. Doch was ist mit ihrem Verhalten und ihrem Charakter?“
Wie ein kleines Kind, das ein neues Spielzeug gefunden hatte, sah er mich an.
„Jeder hat seine eigene Art, zu denken, und sein eigenes Verhalten“, erwiderte ich und versuchte seinem Blick auszuweichen.
„Hm“, machte Ordin und hielt meinen Arm noch fester umklammert. „Du sagst mir also, dass die Menschen alle unterschiedlich sind?“
Ich nickte.
„Was ist mit den Erinnerungen eines Menschen? Sind diese auch bei jedem unterschiedlich?“ Er beugte sich vor und sah mir direkt in die Augen.
Ich sah ihn verständnislos an. „Natürlich“, stammelte ich verunsichert.
„Und was ist dann der Unterschied zwischen dir und ihnen?“
„Ich bin eine Zahl“, erwiderte ich. „Ich wurde von einer Maschine geboren, nicht von einem leiblichen Körper.“
„Verstehe“, murmelte Ordin und lehnte sich in seinem Sessel zurück, doch meinen Arm ließ er immer noch nicht los.
Hilfesuchend sah ich zu Jay. Der Typ war doch verrückt!
Der Alte stierte ins Leere und murmelte leise vor sich hin. „Zwischen einer Zahl und einem Menschen besteht kein geringerer Unterschied, als zwischen zwei Menschen. Du bist wie sie. Ich bin wie sie.“
Ich musterte ihn beunruhigt.
„Auch ich habe meinen Namen finden müssen“, sagte er mehr zu sich, als zu mir.
Ich erstarrte. „Du warst eine Zahl?“
Er nickte zerstreut. „Jaja, eine Zahl. Das Versuchsobjekt der Menschheit. Sei froh, dass du keine Erinnerungen mehr an jenen Ort hast. Er ist grausam...sehr grausam.“
Mein Herz schlug schneller. „Wie hast du deinen Namen gefunden?“
„Wie du habe ich mich auf eine Odyssee begeben“, er verstummte. „Bis mir etwas klar wurde. Die Odyssee einer Zahl bezieht sich nicht nur auf eine einzelne Reise. Sie bezieht sich auf das Leben.“
„Das Leben?“, wiederholte ich fassungslos.
„Das Leben ist die Reise, verstehst du?“ Der Alte sah mich an. Sein Blick war so intensiv, dass ich eine Gänsehaut bekam. „Eine Zahl hat kein eigenes Leben. Seit ihrer Geburt, bekommt sie gesagt, was sie zu tun hat, wird weggesperrt und mit Füßen getreten.“
„Aber das wurde ich nicht!“, rief ich verzweifelt. „Das trifft nicht auf mich zu!“
Ordin ließ meinen Arm los. „Doch, es trifft zu. Aber auf eine andere Art. Du musst aufhören, ein Ziel vor Augen zu haben. Unterwirf dich nie wieder irgendjemandem oder irgendetwas! Du musst auf deiner Reise nur reisen...Du musst in deinem Leben nur leben!“
Ich wurde wütend. Konnte er nicht normal mit mir reden? Wieso brabbelte er nur so wirres, unverständliches Zeug?
„Du wirst sehen, sobald du aufhörst zu suchen, wirst du deinen Namen finden.“ Ordin lächelte ein zahnloses Lächeln. „Und nun bring das Mädchen hinaus, Jay. Ich bin müde. Mehr habe ich ihr nicht zu sagen!“
Es war dunkel draußen. Nebel lag auf der Straße. Ich konnte kaum noch erkennen, wo ich hintrat.
Egal. Es gab keinen Grund für mich, auf der Straße zu bleiben.
Nach dem Gespräch mit diesem verrückten, alten Mann, hatte ich meinen Rucksack geschnappt und bin gegangen. Nur Mina hatte versucht mich zu überreden, bei ihnen zu bleiben. Aber wenn ich geblieben wäre, hätten sie nicht nur mich sondern auch die anderen gefunden.
Meine Odyssee war noch nicht beendet. Ich musste weiter.
Es war mir egal, was der Alte mir gesagt hatte! Verzweifelt biss ich mir auf die Lippe. Diese Reise war das Einzige, woran ich mich halten konnte. Sie war meine einzige Hoffnung.
Ich war schon lange von der Straße abgekommen. Halb blind stieg ich über raue Steine.
Es wurde immer anstrengender. Irgendwann realisierte ich, dass ich aufwärts ging.
Nach ein paar Metern begann ich zu klettern. Je höher ich stieg, desto weniger konnte ich sehen.
Ich wollte nicht umkehren! Ich wollte oben ankommen! Wollte auf dem Gipfel dieses Berges stehen und in die Welt hinaus schreien.
Ein Tropfen Wasser strich über meine Wange. Ein Donnergrollen ertönte. Es begann zu regnen.
Ich schluckte. Die Regentropfen waren unangenehm kalt und hart. Ich zog mir die Kapuze über den Kopf.
Vielleicht sollte ich mir doch lieber einen Unterschlupf suchen.
Ich tastete mit den Händen, an den kalten, feuchten Steinen entlang. Hier musste doch irgendwo eine Art Vorsprung sein, wo ich mich verstecken konnte. Nur bis sich das Gewitter wieder verzogen hatte.
