Cover

Das Leben danach

„Verpisst euch!“

„Fick dich! Wir gehen nirgendwohin!“

Die Waffe war so schnell auf Marcia gerichtet, dass weder Tyler und Jay noch Elize reagieren konnten.

„Ja, du weißt, was das ist!“ Der rothaarige Junge fuchtelte mit der Waffe vor Marcias Nase herum. So unkontrolliert wie er sie hielt, schien es Elize, als könnte die Pistole jeden Moment losgehen, ob dieser Typ es nun wollte oder nicht.

„Fuck, leg die Waffe weg!“ Einer der anderen Jungen mit braunen Zottelhaaren war anscheinend der selben Ansicht. Die Sonne war fast verschwunden und die Schatten, der zerstörten Häuser, die sie umringten, wurden immer länger und bedrohlicher. Beunruhigt sah Elize sich um.

„Schnauze!“, brüllte der Rotschopf über die Schulter. „Weicheier überleben nicht lange!“

Mit wie vielen hatten sie es ungefähr zu tun? Sechs oder sieben?

„Hey, wir wollen echt keinen Ärger machen.“ Tyler hob besänftigend die Arme. Der Mund des Rothaarigen verzog sich zu einem hämischen Grinsen, als er den Hahn zurückzog und die Knarre diesmal gezielt auf Marcias Kopf richtete. Herausfordernd funkelte das schwarzhaarige Mädchen den ungefähr gleich alten Jungen an. Wieder einmal bewunderte Elize ihren Mut.

„Was ist, Gothic-Girl?“, feixte Rotschopf. „Noch einen letzten Wunsch?“

„Den könntest du mir eh nicht erfüllen!“, zischte Marcia hasserfüllt ohne den Blick abzuwenden. Der Junge biss die Zähne zusammen. Elize bemerkte, dass ihm Schweißperlen auf der Stirn standen. Bekam er etwa Schiss? Und so was nannte sich The King of New York? Erbärmlich! Sie bemerkte, wie sie wieder einen kühlen Kopf bekam. Vielleicht bestand eine Möglichkeit heil aus der Sache rauszukommen.

„Mann! Bitte! Was bringt es dir sie umzubringen?“, versuchte es der kleine Zottelhaar-Typ noch mal.

„Ich muss ihre verdammte Visage nicht mehr ertragen!“, erwiderte der Junge knurrend und legte nun beide Hände an die Waffe, die zu zittern begonnen hatte. Marcia legte den Kopf schief und lächelte gewinnend. „Trau dich!“, befahl sie. „Drück ab!“

Der Rothaarige biss sich auf die Lippe. „Verdammte Schlampe!“, wisperte er.

„Das reicht jetzt!“ Jay packte Marcias Arm, zog sie aus der Schussbahn und rannte mit ihr los, doch bevor der Rotschopf reagieren konnte, hatte ihn Tyler schon zu Boden gerissen. Er war genauso groß und stark wie Mike und hatte deshalb gute Chancen ihn bewusstlos schlagen zu können, doch nicht solange dieser Typ noch eine Pistole in der Hand hielt. Schnell rannte Elize zu den beiden. Der rothaarige Junge wurde zu Boden gedrückt und wand sich unter Tylers Griff wie ein tollwütiger Hund. Elize Blick fiel auf seine Hand mit der Pistole. Sie kniff die Augen zusammen und trat so fest sie konnte zu. Sie hörte den Rotschopf schmerzerfüllt aufschreien und die Pistole auf den Boden prallen. Schnell trat sie die Waffe zur Seite, packte nach Tylers T-Shirt und versuchte ihn hochzureißen, doch genauso gut hätte sie versuchen können, einen Kühlschrank anzuheben. Zum Glück verstand Tyler, dass es nun besser war die Flucht zu ergreifen. So schnell sie konnten, rannten sie aus der dunklen Gasse heraus, bogen um die nächste Ecke und sprangen über den kleinen Stacheldrahtzaun. Ein Schuss ertönte. Dann noch einer.

„Hierher, schnell!“ Das war Marcias Stimme. Sie stand vor einem kaputten Fenster eines Hochhauses. Als sie sicher war, dass Elize und Tyler sie gesehen hatten, kletterte sie flink hindurch. Elize hörte Stimmen hinter sich. Wütende Rufe und mehr Schüsse. So schnell sie konnte, zog sich Elize am Fenstersims hoch, rutschte über die spitze Kante des zerschlagenen Glases und fiel auf der anderen Seite auf den feuchten, dunklen Holzboden. Hinter ihr hörte sie, wie Tyler keuchend auf den Boden prallte, dann wie er die Fensterläden mit einem Ruck hinter sich schloss. Elize setzte sich auf und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. Es war stockdunkel im Raum. Sie zog die Knie an den Körper und atmete tief aus.

„Marcia?“, flüsterte Elize.

„Wir sind hier!“, erwiderte Marcia und berührte Elize am Knie. Mit einem klackenden Geräusch entzündete sich eine Flamme zwei Meter von Elize entfernt. Jay hatte sein Sturmfeuerzeug aus der Tasche gekramt. Tyler seufzte und fuhr sich mit der Hand durch seine kurzen braunen Haare, die wie immer zu allen Seiten abstanden. So langsam konnte Elize Umrisse im Raum erkennen. Sie saßen in einem Wohnzimmer. Ein vermoderter Teppich bedeckte den größten Teil des Zimmers. Auf dem Teppich befanden sich zwei dreckige, altmodisch aussehende Sofas und ein verstaubter Sessel mit einem Kissen. Daneben stand ein kleiner, dreckiger Couchtisch. Soweit Elize sehen konnte, bestand der Tisch aus Glas, doch ganz sicher war sie sich nicht. Der Raum hatte zwei Fenster. Eins durch das sie gekommen waren und ein weiteres daneben. Weiße Rollläden versperrten die Sicht nach draußen, doch das war ihr nur recht. Marcia ließ sich erschöpft neben sie sinken.

„War das echt nötig?“, fragte Jay wütend und setzte sich vor die beiden Mädchen auf den Boden.

„Hey, er hat angefangen!“, verteidigte sich Marcia und zuckte unbeeindruckt ihren kurzen, schwarzen Nietenrock zurecht.

„Verdammt, ich war dabei!“, knurrte Jay ungehalten.

„Beruhig dich!“, hörte Elize Tyler sagen. „Es ist niemand zu Schaden gekommen.“ Er spähte durch einen kleinen Spalt aus dem Fenster und setzte sich dann beruhigt neben Elize. „Ja, diesmal nicht!“, sagte Jay. „Das nächste Mal wird Marcia das Gehirn weggepustet!“ Elize versuchte seinen Gesichtsausdruck zu erkennen, doch dafür warf die kleine Flamme zu viele Schatten. Jay war der Älteste von ihrer kleinen Gruppe. Derjenige, mit dem alles angefangen hatte. Er war 21 Jahre alt, blonde Strähnen fielen ihm wirr über die Stirn und seine Augen waren eisblau und kalt. Keiner, der Jay nicht kannte, würde sich trauen, ihm zu widersprechen. Elize war es am Anfang nicht anders gegangen. Sein Ideenreichtum hatte sie eingeschüchtert und seine Augen hatten ihr Angst gemacht.

„Der hätte sich das eh nie getraut, ey!“, seufzte Marcia genervt. Sie war neunzehn und unberechenbar. Elize und sie hatten viel Zeit gebraucht bis sie sich endlich verstanden hatten. Bei Marcia lag das daran, dass sie Fremden generell nicht traute und Elize zum größten Teil ignoriert hatte. Und was Elize an Marcia erschreckend fand, war ihr dunkles Aussehen. Sie lief oft ganz in schwarz rum mit Netzsachen darüber. Ihre Augen waren immer schwarz geschminkt, was ihr einen bedrohlichen Ausdruck verlieh, da ihre Pupille mit ihrer Iris verschwamm. Manchmal sah sie aus wie eine Leiche. Der Einzige, den Elize von Anfang an gemocht hatte, war Tyler gewesen. Mit seiner offenen, witzigen Art hatte sie sich sofort anfreunden können und er war ihr immer zu Seite gestanden, wenn Elize oder Jay sie damals nicht ernst genommen hatten. Wie Marcia war er neunzehn Jahre alt und war als dritter zu ihrer kleinen Truppe dazugestoßen. Elize war die letzte gewesen. Damals war sie vor ein paar Typen geflüchtet, die ihren Spaß daran hatten, Andere zu quälen. Sie hatten geschrien, dass sie ihr die Augen raus schneiden würden. Wenn Tyler nicht dagewesen wäre und sie mit ins Quartier geschleppt hätte, wäre sie jetzt blind oder sogar tot. Viele beneideten Elize um ihre Augen. Ihre Augenfarbe gab es nirgendwo sonst. Violett. Die radioaktive Strahlung hatte für diesen kleinen Gen-Defekt gesorgt. Ansonsten war sie ganz normal. Braune schulterlange Haare, siebzehn Jahre alt, durchschnittlich groß und unauffällige Klamotten.