Endlich fand ich etwas. Es fühlte sich an wie ein kleiner Spalt. Wieso war dieser Nebel nur so dicht?
Vorsichtig, um auf den nassen Steinen nicht auszurutschen, kroch ich in die Spalte. Als ich trockenen Boden spürte, zog ich den Rucksack aus und kauerte ich mich an dem kalten Stein zusammen.
Mein Atem ging schwer und wurde von einem unheimlichen Echo wieder zurückgeworfen. Ich machte mich so klein wie möglich.
Was war das für ein Berg? Bis jetzt hatte ich immer nur Flachland gesehen.
Ich zitterte. Meine nassen Klamotten waren schwer, doch ich war zu gelähmt von der Kälte. Ich wollte mich nicht bewegen. Ich war müde. Wollte schlafen. Der Stein war so schön warm...
Verzweifelt ließ ich mich zur Seite fallen.
Heiße Tränen rannen über mein Gesicht. Ich bildete mir ein, ihren Aufprall zu hören, als sie von meiner Wange zu Boden fielen.
Tropf. Tropf.
Das war nicht fair! Die Zeit lief mir davon. Wie sollte ich meinen Namen jemals finden?
Es blitzte, gefolgt von einem ohrenbetäubenden Donnern.
Ich schloss die Augen.
Was würden sie alles mit mir machen, wenn sie mich gefunden hatten? Wo würde ich hingebracht werden? Würden sie mir wehtun?
Ich schluchzte.
Ich kannte die Antworten.
Und morgen würde ich volljährig sein...
Ein Rabe krächzte.
Das Geräusch hallte dröhnend in meinen Ohren wieder.
Ich öffnete die Augen.
Goldenes Sonnenlicht ließ die grauen Steine in einer anmutigen, fast königlichen Farbe erstrahlen. Ich setzte mich auf.
Mein Körper sträubte sich gegen jede Bewegung, doch ich biss die Zähne zusammen.
Die Spalte, in die ich gekrochen war, war größer, als ich gedacht hatte.
Wieder krächzte ein Rabe.
Es musste noch früh am Morgen sein.
Ich zog mich am Stein hoch und zuckte unwillkürlich zusammen. Alles tat mir weh.
Mein Pullover war kalt und unangenehm schwer. Ich packte meinen Rucksack und kroch aus der Spalte heraus.
Der Nebel war verschwunden. Der Himmel über mir war rosa und orange. Es war keine einzige Wolke zu sehen.
Ich begann weiter hinaufzuklettern. Der Spalt, in dem ich die Nacht über gelegen war, war knapp unterhalb der Spitze des Berges.
Ich hatte gar nicht gemerkt, wie hoch ich in dem Nebel geklettert war.
Oben angekommen setzte ich mich auf einen kleinen Vorsprung.
Ganz weit hinten am Horizont konnte ich meinen Bezirk mit der riesigen Mauer sehen. Rings um den Berg ragten Ruinen aus dem Boden. Da hinten war die Straße.
Ich zog den Rucksack aus und stellte ihn neben mich. Meine Hände waren blau gefroren.
Mein Atem bildete kleine Rauchschwaden. Ich zerrte den Pullover über meinen Kopf. Nun saß ich nur noch in meinem ärmellosen, schwarzen Top da.
Über mir krächzte ein Rabe.
Mein Blick fiel auf meinen linken Unterarm.
2129
Es war als würde die Zahl mich auslachen. Heute war es zu spät. Heute würden sie mich finden.
Meine Mutter hatte es geschafft von dort zu fliehen.
Ich würde es auch schaffen.
Eine seltsame Gleichgültigkeit überkam mich. Sollten sie mich doch finden! Ich würde mich zur Wehr setzen. Mein Leben lang, wenn es sein musste.
Sollten sie doch versuchen, mich als ihr Versuchsobjekt zu missbrauchen. Sollten sie doch! Ich wusste, dass ich stärker war als sie! Ich wusste, dass ich es schaffen konnte!
Die Sonne kroch langsam hervor. Das Farbenspiel, das sich mir bot, war atemberaubend.
Lächelnd ließ ich die Beine von dem Vorsprung baumeln.
Über mir krächzte ein Rabe.
Ein greller Schmerz durchfuhr meinen Körper, wie einen Blitz. Ich schrie auf.
Mein linker Unterarm begann zu brennen.
Schmerzerfüllt packte ich ihn. Das Bild vor meinem Auge flimmerte. Die Zahl vor meinen Augen verschwamm. Ich schloss die Augen.
So plötzlich wie der Schmerz gekommen war, verschwand er auch wieder. Ich keuchte.
Schweißperlen traten auf meine Stirn. Ich wischte mir mit der Hand über die Augen.
Der Rabe krächzte.
Ich hob den Kopf, sah nach oben in den Himmel. Das Licht der Sonne blendete mich.
„Ich weiß ihn“, flüsterte ich leise. „Ich weiß ihn jetzt!“
Meine Zahl am linken Unterarm war verschwunden.
Ich lachte heiser.
Der Rabe krächzte.
Tag der Veröffentlichung: 07.04.2014
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