„Wir sollten uns von nun an vor diesem Viertel in Acht nehmen!“, brummte Jay.

„Ist doch gut! Mir stinkt es hier sowieso!“, erwiderte Marcia. „Hier gibt es nicht mal richtige Läden, in denen man coole Klamotten finden könnte!“

„Stimmt, hier ist nichts!“, pflichtete Elize ihr bei.

„Was bringen uns Klamotten? Wir suchen nach was Essbarem! Etwas, das weder verseucht noch fünfzig Jahre alt ist!“, meinte Tyler.

„Das stimmt!“, sagte Jay. Er erhob sich und klopfte sich kurz den Staub aus der Jeans. „Es ist schon fast dunkel. Wir sollten nach Hause gehen. Morgen versuchen wir es noch mal und ich erwarte, dass ihr euch diesmal nicht provozieren lasst!“ Er sah Marcia mahnend an, die gelangweilt an ihm vorbei sah.

Elize nickte und stand auf. Marcia hatte sich ebenfalls erhoben. Jetzt griff sie nach Marcias Hand. „Alles okay?“, fragte Marcia und drückte Elize's Hand leicht.

Elize schüttelte den Kopf. „Mir ist so schwindlig...“

Marcia nickte. „Tyler! Du musst sie tragen!“ Tyler nickte nur und hob Elize hoch als wäre sie eine kleine Puppe. Das war eine der Nebenwirkungen, die immer wieder auftauchte und nie ganz verschwand. Sie kletterten aus dem Fenster und machten sich auf den Rückweg gefasst. Sie mieden die kleinen Gassen und hielten ihr zackiges Tempo stur bei. Es war schon spät in der Nacht als sie endlich in ihr Quartier kamen. Eine große Lagerhalle mit Wänden aus Stahl und einer großen metallenen Tür mit einem riesigen Schloss. Absolut einbruchsicher. Es war Glück gewesen, dass sie den Schlüssel zur Tür gefunden hatten. Schon seit fünf Jahren war das nun ihr zu Hause. Zufrieden kuschelte sich Elize in die kratzigen Wolldecken auf der kaputten Matratze. Ihr Vorrat neigte sich dem Ende zu. Sie mussten unbedingt den nächsten Bunker finden. Bunker, die angelegt worden sind, um Lebensmittel lagern zu können, ohne, dass sie verstrahlt wurden. Doch jetzt da die Strahlen alle über vierzig krepieren ließen, wusste niemand so genau, wo diese Bunker genau waren. Zwei hatten sie schon gefunden, anscheinend waren noch acht übrig. Aber wer konnte sich da verdammt noch mal sicher sein? Es war keiner mehr da, der es hätte bestätigen können. Also verließen sie sich auf Gerüchte.

Als sie aufwachte, schmerzten ihre Augen. Sie zog die Decke zurück, setzte sich auf und presste die Handballen auf die Augen. Langsam ebbte der Schmerz ab. Sie seufzte erleichtert.

„Elize?“ Marcia stand in der Tür. „Tut es wieder weh?“

Elize nickte. Sie hob den Blick und versuchte unbesorgt zu lächeln. Doch nach Marcias Blick sah es wohl eher so aus, als würde sie gleich losheulen.

„Komm!“ Sie nahm Elizes Hand und zog sie auf die Beine. „Jay hat Frühstück gemacht.“

Elize nickte. „Ich zieh mich erst um.“

Marcia sah sie besorgt an. „Alles wieder okay?“

„Jaja!“, versichter Elize ihr. „Mir geht’s gut!“

„Hast du wieder nichts geträumt?“, fragte Marcia leise. Elize schüttelte den Kopf. „Nein, da war nur Dunkelheit...“

Marcia lächelte sie gezwungen an. „Das wird schon!“ Sie klopfte ihr ermutigend auf die Schulter. „Beeil dich, sonst werden die Rühreier kalt!“

„Alles klar!“, erwiderte Elize lächelnd. Marcia sah sie noch mal kurz besorgt an, dann ging sie. Elize seufzte wieder und rieb sich die Augen. Benommen tastete sie sich den Weg zu ihrer großen Holztruhe. Darin bewahrte sie all ihre Sachen auf und auch ihre Klamotten. Sie nahm sich frische Unterwäsche, ein frisches Top und eine frische Jeans. Dann verschwand sie in das riesige Bad, das hinten im Lager war. Kaum hatte sie die Tür verschlossen, stürzte sie zum Spiegel. Besorgt betrachtete sie ihr Gesicht. Nach ein paar Sekunden beruhigte sie sich wieder. Sie fuhr sich mit den Fingern durch die Haare und musterte sich. Zeit für eine kalte Dusche.

Nach zwanzig Minuten war sie frisch geduscht und fertig angezogen. Ihre Rühreier waren bestimmt schon kalt. Egal, sie würden ihr auch kalt schmecken. Als sie sich endlich an den Tisch setzte, warteten die anderen drei schon auf sie.

Elize sich vor ihrem Teller auf einem Stuhl nieder und begann zu essen. Die anderen waren erstaunlich still. Es gab kein Gezanke zwischen Marcia und Tyler und auch keine Diskussion, wo sie heute suchen wollten. Marcia saß auf einer großen Tonne, in der sie normalerweise Waffen versteckt hielten. Tyler lehnte an der Wand neben der kleinen Küche und vermied es zu Elize rüber zu sehen. Stattdessen schien er völlig fasziniert vom schwarz weiß gekachelten Küchenboden zu sein. Jay saß Elize gegenüber und sah sie an.

Elize erwiderte Jays Blick und zuckte mit den Schultern. „Is’ was?“, fragte sie verwirrt.

„Schmeckt’s?“, erwiderte Jay. Unruhig sah Elize ihre Freunde an.

„Was ist los?“, fragte sie besorgt.

Schweigen.

„Sag es ihr schon, Jay“, sagte Marcia leise und erstaunlich sanft. Elize steckte ein Kloß im Hals.

„Wir haben...Es wäre besser für dich, wenn - “ Er stockte.

„Jay, red Klartext!“, sagte Elize fest.

„Du wirst heute hierbleiben!“, sagte Marcia als Jay nicht antwortete.

„Was?“ Entsetzt sah sie Marcia an.

„Ich wusste sie wird begeistert sein!“, murmelte Tyler mehr zu sich als zu den anderen.

„Das...das mit...Es wird schlimmer! Wir wollen kein Risiko eingehen. Wir könnten sonst in Gefahr geraten...und so“, schloss Marcia nicht sehr überzeugend.

„Das ist nicht dein Ernst!“, erwiderte Elize fassungslos.

„Wir machen uns nur Sorgen um deine Gesundheit“, sagte Marcia.

„Da gibt’s überhaupt nicht zu diskutieren!“ Jay erhob sich schlecht gelaunt und wandte sich mit einem Ruck um. „Du bleibst hier und Basta!“ Mit diesen Worten schnappte er sich seinen Rucksack und verließ die Lagerhalle. Marcia ließ sich von der Tonne gleiten und sah Elize entschuldigend an. Aber Elize beachtete sie nicht. Sie starrte auf ihr Essen und wartete bis Tyler die schwere Tür hinter sich zug.

Stille. Sie stand auf und ging zu ihrem Schlafplatz. Dort verkroch sie sich unter den Decken und rollte sich so klein wie möglich zusammen. Wie konnten sie ihr das antun?! Sie konnte ihnen nicht helfen, wenn etwas passierte!

Wütend drehte sie sich auf die andere Seite. Wie konnten sie ihr das antun?

„Na, wird die arme Kleine zurückgelassen?“

Elize stockte der Atem. So schnell sie konnte sprang sie aus dem Bett.

„Wo bist du?“, fauchte sie. Wie war dieser Typ hier rein gekommen?

Plötzlich fühlte sie einen Lauf am Hinterkopf. „Beweg dich jetzt bloß nicht!“, zischte ihr der King of New York zu.

„Verdammter Rotschopf!“, fluchte Elize wütend. Wie konnte sie nur so dumm gewesen sein? Sie hatte sich perfekt als Zielscheibe platziert.

„So“, der Atem des Rotschopfs streifte unangenehm ihre Wange „du wirst mich jetzt brav zu euren Vorräten führen!“

„Vergiss es!“

„Gut! Von mir aus! Ich find sie auch ohne dich!“ Er stieß den Lauf der Pistole fordernd gegen ihren Kopf. Dann beugte er sich ganz nah zu ihr vor. Elize bekam eine Gänsehaut als sein Atem ihr Ohr streifte. „Ich kenne dein Geheimnis! Das ist mir schon von ganz Anfang an aufgefallen!“

Elize stockte der Atem. „Was...was meinst du?“

Der Rotschopf drückte sie nach vorne. Er schob sie durch die Lagerhalle bis hin zu einer kleinen Kammer. Die Tür zur Kammer stand offen. Auf dem Boden klaffte ein Loch.

„Das ist der Schacht durch den ich reingekommen bin!“, grinste der Rotschopf. „Ziemlich cool, oder?“ Plötzlich wurde Elize klar, was dieser King of New York vorhatte.

„Warte! Nicht!“, rief sie verzweifelt, doch da hatte er sie schon in den Schacht gestoßen.

Der Aufprall war hart aber früher als erwartet.

„Tja, Süße! Mal sehen, wann sie dich finden!“ Der Rotschopf hatte ein Gitter in der Hand und legte es über den Schacht. Dann hörte Elize ein einrastendes Geräusch und dann das amüsierte Lachen des Rotschopfs. „Viel Spaß im Dunkeln, Süße!“ Er schlug die Tür hinter sich zu und sofort wurde alles schwarz.

Sie spürte wie die Schatten ihr die Luft zum Atmen nahmen. In Panik sprang sie auf und tastete nach dem Gitter. Nackter, rissiger Stein war alles, was sie fühlen konnte. Wo war die Wand? Da war keine Wand. Nur der Betonboden, die Steindecke und die Schatten, die sie zu zerdrücken drohten. Nach Luft japsend, kauerte sie sich auf den Boden zusammen. Eine Weile lag sie nur so da. Traute nicht, sich zu bewegen. Was mache ich jetzt?

Sie kroch auf allen vieren umher, stand wieder auf, tastete die Decke ab. Sie schrie. Trommelte verzweifelt mit den Fäusten gegen die Decke und weinte.

Sie war nachtblind...schon als ganz kleines Kind! Ein weiterer Gen-Defekt. Sobald die Sonne verschwunden war, konnte sie nichts mehr sehen. Den Mond und die Sterne nahm sie nicht einmal war. Sie hatte tierische Angst vor Dunkelheit. Wie konnte dieser Idiot ihr das antun? Woher kannte er ihre Schwäche? Schluchzend wiegte sie sich auf dem Boden hin und her. Die Schatten griffen mit langen dünnen Fingern nach ihrem Brustkorb und ihrem Hals und umschwebten sie mit ihrer Kälte. Ich habe Angst....Ich hab solche Angst!

„Elize?“

Tyler...?

„Elize! Bist du da?“

„Tyler!“ Elizes Stimme war nur ein heiseres Flüstern. „Ich bin hier!“

Plötzlich wurde ihr direkt ins Gesicht geleuchtet und dann umarmten sie zwei starke Arme. „Ich bin zurückgegangen, weil ich mir Sorgen gemacht habe, da hab ich gemerkt, dass dieser Vollidiot hier ist. Seine Gang steht vor dem Tor und er hat sie grad alle reingelassen. Ich bin dann um die Lagerhalle rumgeschlichen. Ich kenne den Schacht und dann habe ich jemanden schluchzen gehört und...“ Er verstummte. „Geht es dir gut?“

Elize nickte und wischte sich die Tränen weg. „Ich danke dir...“, flüsterte sie.

Tyler drückte sie kurz. „Komm! Wir gehen zu den anderen. Jay hat glaub ich etwas entdeckt!“

„Ok.“

Tyler führte sie sicher aus dem dunklen Schacht. Als Elize wieder sehen konnte, ging es ihr viel besser. Jay und Marcia hatten tatsächlich etwas entdeckt. Eine kleine intakte, schöne, große Wohnung im Nord-West-Viertel der Stadt. Als Elize an diesem Abend ins Bett kroch gab es keine kratzigen Wolldecken sondern richtige Bettlaken mit Daunendecken. In Tylers Armen schlief sie erschöpft ein und träumte das allererste Mal in ihrem Leben von Farben...

 

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 07.04.2014

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /