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Prolog

„Was passiert, wenn du in einer Welt bist, aus der du nicht wieder herauskommst? Eine Welt, die dir völlig fremd, doch ebenso vertraut vorkommt. Diese Welt soll dein neues Zuhause werden. Es gefällt dir gut in ihr. Du liebst die Bräuche. Die Luft. Die Landschaft. Du willst überhaupt nicht mehr zurück! Doch was passiert, wenn diese Welt angegriffen wird? Angegriffen von einer bösen Macht! Mächtiger als wir alle!“ Die Kräuterhexe seufzte. Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und sah den Jungen vor sich scharf an. Er war etwa fünfzehn Jahre alt, hatte braunes, zerzaustes Haar und giftgrüne Augen.
Der Junge hatte zu Boden gesehen und der Hexe gelauscht, doch nun hob er den Kopf und seine grünen Augen sahen sie genauso fest an wie sie ihn.
Eins muss man dem Jungen lassen, dachte die Hexe überrascht.
Er hat Mut! Erst hat er mich aufgesucht und jetzt kann er sogar meinem Blick standhalten.
Schließlich musste der Junge den Blick abwenden.
„Waren das die Antworten auf deine Frage?“, fragte die Kräuterhexe. Der Junge sah wieder zu ihr auf.
„Nein!“, sagte er. „Das heißt, wenn sie es waren, dann nützen sie mir nichts.“
„Im Moment vielleicht noch nicht, Kleiner!“, krächzte die Alte. „Glaub mir, wenn der Moment gekommen ist und du sie siehst, dann wirst du es verstehen!“
Wütend sah der Junge sie an. „Wenn du so viel davon weißt, warum verschweigst du mir es dann?“
Die Hexe lachte. „Du wirst es verstehen!“ Durchdringend sah sie ihn an.
Und das erste Mal, seit er die Hütte der alten Frau betreten hatte, bekam der Junge eine Gänsehaut. Schließlich erhob er sich.
„Danke für die Informationen!“, sagte er steif.
Die Kräuterhexe sah ihn schelmisch an. „Wirst du mich schon verlassen?“
Der Junge nickte. „Ja, ich werde wieder zurückgehen. Hab Dank!“
Mit diesen Worten drehte er sich um und ging aus der Hütte. Draußen holte er tief Luft. Wie oft hatte ihm sein Ziehvater eingeschärft, dass er keine Angst zeigen dürfte. Niemals! Und erst recht nicht in der Nähe einer Kräuterhexe.
Der Junge schüttelte sich kurz. In dem Hexenhaus war es sehr stickig gewesen und er war froh, endlich wieder frische Luft einatmen zu können.
Es war schon Abend und der Wald wurde von den letzten Strahlen der Sonne beschienen. Er sah sich kurz um, dann machte er sich auf den Rückweg.


Kapitel 1

Weißer Nebel lag um den Bäumen und deckte das Mädchen sanft zu. Lees Elbenkleidung wehrte die Kälte ab und ließ sie weiter in ihrer Position verharren. Ihre blonden Haare hatte sie in einem Pferdeschwanz zusammen gebunden. Wie lange sie schon so da saß, wusste sie nicht. Neben ihr lag ein weißer Wolfswelpe mit einem schwarzen Fleck auf der Stirn. Die Muskeln angespannt und die Ohren wachsam aufgestellt. Die kleine Nase zuckte, während die kleine Wölfin Witterung aufnahm. Lilian war größer geworden. Sie war genau zwischen dem Stadium des Jungwolfes und dem eines Welpen. Etwas raschelte links von dem Mädchen. Lee zog ein Messer. Ein Hase sprang auf die Lichtung und sah sich ängstlich um.
Lilian!, befahl Lee. Der Welpe erhob sich und schlich sich näher an den Hasen heran.
Jetzt!, rief das Mädchen. Lilian sprang aus dem Dickicht heraus, als sie Lees Gedanken in ihrem Kopf hörte. Der Hase hob erschrocken den Kopf, doch da war es schon zu spät. Der Jungwolf hatte ihn mit einem gezielten Biss sofort das Genick gebrochen. Lee grinste und kroch ebenfalls aus dem Dickicht heraus.
Gut, Lilian!, lobte sie den Welpen. Lilian sah sie selbstzufrieden an. Lee packte den Hasen an den Hinterbeinen und hob ihn hoch, um ihn zu begutachten. Es war ein gewöhnlicher brauner Feldhase.
Gehen wir zurück, sagte Lee. Lilian wedelte freudig mit dem Schwanz, während Lee den Hasen in einen braunen Lederbeutel steckte. Das Mädchen spannte die Sehne ihres Bogens ab und machte sich mit Lilian auf den Rückweg in die Elbenstadt.
Sie lebte erst seit anderthalb Monaten dort. Wie immer, wenn sie bis jetzt durch diesen Wald gegangen war, wunderte sie sich wie groß und mächtig die Bäume in diesem Wald waren. Der Wald, der in einer anderen Welt lag.
Lee starrte auf den Weg vor sich. In der Welt, in der sie sich jetzt befand, gefiel es ihr besser, als in der aus der sie eigentlich stammte. Eigentlich, war Lee ein ganz normales Mädchen, dass in einer ganz normalen Welt gelebt hatte und einfach nur versucht hatte ganz normal zu sein. Doch das war ihr nie gelungen, denn sie hatte eine ganz besondere Gabe. Sie verstand die Gefühle der Tiere und die Tiere verstanden ihre Worte. Nur geantwortet hatte ihr keines der normalen Tiere. Außer die Tiere, die wollten, dass sie diese hörte. Doch meistens redeten die Tiere in Gefühlen. Worte waren ihnen so fremd, wie für Menschen ein intensiver Blickkontakt.
Ja, Lee, ein ganz normales Mädchen von dreizehn Jahren, war so versessen darauf gewesen ihren Vater wiederzufinden, dass sie wegen ihm mit ihren Freunden bis nach Nordamerika gereist war und ihn aus den Klauen einer Schamanin befreit hatte. Während dieser Reise hatte sie viele Freunde gefunden, doch auch viele Feinde. Und sie hatte Lilian gefunden. Lilian!
Ihr Blick wanderte zu dem kleinen Jungwolf mit dem weißen Fell und dem schwarzen Fleck auf der Stirn, der munter neben ihr hertrabte.
Lilian war ihre Verbündete. Sie hatte sich innerlich mit Lee verbunden, was leider bedeutete, dass sie irgendwann verschwinden und in sie übergehen würde.
Lee schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter.
Dann würden sie nicht mehr zu zweit sein sondern nur noch einer. Eine Person.
Lee atmete tief ein.
So etwas nannte man „Seelenwolf“. Lee war ein Seelenwolf, allerdings erst, wenn Lilian in sie überging. Auch ihre Freunde, die aus Jenny und zwei weiteren Jungen, Jan und Lui bestanden, hatten Verbündete gefunden. Allerdings war Luis verbündeter Welpe getötet worden, doch Lui hatte das Blut seines Welpen, Luke, in sich gehabt, weswegen er in einen Wolfskopf gewandelt war.
Lee brummte der Kopf.
Das war so verdammt kompliziert.
Mit einem resignierten Seufzen blieb Lee schließlich stehen und sah auf den Boden, als wollte sie ein Loch in ihn hinein brennen.
Verbündete?, fragte Lilian vorsichtig und schmiegte sich an sie. Lee lächelte ihr gequält zu und streichelte über ihren Kopf.
Was quält dich?, fragte der Jungwolf.
Alles, was passiert ist, sagte Lee leise, All das...habe ich noch nicht ganz verkraftet!
Lilian schmiegte sich enger an sie.
Und ich will nicht, dass du irgendwann gehst, sagte Lee und kniete sich zu ihr herunter, um sie in die Arme zu schließen. Lilian drückte sich fest in ihre Umarmung. Sie hatte den Schwanz eingeklemmt und winselte.
Ich will auch nicht von dir gehen!, winselte der Welpe. Ich will immer bei dir bleiben! Für immer!
Ich will auch, dass du für immer bei mir bleibst!, erwiderte Lee und griff in ihr weiches Fell. Es war noch das flaumige Welpenfell, das man auch bei ganz jungen Katzen so gern hatte.
Lilians Zunge fuhr über ihr Gesicht. Dann bleiben wir einfach für immer zusammen!, sagte sie zuversichtlich.
Lee lächelte sie an. Dann kicherte sie, weil Lilians Zunge erneut über ihre Wange fuhr.
Sie begreift es noch nicht, dachte Lee und streichelte noch einmal über ihren Kopf, bevor sie sich wieder erhob. Sie ist noch zu jung!
Lilian sprang glücklich voraus. Zuversichtlich, auch dieses Problem gelöst zu haben. Lee sah ihr nach, als sie plötzlich jemand von hinten ansprang und zu Boden riss.
Lilian drehte sich auf der Stelle knurrend um und sprang auf den Angreifer zu, doch Lee lachte nur. Lui hatte sie ganz schön erschreckt.
„Erschrocken?“, fragte der Junge grinsend. Lee rappelte sich wieder auf und gab ihm einen leichten Schubs. Lilians Knurren verwandelte sich in ein aufgeregtes Kläffen. Freudig trabte sie auf Lui zu und schmiegte sich an ihn, während er ihr lachend über den Kopf strich.
„Musst du dich immer so anschleichen?“, fragte Lee ihn gut gelaunt.
Der Junge fuhr sich durch das blonde Haar. „Naja, ich dachte, das wäre eine nette Überraschung.“
Das Mädchen sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an.
„Soll ich jetzt etwa laut ‚Juhu’ rufen?“
Lui grinste schelmisch. „Wieso nicht?“
Lee lachte. „Was machst du eigentlich hier?“
„Ich habe dich gesucht“, sagte Lui und sah sie leicht verlegen an. Lee lächelte.
Es gab eine Zeit, in der Lui weder lustig war noch Scherze gemacht hatte. Die Zeit, nachdem Luke gestorben war, sein Verbündeter schwarzer Welpe mit dem weißen Fleck auf der Stirn. Und die Zeit, nachdem er sich in einen Wolfskopf verwandelt hatte. Nachdem er sich in einen Wolf verwandelt hatte, so groß wie ein Pferd. Ein schwarzer Wolf mit einem weißen Fleck auf der Stirn. Auch nach Sasuuns Tod, eine Schamanin, die Luis, Lees und die Kräfte von ihrem Vater haben wollte, war er nicht wieder er selbst gewesen. Erst als Lui, Lee, Jan und Jenny mit Navaje durch das Portal geschritten waren, das in diese Welt führte, war er wieder so wie immer. Nett, witzig.....der Junge, den Lee so gemocht hatte. Er war nicht mehr andauernd nur in seiner Wolfsgestalt, wie er es damals gewesen war. Er war wieder ihr bester Freund.
„Wo sind eigentlich Jan und Jenny?“, erkundigte sich Lee. Lui zuckte mit den Schultern.
„Keine Ahnung! Aber höchst wahrscheinlich sind sie irgendwo zusammen!“
Lee nickte. Scherzend und lachend gingen sie weiter, als schließlich die Mauer in Sicht kam.
Die gelbe Elbenmauer hinter der sich die Elbenstadt mit dem Schloss befand. Ein großes stabiles Holztor war der Eingang. Es war mit altmodischen Schnitzereien verziert und am Rahmen wanden sich in Stein gemeißelte Muster in die Höhe.
Lui ging zielstrebig auf das Tor zu. Sein blauer Elbenmantel passte unwahrscheinlich gut zu seinen braunen Augen.
Mit drei kräftigen Faustschlägen schlug Lui an das Tor, während Lee und Lilian stumm warteten. Eine schmale Schiebeluke wurde auf Augenhöhe geöffnet.
„Was ist euer Begehr?“, fragte eine grobe Männerstimme.
„Wir bitten um Einlass!“, sagte Lui und grinste dem Mann entgegen, der bei Luis Anblick angefangen hatte freundlich zu lächeln.
„Ihr seid es!“, sagte der Mann. Seine Stimme hatte den groben Klang verloren. „Ihr wart aber schnell!“
Lui lachte. „Ja, Kalim! Ich freu mich auch dich wieder zu sehen!“
Das Gesicht des Mannes legte sich in tiefe Lachfalten.
„Rotzlöffel!“, sagte er. Dann drehte er sich zu seinen Kameraden um. „Öffnet das Tor!“, rief er ihnen zu.
Lui trat ein paar Schritte zurück, während das Tor langsam nach außen aufschwang. Schnell schlüpften Lee, Lilian und er hinein, so dass sie das Tor nicht ganz öffnen mussten. Kalim kam auf sie zu und zog Lui leicht an der Nase.
„Rotzlöffel!“, lachte er erneut und wuschelte ihm durchs Haar. Dann wandte er sich an Lee und Lilian. „Na, hübsches Fräulein?“, fragte er augenzwinkernd. „Wie war die Jagd?“
„Einen Feldhasen!“, antwortete Lee schulterzuckend. „Mehr nicht!“
„Na, das ist doch immerhin etwas!“, erwiderte Kalim.
Lee lächelte und winkte ihm zu, während sie mit Lui in die Stadt hinein lief. Sie mochte die Elben. Ihre bequemen, vornehmen Kleidungen. Ihre spitzen Elbenohren und ihre Fertigkeiten zu kämpfen und zu trainieren. Es waren einfach sehr freundliche, hilfsbereite Wesen.
Die Elbenmauer war rund um die Stadt gezogen. Eigentlich konnte man es nicht mehr ‚Stadt’ nennen. Es gehörten auch noch Weideland und Äcker dazu. Es war ein eigenes kleines Land umringt von der riesigen gelben Mauer, die sich mindestens dreißig Meter in den Himmel erstreckte. Wenn die Sonnenstrahlen, während einem Sonnenuntergang, auf die Mauer trafen, schimmerte sie golden und war so wunderschön, dass Lee fast jeden Abend auf einen der Weideplätze wanderte, um es sich anzusehen. Während sie durch die Stadt liefen, fragte sich Lee, als was die Elben sie wohl sahen. Als Helden? Oder doch eher, als Unglücksbringer? Schließlich waren sie ja die Kinder, die in der Prophezeiung vorkamen, und somit quasi durch ihr Auftreten den Krieg eröffneten.
Die Häuser der Elben waren kaum zu beschreiben. Sie selbst sahen nicht sehr viel anders aus, als die Häuser in Lees Welt mit den Strohdächern, allerdings waren sie hier um einiges größer und wirkten viel edler. An jedem Haus wuchs ein Baum. Er prangte an einer der Hausmauern und verlieh dem Haus die Kraft Stürmen stand zu halten und nicht Feuer zu fangen. Das hatte ihr Navaje erzählt.
„Die Elben sind ein sehr naturfreundliches Volk“, hatte sie gesagt. „Sie wollen so nah wie möglich mit dem Wald und den Tieren verbunden sein!“
„Was passiert wenn der Baum stirbt?“, hatte Jenny neugierig gefragt.
„Dann bricht das Haus zusammen!“, hatte Navaje ausdruckslos erwidert. „Aber das wird nicht so schnell passieren. Bäume können sehr alt werden und mit der Zauberkraft der Elben sogar noch älter!“
Lee sah sich um, während sie an den Häusern vorbei liefen. Plötzlich seufzte Lui neben ihr.
„Was hast du?“, fragte Lee.
„Ich frage mich, wann sie uns endlich die Prophezeiung zeigen“, sagte er ungeduldig. „Wir sind nun schon seit mindestens zwei Monaten hier und haben unsere Eltern bestimmt schon zweimal besucht. Ich will diese Prophezeiung wissen!“
Lee schmunzelte. „Ach ja, wo wir gerade dabei sind: Was haben deine Eltern eigentlich gesagt?“
Lui schwieg und ging energisch weiter. Sein Blick war ausdruckslos. Lee überlegte, ob sie die Frage wiederholen oder ihn besser in Ruhe lassen sollte, da brach er das Schweigen:
„Sie wollten, dass ich wieder zu ihnen zurückkomme. Ich musste ihnen erklären, dass ich in diese Welt nicht mehr hinein passe“, er seufzte, „doch das hat sie nicht gekümmert. Sie meinen, dass sie so eine Art Besitzrecht auf mich haben!“ Er lachte leise. „Sie haben mich in mein Zimmer gesperrt, ich habe ihnen einen Zettel hingelegt und bin abgehauen. Ich habe mir echt Mühe gegeben nicht wütend zu werden. Hätte ich mich nicht mehr kontrollieren können, hätte ich mich verwandelt und sie vielleicht sogar umgebracht!“
Lee schüttelte den Kopf. „Das glaub ich nicht!“, sagte sie fest. „Das würdest du nicht tun! Du hast dich immer unter Kontrolle gehabt!“
„Und was wenn ich mich einmal nicht unter Kontrolle habe?“, fragte Lui gereizt. „Davon habe ich doch gerade geredet!“
„Aber das wird nicht passieren!“, erwiderte Lee energisch.
Lui schnaubte wütend und starrte auf den Weg, den man eher als einen breiten Feldweg beschreiben könnte. Die Straße ging nun in die Höhe und führte auf einen Hügel auf dem ihr Haus lag.
Ja, sie hatten ein Gästehaus bekommen.
Es barg genau genug Platz für jeden von den vier Kindern. Das Dach war ein schwarzes Strohdach, das die Elben für sehr lange Zeit haltbar gemacht hatten. Und an der Hausmauer stand eine riesige, mächtige Birke, die dem Haus Kraft verlieh. Direkt hinter dem Haus lag eine große Wiese, die an einem Bach endete. Von dort konnte man auf die ganze Elbenstadt sehen. Und etwas weiter östlich von ihrem Haus, sah man das Schloss. Es stand auf einem weiterem Hügel, der um einiges größer war, als der auf dem ihr Haus lag. Das kleine Schloss war von dem selben Stein wie die Mauer und glänzte genauso prachtvoll in der Abendsonne. Wegen seinen vielen Türmen und den schönen Zinnen, den grünen Verzierungen, die sich wie Efeu in die Höhe rankten und dem geborgenen Ausdruck war es das schönste Schloss, das Lee je gesehen hatte.
Lui stieß die Tür zu ihrem Haus auf. Er war immer noch wütend, wahrscheinlich weil er wieder an seine Eltern dachte.
„Verdammt!“, rief er schließlich. „Weißt du, was ich am meisten hasse?“
Lee sah ihn erschrocken an.
„Das jemand wie du mir sagt, was ich bin und wie ich mich verhalten soll!“, fauchte er.
„Hey!“, rief Lee wütend. „Ich hab dir weder gesagt, was du bist noch wie du dich verhalten solltest! Ich hab nur gesagt, dass du nicht so unkontrollierbar bist, wie du glaubst!“
Wütend sah Lui sie an. „Woher willst du das wissen?“, rief er zornig. „Du hast keine Ahnung, wie ich mich fühle!“
Lee stockte.
Lui kam näher. Er sah sie an wie ein wildes Tier. „Oder besser gesagt, wie ich mich gefühlt habe. So....hilflos! Bis ich es geschafft hatte...mich überhaupt einigermaßen zu kontrollieren!“ Er sprach gefährlich leise.
Lee bekam eine Gänsehaut. Seine braunen Augen waren in die bernsteinfarbenen des Wolfes übergewechselt. Das Mädchen trat einen Schritt zurück.
Er hatte Recht! Sie hatte keine Ahnung, wie gut er sich unter Kontrolle hatte. Als die Menschen damals den Wald angegriffen hatten, hatte er als erster angegriffen, weil er es nicht mehr aushalten konnte. Woher sollte sie also wissen, ob er sich überhaupt kontrollieren konnte?
Lilian winselte, vermischte allerdings noch tapfer ein paar Knurrlaute mit hinein. Schließlich verkroch sie sich hinter Lee. Das Mädchen stolperte noch weiter zurück, nur um nicht mehr so nah bei ihm sein zu müssen. Seine bernsteinfarbenen Augen verengten sich zornig.
„Siehst du?“, lachte er gefährlich. „Sogar, du bekommst Angst vor mir! Obwohl du eben noch gesagt hast, ich würde so etwas nie tun!“ Er kam einen Schritt auf sie zu.
„Komm nicht näher!“, keuchte Lee. Sie hatte wirklich nie gewusst, wie weit Lui gehen würde.
Lilian presste sich an sie. Sie war zwar tapfer, aber ihre Tapferkeit wurde von Lees Angst überwogen.
Der Junge blieb verblüfft stehen. Seine Augen wandelten sich wieder in seine normale Farbe, braun, zurück. Verletzt sah er zu ihr hinüber, dann sah er schockiert auf seine Hände.
„Lee...es...“, stammelte er vorsichtig, während er langsam auf sie zuging. Lee bewegte sich nicht.
„Lee! Ich wollte nicht....so...“ Er stand nun direkt vor ihr und sah ihr in die Augen. Lees Herz pochte immer noch vor Angst.
Lui hob eine Hand und strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht. Er schluckte. „Tut mir leid!“, sagte er leise.
Dann zog er sie gleichzeitig zu sich heran und Lee ließ sich fallen. „Ich würde dir niemals...“ Er ließ den Satz in der Luft stehen.
„Ich weiß!“, sagte Lee leise.


∼ξ ∼ ψ ∼ ζ∼


Jamies Fell war so schön weich. In der Sonne glänzte es so hell, dass man nicht direkt hinein sehen konnte. Jenny saß auf einem Felsen, der sich am Ufer eines Sees befand. Jamie, ihr kleiner weißer Welpe, hatte sich an sie gekuschelt. Hinter ihr knackte es und Jan tauchte auf. Er setzte sich neben sie auf den Felsen. Er war der erste von den vier Freunden, der sich in einen Seelenwolf verwandelt hat. Es war immer noch schwer für ihn zu verstehen, dass sein Welpe Jason ihn nicht verlassen hatte, sondern immer noch bei ihm war.
Jenny wollte gar nicht wissen, wie furchtbar es für ihn gewesen sein musste, als Jason in ihn überging. Sie konnte sich nicht vorstellen, Jamie zu verlieren.
„Ähm...Jenny?“, fragte Jan sie.
Jenny sah zu ihm herüber. Er schien nervös zu sein.
„Was hast du?“, fragte sie.
„Also...ich...ich wollte“, stammelte Jan und schluckte.
So hatte er sich noch nie benommen! Er war der große Sprücheklopfer! Verwirrt sah ihn Jenny an.
„Ich wollte dich fragen...naja also, weißt du...ich hab nachgedacht!“, sagte er schließlich und wartete nervös auf eine Antwort.
Jenny zog eine Augenbraue hoch. „Da kam sicher nichts Gutes bei raus!“
„Was?“, fragte Jan verwirrt. Dann sah er sie empört an. „Hey! Was-“
Jenny kicherte. „War nur’n Witz!“, sagte sie und stieß ihm freundschaftlich einen Ellbogen in die Rippen. Ihr braunes, schulterlanges Haar wippte dazu leicht im Takt.
Jan schien sich wieder zu sammeln und wollte es gerade mit einem neuen Versuch starten, als Jenny ihm zuvorkam:
„Ach, noch was! Hör auf, so zu stottern!“ Sie grinste ihn frech an.
Er grinste zurück. „Keine Sorge! Jetzt kann ich wieder normal reden!“
Er fuhr sich mit der Hand durch sein rotbraunes Haar.
„Ich wollte dir nur sagen, dass ich dich...“
„Leute! Man, endlich habe ich euch gefunden!“, rief Lee. Lilian sprang auf den Felsen und versuchte die müde Jamie zum Spielen aufzufordern.
„Der König verlangt nach uns!“, fuhr Lee atemlos fort, die gerade neben Jenny auftauchte. „Wir werden endlich die Prophezeiung erfahren!“
„Ist ja nicht zu fassen!“, rief Jenny aufgeregt und schwang sich vom Felsen, während die beiden Welpen ausgelassen herumtobten und Jan genervt zum Himmel aufsah.
„Komm schon, Jan!“, rief Lee ihm zu.
Jamie und Lilian, die beiden Welpen, jagten sich schon gegenseitig in Richtung der Elbenstadt.
„Jaja“, brummte Jan. „Ich komm ja schon!“ Dann ließ er sich vom Felsen rutschen und folgte Lee und Jenny wieder zurück zum Tor.


Kapitel 2

„Ihr wisst sicherlich alle, warum ihr hier seid!“ Der Elbenkönig sah die Kinder unverwandt an. Er war groß und schlank. Sein braunes Haar war schulterlang und über seinen spitzen Ohren hing eine goldene Krone, die eher an eine schmale, goldene Efeuranke erinnerte.
„Wir sind uns nun sicher“, fuhr der König fort, „dass ihr die Kinder aus der Prophezeiung seid.“
„Eure königliche Hoheit Evallan“, sagte ein Mann. Er schien Ende dreißig zu sein, war relativ groß und hatte schulterlange schwarze Haare. „Ihr solltet zur Sache kommen!“
Lee zog eine Augenbraue hoch. Dieser Mann wagte es, einen König zu unterbrechen. Doch König Evallan schien nicht erzürnt zu sein.
Er drehte sich mit ausdruckslosem Gesicht zu dem Mann um, der auf einem Stuhl saß, die Beine auf die Steintafel gelegt hatte und fast gelangweilt zu König Evallan hinaufsah. Neben ihm saß eine Elbenfrau mit wunderschönem, langem, weißblondem Haar, das sie zu einer komplizierten Frisur hochgesteckt hatte, im Raum. Navaje stand hinter den vier Kindern. Lilian und Jamie saßen neben Lee und Jenny und sahen sich neugierig um. Außer ihnen standen noch zwei Wachen an der großen Flügeltür, durch die sie gekommen waren.
„Falem!“, erwiderte der König. „Keine Sorge! Es drängt nicht.“
Falem sah mit einem fassungslosem Blick zu der Frau, die eine Augenbraue hochzog.
„Es drängt nicht?“, fragte Falem. Langsam nahm er die Beine vom Tisch und erhob sich. „Da draußen sterben Menschen. Jeden Tag aufs Neue“, sagte er, als wollte er es dem König nur mal so mitteilen, „Kinder, Frauen, alle unschuldig!“
Er schritt auf den König zu und sah ihm fest in die Augen. „Da draußen sind Kriege! Kriege, die noch nicht vorbei sind. Die immer weiter geführt werden, wenn wir nicht sofort etwas unternehmen – Eure Hoheit!“ Er spuckte es fast sarkastisch aus. „Das ganze Leid könnte nun ein Ende haben, wenn wir uns nicht mehr mit irgendwelchen Höflichkeiten aufhalten würden! Und du kommst und sagst: Es drängt nicht!?“
Der König hob die Hand und legte sie auf Falems Brust, als ob er ihn zurückhalten wollte.
„Falem!“, sagte Evallan streng. „Ich weiß deinen Eifer zu schätzen, doch gönne den Kindern etwas Zeit. Du siehst doch, wie aufgeregt sie sind!“
Falems Blick fiel das erste Mal auf die vier Freunde und er trat verächtlich ein paar Schritte zurück.
„Sie sind etwas jung, findest du nicht?“, meinte er ausdruckslos. Dann ging er auf sie zu.
„Wie alt bist du?“, fragte er Lui.
„Dreizehn!“, antwortete der Junge steif. Es schien eindeutig zu sein, dass er Falem nicht mochte. Auch Lee war der Mann absolut unsympathisch. Mit einem Kopfschütteln drehte sich Falem wieder zu Evallan. „Das sind keine Kinder! Das sind noch kleine, verspielte Hupfdohlen!“
Jan ballte die Fäuste. „Wir sind keine Hupfdohlen!“, rief er wütend. „Komm nur her, dann zeige ich dir, was für eine Hupfdohle ich bin!“
Falem sah sich grinsend zu Jan um. „Meinst du ich habe Angst vor dir bloß, weil du ein Seelenwolf bist?“
Er wirkte so selbstsicher, dass Jan für einen Moment verwirrt innehielt. Plötzlich sprach Navaje mit fester, strenger Stimme:
„Lass sie in Ruhe, Falem!“
Falems Blick richtete sich auf Navaje.
„Sie sind nicht nur ‚kleine Hupfdohlen’, wie du sie nennst!“ Navaje schritt vor die Kinder und funkelte den Mann an. Plötzlich mischte sich die Frau ein. Ihre Stimme war weich und sanft und sehr angenehm. „Falem! Hör auf, unsere Gäste zu reizen!“
Sie sagte es so freundlich, dass man keinen Befehl heraushören konnte.
„Meine liebe Sahara, ich wollte damit keinesfalls andeuten, dass sie dieser Aufgabe nicht gewachsen wären. Ich habe nur gemeint, dass sie noch etwas zu jung sind, findest du nicht auch?“
Sahara? Sie hieß genau wie die Wüste in Afrika. In der anderen Welt.
„Sie haben uns schon einmal gerettet und könnten es nach ihrer Ausbildung sogar mit dir aufnehmen!“, erwiderte Navaje. Ihr Blick war immer noch auf Falem gerichtet.
„Ach wirklich? Das bezweifle ich!“ Falem ging zurück zum Tisch, setzte sich auf seinen Stuhl und legte die Beine erneut auf den kalten Stein.
„Falem!“, sagte Evallan streng. „Ist das etwa die berühmte Gastfreundschaft der Elben? Zeige etwas mehr Respekt vor ihnen!“
„Mit Verlaub, Evallan“, erwiderte Falem achselzuckend „ich habe den größten Respekt vor diesen...“, er musterte die Kinder abschätzig „...Jugendlichen! Schließlich haben sie Sasuun besiegt!“
Navaje zuckte leicht zusammen. Es war nicht üblich, dass der Name einer verstoßenen Schamanin achtlos ausgesprochen wurde.
„Nein! Ich meine es ernst.“ Falem zog sein Messer und ließ es mit der Spitze über der Steinplatte kreisen. „Die vier Helden genießen meinen Respekt voll und ganz. Aber je länger wir hier reden, desto später müssen wir aufbrechen.“
Evallan nickte. „Falem spricht Recht!“ Er richtete sich an die Frau. „Sahara, lies bitte die Prophezeiung vor!“
Sahara nickte und rollte ein Pergament auf, das auf dem Tisch gelegen hatte.

Das Land Vardell einst reich und schön
Bis anfing die Sonne unterzugehen

Ihre Stimme war weich und sanft und gab Lee das Gefühl, mitten in der Prophezeiung zu leben.

Die böse Macht
Des Reiches der Nacht

Lee versuchte sich einen Sinn auf diese Worte zu machen. Doch ihr fiel nichts Logisches darauf ein. Die Sonne schien noch. Es musste etwas Symbolisches gemeint sein.

Kaum einer wagt es ihr entgegenzublicken
Weshalb vier Kinder in den Vordergrund rücken
Drei von ihnen als Seelenwolf
Doch auch der vierte hatte einen Gefährten als Wolf

Lee bemerkte, wie Lui neben ihr gezwungen ausatmete. Er vermisste Luke noch immer und es war schwer für ihn, wenn jemand darüber sprach.

Der einst war doch dann starb
Woraus ein Wolfskopf sich ergab

Lilian schmiegte sich an Lee. Sie spürte, dass der Welpe Mitleid mit Lui hatte, der auf den Steinboden starrte.

Diesen vier Kindern muss es gelingen
Uns allen das Licht zurückzubringen

Mit dem Licht musste wieder etwas Symbolisches gemeint sein. Doch Lee verstand nicht, auf was das hindeuten sollte.

Das Wolfsauge hilft uns aus der Not
Und rettet die Völker vor dem Tod

Das Wolfsauge? Lee runzelte die Stirn. Bei dem Wort hatte Saharas Stimme einen mysteriösen Klang angenommen.

Das Land wird wieder auf erblühen
Und am Himmel wird die Sonne stehen

Sahara endete majestätisch und Lee wachte aus ihrer Trance aus. Sie musste einmal blinzeln, bis sie sich wieder konzentrieren konnte. Ihren Freunden schien es nicht anders zu gehen.
Evallan räusperte sich. „Nun denn, wir haben versucht die symbolischen Zeichen zu deuten“, sagte er.
„Was für symbolische Zeichen?“, fragte Jan begriffsstutzig.
„Das Wetter!“, sagte Falem. „Und am Himmel wird die Sonne stehen!“, zitierte er.
„Falem der Wetterfrosch!“, sagte Sahara ausdruckslos.
Lee und Jenny kicherten, während Falem Sahara wütend anfunkelte.
„Außer euch werden noch vier weitere auf die Reise gehen!“, fuhr Evallan fort. Er deutete auf Falem. „Falem ist der beste und stärkste Kämpfer der Elben. Er wird euch beschützen!“
Lee versuchte sich zu beherrschen, um nicht laut loszubrüllen, dass dies die bescheuerteste Idee war, die sie je gehört hatte.
Jan schnaubte empört.
„Der?“, fragte er aufgebracht. „Uns beschützen? Nie! Von dem würde ich mir noch nicht mal sonst irgendwie helfen lassen!“
„Das werden wir ja noch sehen!“, knurrte Falem. „Hör mal zu, Bursche! Wenn du irgendwann am Galgen baumelst und mich anflehst, dass ich den Strick durchschneide, werde ich, ohne mit der Wimper zu zucken, zusehen, wie du erstickst. Weil ich mich daran erinnern werde, was du gerade gesagt hast.“ Sein Blick war eiskalt und Lee traute ihm zu, dass er wahrscheinlich sogar genau das tun würde, egal, was Jan gesagt hätte.
„Aber“, fuhr Falem achselzuckend fort, „ich habe meine Befehle. Und Befehle von oben befolge ich immer! Ich würde dich wirklich liebend gern meiden, Jan der Seelenwolf! Doch Befehl ist Befehl!“
Jan knirschte wütend mit den Zähnen. Auch Lui schien kurz davor zu sein Falem, einen giftigen Spruch loszulassen.
„Wer wird uns denn noch begleiten?“, fragte Jenny schnell. Sie knabberte an ihrer Unterlippe.
Evallan, der die kleine Szene schmunzelnd verfolgt hatte, deutete auf Navaje, die hinter den Kindern stand.
„Navaje wird euch ebenfalls begleiten. Sie hat eine Art photographisches Gedächtnis! Sie kann euch unverletzt bis zum Jebor-Gebirge bringen, in dem die Pflanze wächst. Außerdem kann sie mit ihrem….ihrem Geruchssinn herausfinden, ob ihr die richtige Pflanze gefunden habt.“
„Pflanze?“, fragte Lee verwundert. Haben sie etwa von einer Pflanze gesprochen?
„Davon haben sie noch gar nichts erzählt!“, stimmte Jenny zu, die eine Augenbraue hochzog.
„Nun“, begann Sahara mit ihrer Samtstimme, „das Wolfsauge ist ein seltenes Kraut. So benannt, weil sie im Sonnlicht bernsteinfarben schimmert. Diese Pflanze kann Wunden, Narben und sogar einen geistig zurückgebliebenen Menschen heilen.“
„Oder ein Land wieder zum Blühen bringen!“, ergänzte Evallan. Die Sonne fiel durch eins der wenigen Fenster und ließ Evallans orangefarbene Robe aufblitzen.
Als Falem die Blicke der Kinder sah, verdrehte er genervt die Augen.
„Wir meinen, dass die Sonne wieder scheinen wird, wenn man mit diesem Kraut ein bestimmtes Ritual durchführt!“
„Sagte der Wetterfrosch!“, murmelten Jan und Lui gleichzeitig. Lachend klatschten sie sich ab.
„Ich verstehe nicht ganz!“, warf Lee ein. „Wofür brauchen wir diese Pflanze?“
„Lubomir hat viele Länder zerstört“, sagte Falem, ohne auf Jan und Lui geachtet zu haben, „Wasser vergiftet, Kriege geführt! Mit dieser Pflanze könnten wir all diesen Leuten helfen.“
„Außerdem“, fügte König Evallan hinzu, „könnten wir so das Vertrauen der anderen großen Völker gewinnen!“
„Wer sind denn die anderen großen Völker? Und wie viele große Völker gibt es? Warum vertrauen sie euch nicht?“, fragte Jenny. Sie war ziemlich erregt. Ihre Haarsträhnen fielen ihr wirr ins Gesicht.
„Wir haben früher viele unnütze Kriege geführt“, sagte Falem ausdruckslos. „Außerdem vertrauen sich die drei anderen großen Völker auch nicht untereinander. Eigentlich steht jedes Volk alleine da.“
„Wer sind denn nun die großen Völker?“, fragte Jan ungeduldig.
„Eins nach dem andern“, erwiderte Navaje genervt. „Ich werde es euch kurz erklären:
Vor vielen, vielen Jahren, als es Lubomir noch nicht gab und im Land Frieden und Wohltat herrschte, lebten in Vardell vier Brüder. Ihre Eltern waren die Sonne und der Mond, Schatten und Licht, Tag und Nacht, Sommer und Winter. Die Brüder waren so unterschiedlich, dass sie sich nicht verstanden und sich schließlich trennten.
Doch sie waren einsam und die Götter gaben ihnen Völker.
Vier große Völker. Jeder der Brüder bekam ein Volk zugeteilt und herrschte über es.
So entstanden die Indianer. Sie leben am Fuße eines Berges. Ihr Tal besteht aus einem riesigen Fluss und verschiedenen kleinen Inselgruppen und Brücken. Sie gehen auch an Land und klettern oft im Gebirge, indem sie sich wie zuhause fühlen.
Das nächste Volk waren die Elben. Anmutige Wesen mit gefährlichen Waffen und so viel Weisheit, wie nur sehr alte Bäume sie haben. Tiere und Pflanzen sind wichtige Bestandteile der Elben.
Der dritte Bruder herrschte über die Seelenwölfe. Eine Seele lodert und zwei Seelen lösen einen Brand aus. Sie sind schnell erzürnt und schwer wieder zu beschwichtigen. Wie ein Feuer, in das man Benzin kippt und dann verzweifelt versucht die Brände zu stoppen.
Der vierte herrschte über das Adlervolk. Die Menschen leben auf einer hohen Klippe umgeben von Wind und Sturm. Sie haben riesige Adler als Verbündete, die mit ihnen den Himmel erforschen.
Doch die Völker waren zu unterschiedlich und wie die vier Brüder gerieten sie immer wieder in Zwietracht.“ Navajes Blick wurde ausdruckslos. Bis jetzt hatte Lee ihr gebannt an den Lippen gehangen, doch nun machte ihr irgendetwas Angst.
„Sie fingen an sich gegenseitig zu bekriegen und es kam zu vielen Toten und keinem Sieger! Die vier Brüder töteten sich gegenseitig in einem heftigen Kampf. Die Götter, welche die Brüder durch Gegensätze erschaffen hatten, waren entsetzt und verzweifelt. Ihre Traurigkeit und ihre Wut auf die vier Völker verdunkelten den Himmel und schufen ein neues Land und neue Kreaturen! Met’c und andere böswillige Wesen, welche die vier großen Völker vernichten sollten. Im letzten Moment jedoch bemerkten die vier Völker, dass sie nur gemeinsam gewinnen können. Also verbündeten sie sich gegen die dunklen Mächte und schafften es, sie zu besiegen. Die Kreaturen flohen zurück in ihr Land. Es hieß, dass sie warteten. Sie warteten auf einen Herrscher! Die vier Völker allerdings vertrauten sich auch nach diesem Kampf noch nicht. Sie hatten sich aus Not zusammen geschlossen und nicht aus Vertrauen. Es gab keine Kriege mehr und jedes Volk pflegte eine distanzierte Verbindung zu den anderen Völkern. Mit den Jahrhunderten bildeten sich immer mehr Völker. Kleinere, die ebenfalls unterschiedlich waren, doch sie waren keine Großmächte und waren nicht auf einen Kampf aus. Diese Völker wurden von Grafen regiert und folgen einer strengen Richtlinie.
Doch die dunklen Kreaturen, die noch immer auf einen Anführer warteten, sahen sie als eine leichte Beute. Ihnen machte das Töten Spaß. Die kleinen Dörfer litten und manchmal schafften es die großen Völker ihnen zu Hilfe zu kommen.
Als plötzlich ein Herrscher der dunklen Kreaturen auftauchte. Lubomir!“
Lui zuckte zusammen. Er war es immer noch nicht gewöhnt, dass er genau so heißen sollte wie der Schamane. Dass es ebenso sein Name war wie der des furchtbaren Herrschers.
Navaje fuhr mit monotoner Stimme fort. „Zur Zeit leben sehr viele Menschen und andere Völker in Vardell und alle versuchen sie gegen Lubomir anzukommen! Alle warten sie auf die Kinder aus der Prophezeiung. Auf euch!“
Es war eine Weile still.
„Es ist natürlich nur eine Sage“, sagte Navaje lächelnd „doch ich denke eure Antwort habt ihr erhalten!“
Evallan räusperte sich. „Die anderen beiden Begleiter kommen aus dem Adlervolk und aus dem Indianerstamm. Ihr werdet sie bald kennen lernen.“
„Wie ihr sicher bemerkt habt“, fiel Falem ihm ins Wort, „wird aus jedem Volk ein Begleiter genommen. Ein weiteres Zeichen, dass sie uns nicht vertrauen!“
„Ihr uns doch auch nicht!“, erwiderte Navaje. Feindselig sahen sich die beiden an. Verwirrt sah Lee zwischen den Elben und der Seelenwölfin hin und her. Sie hatte gemerkt, dass Falem und Navaje sich mieden, doch nun fiel ihr auf, dass sie auch gegenüber Sahara und dem König sehr distanziert war.
„Und wann brechen wir auf?“, fragte Lee unruhig. Plötzlich hatte sie keine Ahnung mehr, wem sie vertrauen konnte. Ihr schien, als würde der Raum immer kleiner werden und die Luft würde verschwinden. Unwohl wartete sie auf eine Antwort.
„In zwei Tagen!“, erwiderte Evallan und wandte den Blick von Navaje ab. „Morgen werdet ihr trainieren und dann werdet ihr zu den Indianern aufbrechen, wo ihr euren dritten Reisegefährten trefft. Auch dort bleibt ihr einen Tag, um zu trainieren, bevor wir uns zum Adlervolk begeben. Jeder wird sich einen Adler aussuchen, der ihn auf der Reise begleitet. Ihr werdet am ersten Tag lernen, mit ihnen an eurer Seite zu kämpfen. Am zweiten Tag werdet ihr zum Jebor-Gebirge aufbrechen. Verstanden?“
Lilian sah gelangweilt zu ihm, während Jamie einmal laut gähnte. Jenny kicherte. „Ich denke schon!“
„Geht nun zurück in euer Quartier!“, befahl Evallan schmunzelnd. „Morgen wird ein anstrengender Tag für euch.“


Kapitel 3
Die Kinder und Navaje verbeugten sich kurz, bevor sie den Raum verließen und die große, vornehme Tür hinter ihnen geschlossen wurde.
Auf einmal drehte sich Lee zu Navaje um.
„Lee?“ Jenny sah sie mit hochgezogener Augenbraue an.
„Geht schon mal vor. Ich komme nach.“ Lee grinste ihr zu. Als ihre Freunde um die nächste Ecke gegangen waren, griff sie hilfesuchend nach dem Ärmel der Schamanin.
„Navaje! Ich…“, wollte sie anfangen, doch schon weiteten sich Navajes Augen entsetzt und sie legte Lee schnell den Finger auf die Lippen.
„Nicht hier, Lee!“, wisperte sie leise. „Bist du noch ganz bei Trost? Worüber du reden willst, sollten nicht allzu viele Ohren mitbekommen!“ Sie zog Lee zu sich herauf und flüsterte so leise, dass Lee sie kaum verstand: „Du darfst bei den Elben keine einzige Schwäche zeigen, sonst werden sie diese schneller, als du gucken kannst, gegen dich verwenden! Wir werden draußen darüber reden!“
Mit diesen Worten ließ Navaje Lee los, die ein wenig nach hinten taumelte. Ich darf keine Schwäche zeigen! Das Mädchen schüttelte den Kopf. Die Elben waren so nett zu ihr. Was würden sie tun, wenn Lee ihre Schwächen zeigen würde?
Lee?, Lilian war ein paar Schritte nach vorne gesprungen und sah sie nun abwartend an.
Da stimmt was nicht, erwiderte Lee. Alles ist so seltsam!
Lilian nickte ihr zu. Folgen wir Navaje!
Lee war verwirrt. Ich weiß nicht, wem ich vertrauen kann!
Ich auch nicht!, gab Lilian zurück. Sie legte die Ohren an und ging vorsichtig auf Lee zu.
Das Mädchen sackte auf den kalten Steinboden des Palastes. Es war ihr egal, ob sie Schwäche zeigte oder nicht. In der kurzen Zeit war so vieles passiert.
Lilian sprang ihr mit eingeklemmten Schwanz in die Arme.
Ich weiß nur, dass ich DIR vertrauen kann, sagte Lilian und leckte dem Mädchen sanft über die Wange.
Lilian!, erwiderte Lee und presste sie an sich. Sind wir vielleicht innerhalb der Mauern unserer Feinde? Was, wenn sie die Bösen sind?
Lilian sah sich unwohl um. Gehen wir zu Navaje! Bitte, Lee!
Lee nickte und erhob sich. Mit dem Welpen auf dem Arm ging sie durch die Flure des Palastes. Jede Wache, die ihnen entgegen kam, schien bedrohlich zu sein. Die Flure kamen ihr endlos vor und auf einmal hatte sie Angst, dass sie hier nie wieder herausfinden würden. Als der Ausgang in Sicht kam, rannte sie die letzten Meter. Die Sonne legte sich wie ein Mantel um ihren Körper und der Wind zerzauste Lilians Fell.
Navaje lehnte an einem Baum und sah zu den beiden herüber.
Lilian sprang von Lees Armen. Nebeneinander rannten sie den kleinen Hügel hoch, um zu Navaje zu kommen.
„Navaje! Was ist, wenn…“, begann Lee, doch Navaje hob abwehrend eine Hand und ging noch tiefer in den kleinen Wald hinein. Lilian trabte unregelmäßig neben den beiden her und sah sich immer wieder um.
Endlich blieb die Schamanin stehen und wartete. Plötzlich fehlten Lee die Worte, um all das zu erklären, was in ihr vorgegangen war.
„Ich bin total verwirrt!“, stieß sie schließlich hervor.
„Das sehe ich“, sagte Navaje. „Du musste deine Gefühle, so gut es geht, verbergen. Sollte Evallan sie auch nur vermuten, wird er sie irgendwann gegen dich verwenden!“
„König Evallan? Ich habe eher das Gefühl, dass ich mich vor Falem in Acht nehmen müsste.“
„Falem ist ziemlich listig, das stimmt! Aber der eigentliche Befehlshaber ist dennoch Evallan. Er ist gefährlicher als du denkst.“
„Ich weiß einfach nicht, wem ich vertrauen kann!“, rief Lee verzweifelt. Sie brauchte Ratschläge von Navaje und keine Warnung. Sie wollte Hilfen, auf wessen Seite sie sich begeben konnte.
„Vertraue niemandem außer dir selbst und halte, egal, was passiert, zu deinen Freunden! Ihr könnt nur zusammen stark sein. Lasst euch auf keinen Fall beeinflussen und euch vom äußeren Schein täuschen. Das könnte euren Tod bedeuten!“
Lee schluckte. Vorsichtig beugte sich Navaje vor und zischte ihr leise zu: „Die Menschen hier sind grausam, Lee! Sie schrecken vor nichts zurück! Lass dich nicht täuschen, Mädchen! Dann könntest du es vielleicht sogar schaffen, nach der Erfüllung der Prophezeiung zu überleben.“
Lilian ließ ein warnendes Knurren hören und drehte sich in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Navaje sah gequält zu Lilian und machte ein paar Schritte nach hinten.
„Was? Warte! Wie meinst du das?“ Lee würde durchdrehen, wenn Navaje sie jetzt verlassen würde.
„Ich muss gehen, Lee! Wir können uns erst am Tag nach deinem Training sehen!“
„Nein! Bitte!“, rief Lee verzweifelt.
„Bis bald, Kleine!“ Navaje drückte sie kurz an sich, rannte zwischen den Baumstämmen hindurch, sprang in die Luft und verschwand als großer, grauer Wolf aus Lees Blickfeld.
Verzweifelt ließ sich Lee zu Boden fallen. Lilian presste sich an sie und sah sich Hilfe suchend um.
Es kommt jemand! Ein Mensch!, sagte sie hektisch. Sie wollte weg, fort von diesem Ort. Wie gern wäre Lee aufgesprungen und wäre davon gerannt, doch sie konnte sich nicht bewegen. Navajes Worte hallten immer noch in ihrem Kopf nach:
„Die Menschen hier sind grausam, Lee! Sie schrecken vor nichts zurück! Lass dich nicht täuschen, Mädchen!“
Lilians Nase stupste Lee auffordernd an. Lee, ich will gehen! Fort von hier, bitte!
„Vertraue niemandem außer dir selbst und halte, egal, was passiert, zu deinen Freunden! Ihr könnt nur zusammen stark sein. Lasst euch auf keinen Fall beeinflussen und euch vom äußeren Schein täuschen. Das könnte euren Tod bedeuten!“
Lee keuchte und vergrub das Gesicht in ihren Händen. Die ganze Zeit hatte sie das Gefühl gehabt, unter Freunden zu sein. Leuten, denen sie vertrauen konnte. Sie hätte den meisten hier ihr Leben anvertraut, auch wenn sie diejenigen kaum gekannt hatte.
„Dann könntest du es vielleicht sogar schaffen, nach der Erfüllung der Prophezeiung zu überleben.“
Was haben sie nur vor?, dachte Lee verzweifelt. Warum sollten sie uns umbringen wollen? Muss ich mich vielleicht sogar vor Navaje in Acht nehmen?
Lilian presste sich an Lees Schulter. Zu spät!
„Lee?“ Das Mädchen sah auf. Sahara? Schnell strich Lee sich die zerzausten Haare aus dem Gesicht und versuchte sich wieder zu beruhigen. Gefasst stand sie auf und rief laut: „Ich bin hier!“
Dann drehte sie sich um und sah in die Richtung, aus der Saharas Stimme gekommen war.
Die Frau stand an einem Baum und lächelte sie an.
„Ich würde gerne mit dir reden.“
Lee stöhnte innerlich auf. Nicht noch ein Gespräch. Sie war müde und wollte einfach nur die Vorkommnisse verkraften, die andauernd auf sie zu geschossen kamen. Außerdem brauchte sie etwas Zeit für sich.
„Eigentlich wollte ich mich ein wenig ausruhen, bevor der Trainingstag morgen beginnt.“
„Das verstehe ich vollkommen“, sagte Sahara einfühlsam. Lee beobachtete müde, wie ein Schmetterling um ihr Gesicht herum flog. „Es wird nicht lange dauern!“ Sahara ging einen vorsichtigen Schritt auf sie zu.
„Ich wollte gerade zu meinem Haus zurückgehen.“
„Ich werde dich begleiten.“
Lee seufzte. Sahara drehte sich um und ging den Weg, den sie gekommen war. Lilian trabte neben Lee her, die Sahara ergeben folgte.
Eine Weile liefen sie schweigend nebeneinander. Die Vögel zwitscherten in verschiedenen Tonhöhen, von denen Lee im Moment nicht wusste, ob sie sich die Ohren zuhalten oder dem schönen Gezwitscher lauschen sollte.
„Eigentlich“, begann Sahara mit ihrer sanften Stimme „wollte ich dir nur einen Ratschlag geben, was du alles auf der Reise dabeihaben solltest.“
Erstaunt sah Lee sie an. Sahara hob ihr Kleid an, weil sie nun den Hügel hinaufgingen. Sie lächelte Lee ermutigend zu.
„Ich habe ein Geschenk für dich und deine Freunde. Eigentlich wollte ich es an eurem Haus vorbeibringen, doch dann habe ich plötzliche deine Stimme vernommen. Wie du bestimmt gewusst hast, können Elben ziemlich gut hören.“
Lee schwieg.
Die Frau kramte in ihrer großen, ledernen Umhängetasche und zog vier grüne Mäntel heraus, die sie Lee überreichte.
Sie waren ganz aus Samt und ziemlich dünn. Navaje hatte ihr erzählt, dass es im Jebor-Gebirge sehr kalt werden würde. Wofür brauchten sie dann diese luftigen Umhänge?
„Ähm....danke!“, stammelte Lee. „Bist du sicher, dass die uns auf der Reise helfen werden?“
„Nimm sie ruhig!“ Sahara sah ihr eindringlich in die Augen. „Sie könnten euch das Leben retten!“
Lee zuckte zurück. Eine mondweiße Iris mit großen Pupillen. Plötzlich wurde Lee so kalt, dass sie fröstelte.
Was ist?, fragte Lilian ängstlich.
Ich weiß es nicht, brachte Lee zögernd heraus. Es sind nur ihre Augen, die sind einfach nur...beängstigend!
„Okay....danke, Sahara!“, erwiderte sie mit fester Stimme. „Ich werde sie ganz bestimmt mitnehmen!“ Doch innerlich beschloss sie, die Umhänge versehentlich zu Hause zu vergessen.
Sahara lächelte beruhigt. Lee steckte die Umhänge in ihren Jagdbeutel, der an ihrem Gürtel baumelte.
Es dauerte vielleicht nur noch fünf Minuten, dann war Lee bei ihrem Haus und bei ihren Freunden.
„Navaje ist eine gute Vertreterin der Seelenwölfe!“, sagte Sahara plötzlich.
Lee sah sie verwirrt an. „Ja, sie ist wirklich cool!“
Sahara zog bei dem Wort ‚cool’ kurz eine Augenbraue hoch, doch sie fragte nicht nach.
„Auf mich wirkt sie manchmal etwas verrückt, doch sie scheint eine sehr vertrauenswürdige Person zu sein.“
Lee nickte. „Ja, sie ist...sehr...nett!“ Langsam wurde sie skeptisch. Worauf wollte Sahara hinaus?
Die Elbin sah sie an, dann lächelte sie plötzlich so freundlich, als wollte sie einem Kleinkind schmeicheln, seinen Spinat aufzuessen.
„Lee“, fing sie lächelnd an „ich weiß nicht, was sie dir erzählt hat, aber ich möchte, dass du weißt, dass wir Elben immer nur das Beste für das Land Vardell wollen. Navaje kann sehr überzeugend sein, doch trotzdem, solltest du ihr nicht trauen!“
Lee wollte schon empört nach Luft schnappen, als Sahara schon fortfuhr.
„Weißt du, was unsere besten Magier tagaus, tagein machen? Sie suchen nach dem Fluch, mit dem Lubomir Lui belegt hat. Sie suchen nach einem Weg, um den Fluch abzuwenden. Damit Lui leben kann, wenn wir Lubomir töten!“
Lees Herz wurde schwerer und ihr Bauch verknotete sich. Nun erst wurde ihr bewusst, dass Lui bald sterben würde, weil sie Lubomir töten MUSSTEN.
Dieses Gefühl traf sie wie ein Schlag ins Gesicht.
Doch dass die Möglichkeit bestand, ihn zu retten, erfüllte sie mit Zuversicht.
„Ihr könntet es schaffen?“, fragte sie ungläubig. „Ihr könntet es schaffen, ihn zu retten?“
„Wir geben unser Bestes!“, erwiderte Sahara.
Wärme durchströmte Lees Körper. Wärme und Geborgenheit. Sie fing an zu kichern, wie ein fünfjähriges Kind. „Ihr könntet ihn retten!“, lachte sie. „Er kann gerettet werden!“
„Lee!“, ermahnte die Elbin sie. „Du darfst deine Gefühle nicht so offen zeigen.“
Verwirrt sah Lee sie an.
„Besonders nicht vor Navaje!“
„Was für Gefühle?“, fragte Lee mit hochgezogener Augenbraue. „Lui ist ein Freund. Darf ich mich da nicht freuen?“
„Nein, darfst du nicht“, erwiderte Sahara eindringlich. „Weil er mehr als nur ein Freund für dich ist! Und wenn du deine Gefühle nicht kontrollieren kannst, wird es irgendwann noch ein böses Ende mit dir nehmen! Merk dir, Menschenkind: Gefühle bedeuten Schwäche!“
Verstört sah Lee sie an. Was? Was will sie mir damit sagen? Keine Gefühle? Woher weiß sie von meinen Gefühlen? Sie scheint sie besser zu kennen als ich. Und warum soll ich sie gerade vor Navaje geheim halten?
„Denk nach!“, sagte Sahara sanft. „Überleg dir gut, wem du vertrauen kannst.“ Sie gab Lee einen Kuss auf die Stirn und ging davon. Lees Haus war noch gute zehn Meter weiter, doch Lee konnte sich nicht bewegen.
In ihr tobte ein riesiger Sturm aus Gefühlen.
Wut, weil von ihr verlangt wurde, sich gegen Navaje zu richten,
Verwirrung, weil sie das Gefühl hatte, dass Sahara ihr nur helfen wollte,
Trauer, wegen Luis Schicksal, wenn man es nicht abwenden könnte und
Dankbarkeit, weil die Elben versuchten ihm zu helfen und den Bann zu lösen.
Schließlich siegte die Wut. Was bildete sie sich eigentlich ein?
„Du weißt überhaupt nichts von meinen Gefühlen und ich vertraue, wem ich will!“, schrie sie Sahara nach, rannte mit Lilian ins Haus und schlug die Tür hinter sich zu.
Sie wusste nicht, ob Sahara sie noch gehört hatte, doch das interessierte sie im ersten Moment recht wenig. Hauptsache sie hatte es gesagt und sich damit gegen Sahara entschieden!
Lee pfefferte die Umhänge, die sie unsanft aus ihrem Jagdbeutel gezerrt hatte, achtlos in eine Ecke.
Im nächsten Moment jedoch, tat es ihr leid und sie hatte ein schlechtes Gewissen. Sahara hatte ihr schließlich nur helfen wollen. Sorgfältig hob sie die Umhänge wieder auf und strich über den Samt.
Sie entschloss sich doch dafür, die Umhänge als Entschuldigung mit auf die Reise zu nehmen. Vielleicht waren sie ja wirklich ganz praktisch.


Kapitel 4
Der Übungsort war eine riesige Arena. Mindestens so groß wie vier Fußballstadien. Elben in allen Altersklassen trainierten hier mit Schwertern, Messern, Dolchen, Speeren oder Pfeil und Bogen. Es gab eine ganze Reihe von Zielscheiben, an denen die Elben fleißig übten.
Falem hatte sie am Morgen ziemlich früh aus ihren Betten geschmissen, weswegen Lee ziemlich unwirsch gestimmt war.
Außerdem durften die Welpen nicht mitkommen.
Laut Falem würden sie nur im Weg herumstehen. Ohne Lilian kam Lee sich nur noch halb so vor. Ja, halb so was? Sie wusste es nicht. Sie war einfach nur eine Hälfte.
Falem drückte ihr einen Bogen in die Hand.
„Ich hab gehört du kennst dich damit aus“, sagte er tonlos.
Lee entriss ihm unsanft den Bogen.
„Schon klar“, meinte Falem mit hochgezogener Augenbraue. Er wandte sich an Jenny und gab ihr Wurfsterne, die er ‚Shuriken’ nannte.
Die Jungen erhielten Schwerter, die eher für einen König gedacht schienen, als für zwei Jungen. Die Griffe waren mit geheimnisvollen Zeichen verziert, die bis in die Klinge ineinander verschlungen waren.
„Gut“, sagte er schließlich „ich werde mich um die beiden Jungen kümmern. Lee und Jenny bekommen andere Trainer.“
Lee wechselte einen Blick mit ihrer besten Freundin. Jenny zog eine Augenbraue hoch.
Lee wusste, was sie dachte. Wer wird das wohl sein?
„Kommt mal mit, Mädels!“, befahl Falem und drehte sie zur Mitte der Arena.
„Ray! Sliker!“, rief er laut. Zwei Jungen hoben die Köpfe und sahen zu ihm hinüber. Sie hatten an der Wand gelehnt, nun schlenderten sie misstrauisch auf sie zu.
Schon von Weitem fingen sie an, die Mädchen zu mustern. Verständlich, schließlich waren sie die Kinder aus der Prophezeiung. Lee hätte sich unwohl gefühlt, wenn sie nicht so schlecht gelaunt gewesen wäre. Deshalb bedachte sie die beiden mit einem bösen Blick.
„Falem?“, fragte einer der beiden und blieb vor ihnen stehen. Er hatte braune Haare und olivschwarze Augen. Beide waren recht groß und schienen älter zu sein als Lee und Jenny.
Der andere Junge war fast das genaue Gegenteil. Er war blond und hatte klare, blaue Augen. Außerdem war er nicht so braungebrannt.
Doch beide waren muskulös und schienen typische Machos zu sein. Solche, die selbstzufrieden und selbstverliebt sind.
„Ray, das hier ist Lee“, stellte Falem sie dem braunhaarigen Jungen vor. Ray nickte ihr zu. „Du sollst sie das Bogenschießen lehren, verstanden?“
„Das kann ich schon“, murmelte Lee leise.
Ray seufzte und verdrehte genervt die Augen. „Verstanden!“
Er bedeutete ihr, dass sie ihm folgen sollte, und lief zu den Zielscheiben.
Lee folgte ihm mit dem Bogen. Sie fing an ihn näher zu betrachten. Er war braun, aber aus einem edlen Holz, mit Verzierungen, die sich in den Kupfergriff hinein wanden. Die Sehne schien wie ein Stern zu strahlen und zu funkeln und die Pfeile waren mit anmutigen Symbolen verziert.
Ray blieb stehen und machte eine einladende Handbewegung.
„Na, probier’s mal!“
Lee zog einen Pfeil aus dem Köcher. Ihr Ziel stand gute fünfzig Meter entfernt. Sie legte den Pfeil in die Sehne.
Ray fing an zu lachen. „Langsam, langsam! Wo hast du denn schießen gelernt?“
Lee funkelte ihn wütend an. „Beim besten Bogenschießkünstler, den es gibt!“
Naja, das war gelogen. Pachu war eher ein Schamane, als ein Bogenschießkünstler, doch er war dennoch ziemlich gut.
Ray lachte noch lauter. „Wohl eher beim Unerfahrensten!“
Typisch, Macho. Selbstverliebt und selbstzufrieden und dazu auch noch besserwisserisch.
„So könntest du noch nicht einmal eine Maus treffen, die durchs Unterholz huscht.“
Ein kleines Objekt zu treffen, dass sich bewegte, hörte sich ziemlich schwierig an...War der Junge wirklich so gut?
„Fangen wir doch einfach mal bei null an“, sagte Ray lächelnd.
Lee stieg die Schamesröte ins Gesicht. Fast alle starrten zu ihnen hinüber.
Zu dem Mädchen, das sie alle retten sollte und das, laut Ray, nicht einmal richtig Bogenschießen konnte.
Wütend legte Lee den Pfeil erneut in die Sehne, zielte und schoss ihn ab. Der Pfeil zerschellte an der Arenamauer hinter der Zielscheibe.
Lee schnappte nach Luft. Ihr Ziel hatte sich bewegt und war dem Pfeil ausgewichen.


∼ξ ∼ ψ ∼ ζ∼


Ray lachte noch lauter, als er Lees Gesichtsausdruck sah.
„Und du sollst das Mädchen aus der Prophezeiung sein?“, spottete er.
„Die Zielscheibe hat sich bewegt!“, rief Lee entsetzt.
„Natürlich hat sie das“, erwiderte Ray immer noch lachend. „Kein Gegner, den du mit einem Pfeil durchbohren willst, wird tatenlos herumstehen und warten, bis er tot umfällt. Doch wenn du das richtige Gefühl für die Waffe hast und wie dein Gegner denkst, weißt du auch, wohin du zielen musst.“
„Kannst du mir mal verraten, wie ich wie eine Zielscheibe denken soll?“, fragte Lee nüchtern.
Ray lachte. „Ich zeige es dir!“
Er nahm ihr den Bogen ab und legte einen Pfeil in die Sehne.
Sofort bemerkte Lee, dass er mindestens schon seit seinem fünftem Lebensjahr jeden Tag in der Arena trainiert hatte.
Es sah so vertraut aus, wie Ray die Sehne spannte und seinen festen Stand kontrollierte.
Als er den Pfeil abschoss, wunderte es Lee nicht, dass er genau die Mitte der Zielscheibe traf, auch wenn sie einen Sprung nach links gemacht hatte.
Ray grinste sie gewinnend an. „Das musst du lernen.“
Lee nickte anerkennend. „Wie alt bist du?“
„Sechzehn.“ Ray gab ihr den Bogen zurück.
„Wann hast du mit dem Training begonnen?“
„Ab meinem dritten Lebensjahr war ich das erste Mal in der Arena“, er lächelte sie an „und ich glaube, mit sechs habe ich mich fast nur noch auf Bogenschießen spezialisiert.“
Vielleicht ist er doch ganz okay!
Sie runzelte die Stirn. „Du hast jeden Tag trainiert? Seit deinem dritten Lebensjahr?“
„Ja!“ Ray fuhr sich durch sein dichtes, braunes Haar. „Manche fangen sogar noch früher an.“
„Ich habe erst vor einem Jahr angefangen...naja, also, so richtig unterrichtet zu werden“, sagte Lee leise.
„Ach, ich glaub, dass du das ziemlich schnell begreifen wirst.“ Ray lächelte sie schräg an.
Lees Gesicht hellte sich schlagartig auf. „Meinst du?“
Er lachte, als er die Veränderung in dem Blick des Mädchens bemerkte. „Bestimmt! Na, komm! Versuch erst mal, dich mit dem neuen Bogen anzufreunden.“


∼ξ ∼ ψ ∼ ζ∼


Das Feuer knisterte so wohlig, dass es Lee viel besser ging. Ihr Fleisch hing noch über den Flammen. Lui kauerte rechts und links von ihr saß Jenny, die sich erschöpft auf Lees Schulter stützte. Jan starrte vor sich hin.
Falem schwieg und betrachtete sein Fleisch, das auf dem Feuer lag.
Sahara sah sich übertrieben lächelnd zu allen Seiten um.
Lee fühlte sich unwohl, als dürfte sie hier überhaupt nicht sein. Als wollte sie keiner hier haben. Dass Ray und Sliker sich gedämpft unterhielten, stärkte sie nur in diesem Gefühl.
Es war schon dunkel und der Himmel war wie verwandelt. Der Mond leuchtete hinter den Bäumen hervor und die Sterne funkelten.
Wie verzaubert starrte Lee sie an. Sie wollte hier einfach nur sitzen bleiben und erstarren. Nicht an Morgen denken oder an die Vergangenheit oder an ihre Eltern in der Gegenwart.
Sie wollte an gar nichts denken. Nicht an Lui. Nicht daran, dass er sterben musste. Nicht daran, dass sie Lubomir töten mussten. Nicht daran, dass Lilian irgendwann verschwinden würde. Lilian!
Sie war jetzt irgendwo in dem Elbenhaus und wartete auf sie. Auf einmal wollte Lee unbedingt zurück. Zurück zu ihrer Gefährtin und zurück ins Bett.
Lilian könnte alles Mögliche passieren.
Das Mädchen sah sich am Lagerfeuer um.
Sind sie meine Feinde? Oder meine Freunde? Darf ich Schwächen zeigen oder soll ich so tun, als wäre ich kaltherzig? Werden sie uns je wieder zu unseren Familien zurücklassen? Oder sitzen wir hier vielleicht für immer fest?
Sie hatte schon so lange nichts mehr von ihren Eltern gehört. Man hatte ihr versichert, dass sie ihre Familien nach der Prophezeiung besuchen dürfte, doch was, wenn sie die nicht überlebte?
„Und? Wie war euer Training?“ Saharas Stimme riss Lee aus ihren Gedanken. Falems Gesicht verwandelte sich in eine wütende Grimasse, während Lui und Jan losprusteten.
Sahara legte die Stirn in Falten.
Falem schwieg für einen Moment. Endlich wurde sein Gesichtsausdruck etwas ruhiger. „Undiszipliniert!“, knurrte er.
Lui und Jan bekamen einen weiteren Lachkrampf und wie es bei Lee nun mal war, wenn sie Lui lachen sah, lachte sie mit.
Sahara wandte sich an Ray und Sliker. „Und wie waren die Mädchen?“
„Katastrophal!“, brachte Ray mit einem schrägen Grinsen heraus. „Doch sie lernt schnell.“
Sliker schwieg. Schließlich meinte er nur ausdruckslos: „Verbesserungswürdig!“
Das war’s.
Lee bemerkte, wie Jenny ihr letztes bisschen gute Laune verlor und in Angriffshaltung überwechselte. Wütend starrte sie in die Flammen, bis ihr die Augen tränten.
„Du bist so ein...“, fing sie langsam an „...so ein...Riesenarsch!“ Sie sprang auf. Lees Fleisch wurde von der Bewegung auf den Boden befördert.
„Ich habe fast jedes einzelne Ziel getroffen!“, schrie Jenny wütend.
„Das war nicht gekonnt“, erwiderte Sliker scharf. „Du hattest heute ziemlich viel Glück!“
Jenny bedachte Sliker mit einem wütenden Blick, den dieser fast gelangweilt zur Kenntnis nahm, bevor sie zornig davon stapfte.
Lee hob ihr Stück Fleisch auf. Es war von Dreck und Kohle nur so übersät.
„Na, Klasse!“, maulte sie. Dann warf sie einen fragenden Blick zu Navaje und Falem.
Falem zuckte mit den Schultern. „Wenn Sliker meint, dass es nur Glück war, dann stimmt es! Niemand beherrscht die Kunst der Shuriken so gut wie er.“
„Sliker hätte trotzdem etwas feinfühliger sein können“, brummte Jan ohne, die anderen anzusehen.
Sliker erhob sich. „Sliker macht nur das, was ihm befohlen wurde!“, erwiderte er scharf. „Ich versuche euch nur zu helfen. Wenn ich das nicht schaffe, müssen vielleicht alle sterben!“


Kapitel 5
Es war unwahrscheinlich kalt, als sie die Mauern der Elbenstadt hinter sich ließen. Sie waren gegangen, ohne ein Wort zu sagen. Ohne sich auch nur von einem Menschen oder Elben verabschiedet zu haben.
Navaje hatte sie aufgeweckt, bevor die Sonne herauskam, und war mit ihnen zum Tor gelaufen, bei dem Falem schon auf sie gewartet und sie leise murmelnd, als ‚lahme Enten beschimpft hatte.
Die Wächter hatten das Tor geöffnet und die Kinder waren hinter Navaje und Falem hinausgehuscht.
Lilian freute sich auf die große Wanderung. Sie hatte viel zu wenig Bewegung, doch Lee war müde und wollte sich einfach nur ausruhen, aber laut Falem durften sie das nicht in diesem Teil des Waldes.
Das Mädchen hatte zwar die bequemen Elbenschuhe an, trotzdem stolperte sie über jede kleine Wurzel und jedes noch so kleine Schlagloch. Den ganzen Weg lang starrte sie nur auf ihre Füße.
Anderthalb Tage sollten sie unterwegs sein. Dann würden sie die Indianer erreichen und es würde ein neuer Trainingstag beginnen und ihnen würde sich ein neuer Begleiter anschließen.
Der Weg wurde steiler und führte nun einen felsigen Berg hinauf. Lilian sprang vor Lee her und feuerte sie mit ihrer unbändigen Freude an.
Lee schmunzelte.
„Warum können wir nicht auf Lui und Jan reiten?“, fragte sie Navaje.
„Das wäre viel zu auffällig. Es gibt viele Tiere, Lee, und nicht alle sind freundlich gestimmt!“ Navaje sah sie an. „Für Aufsehen zu sorgen, wäre der Tod!“
Der Pfad wurde schmaler, bis er schließlich ganz verschwand.
Mit den Händen zogen sie sich an den steinigen Felsen hinauf, sprangen über Felssprünge und kletterten immer höher.
Lee fiel es nicht schwer und schließlich machte es ihr sogar Spaß. Auch Lui und Jan schienen Dank ihrer neuen Kräfte schneller voranzukommen. Navaje führte sie an, während Falem das Schlusslicht bildete.
Jenny und Jamie blieben weiter hinten. Jenny war schlecht gelaunt und redete die ganze Zeit kein einziges Wort mit ihnen.
Nach einiger Zeit blieb Navaje plötzlich stehen und deutete auf das Tal hinunter.
„Seht euch das an!“, sagte sie liebevoll, fast stolz.
Lee blieb der Mund offen stehen. „Wow!“, flüsterte sie.
Das Tal war eine Mischung aus riesigen Wiesen, Flüssen und Wäldern. Die Sonne tunkte alles in ein goldenes Licht.
„Was ist das da hinten?“, fragte Jan und deutete auf einen Wald, der inmitten eines riesigen Sees stand.
„Unser Ziel“, erwiderte Falem, der hinter ihm auftauchte. „Da müssen wir hin!“
Lui kniff die Augen zusammen. „Das sieht ganz anders aus, als die Zelte und die Umgebung des Wakatistamms.“
Navaje nickte. „Wir unterscheiden uns nicht nur darin, Lui. Doch von allen vier Völkern vertraue ich ihnen am meisten.“
Jan runzelte die Stirn. „Ich kann mir schon vorstellen: warum!“
Falem verdrehte die Augen. „Lasst uns weitergehen! Hier oben kann es gefährlich werden!“
„Weshalb denn?“, fragte Lee.
Ein unmenschlicher Schrei beantwortete ihre Frage.


∼ξ ∼ ψ ∼ ζ∼


„Runter!“, schrie Falem.
„Bewegt euch so wenig wie möglich!“, rief Navaje ihnen zu. Sie sprang in die Luft und landete als riesiger, grauer Wolf vor ihnen. Die Augen wachsam in den Himmel gerichtet.
Lee und Lilian hatten sich zu Boden fallen lassen. Lui lag halb auf, halb neben ihnen, um sie zu schützen.
Jan hatte Jenny heruntergerissen und hielt sie und den zappelnden Welpen fest.
Lee versuchte verzweifelt an Luis Schulter vorbeizugucken, um einen Blick auf den Angreifer zu erhaschen.
Er war recht groß. Ungefähr so groß wie der graue Wolf, der sich schützend vor die vier Kinder gestellt hatte.
„Ein Greif!“, rief Falem.
Endlich konnte Lee das Tier sehen. Der Kopf war mit Federn geschmückt und erinnerte an einen großen Adler, doch ab dem Halsansatz spross Fell hervor und verzierte den Körper eines Löwen. An der Schulter prangten zwei Adlerflügel und am Ende des Löwenschwanzes waren an Stelle der ?Quaste?, erneut Federn.
Die Krallen waren unglaublich scharf und spitz.
Lee schluckte.
Lee! Steh auf! Navajes scharfer Befehl riss Lee aus ihren Gedanken.
Steh auf! Los!
Schnell schubste Lee Lui von sich herunter und stand auf.
Und was jetzt?, fragte sie die Wölfin.
Lauf!, dröhnte die Stimme in ihrem Kopf. Nimm die anderen und lauf!
Lee schüttelte den Kopf. Lilian winselte ängstlich.
Was wird aus dir?, fragte das Mädchen.
Ich komme schon zurecht, Navajes Blick wurde einfühlsam. Falem wird auch bei mir bleiben! Rennt den Berg hinunter und verkriecht euch im Unterholz, aber gebt aufeinander acht! Es lauern noch mehr Gefahren als alleinwandernde Greife!
Lee wollte stehen bleiben und Navaje helfen, doch Falem, der nun mit gezogenem Schwert zu ihnen hinüberkam, schubste sie fort.
„Macht schon! Lauft!“, rief er. „Der da“, er deutete auf den Greif „ist noch nichts für euch!“
Lee schüttelte benommen den Kopf. Hinter ihr richteten Jan und Jenny sich auf.
Falem verdrehte genervt dir Augen. „Lui! Jan! Packt die Mädchen und lauft!“
Lui sah Falem an und nickte ihm zu.
Eine Geste, die Lee nicht ganz verstand, da es eher dankbar wirkte, doch schon hatte Lui sie um die Taille gepackt und fortgezogen.
Lilian!, rief Lee ihrem Welpen zu.
Der Wolf rannte neben ihr her und sah sie abwartend an.
Bleib bei mir! Das Mädchen sah sie hilfesuchend an.
Solange du bei mir bist!, erwiderte der Welpe.
Jan und Jenny schlossen sich ihnen an und so stolperten sie den Berg hinab.
Jamie und Lilian rannten neben ihren Menschen her und schienen sie anzutreiben.
Lui verwandelte sich während einem kurzen Sprung in den riesigen schwarzen Wolf.
Der Wolfskopf! Der einzige!
Der weiße Fleck auf seiner Stirn schien zu leuchten, als er im Rennen Lee mit der Schnauze nach oben schleuderte und sie auf seinem Rücken wieder auffing.
Auch Jan hatte sich in den nachtschwarzen Jason verwandelt und warf Jenny ebenfalls auf seinen Rücken.
Jamie und Lilian rannten ihnen nun voraus, als plötzlich zwei riesige Pfoten, mit viel zu langen Krallen, Lilian packten und in die Luft hoben.


∼ξ ∼ ψ ∼ ζ∼


„Nein!“ Lees Schrei war ohrenbetäubend laut.
Lui legte einen Zahn zu.
Lee sprang in die Luft, um Lilian aus den Klauen des zweiten Greifes zu reißen, doch sie war nicht hoch genug gesprungen.
Noch während sie in der Luft war, wurde sie plötzlich nach oben gestoßen. Lee schloss die Augen und packte zu.
Lilian seidiges Fell war fest in ihrer Faust.
Verwirrt, dass das Gewicht an seinen Klauen schwerer geworden war, ließ der Greif die beiden los, doch Lilian und Lee waren schon fünf Meter über dem Erdboden.
Lee presste Lilian an sich, während sie in die Tiefe fielen.
Mit einem gewaltigem Sprung fing Lui sie auf.
Lui! In den Wald!, rief Jan ihm zu.
Lui nickte.
Lee konnte sich gerade noch rechtzeitig in Luis Fell krallen und Lilian an sich drücken, als er plötzlich los schoss.
Jenny hatte Jamie zwischen sich und Jan gequetscht. Sie waren schnell, doch Lee hörte die Flügelschläge.
Plötzlich waren sie von Bäumen umgeben. Dunkles Grün umgab sie und schnitt sie von der Außenwelt ab.
Lui und Jan rannten unermüdlich weiter. Luis Sprünge wurden größer und unregelmäßiger, weil er hin und wieder über einen Baumstamm oder einen Bach springen musste, sodass Lee Mühe hatte sich mit Lilian oben zu halten.
Anhalten!, befahl Jan. Seit er seine neuen Kräfte entdeckt hatte, war er sehr dominant geworden, doch in diesem Fall war es praktisch, wenn nur einer die Oberhand hatte. Man musste sich nicht unnötig absprechen.
Denn dass sie dem Greif nicht entkommen konnten und sich ihm früher oder später stellen mussten, war jedem von ihnen klar.
Lui und er legten eine Vollbremsung hin. Lee hätte es fast von Luis Rücken geworfen, während er sich im Bremsen drehte und in die Richtung sah, aus der sie gekommen waren.
Jan trat neben Lui. Die Wölfe fixierten jedes kleinste Detail.
Es war still. Kein einziger Laut war zu hören. Nur Luis und Jans Hecheln hallten zu ihnen herüber. Lee hatte das Gefühl Lilian zu zerquetschen, doch sie wagte nicht, sich zu bewegen
„Haben wir sie abgeschüttelt?“, fragte Jenny leise.
Ein Kreischen durchfuhr das Dickicht.
Nein! Haben wir nicht!, knurrte Lui.
Der Greif schrie und flog im Sturzflug durch das Geäst auf sie zu.
Endlich konnte Lee sich wieder bewegen. Sie packte Lilian und sprang mit ihr von Luis Rücken. Er würde schneller und geschmeidiger sein, ohne ein Mädchen auf dem Rücken zu haben.
Entschlossen zog sie ihr Messer. Auch Jenny war von Jans Rücken gesprungen. Ihre Wurfsterne lagen bereit in ihrer Hand.
Jan und Lui sprangen zur Seite.
Mit einem dumpfen Aufprall landete der Greif auf dem Waldboden.
Starr standen sie sich gegenüber, doch dann ging der Greif zum Angriff über.
Krächzend rannte er auf Lee zu, die sich rechts an dem Greifen vorbei warf und Lilian links von ihm.
Das Ungetüm machte auf der Stelle kehrt und stand nun Lui und Jan gegenüber, die knurrend auf ihn zu rannten.
Jan sprang auf den Greif drauf und Lui packte den Greif am Genick.
Lee verschlug es den Atem, als das Tier sich einmal kurz schüttelte, wie um lästige Fliegen zu verscheuchen, und Jan und Lui ein paar Meter von sich wegschleuderte.
Lui und Jan kamen auf der Seite auf.
Er ist stark, dachte Lee fassungslos. Stärker als Lui und Jan zusammen!
Der Greif kreischte einmal kurz, bevor er sich auf Jenny stürzte, diese ließ sich zur Seite rollen und warf einen Wurfstern nach ihm.
Doch die scharfe Waffe prallte an dem Fell ab.
Lee realisierte plötzlich, dass sie ihren Bogen auf dem Rücken hatte. Sie hatte ihn gar nicht mehr wahrgenommen. Sofort riss sie ihn von der Schulter und legte einen Pfeil in die Sehne, während sie einen umgefallenen Baumstamm hoch lief. Als sie knapp über dem Greif war, sprang sie und ließ den Pfeil von der Sehne schnellen.
Das Ungetüm sprang zur Seite. Der Pfeil bohrte sich tief in die Erde.
Entsetzt landete Lee auf allen vieren. Sie war viel zu nahe am Greif dran. Er müsste nur einen Sprung machen und schon könnte er ihr problemlos den Kopf abreißen.
Der Greif witterte seine Chance und sprang mit einem gewaltigen Satz auf Lee zu.
Das Mädchen war unfähig sich zu rühren. Es würde sowieso nichts nützen. Hier kam sie niemals rechtzeitig raus.
Plötzlich zischte ein weißer Blitz an ihr vorbei und biss sich im Gefieder des Greifs fest.
Lilian!
Nein! Sie musste es versuchen, auch wenn es unmöglich war! Lilian wegen musste sie es versuchen!
Lee sprang von ihrem Platz weg. Lui, der ihr schon zur Hilfe geeilt war, rammte den Greifen von der Seite und stürzte sich auf ihn.
Allerdings hatte der Greif bald wieder die Kontrolle über sich und stieß Lilian und Lui von sich.
Mit einem Winseln schlug Lilian auf dem Boden auf.
Lee spürte einen stechenden Schmerz an der Schulter.
„Lilian!“, rief sie verzweifelt. Lilian rappelte sich kraftlos auf. Blut rann aus ihrer kleinen, kräftigen Schulter.
Rotes Blut auf weißem Fell. Es schien so vertraut, dass Lee automatisch die Luft anhalten musste.
Leyla!
Lilian! Verzweifelt strauchelte das Mädchen auf ihren Welpen zu.
Lee, der Jungwolf wimmerte kraftlos, lass mich nicht allein!
Solange du bei mir bist!, erwiderte Lee leise und hob sie vorsichtig auf ihren Arm.
Der Welpe schloss die Augen.
„Lee!“ Jennys verzweifelter Schrei holte sie wieder in den Kampf zurück. Sie hob den Blick und sah nur noch, wie der Greif auf sie zugeschossen kam. Mit geöffnetem Schnabel, um ihre Kehle in Empfang zu nehmen.
Dann passierte alles ganz schnell.
Der schwarze Wolf mit dem weißen Fleck auf der Stirn sprang hinter dem Greif hervor und verwandelte sich im Sprung in den Jungen zurück. Er packte Lee, bevor der Greif sie erreicht hatte, und riss sie mit zu Boden.
Gleichzeitig kam eine zweite Gestalt mit erhobenem Schwert von der Seite angerauscht und köpfte den Greif, der sofort Tod zu Boden fiel.
In dem Moment schlug Lee hart auf dem Boden auf. Lui hatte sich über sie gekniet.
Die Gestalt, die den Greifen getötet hatte, drehte sich zu ihr um.
Falem!


Kapitel 6
Lui stand vorsichtig auf und half Lee auf die Beine.
Jan kam in seiner Menschengestalt angerannt. Jenny und Jamie liefen zu Navaje, die sich gerade wieder in den Menschen zurückverwandelt hatte.
Lee war unfähig, sich zu bewegen. Sie spürte nur, wie sich Lilians Brustkorb immer schwächer hob und senkte.
Falem strich sein Schwert am Fell des Greifen ab, dann ging er mit energischen Schritten auf Lee zu.
„Was ist hier passiert?“, fragte er drängend.
Lee schluckte. „Es war doch kein alleinwandernder Greif.“
Falem sah sie mit hochgezogenem Augenbrauen an. Dann fiel sein Blick auf Lilian und schlagartig veränderte sich sein Gesichtsausdruck.
Sanft versuchte er Lee den Welpen aus dem Arm zu nehmen, doch das Mädchen klammerte sich an diesem fest.
„Nein, ich hab versprochen, dass ich sie nicht alleine lasse!“
„Du musst sie mir jetzt geben, Lee. Ich muss mir ihre Wunde ansehen. Sie ist verletzt.“
Krampfhaft hielt Lee Lilian umklammert.
„Du bekommst sie wieder. Ich werde ihr nichts tun! Ich muss sie nur heilen.“ Falems Augen hielten Lees fest. Sie wollte Lilian nicht diesem aufgeblasenem Typen geben, den sie kaum kannte.
„Ich bin auf deiner Seite, Lee. Ich will euch wirklich nur helfen. Du musst mir jetzt vertrauen!“
Falem griff vorsichtig in Lilians Fell.
Erschöpft gab Lee sich geschlagen und ließ ihren Wolf in Falems Arme gleiten.
Der Mann entfernte sich mit Lilian ein paar Schritte. Dann machte er ein Feuer.
Die anderen standen um den kleinen Kreis, den Falem unbewusst gezogen hatte, herum. Keiner wagte es, näher heranzutreten.
Falem warf ein paar Kräuter aus seinem Beutel ins Feuer. Es flackerte mystisch auf und wurde mit einer riesigen Stichflamme grün.
Lilian winselte leise.
Lee schloss die Augen und hielt sich die Ohren zu. Es war, als wäre sie diejenige, die verletzt wäre. Als wäre sie der kleine Jungwolf und als ob sie die Qualen der Verletzung spürte.
Auf einmal bemerkte sie ein leichtes Kribbeln in der Schulter und dann ein unnatürliches Brennen.
Lilian jaulte auf und Lee sackte aufschreiend auf die Knie.
„Lee! Ist alles in Ordnung? Was ist los?“
Nur von Weitem hörte sie Jenny und die anderen auf sich einreden.
Nur Falem schwieg. Er konzentrierte sich voll und ganz auf Lilian.
Dann bemerkte Lee, wie der Schmerz abebbte und wie sie ruhiger wurde.
Sie fühlte weiches Fell, das sich zitternd an sie presste.
Lilian!
Das Mädchen schlang die Arme um ihren Jungwolf und schwor sich innerlich, sie nie, niemals, wieder loszulassen!
Der Schmerz war weg, doch Lee fragte sich, wie sie ihn überhaupt hatte spüren können?


∼ξ ∼ ψ ∼ ζ∼


Der Junge taumelte, stolperte und fiel schließlich hin. Er stützte sich an dem kleinen, schäbigen Holztisch ab. Tonlos fuhr er sich mit der Hand über die linke Wange.
Sein Ziehvater stand groß und erschreckend kaltherzig über ihm.
„Sieh mich an!“, zischte er.
Der dunkelhaarige Junge starrte auf den dreckigen Holzboden, ohne den Mann auch nur zu beachten.
„Colin!“, rief der Mann wütend. Er war sehr groß und grobschlächtig gebaut. Er hatte kleine, braune Augen und ein großes Kinn.
Der Junge hob den Blick.
„Du wirst nicht noch einmal mit leeren Händen nach Hause kommen!“, raunte ihm sein Ziehvater zu.
„Vater, ich kann nichts dafür!“, verteidigte sich der Junge. „Die Soldaten hätten mich fast erwischt, wenn...“
„Sei still!“, rief der Mann unwirsch. „Ich dulde es nicht! Verstanden, Colin?“
Mit starrem Blick sah der Junge den Mann an.
„Ob du verstanden hast?“, schrie sein Ziehvater.
Der Junge schwieg trotzig.
Wütend ging der Mann auf ihn zu, um ihn noch einmal zu schlagen, überlegte es sich dann allerdings anders.
„Hör zu, wenn du einen von ihnen erledigst, dann...dann sind wir reich! Verstehst du, Colin?“ Der Blick des Mannes wurde plötzlich weich, fast fürsorglich. „Wenn du es schaffen würdest, dann...dann würden wir leben wie Könige!“
Colin sah den Mann vor ihm an. „Ich hatte es schon einmal versucht, Vater! Es klappt nicht! Sie sind zu schnell und zu schlau. Niemand könnte sie fangen!“
„Du bist nur ein Junge. Es ist kein Wunder, dass du es nicht schaffst“, sagte er im abfälligen Ton.
Wütend sah Colin ihn an. „Ich werde bald sechzehn! Ich bin besser als du und nicht nur mit dem Messer!“
Der Mann blickte verächtlich auf ihn herab. „Und trotzdem bist du nur ein Junge!“
Colin stand auf. Sein Blick jagte vielen anderen Bürgern Angst ein, doch sein Ziehvater ließ ihn kaltherzig an sich abprallen.
„Gib mir eine Woche und ich verspreche dir, dass ich einen finde, Vater! Ich werde ihn finden und ich werde ihn töten! Du wirst mich endlich anerkennen!“
Der Mann legte seinem Sohn eine Hand auf die Schulter. „Gib Acht! Du hast es gesagt, du musst es auch einhalten!“
„Das werde ich! Ich finde diese – Drachen!“
Der Mann musterte ihn noch einmal. „Eine Woche!“, sagte er und ging aus dem Zimmer.


∼ξ ∼ ψ ∼ ζ∼


„Der Hase macht mir Angst!“, meinte Lee.
Sie saßen um ein Feuer herum. Jenny, Lee und Navaje nahmen je einen Hasen aus. Es dämmerte gerade.
Falem hatte ihnen eingeschärft, sie sollten nur, wirklich nur, in der Dämmerung ein Feuer machen, weil es sonst andere Geschöpfe anlocken könnte.
Jenny starrte sie verwirrt an. „Wieso?“
„Guck dir seine Augen an“, erwiderte Lee und hielt wie zum Beweis den Hasen hoch. „Sie sind so...so – menschlich!“
Jenny wandte sich wieder ihrem Hasen zu. „Also, wenn ich einen Hasen sehe, dann denke ich nur an meinen toten Hasen. Du weißt schon: Jamie!“
Jamie, die zu Jennys Füßen lag, hob den Kopf und sah ihren Rudelgefährten an.
Jenny beugte sich zu ihr herunter und streichelte sie.
Als Jenny ihrem Wolfswelpen einen Namen aussuchen musste, benannte sie Jamie nach ihrem toten Hasen, da sie die selben blauen Augen gehabt hatten.
„Trotzdem!“, beharrte Lee. „Mit diesen Augen stimmt etwas nicht!“
„Das bildest du dir bestimmt nur ein“, meinte Jan, der fasziniert in die Flammen gestarrt hatte.
„Nein, tue ich nicht!“, sagte Lee trotzig. „Mit diesen Hasen stimmt wirklich etwas nicht!“, sagte Lui, der mit einem Stock im Feuer gestochert hatte. „Oder hast du nicht gemerkt, dass sie ganz komisch gerochen haben, als wir sie gefangen hatten, Jan?“
Jan zog einen Schmollmund. „War doch klar, dass du sie unterstützt“, grummelte er.
Lui grinste. „Tja, Lee und ich haben wohl denselben Spürsinn für Veränderungen, der bei dir wohl auszubleiben scheint.“
Mit offenem Mund starrte Jan ihn an.
Lui lachte.
„Na warte, Wolfskopf!“, raunte Jan. „Ich spüre gerade genau, dass sich bei dir gerade eine Stimmungsänderung abspielt. Du hast Angst vor mir!“
Lui grinste. „Siehst du, Jan. Genau das meine ich! Du hast einfach keinen Spürsinn für so etwas!“
„Idiot!“, lachte Jan und nahm Luis Kopf in den Schwitzkasten. „Mein Spürsinn sagte, dass dein Schädel es verlangt, tüchtig poliert zu werden!“
Lui lachte, während Jan ihm mit der Faust über den Kopf rieb.
Navaje schmunzelte, doch Falem stand auf und packte beide Jungen an einem Arm.
„Lasst das!“, zischte er wütend. „Wenn ihr so weiter macht, kommen wir niemals lebendig bei den Indianern an, geschweige denn beim Adlervolk!“
„Sei nicht so ein Spielverderber!“, grummelte Jan, während er Luis Kopf freigab und ihm, ohne hinzusehen, die Haare glatt strich.
Jenny kicherte. „Du solltest Friseur werden, Jan!“
„Wieso?“, fragte er Luis Haare immer noch glattstreichend.
Fluchend schubste Lui ihn von sich. „Bist du etwa neidisch auf meine Haare?“, fragte er neckend.
Jan lachte und wollte etwas antworten, als er plötzlich von Falems durchdringendem Blick ermahnt wurde.
Stattdessen verkniff er sich eine Bemerkung und grinste Lui nur an.
Seine braunen, zerzausten Haare waren ihm ins Gesicht gefallen und er strich sie sich hinters Ohr.
„Dieser Hase ist trotzdem seltsam!“, sagte Lee.
„Das spielt keine große Rolle“, meinte Falem, der sich wieder auf seinen Baumstamm gesetzt hatte, „ob er menschlich ist oder nicht.“
Lee nahm ihr Messer und schnitt noch tiefer in das Fleisch hinein, um die Eingeweide leichter aus dem Körper entfernen zu können. „Ich habe das Gefühl einen Menschen aufzuschlitzen!“
Falem sah sie mit einem Blick an, als ob sie nicht richtig zählen könne. „An dieses Gefühl musst du dich gewöhnen. Das wird dir noch oft genug begegnen.“
Nach diesen Worten war es lange still.
Lee fragte sich, was Falem schon alles erlebt hatte und schon alles durchmachen musste?
Was meinst du, wie viele Menschenleben er auf dem Gewissen hat?, fragte sie Lilian.
Lilian, die geschlafen hatte, gähnte einmal laut. Menschenleben? Ich weiß nicht, aber er hat genug unschuldiges Blut an seinen Fingern kleben. Das rieche ich bis hier.
Unschuldiges Blut?, fragte Lee. Es überraschte sie immer wieder, wie so ein kleiner Jungwolf soviel wissen konnte. Wie meinst du das?
Lebewesen, die ihm nichts getan haben! Jäger, die er nicht hätte töten müssen. Lilian reckte sich und trottete zu Lee hinüber, um sich zu ihren Füßen wieder hinzulegen.
Ich will nicht schlafen, wenn er bei uns ist!, sagte Lee.
Wieso nicht?, fragte Lilian verwirrt.
Lees Finger gruben sich in ihr weiches Fell. Weil ich ihm nicht vertraue! Ich habe Angst, dass er uns womöglich alle umbringt!
Was für einen Nutzen sollte er daraus ziehen?, fragte Lilian. Das Mädchen spürte die Müdigkeit in Lilians Kopf, die auch sie müde werden ließ. Zu müde.
Navaje nahm ihr den Hasen aus der Hand und als Lee sich umsah, merkte sie, dass die anderen schon in ihrem Schlafsack lagen. Falem saß noch immer auf dem Baumstamm und sah in den Wald.
Das Feuer war gelöscht worden.
Lee wusste nicht, wie lange sie schon über Falems Geschichte nachdachte, bevor sie angefangen hatte mit Lilian darüber zu reden.
Navaje riss sie aus ihren Gedanken. „Lee! Du musst dich ausruhen! Schlaf!“
Das Mädchen versuchte wieder etwas wacher zu werden, doch die Müdigkeit übermannte sie so sehr, dass sie schließlich zu ihrem Schlafsack neben Jenny kroch, schnell die Schuhe abstreifte und sich dann hineinlegte. Lilian war ihr gefolgt und kuschelte sich an sie.
Der warme Körper, der sich an sie presste, gab Lee ein Gefühl von Sicherheit, doch sie hatte trotzdem keine ruhige Nacht.
Sie träumte von Hasen mit menschlichem Gesicht und Falem, der versuchte den Menschenhasen, den Kopf abzuschneiden. Und bei jedem Kopf, den er abschlug, drehte er sich zu Lee um und sagte: „An dieses Gefühl musst du dich gewöhnen. Das wird dir noch oft genug begegnen.“


Kapitel 7
Colin lief weiter. Immer weiter über die Felder der Grafschaft Atrikulis, in der er lebte. Alle Städte bis auf ein paar unbedeutende Bauernsiedlungen waren von Lubomir eingenommen worden und hatten einen Grafen als Befehlshaber.
Die Menschen wurden unterdrückt und waren so arm, dass sie sich noch nicht mal einen Laib Brot kaufen konnten.
Überall, wo der Junge vorbei kam, sah er dieses Leid und er wusste ganz genau, dass es nicht sein durfte.
Doch was sollte er, wo er aus der Sicht der Anderen nur ein kleiner, unbedeutender Waisenjunge war, was sollte er tun?
Wie sollte er die Soldaten aufhalten, die täglich ihren Rundgang machten und wahllos Leute töteten, wie es ihnen gerade passte und sei es nur, weil sie arm waren und keine Bleibe hatten, weshalb sie keine Steuern zahlen konnten?
Colin verschloss oft die Augen, wenn er an solchen Szenen vorüberging. Früher hatte er versucht einzugreifen. Hatte versucht den Leuten zu helfen, die den Soldaten zum Opfer gefallen waren.
Was hatte es gebracht? Eine Schnittwunde ins Bein oder gar in die Schulter. Das hatten seine Worte gebracht!
Heute ging er an solchen Sachen vorüber. Es war ihm gleichgültig geworden.
Wie oft hatte er Aufträge bekommen? Aufträge, die lauteten, dass er eine bestimmte Person töten müsste. Danach würde er eine Belohnung bekommen. Eine Belohnung mit der er sich für einen ganzen Monat genug zu essen kaufen konnte.
Oft hatte er solche Aufträge bekommen. Immer war er erfolgreich gewesen. Mit dem Geld, das er dafür bekam, konnten er und sein Ziehvater sich für kurze Zeit über Wasser halten.
Sein Ziehvater fragte nicht, woher das Geld kam. Er wusste es, auch wenn Colin es ihm nie gesagt hatte.
Ein Leben mehr oder ein Leben weniger, was machte das für einen Unterschied?
Keinen! Es war egal! Alles war sinnlos! Colin verstand noch nicht einmal, warum es überhaupt einen Sinn geben sollte. Doch selbst darüber nachzudenken, war sinnlos!
Und wenn ihm jemand einen Pfeil in den Kopf jagen würde, so wäre auch das ihm gleichgültig. Denn es war egal. Egal ob er lebte oder starb. Sinnlos.
Er lief über einen kleinen Feldweg, der in die Berge führte. Seine Füße waren wund gelaufen. Er hatte keine Schuhe, im Gegensatz zu den wenigen Adligen in seiner Stadt. Seit er denken konnte, war er schon barfuss und in Lumpen herumgelaufen.
Nun hatte er eine schwarze, weite Hose und ein schwarzes, anliegendes, langärmliges Hemd. Außerdem noch ein Tuch, das sein halbes Gesicht verdeckte und ein langes, dünnes Samurai–Schwert. Das hatte sein Ziehvater ihm für seine Aufträge gekauft.
Nur Schuhe hatte er nicht bekommen. Sie wären zu kostspielig, da er in einem halben Jahr sowieso wieder aus ihnen herausgewachsen wäre.
Doch das machte Colin nichts aus.
Er hatte einmal Schuhe angezogen. Nur um zu gucken, ob es einem wirklich besser tat, mit Schuhen zu laufen.
Doch das einzige, was er gefühlt hatte, war, dass er keine Verbindung mehr zum Boden hatte. Er fühlte sich sehr unwohl mit solchen Dingern an den Füßen.
Barfuß konnte er die Steine spüren und jede einzige Regung der Erde.
Der Berg verlief nun sehr steil nach oben. Geschickt griff er nach Felsvorsprüngen und zog sich hoch.
Rechts von ihm musste sich der Takuma-Pfad befinden. Es war ein großer Wanderweg, an dem gerne Räuber, erschöpften Reisenden auflauerten, um sie hinterrücks zu ermorden und zu bestehlen. Den Weg würde er meiden. Er würde sich querfeldein durchschlagen und auf den kleinen Wildwechseln bleiben. Er wollte so hoch kommen, bis die Landschaft kahler wurde. Damit er sich nach Osten drehen und auf den Drachenpass wechseln konnte.
Nach dem Drachenpass würde er immer weiter nach Westen laufen bis er...bis...bis er sie gefunden hatte.
Colin biss die Zähne zusammen.
Nebel kam auf.
Wenn er bei diesem tückischem Unwetter weiter lief, würde er vermutlich in irgendeine Felsspalte fallen und verhungern, falls er den Fall überleben sollte.
Nein, es war zu gefährlich.
Schnell suchte der Junge nach einem engstehendem Wäldchen, wo er für heute sein Lager aufschlagen konnte.


∼ξ ∼ ψ ∼ ζ∼


Das Wasser glitt unter ihrem Kajak hinweg. Ganz sanft und ganz langsam.
Lilian saß im Fußraum und versuchte sich möglichst nicht zu bewegen.
Lee hatte nicht so viel Erfahrung im Kajak fahren, aber sie kam voran und fiel nicht um. Das war die Hauptsache.
Gerade eben waren sie bei den Indianern angekommen. Lee hatte es die Sprache verschlagen. Sie wusste im Moment nicht so wirklich, was sie sich vorgestellt hatte, aber auf alle Fälle nicht so etwas.
Holzhütten standen auf kleinen, enganliegenden Inseln, die durch Wasserwege voneinander getrennt waren. Jeder besaß ein Kajak.
Man konnte auch in den Wald gehen, in dem man ganz normal jagen konnte, doch um zurückzukommen, musste man wieder ins Kajak und über die Wasserstraßen zurück.
Jenny schien das Ganze richtig Spaß zu machen. Sie war schon früher mit ihrer Familie Kajak gefahren. Und sie war echt gut!
Jedes der Kinder hatte ein Kajak bekommen und nun durften sie sich erst einmal frei bewegen. Es war zwar schon Abenddämmerung, doch Navaje hatte ihnen erlaubt sich noch ein wenig umzusehen.
Morgen würde wieder ein hartes Training los gehen und außerdem würden sie ihren nächsten Reisegefährten treffen.
„Es ist so schön!“, schwärmte Jenny. „Die ganzen Vögel, das Wasser...ach ja, und – das!“
Mit ihrem Paddel spritzte sie Jan Wasser in den Nacken, der vor ihr paddelte.
„Hey!“ Er fuhr herum.
Jenny lachte und paddelte so schnell sie konnte an ihm vorbei.
Schon war eine wilde Verfolgungsjagd im Gange, die damit endete, dass Jans Kajak kenterte und Lui ihn aus dem Wasser ziehen musste.
„Nass geworden?“, fragte Lee Jan grinsend, der wieder versuchte in sein Kajak hereinzukommen.
„Das bist du auch gleich!“, knurrte er wütend, während Jenny lachte.
Lee kicherte, als sie plötzlich einen Schwall Wasser ins Gesicht bekam.
„Jenny!“, rief sie aus.
Lachend paddelte das Mädchen davon. „Fang mich doch, Lee!“
Lui schüttelte amüsiert den Kopf, während Jan mit einem lauten Krachen in seinem Kajak landete.
Manche Momente konnten einen so glücklich machen! Manchmal hatte sie das Gefühl, dass es nichts Schöneres gab und dass alles Traurige verschwunden wäre.
Doch sobald man sich wieder erinnerte, war es wieder vorbei. Und trotzdem konnte sie in solchen Momenten nichts aufhalten, um glücklich zu sein.
Lachend verfolgte sie Jenny, während die beiden Jungen zurückblieben.
„Na warte, gleich hab ich dich!“, rief sie Jenny nach.
„Haha! Das will ich sehen!“, kicherte das Mädchen.


∼ξ ∼ ψ ∼ ζ∼


„Komm schon, Lui! Hinterher!“, lachte Jan.
Lui schüttelte erneut amüsiert den Kopf. „Na dann! Wer als erster bei ihnen ist!“ Schon paddelte er los.
„Lui!“, rief Jan ihm nach. „Das gilt nicht!“
Allerdings war er bald wieder neben ihm. Während die beiden Jungen durchs Wasser pflügten, hörten sie plötzlich ein lautes Lachen. Gefolgt von einem Aufschrei.
„Das war Lee!“, sagte Lui entsetzt. Schnell bog er um die nächste Kurve und ließ Jan hinter sich.
Als er Lee erblickte, weiteten sich seine Augen, dann fing er an zu grinsen.
„Oh man!“, kicherte er. „Und ich hab schon gedacht, es wäre irgendetwas Schlimmes passiert.“
„Ist es ja!“, sagte Lee hilflos, während sich ihr Kajak sich immer weiter im Kreis drehte. „Was kann ich machen, damit es aufhört, sich zu drehen?“
Jenny saß in ihrem Kajak und lachte, während sie Lees Karussellfahrt musterte.
Jan kam um die Biegung. „Okay, Lui! Ich gebe auf!“, keuchte er. Plötzlich bemerkte er Lee und fing unkontrolliert an zu lachen.
„Haha!“, meinte Lee nur. „Das ist überhaupt nicht witzig! Ich komm hier gar nicht mehr raus und so langsam wird mir schwindlig.“
Lui und Jenny paddelten gleichzeitig zu ihr und hielten das Kajak an beiden Enden fest.
Lee schüttelte kurz den Kopf, um sich wieder an eine nicht-drehende-Welt zu gewöhnen.
„Danke!“, sagte sie und sah ihre Freunde vorwurfsvoll an. „Ein wenig früher, wäre aber auch nicht schlecht gewesen!“
Jenny gluckste und spritzte ihrer Freundin erneut einen Schwall Wasser ins Gesicht.
Lee wischte es mit ihrem Ärmel ab. „Jetzt reicht es mir mit dir!“, kicherte sie. „Lui, hilfst du mir mal?“ Sie packte Jennys Kajak.
„Hey! Nein!“, rief Jenny panisch.
„Mit dem größten Vergnügen!“, grinste Lui. Mit einem Ruck packte er Jennys Kajak ebenfalls und drehte es um.
Mit einem lauten Platschen landeten Jenny und Jamie im Wasser.
„Das war gemein!“, schmollte Jenny, während Lee ihr wieder half, ins Kajak zu klettern.
„Ich fand’s witzig!“, lachte Jan.
„Idiot!“, knurrte Jenny. Doch dann lachte sie. „Wir sind schon witzig!“, meinte sie stattdessen.
„Da muss ich dir recht geben!“, grinste Jan. Lee lachte und schubste Lui spielerisch von sich, was ihr erneut einen Schwall Wasser einbrachte.
Als sie eine Wiese bemerkten, gingen sie dort vor Anker und legten sich ins Gras, um trocken zu werden.
Lui strich sich den nassen Pony aus dem Gesicht und sah zu Lee hinüber, die ihre Augen geschlossen hatte und zufrieden lächelte.
Lilian hatte sich an sie geschmiegt.
Während Jan gähnte und sich reckte, wurde er von Jamie zurück zu Boden geworfen und abgeleckt.
Jenny lachte.
Lui grinste. „Da scheint dich aber jemand gern zu haben!“, meinte er zu Jan.
Jan und Jenny erröteten gleichzeitig.
Schließlich wischte sich Jan die Wolfsspucke aus dem Gesicht und sagte: „Ich bin eben sehr begehrenswert!“
Lui lachte.
Sie waren schon ein tolles Team! Für nichts auf der Welt würde er zulassen, dass sie auseinander gerissen würden. Für immer zusammen!


∼ξ ∼ ψ ∼ ζ∼


Der Nebel verschwand schnell. Es schien, als ob er Angst vor der Sonne hätte, die langsam hinter dem Berg hervorkam. In ein paar Minuten konnte er weiter gehen. Aber vorsichtig und langsam. Als der Nebel sich verflüchtigt hatte, packte er seine Sachen zusammen und ging weiter.
Es wurde immer steiniger und steiler, doch er kam gut damit klar.
Colin überlegte gerade, wie er den Drachen am Besten fangen sollte, als er auf einmal ein Geräusch wahrnahm.
Schritte! Und noch nicht einmal so wenige. Sie kamen schnell näher. Sofort zog er sich sein Tuch bis über die Nase. Wenn ihn Soldaten entdeckten, hatte er ein großes Problem, denn es war verboten, ohne Erlaubnis in eine andere Grafschaft vorzudringen und er wusste noch nicht mal, in wessen Grafschaft er sich überhaupt befand.
Verdammt!
Schnell zog sich Colin mit einer flüssigen Bewegung am nächsten Ast hoch und wartete ab.
Es waren an die dreißig Männer.
Räuber und Banditen!
„Hier hören die Spuren auf!“ Ein grobschlächtiger Mann beugte sich über die Stelle, an der Colin eben noch gestanden hatte.
„Bist du dir sicher?“, fragte einer der Räuber mit einem großen Schwert.
„Er kann doch nicht fortgeflogen sein“, meinte ein anderer.
„Nein – nicht fortgeflogen!“, erwiderte der Spurenleser. „Die Fußabdrücke, sind tiefer, als die anderen. Er ist gesprungen!“
Mist!
„Das bedeutet er ist auf dem Baum!“, rief der Räuber mit dem großen Schwert.
Sie scheinen etwas einfältig zu sein!
Mit einem Seufzen ließ Colin sich vom Baum fallen.
Wie eine Katze landete er vor den Räubern und richtete sich langsam auf.
Warum nicht ein bisschen Spaß haben? Das Training würde ihm sicher gut tun.
Die Räuber, die bei seinem Aufprall zurückgewichen waren, starrten ihn fassungslos an.
„Na, Junge?“, fragte der Spurenleser böse grinsend. „Wohl vom Baum gefallen, was?“
„Der sieht aber nicht sehr wohlhabend aus!“, gab ein Räuber zu bedenken.
„Das tut nichts zur Sache!“, sagte ein anderer. „Er hat ein kostbares Schwert!“
„Das hol ich mir!“, rief der Bandit mit dem großen Schwert. „Damit ihr’s wisst! Das Schwert gehört mir!“
Colin zog es aus der Scheide. „Dann hol es dir! Aber dein Messer gehört mir!“
„Ich kämpfe nicht gegen einen vermummten Gegner!“, erwiderte der Spurenleser. „Zeig uns dein Gesicht!“
„Nimm mir das Tuch doch ab!“, erwiderte Colin und ging in Kampfstellung.
Der Spurenleser griff an seine Messerscheide, das an einer Schnur baumelte ums seine Brust baumelte.
Colin hatte bemerkt, dass dieses Messer etwas Besonderes an sich hatte.
„Vergiss es, Bürschchen!“, erwiderte der Mann. „Das Messer habe ich dem Magier Tabarz höchst persönlich abgeknöpft.“
„Du lügst!“, giftete Colin. „Das vermag keiner! Du hättest ihn dafür töten müssen!“
„Nein“, erwiderte der Räuber „Ich habe ihn in einem offenem Kampf besiegt!“
Colin lachte bitter. „In einem Kampf? Wahrscheinlich hat er es verloren oder wer weiß, vielleicht arbeitest du auch selbst für ihn und du hast ihm dieses Messer im Schlaf gestohlen!“
„Zweifelst du etwa an meiner Kampfeskunst?“, fragte der Räuber wütend.
„Nein, ich zweifle an deinem Erinnerungsvermögen! Keiner hat einen Kampf gegen Tabarz je überlebt!“
„Das lass ich mir nicht bieten, Jungchen! Nicht von einem Möchtegern Krieger wie dir!“ Mit einer wütenden Geste zog er sein Schwert. „Auf ihn!“
Mit lautem Gegröle ging die Bande zum Angriff über.
Der erste Gegner war leicht zu besiegen. Mit einem Seitenschlag seines Samuraischwertes hatte Colin ihm schon das Schwert aus der Hand geschlagen und den Räuber mit einem Tritt zu Boden geworfen, wodurch fünf andere Banditen über ihn gestolpert waren.
Ein Schwert sauste hinter Colins Rücken auf ihn herab. Er machte einen kleinen Schritt auf die Seite und das Schwert knallte mit voller Wucht auf den Boden. Das nächste Schwert zielte auf seine Halsschlagader. Mit einem triumphierenden Lächeln duckte Colin sich darunter hinweg.
Während er noch auswich, rauschte ein anderes Schwert heran und wollte ihm ganz offensichtlich die Beine abschlagen. Sofort sprang Colin mit vorgelehntem Körper in die Luft, sodass er in der Waagrechte war und das eine Schwert über und das andere unter ihm hinwegrauschte.
Als er wieder aufrecht stand, beugte er sich unter einer Axt hinweg und schlug sein Schwert nach links wodurch er einen weiteren Räuber außer Gefecht setzte. Dann rammte er dem Räuber mit der Axt sein Knie in den Bauch und drehte ihn mit einem gekonnten Schwung herum. Drei Schwerter bohrten sich in den Körper des Räubers.
Colin sprang hoch in die Luft und landete auf dem verwirrten Gesicht eines Mannes, der ihn mit offenem Mund angestarrt hatte.
Mit einem weiteren Sprung landete er wieder auf dem Boden.
Eine kalte Kraft, die sich immer genau dann einstellte, wenn er einen seiner Aufträge erledigte, machte sich in seinem Körper breit.
Das Einzige, was er noch wahrnahm, waren Angriffspunkte und die scharfen Schwerter und Äxte, denen er spielend leicht auswich.
Nach ein paar Minuten war er der Einzige, der noch stand. Colin bemerkte, wie sich das kalte Gefühl langsam verflüchtigte.
Mindestens zehn Räuber hatte er getötet. Die anderen zwanzig waren bewusstlos oder kurz davor zu sterben.
Ausdruckslos ließ er sein Schwert wieder in die Scheide gleiten. Seine Augen suchten nach dem Spurenleser. Als er ihn entdeckt hatte, merkte er, dass dieser eine tiefe Wunde im Bauch hatte.
Er kniete sich neben den Räuber.
„W-Wer bist du?“, stammelte der Mann mit einem widerlichen Gurgeln in der Kehle.
Colin schwieg und schnitt mit seinem Messer das Band durch, an dem die Messerscheide hing und in der das Messer von Tabarz steckte.
„Junge...“, keuchte der Spurenleser. „Wie...wie ist dein Name?“
Der Junge sah in die grauen Augen des Mannes. „Keiner, der dich interessieren sollte!“
„S-Sag mir, wo du herkommst!“, befahl der Räuber schwach.
Colin sah den Mann kommentarlos an. Schließlich wandte er den Blick auf das Messer und prüfte es. „Ich weiß es nicht!“
Der Räuber gurgelte noch einmal etwas Unverständliches. Blut troff aus seinem Mund.
„Dein...Name...Junge!“, sagte er verzweifelt. „Ich will...den Namen...meines Mörders kennen!“
Der Junge erhob sich. „Colin!“
Mit einem erleichterten Seufzen ließ der Räuber den Kopf zur Seite fallen und schloss die Augen.
Eine kalte Brise kam auf und zerzauste die dunklen Haare des Jungen.
Colin ließ den Blick über die toten Körper wandern. Er atmete einmal tief ein, bevor er mit großen Sprüngen über die Leichen hinweg sprang.
Das Messer des Magiers steckte er sich in seinen schwarzen Lederbeutel, der auf seinem Rücken hing und mit einer braunen Lederschnur, die quer über seine Brust verlief, befestigt war.
Colin sah noch einmal zurück. Das Training hatte seinem Körper gut getan.
Er drehte sich wieder um und ging weiter seines Weges.


Kapitel 8
Lee saß mit ihren Reisegefährten in der Häuptlingshütte auf dem Boden und wartete schweigend auf ihren nächsten Begleiter. Der Häuptling saß vor ihnen auf einem hölzernen Stuhl. Er war alt und wirkte etwas gebrechlich, doch Lee wollte ihn lieber nicht unterschätzen.
Neben ihm wartete ein Schamane und rechts und links hinter dem Häuptling standen zwei Wachen.
„Lorsch wird bald hier eintreffen!“, sagte der Schamane Koriu.
Lorsch? Lee musste sich ein Grinsen verkneifen.
Das klang sehr nach ‚Frosch’!
Nicht nur der Lebensraum der Indianer unterschied sich vom Wakatistamm, sondern sie sahen auch anders aus.
Ihre Hautfarbe war heller, auf je einer Wange hatten sie zwei waagrechte, parallel verlaufene, rote Streifen und auf der Stirn eine rote Schlangenlinie.
Allerdings war Lee aufgefallen, dass nur die erwachsenen Indianer, also, diejenigen die über vierzehn waren, die rote Schlangenlinie auf der Stirn hatten.
Und der Schamane der rechts vom Häuptling stand, hatte grüne Punkte in den Höhen und Tiefen der Schlangenlinie.
Der Häuptling Jorou hatte zwischen den beiden roten Linien auf seiner Wange blaue Punkte. Doch hatte er auch wie Häuptling Hasa des Wakatistammes einen riesigen Federkranz auf seinem Kopf.
Falem schien sich hier sichtlich unwohl zu fühlen. Seine Hand lag am Griff seines Messers.
Navaje allerdings schien entspannter zu sein, als bei den Elben. Wahrscheinlich beruhigte es sie ungemein, ihre Bräuche zu kennen.
Plötzlich glitt das Tuch, das den Eingang der Hütte verdeckte, zur Seite.
„Du hast uns lange warten lassen!“, sagte der Häuptling ausdruckslos.
„Verzeiht!“, sagte der Junge, der soeben durch die Tür kam und sich neben Lee in einer Verbeugung auf den Boden kniete.
Lee musterte ihn. Er war sehr groß. Mindestens eineinhalb Köpfe größer als sie selbst und schien ungefähr siebzehn zu sein.
Seine schwarzen Haare fielen ihm ins Gesicht. Er trug wie alle Indianer die braune Lederkleidung und hatte wie alle Erwachsenen die selbe Tätowierung auf der Stirn.
Aber als Lees Blick auf seinen Gürtel fiel, verschlug es ihr die Sprache.
Wurfmesser, Shuriken und andere spitze Gegenstände, die eindeutig für einen Kampf auf weiter Distanz geeignet waren, baumelten daran. Außerdem einige kleine Lederbeutel und ein dreißig Zentimeter langes Messer, das in einer braungrünen Scheide steckte.
Lee fiel es wie Schuppen von den Augen. Dieser ‚Frosch’ würde der nächste Schamane werden!
„Nun, da Lorsch eingetroffen ist“, fuhr der Schamane Koriu fort, „können wir uns zum Training begeben.“
Da sich alle um Lee erhoben, streckte auch sie sich und stand gehorsam auf.
Lilian reckte sich ebenfalls und gähnte laut hörbar, während Jamie liegen blieb und sich nicht um die anderen zu kümmern schien.
„Ihr dürft gehen!“, sagte Häuptling Jorou. „Trainiere ihre Schwächen Koriu!“
„Ja, Häuptling Jorou!“, erwiderte der Schamane. Dann wandte er sich an seine Gäste. „Folgt mir!“
Er führte sie aus der Hütte zu einem riesigen Kanu, wo sie alle hinein passten.
Zwei weitere Indianer fuhren sie zu einem großen Kiesplatz, der am Wasser lag.
Es war fast so wie bei den Elben.
Eine Ecke für die Messerkämpfer, eine für die Bogenschützen, eine zum Hindernislauf...
„Erst werdet ihr alle Disziplinen einmal vorführen“, erklärte Koriu ihnen. „Dann werde ich mir eure Schwächen ansehen und euch verschiedenen Stationen zuweisen!“
„Das klingt ja wie in der Schule!“, flüsterte Lee Jan zu, der gerade neben ihr stand.
„Sie werden schnell merken, dass wir keine Schwächen haben!“, raunte Jan grinsend zurück.
Lee kicherte leise.
Aber natürlich hatten sie doch Schwächen.
Zu Beginn ließ Koriu sie alle so lange rennen, wie sie konnten. Jenny musste als Erste aussteigen. Ausdauer war noch nie ihr Ding gewesen.
Nach einer halben Stunde gesellte sich Lee keuchend zu ihr.
„Na?“, meinte Jenny. „Kannst du auch nicht mehr?“
„Ich bin eher ein Kurzstreckensprinter!“, grinste Lee hechelnd. Lilian und Jamie legten sich neben ihre Rudelgefährten und sahen zu wie erst Lorsch und dann Falem ausstiegen.
„War ja klar, dass unsere Seelenwölfe länger drin bleiben!“, meinte Jenny. „Die laufen jetzt schon super lange!“
Schließlich gesellte sich Jan schwer atmend zu ihnen. „Diese neuen Kräfte...sind der Hammer!“, keuchte er grinsend.
„Pass auf, den Sabber muss noch jemand wegwischen!“, erwiderte Lee trocken.
„Haha!“, erwiderte Jan und fuhr sich über den Mund.
Auf einmal gab Navaje auf und Lui lief noch eine Extrarunde, bis auch er zu ihnen kam.
Navaje schien etwas verwirrt zu sein. Wie hatte ein Kind sie nur schlagen können? Sie musste sich immer wieder in Erinnerung rufen, dass er ein Wolfskopf war und damit übermenschliche Kräfte besaß.
„Das habt ihr alle recht gut gemeistert!“, meinte Koriu. „Doch es muss besser gehen! Wenn ihr über mehrere Tage verfolgt werdet, solltet ihr es schaffen in einem bestimmten Tempo zu laufen!“
„Wenn wir ein paar Tage verfolgt werden, bringen wir sie um!“, konterte Jan trocken.
„Man widerspricht Koriu nicht!“, erwiderte Lorsch giftig. „Er hat uns einen Rat gegeben und es wäre besser ihn zu befolgen!“
„Ich habe aus diesem Satz nur herausgehört, dass wir mehr Ausdauertraining machen sollten!“, meinte Jan.
„So ist es, Seelenwolf!“, sagte der Schamane. „Doch weiter! Wir gehen über zum Tai-Jutsu!“
Lee und die anderen mussten ihm verschiedene Tritte und Schläge zeigen. Er verlangte eine enorme Körperbeherrschung.
Ein Rad, Radwende, Salto aus dem Stand, Handstand-Überschlag und so einiges mehr.
Lee wurde mit allen spielend leicht fertig. Sie wusste auch nicht, was auf einmal mit ihr los war. Sie sah wie Koriu es ihnen vormachte und konnte es ihm gleichtun.
„In dir steckt eine ungeahnte Kraft!“, sagte der Schamane anerkennend. „Du musst sie trainieren und sie umsetzen können!“
Lee lächelte ihn an. Sie freute sich, dass Koriu sie lobte.
Jan und Falem hatten Schwierigkeiten mit dem Handstand-Überschlag.
Jenny schien auch gut zu sein, auch wenn ihr ein paar Übungen nicht gelangen. Sie beneidete Lee, dass sie sich so gut kontrollieren konnte.
So ging es weiter. Viele Übungen und Disziplinen und sogar Kajak fahren und ein IQ-Test standen auf dem Plan.
Nachdem sie eine Pause eingelegt und ein wenig gegessen und getrunken hatten, wurden sie aufgeteilt.
Jenny musste zum Konditionstraining und Jan zum Tai-Jutsu.
Bei Navaje wusste er nicht, wo er sie hin stecken sollte, da sie in allem recht gut war. Schließlich schickte Koriu sie zu einer Station, an der man irgendetwas mit Strategie zu tun hatte. Lee wusste nicht genau, worum es sich handelte.
Falem sollte Kajak fahren und eine Gleichgewichtsübung machen.
Lui wurde zum Messerkampf geschickt, da seine Verteidigung sehr schwach war und Lee musste zu einem Hindernislauf.
Es war ein komplizierter Parcour. Er lag in einem kleinen Wald, der ungefähr hundert Meter lang und mindestes genauso breit war.
Lees Aufgabe war es, den schnellsten Weg von der einen Seite über Steine, Moräste und Felsspalten zur anderen Seite zu finden. Und das binnen von Sekunden.
Es gab nur eine einzige Regel: Sie durfte nicht stehen bleiben und sich die Hindernisse ansehen.
„Erkenne den sicheren Pfad!“, hatte Koriu ihr gesagt. Mehr nicht.
Lee hatte nur mit den Schultern gezuckt. Wenn er meinte! Sie hatte ja Lilian!
Lorsch sollte sie beaufsichtigen und ihr, wenn nötig, zu Hilfe kommen.
Er hatte sie mit einem überheblichen Blick angesehen und Lee hatte nur geschnaubt und gemeint, dass sie seine Hilfe bestimmt nicht brauchen würde.
Nun stand sie mit Lilian am Anfang dieses Parcours.
Bereit jeden Moment loszusprinten, wartete sie auf Lorschs Zeichen.
Langsam hob er eine Hand.
Bereit?, fragte Lee Lilian.
Mit dir, erwiderte der Welpe.
Lorschs Hand sauste nach unten. „Los!“


∼ξ ∼ ψ ∼ ζ∼


Mit einem Sprung ließ er sich auf den Steinboden fallen.
Vor ihm lag der Drachenpass. Ein sehr schmaler, geschwungener Pfad auf einer Felskuppe. Zu beiden Seiten ging es unendlich weit in die Tiefe.
Wie gut, dass er keine Höhenangst hatte!
Während er sich langsam und vorsichtig über den Pfad tastete und zu beiden Seiten Steine bröckelten, ohne dass er einen Aufprall hörte, fragte er sich erneut, wie es ihm gelingen sollte, einen von ihnen zu fangen? Geschweige denn, einen zu finden?
Er schüttelte den Kopf. Es machte keinen Sinn sich darüber Gedanken zu machen! Er musste auf sein Geschick und sein Glück vertrauen. Auch wenn er nicht gerade sehr viel Glück hatte.
Nach ein paar Stunden griff er nach seinem Wasserbeutel und nahm ein paar Schlucke.
Er musste seine Vorräte bald auffrischen, wenn er nicht verdursten wollte. Der Pfad wurde immer schmaler und bröckliger.
Halb sprang, halb tanzte er über und um die klaffenden Ritzen, die sich vor ihm auftaten.
Ein falscher Schritt kann tödlich sein!
Auf einmal ertönte hinter ihm ein lautes Krachen.
Entsetzt drehte er sich um. Der Pass begann wegzurutschen. Er musste so schnell wie möglich die andere Seite erreichen, doch die war noch gute fünfhundert Meter entfernt.
Sofort sprintete er los. Achtete auf seine Schritte und flog quasi über den Pfad.
Er spürte nur noch, wie der Boden unter ihm nachgab und wie er sich noch ein letztes Mal abstieß, um das rettende Ende des Drachenpasses zu erreichen.
Auf Knien und Händen landete er auf festem Boden.
Er hatte es geschafft!
Erschöpft ließ er sich zu Boden sinken und starrte auf den zerstörten Weg hinter ihm. Den konnte er als Rückweg nicht mehr verwenden.
„Na, Junge?“, hörte er eine unfreundliche Stimme. Schon wurde er am Kragen gepackt und in die Luft gehoben. Der Geruch von Wein und Rauch schlug ihm ins Gesicht.
„Was machst du hier?“, fragte eine weitere Stimme barsch. Vor ihm standen zwei Männer. Zwei muskulöse Schränke mit dicken Nasen und aufgedunsenen Lippen.
„Ist das dein Schwert?“
Colin spürte wie ihm sein Schwert abgenommen wurde.
„Oder hast du es jemandem weggenommen?“, fragte der Mann, der ihn festhielt.
Colin schluckte. Ohne sein Schwert, konnte er nicht viel ausrichten.
„Er schweigt“, stellte der andere Mann nüchtern fest. „Dann gehört das Schwert ab jetzt mir!“
Der Junge versuchte verzweifelt sich einen Plan auszudenken. Kämpfen konnte er in seinem Zustand nicht. Er war noch zu geschwächt von dem Sprint und dem letzten Kampf, außerdem hatte er kein Schwert.
„Mir scheint, du hast keine besonders guten Ohren!“, zischte der Mann, der den Jungen festhielt.
„Tja...“, meinte Colin grinsend. Seine Zunge hatte er zum Glück nicht verschluckt und lange zu schweigen, war noch nie seine Stärke gewesen. „Dafür ist meine Nase leider umso besser!“
„Du unverschämter, kleiner - “, fuhr der Mann ihn an, doch er wurde von seinem Kollegen unterbrochen.
„Lass ihn! Wir nehmen ihn mit! Kräftig ist er ja. Er wird bestimmt ein guter Arbeitssklave werden!“
Colin riss erschrocken die Augen auf. Nein!
Wütend schlug er um sich und rammte dem Mann, der ihn festhielt, sein Knie in den Bauch.
Fluchend stöhnte der Mann auf und ließ Colin los.
Flink wie ein Wiesel huschte der Junge an ihm vorbei und wollte gerade im Unterholz verschwinden, als sich etwas schweres um seine Beine schloss und er unsanft vorn über fiel. Er hörte wie die Männer ihm nachkamen, vernahm einen dumpfen Schlag und dann wurde alles dunkel.


Kapitel 9
Gleichzeitig rannten Lee und Lilian los. Der Welpe immer dicht neben dem Mädchen.
Schon teilte sich der Weg. Der rechte Weg war ein sehr breiter, flacher Pfad.
Der linke allerdings war ein kleiner Wildwechsel.
Der große Weg ist bestimmt schwieriger!, meinte Lee im Rennen.
Ich folge dir, erwiderte Lilian, während Lee schon auf den linken Pfad trat und über die erste Hürde, einen umgefallenen Baumstamm, hinweg sprang. Lilian huschte ohne Probleme darunter durch.
Plötzlich kamen sie an eine breite Spalte, an dessen Boden seltsame Pflanzen wuchsen.
Um den Parcour zu bewältigen, mussten sie irgendwie über die Spalte. Links von ihr war eine nicht gerade sehr vertrauenerweckende Brücke.
Springen?, hechelte Lilian fragend.
Lee schluckte und musterte die breite Spalte. Das waren gute fünf Meter.
Vielleicht können wir die Spalte umgehen, meinte das Mädchen nachdenklich. Sie atmete schwer, war aber bereit weiter zu laufen.
Welche Richtung?, fragte der Jungwolf.
Lee sah sich kurz um. Beide Seiten sahen gleich aus. Wenn sie in die eine Richtung gingen, konnte es sein, dass die Spalte in dieser Richtung länger war, als in der anderen.
Doch sie hatten nicht ewig Zeit und konnten nicht beide Wege nacheinander absuchen.
Du links! Ich rechts!, erwiderte sie stattdessen. Derjenige, bei dem die Spalte zuerst aufhört, ruft den anderen!
Wie auf ein geheimes Zeichen stoben sie gleichzeitig auseinander und rannten an der Spalte entlang.
Ein Baum hing quer über dem kleinen Trampelpfad den Lee gewählt hatte. Schnell duckte sie sich darunter hinweg und sprang über eine riesige Wurzel.
Lee keuchte und achtete weiter auf ihre Umgebung. Als sie kurz den Kopf wand, sah sie, dass die Spalte noch immer da war.
Sie war noch nicht lange gelaufen, als sie ein Winseln vernahm.
Es war so laut, dass Lee erschrocken inne hielt. Es war in ihrem Kopf gewesen. Da war es schon wieder!
Lilian!
Sofort drehte sie um und raste in die andere Richtung.
Lilian! Ich komme!, rief sie verzweifelt. Sie hatte das Gefühl als würde sie zu Boden gedrückt werden und keine Luft mehr bekommen.
Schnell schlug sie ein paar Zweige zur Seite, die auf ihrer Kopfhöhe gehangen hatten.
Rudelgefährte!
Lilians Flehen war schwach.
Lilian! Wo bist du? Verzweifelt sprintete Lee durch unbekanntes Gestrüpp. Wo bist du?
Keine Antwort!
Lilian? Lilian! Lee spürte, wie sich ihre Brust zuschnürte. Das hier war doch nur Training. Hier war doch nichts, was ihnen schaden könnte, oder doch?
„Lilian!“, schrie sie.
Auf einmal stolperte sie über eine Wurzel. Schnell richtete sie sich wieder auf.
„Lilian“, flüsterte sie leise. Tränen traten ihr in die Augen.
Da bemerkte sie einen kleinen Fluss mit einem Sandstrand, der vor ihr lag.
Plötzlich spürte sie Lilian. Sie spürte ihre Anwesenheit. Sie spürte, dass Lilian hier irgendwo war! Hier ganz in der Nähe!
Sie ging ein paar Schritte auf das Wasser zu. Das Gefühl wurde stärker.
Vor ihr blitzte ein Stück weißes Fell auf. Vor ihr...im Sand!
Sofort beugte sich Lee herunter und versuchte eine mit Sand bedeckte Lilian herauszuziehen. Von ihrer Angst angetrieben zerrte sie mit aller Kraft an ihrem Jungwolf.
Wenn sie sich nicht beeilte, dann würde Lilian ersticken! Das wusste sie.
Mit einem komischen, saugendem Geräusch kam Lilians Kopf an die Oberfläche. Die Augen vom Sand verklebt.
Schließlich hielt Lee den ganzen versandeten Körper in den Armen.
Rudelgefährte!
Lilians Stimme war schwach.
„Lilian! Ich bin da! Es wird alles gut!“, versicherte das Mädchen ihr.
Nein!, erwiderte der Jungwolf erschöpft. Nein, keine Zeit...
„Keine Zeit?“, fragte Lee mit Tränen in den Augen. „Was meinst du?“
Keine Zeit...
Plötzlich fiel es Lee wie Schuppen von den Augen. Schnell blickte sie an sich herunter.
Nein!, rief sie verzweifelt aus. Sie stand fast bis zur Hüfte im feuchten, kalten Sand. Sie hatte keine Zeit mehr zu entkommen......Keine Zeit!
Oh nein! Lilian?, rief sie panisch, doch der Welpe antwortete nicht. Ganz schlaff hing er in ihren Armen.
Plötzlich kam Lee nur noch ein Gedanke in den Sinn: Lorsch!
Er sollte ihr doch helfen, wenn sie Probleme hatte.
„Lorsch!!“, schrie sie verzweifelt, als der Sand ihre Brust erreichte.


∼ξ ∼ ψ ∼ ζ∼


Seine Hände waren gefesselt, ebenso seine Fußgelenke. Er hatte Pech gehabt! Großes Pech!
Die Soldaten hatten ihn mitten in ihr Lager geschleppt. Es war ein recht großes Lager mit vielen Zelten und vielen Soldaten...
Colin war sitzend an einen Baum gefesselt. An einem Baum ihm gegenüber lagen seine Sachen. Sein Schwert, seine Messer und das Messer!
Verdammt!
Natürlich, eine Räuberbande konnte er sofort unfähig machen, aber gegen zwei Soldaten kam er nicht an.........Na super, ein toller Kämpfer war er!
Aufmerksam sah er sich nach irgendwelchen spitzen Gegenständen um, mit denen er seine Fesseln durchtrennen könnte.
Ihm fiel eine scharfe Glasscherbe ins Auge, die links von ihm lag. Wenn er es schaffte, sich ein wenig nach links zu bewegen, könnte er sie mit den Füßen näher zu sich heran ziehen.
Langsam rutschte er immer weiter nach links. Dann hob er seine Füße und versuchte die Glasscherbe zu erreichen.
Ja! Jetzt musste er sich nur noch mit dem Oberkörper so drehen, dass er mit seinen Händen, die ihm auf den Rücken gefesselt worden waren, die Glasscherbe nehmen konnte.
Noch ein kleines Stück.......nur noch ein bisschen.....
„Hey, Kleiner!“ Ein Soldat kam auf ihn zu. Colin erkannte in ihm den Soldaten, der sein Schwert für sich beansprucht hatte.
Der Junge bewegte sich nicht von der Stelle. Der Soldat kam noch näher und stellte seinen Fuß genau auf die Glasscherbe.
Hatte er gemerkt, dass Colin sie benutzen wollte, um die Fesseln loszuschneiden und zu fliehen?
Nein, hatte er nicht!
„Was hast du da draußen gemacht?“, fragte der Soldat stattdessen und beugte sich zu ihm herunter.
„Ich wüsste nicht, was Euch das angehen sollte!“, erwiderte Colin.
Der Soldat sah ihn durchdringend an. „Wenn du nicht reden willst, dann muss der Magier wohl entscheiden, was mit dir geschehen soll!“
Colin schluckte. Tabarz!
Auf keinen Fall wollte Colin dem Magier unter die Augen treten. Doch er würde auch auf keinen Fall reden. Der Junge biss sich fest auf die Lippe und sah den Soldaten störrisch an.
Der Soldat zuckte mit den Schultern. „Wie du meinst, aber freuen wird dich diese Begegnung sicher nicht, Junge!“
Mit einem Ruck erhob er sich wieder zu seiner vollen Größe und brachte damit die Scherbe noch näher an Colins Hände.
Ja!
Der Junge grinste, als der Soldat ihm den Rücken zugedreht hatte und gegangen war. Schon hatte er die Scherbe in der Hand. Sie war so scharf, dass er spürte, wie sich sein Blut in den Handflächen sammelte, und das nur, weil er sie berührt hatte.
Er würde warten, bis Ruhe in das Lager eingekehrt war und es dunkel wurde.
Vielleicht hatte er zur Abwechslung ja mal Glück und es kam etwas Nebel auf.


∼ξ ∼ ψ ∼ ζ∼


„Ich hatte dir gesagt, du sollst aufpassen!“, sagte Lorsch wütend, während er vor Lee auf und ab stapfte.
Lee reinigte schweigend Lilians Fell, das vom Sand total verklebt war.
„Du warst rücksichtslos und unvorsichtig! Genau das solltest du trainieren! Deinetwegen wäre Lilian fast erstickt!“
„Hätte ich denn ahnen könne, dass in diesem dummen Parcour lebensgefährliche Sachen auftreten würden?“
„Du hättest einfach mal nachdenken sollen!“
Sie waren immer noch in dem kleinen Wäldchen und saßen an einer ungefährlichen Stelle am Fluss.
Lorschs Blick fiel auf eine kleine Pflanze. Er rupfte sie wütend heraus und hielt sie Lee direkt vor die Nase. „Siehst du die Pflanze hier? Die wächst nur auf sehr feuchtem, nachgiebigen Boden! Nur da, verstehst du?“
„Hätte ich denn wissen können, dass er sooo nachgiebig ist?“, fragte Lee schnippisch.
Lorsch schnaubte und schleuderte die Pflanze von sich. Dann setzte er sich zornig auf den Boden.
Lee wandte sich wieder Lilians Fell zu. Ihre Kleider waren ebenso verklebt und versandet wie ihr Fell. Doch, da sie sich zuerst um Lilian gekümmert hatte, war der Sand schon lange getrocknet und hing nun wie Blei an ihr.
Lilian winselte leise, während Lee sie immer wieder streichelte und mit den Fingern die Verfilzungen löste.
„Hier!“, sagte Lorsch plötzlich. Er hatte sich wieder beruhigt und hielt Lee nun einen kleinen, goldenen Kamm hin.
„Danke!“, erwiderte Lee verwirrt. Der Kamm war kalt, doch er wurde schnell wärmer.
Lorsch sah mit einem unergründlichen Blick aufs Wasser.
„So geht der Sand viel leichter raus“, stellte Lee fest. Lilians Fell wurde ganz weich und samtig.
Lorsch erwiderte nichts, doch es schien, als bedrückte ihn etwas. Lee achtete nicht darauf. Bald hatte sie den ganzen Sand aus Lilians Fell gekämmt und fuhr nun immer wieder mit den Fingern über Lilians Schulter.
Der Jungwolf lag selig in ihrem Schoß und schlief.
„Danke!“, sagte Lee noch mal und streckte den Arm aus, um Lorsch den Kamm wiederzugeben.
Der Junge nahm ihn entgegen und verstaute ihn sorgfältig in einem seiner Beutel.
„Warum hast du ihn eigentlich bei dir?“, fragte Lee und zog eine Augenbraue hoch.
Der Indianer sah sie nicht an und nach einer Weile befürchtete Lee, sie hätte einen wunden Punkt getroffen und er würde gar nicht mehr antworten.
Doch dann veränderte sich Lorschs Blick. Er sah entschlossener aus.
„Er gehörte meiner Mutter!“, sagte er fest.
„Oh“, meinte Lee leise. „Wo...Wo ist sie?“
„Ich hoffe an einem guten Ort“, erwiderte Lorsch.
„Hat sie das Dorf verlassen?“, fragte Lee vorsichtig.
Lorsch sah sie mit einem unergründlichem Blick an. „Sie ist tot!“


Kapitel 10

Colin hätte am liebsten erleichtert geseufzt, als er die dichten Nebelschwaden sah, die sich um die Zelte legten.
Die Sonne war schon lange untergegangen und der Soldat, der ihn bewachen sollte, hatte mit seinen Kumpanen so viel getrunken, dass er Colin mindestens erst zwei Stunden beschimpft hatte und dann eingeschlafen war.
Alles war still. In ein paar Zelten brannte noch Licht, doch niemand würde bemerken, wie er aus dem Lager schlich und davon rannte.
Es war ein Kinderspiel.
Schnell machte er sich mit der Scherbe an dem dicken Seil zu schaffen.
Er hatte sie die ganze Zeit in der Hand gehalten und das Blut war wieder getrocknet. Doch nun platzten die Wunden wieder auf, sodass seine Hände rutschig wurden und er die Scherbe nicht mehr richtig führen konnte.
Plötzlich hörte er schnell näher kommende Schritte.
Colin hielt die Luft an und bewegte sich nicht. Er schloss die Augen und versuchte sich zu konzentrieren.
Zwei Füße...ein Soldat...mit drei Schwertern.
Colin runzelte die Stirn. Drei Schwerter?
„Na, Junge? Schläfst du schon?“, hörte er eine unwirsche Stimme fragen. Colin blieb wie er war. Die Stimme hatte er schon einmal gehört.
Plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.
Es war der Soldat, der sich Colins Schwert unter den Nagel reißen wollte.
Der Mann stapfte zu den Sachen des Jungen. „Tja, das ist ja jetzt wohl meins!“
Er streckte die Hand nach dem Schwert aus.
Wütend zerschnitt Colin den Rest der Fesseln und stürzte sich von hinten auf den Mann.
Überrascht schlug der Mann um sich, doch Colin war zu flink. Er rammte dem Mann seinen Ellbogen ins Kreuz und schnappte sich sein Schwert.
Der Soldat stöhnte und sackte in sich zusammen. Schnell schlug Colin ihm mit dem Schwertknauf auf den Hinterkopf.
Der Mann fiel mit einem dumpfen Aufschlag zu Boden, doch Colin hatte schon seinen Beutel an seinen Gürtel gehängt, seine Messer gepackt und war weiter gerannt.
Schnell und leise wie ein Schatten, doch plötzlich stutzte er.
Alle Zelte sahen gleich aus und der Nebel, der ihn vor anderen Augen schützen sollte, verflüchtigte sich langsam.
Irgendwie musste er versuchen aus diesem verdammten Lager zu kommen, bevor jemand auf ihn aufmerksam würde.
Verzweifelt blieb er an einer Ecke stehen und sah sich um. Er war noch nie in einem so riesigen Lager gewesen.
Es war doch nicht so einfach zu entkommen.
Colin lehnte sich erschöpft an einen Käfig hinter sich.
Bald würden sie bemerken, dass er sich von den Fesseln befreit hatte. Sie würden ihn suchen und sie würden ihn finden!
Als er Schritte hörte, presste er sich mit aller Kraft an die stabilen, kalten Gitterstäbe.
Er wartete einen Moment bis die Schritte wieder verklungen waren. Langsam löste er sich von dem Käfig, doch während er sich noch vorsichtig umsah, um verschwinden zu können, nahm er hinter sich ein leises Knurren wahr.
Erschrocken fuhr der Junge herum und blickte in zwei große Augen, so groß wie sein Kopf, raubtierhaft!
Sie stierten ihn gefräßig an.
Colin keuchte und machte einen Satz zurück. Er war erleichtert, dass sich Stäbe zwischen ihm und dem Monstrum befanden.
Das Ungetüm machte ein weiteres knurrendes Geräusch.
Ein Drache!
Ein Körper, der dem einer riesigen Katze ähnelte, doch der aus grünen Schuppen bestand und einem langen Schwanz, der unruhig auf und ab schlug.
Aber diese Augen! Dieses Gelbgrün und diese längliche Pupille...
Colins Blick schweifte über den Rücken. Das Maul wurde von einem Eisenring umschlossen, so dass es dem Drachen unmöglich war zu beißen oder gar Feuer zu speien. Zwei große Flügel schmiegten sich an die Schuppen.
Die Soldaten hielten einen Drachen gefangen!
Aber das hieß...das hieß, dass Colin die Drachen gar nicht suchen musste.
Er schluckte. Er musste dem Drachen vor sich nur den Kopf abschlagen.
Das war’s!
Plötzlich vernahm er laute Rufe und klappernde Schwerter.
Verdammt! Er musste sofort handeln!
Colin nahm das Messer des Magiers Tabarz aus der Scheide und machte sich an dem Schloss der Käfigtür zu schaffen.
Das Tier war mit einem Sprung in der hintersten Ecke. Bedrohlich sträubte der Drache die Schuppen und zeigte seine spitzen Zähne.
Er wirkte, als wäre er eine gefährliche Raubkatze, die einen Buckel machte und fauchte.
Das Schloss knackte und der Junge trat entschlossen in den Käfig.
Die Stimmen entfernten sich wieder und Colin atmete erleichtert auf. Die Soldaten schienen zu glauben, dass er das Lager schon verlassen hatte.
Der Drache knurrte laut. Eigentlich hieß es, dass alle Drachen, die einen Menschen erblickten, diesen sofort töten würden.
Doch dieser Drache hatte sich in die hinterste Ecke gedrückt und grollte ihn unheilvoll an.
Colin ging mit erhobenem Messer ein paar Schritte näher und plötzlich verstand er. Der Drache konnte sich nur schwer wehren. Seine Klauen waren in Ketten gelegt und am Boden festgemacht. Er war schlau, denn er verstand, dass er in einem Kampf gegen den Jungen verlieren würde und nun bemerkte Colin auch, dass es ein sehr junger Drache war.
Ein ausgewachsener zwar, aber dennoch ein junger.
Wie dem auch sei...Colin hatte großes Glück, dass er Tabarz Messer hatte. Mit diesem Messer wäre es ein Leichtes durch die grünen, harten Schuppen des Drachen zu dringen.
Er schritt noch näher.
Der Drache knurrte tapfer, doch er machte sich verzweifelt immer kleiner und drückte sich immer weiter gegen die Gitterstäbe.
Der Junge hob das Messer über seinen Kopf. Er müsste es nur hinuntersausen lassen.
Der Drache sah ihn mit seinen großen, katzenartigen Augen an.
Ängstlich, alleingelassen, hungrig, durstig, müde, erschöpft...
Colin zwinkerte verwirrt. All diese Gefühle verspürte er auf einmal. Der Drache knurrte noch einmal.
Entschlossen!
Entschlossen zu sterben! Entschlossen von dieser Welt zu gehen, obwohl er sie doch noch gar nicht verlassen wollte.
Colin schloss die Augen. Er wollte es nicht spüren. Er wollte nicht in dieses Gesicht sehen.
Seufzend ließ er das Messer sinken und taumelte zurück.
„Ich kann es nicht!“, flüsterte er fassungslos. Er sah zu dem Drachen hinüber, der als Antwort knurrte. Colin verbarg das Gesicht in den Händen.
Ich kann es nicht, ich kann es nicht, ich kann es nicht...
Er hob den Kopf und richtete sich wieder auf.
Der Drache sah ihn aufmerksam an. Colins Plan reifte in sekundenschnelle.
Er schoss vor und hieb mit dem Messer auf die erste Kette ein, die eine der Klauen umschloss. Sie sprang sofort entzwei.
Der Drache fauchte.
Schnell schnitt Colin die nächsten drei Ketten durch und schlug auch den Mundschutz ab. Plötzlich lag er auf dem Rücken, ihm fiel das Messer aus der Hand. Der Atem des Drachen schlug ihm ins Gesicht.
Wut!
„Nein!“, flüsterte Colin leise. Und versuchte sich unter den Klauen des Drachen hervorzuziehen, doch die Klauen gruben sich nur noch tiefer in seine Kleidung und drangen in seine Haut.
Colin atmete schwer.
Der Blick des Drachen ließ ihn nicht los. Das Tier riss sein Maul auf und stieß einen abscheulichen Schrei aus.
Colin kniff die Augen zusammen. Kurz darauf war das Gewicht des Drachen weg und Colin sah nur noch, wie das Tier mit einem katzenhaften Sprung aus dem Käfig verschwand und in die Lüfte schoss.
Der Junge keuchte. Benommen schüttelte er den Kopf.
Dann richtete er sich auf und raste los.
Wie ein Schatten. Nichts und niemand nahm ihn war. Schon sah er das Ende des Lagers.
Ja!
Mit hüpfendem Herzen sprintete er aus dem Lager hinaus und in den Wald hinein.
Noch weiter.
Er hörte nicht auf zu rennen. Und noch weiter. Immer weiter, bis schon die ersten Sonnenstrahlen zwischen den Bäumen auftauchten.
Wohin er rannte war ihm gleich.
In diesem Lager waren die Soldaten von Tabarz gewesen. Er würde ihn verfolgen lassen und deshalb sollte er so weit und so schnell wie möglich von hier weg.
Er rannte durch Bäche und über Wiesen. Erst als er meinte, seine Lunge würde platzen und er würde verdursten, blieb er stehen.
Er kam an einen Bach und tunkte seinen Kopf ins Wasser, ohne davon zu trinken.
Es half ihm sich zu beruhigen, wieder klar zu denken. Mit zitternden Händen spritzte er sich einen Schwall Wasser ins Gesicht und konzentrierte sich darauf, seinen Herzschlag zu verlangsamen.
Nachdem er getrunken hatte, nahm er sich aus seinem Vorratsbeutel noch den Rest von dem Hasen, den er erlegt hatte, bevor die Soldaten ihn geschnappt hatten.
„Colin, du Dummkopf!“, fluchte er leise vor sich hin. „Warum hast du das Biest nicht einfach umgebracht? Warum hast du ihm auch noch geholfen, zu entkommen?“
Er seufzte und besah sich sein Spiegelbild im Bach.
Die schwarzen Haare fielen ihm ins Gesicht und seine giftgrünen Augen strahlten nur noch Müdigkeit aus.
Der Junge war zu erschöpft, um sich ein Lager zu bauen, deshalb kroch er erschöpft unter eine Tanne und schlief sofort ein.


Kapitel 11

Lee schlug die Augen auf.
Dunkel, kalt, nass!
Sie waren im Wald. Ihr Lager stand neben einem kleinen See und war umgeben von dichten, großen Bäumen.
Lilian hatte sich auf Lees Beine gelegt und schlief zufrieden. Sie gab Lee ein Gefühl von Geborgenheit.
Das Mädchen setzte sich auf. Es war noch dunkel.
Die Sterne leuchteten so hell, dass Lee ihre Reisegefährten deutlich voneinander unterscheiden konnte.
Vorgestern waren sie losgezogen, um das Adlervolk zu erreichen.
Lorsch hatte nicht viel mit ihnen gesprochen und saß eher abseits. Die ganze Stimmung war sehr kalt und förmlich.
Wie würde es nur werden, wenn auch noch der zweite Begleiter dabei war?
Würde es noch distanzierter werden?
Sie seufzte.
Lilian neben ihr gähnte und streckte sich. Dann sah sie Lee mit wachem Blick an.
Das Mädchen streichelte ihr über den Kopf.
„Aufstehen! Los! Hoch mit euch!“ Falem lief knurrend zwischen ihnen hindurch und trat ab und zu gegen einen Schlafsack.
Während Lui sich mit müdem Blick aus dem Schlafsack schälte, ließ sich Jan gähnend wieder zurücksinken und nuschelte, dass er zu so einer verdammt frühen Zeit nicht aufstehe.
Falem trat noch einmal kurz gegen den Jungen.
„Au! Verdammt! Falem, hör doch mal damit auf! Ich will einen Wecker…der klingelt…und nicht weh tut!“, jammerte Jan und streckte sich.
Falem zog eine Augenbraue hoch. „Ich habe keine Ahnung wovon du redest, Kleiner! Aber es ist höchste Zeit aufzustehen. Nicht mehr lange, dann sind wir schon an der ‚Fallenden Schlucht’.“
Jan rieb sich seine Rippen und sah Falem verwirrt an. „Fallende Schlucht?“
„Also, iss! Seelenwolf!” Der Mann gab dem Jungen etwas getrocknetes Fleisch, was dieser murrend entgegen nahm.
Lee schälte sich aus ihrem Schlafsack und rollte ihn zusammen.
„Der probiert uns auch andauernd das Leben zur Hölle zu machen, nicht wahr?“, schimpfte ihre Freundin, die ihre Sachen in einen Beutel packte. Jamie neben ihr gähnte und reckte sich.
„Redet nicht so viel!“, befahl Navaje, die gerade ihren Beutel packte und ihnen einen belustigten Blick zuwarf. „Das könnt ihr noch auf dem Weg tun!“
Jenny seufzte und sah Lee an, während sie die Augen verdrehte.
Lee schmunzelte und machte sich daran, den Schlafsack an ihrem Rucksack zu verschnüren.
Plötzlich bohrte sich eine ganz andere Frage in ihren Kopf.
Wie erstarrt richtete sie sich auf und ließ den Schlafsack auf dem Boden liegen. Eine Frage, die sie sofort aussprechen wollte, denn sie wurde von einem Gefühl verfolgt, dass Lee nichts Gutes verhieß.
„Wann dürfen wir zu unseren Eltern?“
Falem, Navaje und Lorsch sahen sie verwundert an.
Lee hatte die Frage so ausdruckslos und kalt gestellt, dass sogar sie selbst eine Gänsehaut bekam.
Vertraue niemandem außer dir selbst und halte, egal, was passiert, zu deinen Freunden!
Was, wenn noch nicht mal Navaje ihr Freund war?
Was, wenn sie alle unsere Feinde sind, Lilian?
Lees Hände ballten sich zu Fäusten. Sie realisierte nur am Rande, dass sie in Angriffsstellung gegangen war.
Was, wenn sie uns für immer hier behalten wollen?
Lilian stellte ihr Nackenfell auf.
„Wann dürfen wir zu unseren Eltern, Navaje?“, fragte Lee. Es war ihr als würden alle Geräusche und Worte auf sie eintrommeln und sie zu Boden zwängen.
Was, wenn wir nie wieder zurück dürfen?
Sie presste die Zähne aufeinander.
Der Jungwolf zog warnend die Lefzen zurück, als Navaje sich ebenfalls erhob.
Lee spürte, wie ein Wind aufkam und ihr Haar zerzauste.
Wenn wir sie nie wieder sehen werden?
„Lee!“, sagte Navaje vorsichtig und kam auf sie zu. „Du wirst sie wiedersehen!“
„Aber wann?“, fragte Lee zornig. Plötzlich hatte sie das Gefühl, dass Navaje sie belog. Dass sie gar nicht vorhatten, sie wieder zu ihren Eltern zu lassen.
Navaje kam noch näher.
Lee wich zurück. „Du hast es nie vorgehabt! Ihr wolltet uns nie wieder zurück gehen lassen!“
„Aber, nein! Lee, was redest du denn da?“ Navaje wollte ihr eine Hand auf die Schulter legen.
„Ich hab doch recht!“, knurrte das Mädchen wütend und tauchte unter Navajes Arm durch.
„Lee!“ Jenny sah sie ängstlich an.
Lee drehte sich zu ihr um. „Hast du nicht auch das Gefühl, dass sie uns alle etwas vormachen?“
Sie konnte es nicht fassen! Waren sie und Jenny in all den Jahren nicht immer derselben Meinung gewesen? Hatten sie sich nicht immer gegenseitig unterstützt? Warum fiel sie ihr dann jetzt in den Rücken?
„Nein...ich weiß nicht!“, stammelte Jenny hilflos. Sie legte Lee eine Hand auf die Schulter. Das Mädchen zuckte unter ihrer Berührung zurück.
„Mein Gott, Lee! Was ist mit dir?“, fragte Jenny entsetzt. „Deine Augen!“
Lee schluckte. Schnell drehte sie sich um und stürzte zu dem kleinen Teich, um sich ihr Spiegelbild anzusehen.
Das, was ihr aus dem Wasser entgegenblickte, ließ sie erstarren.
Bernsteinfarbene Augen!
Lilians Augen!
„Lilian!“, schrie sie panisch, ohne den Blick von ihrem Spiegelbild abzuwenden.
Sofort schmiegte sich der kleine, weiße Wolf an sie. Lee hob sie hoch und sah ihr tief in die Augen.
Blaugrün!
Dieselben Augen, die sie gesehen hatte, als sie Lilian das erste Mal getroffen hatte. Doch danach hatten Lilians Augen die Farbe gewechselt. Das war Lee eigentlich nicht weiter aufgefallen, denn Wolfswelpen ändern die Augenfarbe von blau zu bernsteinfarben, wenn sie älter werden. Aber schon damals, kamen Lee die Augen bekannt vor und jetzt wusste sie auch wieso. Es waren ihre Augen.
Nein!
Alles ist so merkwürdig!, meinte Lilian leise. Es war, als wäre sie erschöpft.
„Die Vereinigung hat schon begonnen! Es dauert nicht mehr lange, dann wird Lilian in dich übergehen!“ Hinter Lees Spiegelbild stand ein grauer Wolf. Schnell fuhr sie herum. Navaje stand hinter ihr.
„Nein!“, keuchte Lee. „Nein!“
Sie presste Lilian fest an sich.
„Noch nicht!“, schluchzte sie. „Ich will noch nicht! Navaje, es ist zu früh!“
Navaje schluckte und sah Lee schmerzhaft an. „Man kann es nicht ändern, Lee!“
„Ich will aber nicht, dass sie geht! Ich will nicht, dass es passiert!“ Das Mädchen drückte Lilian fest an sich. Sie hatte Angst, sie loszulassen. Angst, dass Lilian plötzlich verschwinden könnte.
„Du kannst es nicht verhindern, Mädchen!“, sagte Navaje sanft und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Lee ließ es geschehen.
Das Mädchen hörte ihr nicht mehr richtig zu. Sie konnte nur noch auf dem Boden knien und ihren Jungwolf festhalten.
Sie spürte nicht, wie die Zeit verging. Sie hatte gar kein Zeitgefühl mehr. Sie wollte Lilian nicht verlieren! Wollte ihre Eltern wiedersehen! Wollte diese ganzen Ereignisse vom letzten Jahr einfach vergessen!
Die ganzen Toten...die Grausamkeiten...Das Alles war ihr einfach zu viel gewesen!
Sie hätte hier für immer sitzen können.
Irgendwann fühlte sie, wie sie jemand wegführte und sie einen Moment später auf einen weichen Untergrund drückte.
Sie wusste nicht, ob sie schlief und träumte oder ob sie in der Realität war.
„Wir haben nicht mehr so viel Zeit. Wann kann sie wieder weiterlaufen?“ Falem war ungeduldig und tigerte vor den anderen, die sich gedämpft unterhielten, auf und ab.
„Die Vereinigung ist eine heikle Sache, Falem!“, erwiderte Navaje. „Es ist ein großer Schock, wenn man die ersten Anzeichen bemerkt. Außerdem musst du auch an die Psyche des Mädchens denken. Letztes Jahr, hat sie mehr Grausamkeiten erlebt, als sie hätte verkraften können, und nun ist sie hier getrennt von ihrer Familie. Sie hatte keine Zeit, sich zu erholen!“
„Die hatten ihre Freunde auch nicht!“, erwiderte Falem wütend.
Navaje sah den Elben zornig an. „Zwei ihrer Freunde haben die Vereinigung schon hinter sich, was es einem sehr viel leichter macht, weil man doppelt so strapazierbar ist als zuvor. Aber wie strapazierbar sind sie noch? Und vergiss nicht, dass Jenny mit ihrem Jungwolf in der gleichen Situation ist. Es braucht nur einen kleinen Tropfen, Falem“, Navaje machte eine bedeutende Handbewegung, „nur ein kleiner Tropfen, dann enden sie alle genauso wie Lee jetzt!“
Lorsch sah Navaje interessiert an. „Aber wie lange braucht sie, um sich zu erholen, Seelenwölfin? Wir wollten heute Nacht eigentlich beim Adlervolk ankommen.“
„Das vermag ich nicht zu sagen“, Navaje sah zu Lee hinüber, die Lilian immer noch fest umklammerte. „Sie muss erst aus ihrer Trance erwachen.“
„Kann man das nicht irgendwie beschleunigen?“, fragte Falem genervt.
„Falem, du unsensibler Elb!“, rief Navaje wütend. „Sagt man nicht, Elben seien so geduldig?“
„Es geht nicht um Geduld!“, erwiderte Falem bissig.
„Es wird uns nicht umbringen, wenn wir einen Tag später ankommen“, meinte Navaje nüchtern.
Lorsch lehnte an einem Baum und beobachtete die Unterhaltung nachdenklich.
„Du weißt nicht, was das auslösen könnte, Seelenwölfin!“, fuhr Falem sie an. „Wenn sie sich von uns verraten fühlen, könnte es sein, dass das Adlervolk unsere Völker angreifen!“
Navaje sah ihm trotzig entgegen.
„Man muss Vertrauen in das Adlervolk setzen, Falem! Sie werden es verstehen!“, sagte Lorsch ausdruckslos.
Falem funkelte ihn an. „Ich rede nicht von uns, Indianer! Ich rede von ihnen! Meinst du etwa, das Adlervolk hat Vertrauen zu uns?“
Lorsch schwieg.
Lees Augenlider wurden schwer und sie spürte plötzlich wie schwach sie war. Sie spürte auch, wie sie nach hinten kippte, doch bevor sie aufprallen konnte, wurde alles schwarz.


∼ξ ∼ ψ ∼ ζ∼


Colin lief durch einen dunklen Wald.
Wo er war, wusste er nicht und es spielte auch keine Rolle.
Fakt war, dass er einen Drachen, einen der seltenen Drachen, auf dem Silbertablett serviert bekommen hatte und zu feige war, ihn zu töten.
Er! Der doch eigentlich alles und jeden töten konnte! Er, der doch nur die Anerkennung seines Ziehvaters gewinnen wollte.
Und was machte er?
Wütend trat Colin gegen einen Stein.
Wie sollte er seinem Ziehvater je wieder unter die Augen treten? Wie sollte er je wieder nach Hause kehren?
Der Junge stieß einen verzweifelten Schrei aus.
Er wusste, dass Tabarz nach ihm suchte, doch das war ihm gleich! Sollte Tabarz ihn doch finden! Sollte er doch!
Nun war ihm alles egal!
Schon als er jünger war, hatte Tabarz nach ihm gesucht. Hatte ihm angeboten, zu ihm zu kommen. Hatte ihm erzählt, dass er ihn stark machen würde. Doch Colin wollte nicht. Er hatte sich immer vor ihm verborgen gehalten und war ihm aus dem Weg gegangen.
Aber das Gefühl, die einzige Anerkennung, die ihm etwas bedeutete, nicht zu bekommen, war schlimmer als seine Angst vor Tabarz.
Ihm war klar, dass er eine Bedrohung für Tabarz darstellte, weil er sich geweigert hatte, sich auf seine Seite zu stellen.
Kinder und Frauen tötete er entweder schnell und gnadenlos oder er ließ sie verstört zurück und erfreute sich dann an ihrem Leid.
Ihn würde er foltern...oder schlimmer!

„Komm doch!“, schrie Colin in den Wald hinaus. „Hier bin ich! Komm! Hol mich!“
Der Wind rauschte durch die Blätter und trug Colin ein unheimliches Echo zu.
„Du wolltest mich doch!“, rief Colin erneut. „Such mich!“
Der Junge spürte, wie der Zorn auf sich selbst immer weiter ausartete. Er hatte den Drachen nicht getötet!
Er brauchte einen Sündenbock, und sein Inneres hatte sich Tabarz als Gegner gewünscht.
Ihm war klar, dass er den Kampf höchstwahrscheinlich nicht überleben würde, aber das machte ihm nichts aus, da er seinem Ziehvater eh nie wieder unter die Augen treten konnte.
Es war klar, dass er irgendwann in irgendeinem Kampf fallen musste!
Denn das war er! Sein Schicksal! Sein Ziel!
Ein für ihn ehrwürdiger Abschied an seine Welt!
Deshalb sah Colin in den grauen Himmel und schrie das Wort, das für ihn den Tod bedeuten würde.
„Tabarz!“


Kapitel 12
Die Bäume schienen zu erstarren. Die Blätter schwiegen, obwohl der Wind wild durch sie hindurch fuhr. Stille legte sich um Colin.
Bedrohliche Stille!
Der Junge hatte gewusst, dass sein Feind kommen würde. Denn Tabarz hatte nach ihm gesucht und Colin hatte ihn gerufen.
Weder sah, noch hörte er sie. Er roch sie! Sie kamen von überall. Kreisten ihn ein und fauchten bedrohlich.
Met’c!
Es waren merkwürdige Gestalten, groß wie Menschen, schwarz und braun. Äste schienen ihre Körper zusammen zu halten, verkohlte, verdorrte Äste. Auf dem Kopf trugen sie schleimige Gräser wie Haare. Sie hatten gelbe Augen, doch ihre Pupillen waren so klein wie ein Sandkorn.
Schwarzer Rauch kam vom Himmel herab und bildete sich um den Jungen, sodass er nichts mehr wahrnehmen konnte außer diesen schwarzen, dichten Nebel.
„Arvuen kamitra zyra sol!“ Der Befehl Tabarz’ klang zynisch und giftig wie eine Schlange.
Es donnerte gefährlich und der Nebel lichtete sich ein wenig, aber nur so weit, dass Colin die Met’c und den Magier, der ein paar Meter entfernt von ihm stand, sehen konnte. Es schienen an die fünfzig Kreaturen zu sein.
Urplötzlich wurde dem Jungen klar, was er gerade gemacht hatte. Er war nicht nur irgendein Junge, dessen Kräfte Tabarz gerne für sich hätte. Er hatte das Messer von Tabarz.
Er hatte sein Todesurteil unterschrieben. Er hatte es entschieden, ohne darüber nachzudenken, und gerade jetzt bemerkte er, dass er noch nicht bereit war. Noch nicht bereit, um zu sterben!
Der Mann, der ihm gegenüber stand, sah den Jungen durchdringend an. Weiße Haare fielen ihm in die Stirn, doch er war keineswegs alt. Er schien Anfang dreißig zu sein.
Tabarz trug einen langen schwarzen Umhang und ein dunkelbraunes, adliges Hemd. Er war bleich und durch sein Gesicht zogen sich drei tiefe Narben.
Sein eines Auge war weiß und hatte keine Pupille, doch das andere, hellblaue wirkte so wachsam, dass man meinte, es würde für tausend Augen sehen. Also, schien die verlorene Sehkraft kein großer Verlust zu sein...
Der Magier hob einen Arm und fing Colins Blick ein.
„Arvuen kamitra zyra sol!“, sagte er erneut gebieterisch und ließ mit der letzten Silbe des Spruches seinen Arm nach unten fallen.
Der Nebel wich auf einen Schlag. Nur hinter den Met’c, die ihn eingekreist hatten, war er noch zu sehen.
Der Junge bewegte sich nicht und starrte den Mann vor ihm an.
Eine Weile war nichts zu hören, bis auf das Fauchen und Schaben der Met’c.
„Ich hätte dich nicht für so dumm gehalten!“, fing der Magier leise an. Seine schmalen Lippen waren zu einem zynischen Lächeln verzogen.
Colin bleckte wütend die Zähne.
Tabarz ließ sich nicht beirren. „Du bist mir entkommen und nun hast du mich gerufen, damit ich dich finde. Meine Frage ist nur:“ Der Mann sah Colin hochnäsig an. „Warum?“
Colin schwieg. Seine Hand wanderte zu seinem Schwert, das an seinem Gürtel baumelte. Mit einer flüssigen Bewegung zog er es heraus und hielt es drohend vor sich.
Der Magier sah ihn mit einem schiefen Lächeln an. „Du hast mich doch nicht etwa gerufen, um mich zu töten?“
Colins Augen funkelten vor Zorn. Was hatte er sich nur dabei gedacht?
„Du trägst etwas bei dir!“, fügte Tabarz hinzu und seine Augen glühten durchdringend. „Etwas, das dir nicht gehört!“
Colin wusste, dass er das Messer meinte.
„Warum läufst du nicht weg?“, fragte Tabarz gefährlich leise. „Wirf mir das Messer vor die Füße und lauf!“
Colin spürte, wie er anfing zu grinsen. „Ich habe vielleicht Angst, Tabarz, aber das heißt nicht, dass ich mich kampflos ergeben werde. Wenn du dein Messer willst, dann musst du es dir holen!“
Tabarz sah ihn erst ungläubig an, dann lächelte er hinterhältig. „Das ist deine letzte Chance, lebend zu entkommen, Junge! Gib mir das Messer!“
„Nein!“ Colins Stimme war hart und schneidend. Langsam steckte er sein Schwert zurück in die Scheide.
„Ich habe keine Zeit für Kinderspiele!“, meinte Tabarz ungehalten.
„Du wirst dein Messer nie wieder sehen!“, rief der Junge wütend. Der Magier lachte und Colin sah auf die geifernden Met’c, die um ihn herum standen und nur darauf warteten, ihm an die Gurgel zu springen.
„Na schön“, erwiderte Tabarz siegesgewiss, „wenn du es unbedingt so willst!“ Mit einer Handbewegung bedeutete er den Met’c anzugreifen.
Wieder spürte Colin dieses kalte Gefühl in sich aufsteigen und er wusste genau, was er zu tun hatte. Er zog Tabarz Messer und rannte zielstrebig auf den Magier zu. Die Augen des Magiers waren ungläubig auf das Messer gerichtet.
Wunderte es ihn, dass Colin das Messer bei sich hatte? Nein, das hatte er doch gewusst.
Worüber wunderte er sich dann?
Mit einem Sprung war Colin genau vor Tabarz und hieb mit dem Messer auf seine Brust ein.
Kling! Das Geräusch zwei aufeinanderprallender Klingen. Tabarz hatte sein Schwert blitzschnell gezogen.
„Denkst du wirklich, du kannst es mit mir aufnehmen?“ Tabarz Grinsen ließ dem Jungen das Blut in den Adern gefrieren.
„Denkst du wirklich, du kannst mich fangen?“, zischte Colin.
Tabarz lachte. Schnell sprang Colin einen Schritt zurück. Der Mann setzte ihm nach. Sein großes Schwert ihm entgegen streckend. Colin sprang zur Seite und hob das Messer.
Tabarz’ Waffe war viel größer und stärker, als dieses Messer. Seine Kehle schnürte sich zu. Was konnte dieses Messer? Es schien doch so wertvoll zu sein!
Er tauchte unter einem Schwertangriff von Tabarz durch und stach nach der Brust des Magiers.
„Gayir!“ Die mächtige Stimme des Mannes dröhnte in Colins Kopf. Es war ihm, als würde sein Schädel zerbersten. Plötzlich wurde er nach hinten geschleudert und landete hart auf der Seite. Alles drehte sich. Mühsam versuchte Colin sich aufzusetzen, doch seine Arme waren zu schwach, um seinen Körper hoch zu drücken, so dass sie immer wieder einknickten.
„Schon so schwach?“ Colin spürte Tabarz’ Atem an seinem Ohr. Seine Nackenhaare stellten sich auf. Er atmete schwer.
„F...Fauler...Zauber!“, brachte er mühsam heraus und wandte den Kopf zum Magier.
Dieser schüttelte amüsiert den Kopf. „Wie jämmerlich!“
Das Schwindelgefühl legte sich langsam und Colin versuchte sich einen Überblick zu verschaffen. Die Met’c standen immer noch um sie herum und beobachteten alles genau. Wie hoch war die Chance, den Kampf zu gewinnen? Sehr niedrig oder auch, gar nicht vorhanden. Met’c waren leider nicht nur treu sondern sich auch immer einig.
Wenn Colin es wirklich schaffen sollte, Tabarz zu töten, würden sie sich ohne Zweifel auf ihn stürzen und ihn höchstwahrscheinlich umbringen. Oder sie brächten ihn zu Lubomir! Dann würde er chancenlos sein. Dieser Kerl war noch schlimmer als der Magier und Colin wollte ihm nie, nie, niemals begegnen!
Warum waren es Met’c? Warum waren es keine Kobolde? Kobolde rannten sofort davon, sobald ihr Meister besiegt worden war.
Er atmete einmal tief durch, was einen stechenden Schmerz in den Rippen verursachte. Doch er biss die Zähne zusammen, stemmte sich nun mit aller Kraft nach oben und erhob sich langsam. „Ich...bin nicht jämmerlich!“
Sein Blick war auf das Messer gerichtet, das er fest umklammerte, und auch wenn er den Magier nicht sah, konnte er schwören, dass Tabarz ihn angrinste.
„Beweise es!“ Seine Stimme hatte sich verändert. Sie war kalt und undurchschaubar. Und dennoch war da dieses widerliche Grinsen.
Der Junge riss sich zusammen, sprang zurück und zog sein Schwert. Nun hatte er das Messer in der linken Hand. So konnte er Tabarz ungeschützte, rechte Seite angreifen, weil er auf dieser Seite blind war.
„Du willst also immer noch kämpfen“, sagte Tabarz nachdenklich „Das ist interessant!“
Colin hob den Kopf. Obwohl sie ein paar Meter voneinander entfernt standen, kam es ihm so vor, als stünde Tabarz genau vor ihm, denn er sah direkt in das hellblaue Auge des Magiers. Ihm lief ein Schauer über den Rücken. Wie Eis! Ein Eissturm in seinen Augen. Aber das allerschlimmste war, dass seine Pupille so schmal war wie die einer Schlange. Tabarz hob erneut eine Hand, um zu einem Zauberspruch anzusetzen, doch Colin war schneller. Er rannte auf den Magier zu und hieb mit dem Schwert nach ihm. Tabarz hob sein Schwert zur Abwehr und stieß Colin wieder zurück. Wie zwei Tiger umkreisten sie sich.
„Was erhoffst du dir?“, fragte Tabarz giftig. „Macht?“
Colin schwieg. Sein Griff um das Messer verstärkte sich. Um gegen Tabarz zu gewinnen, musste man schnell sein, schneller als er.
War er das?
Schon raste der Mann auf ihn zu. Tausend Schwertschläge hagelten auf Colin nieder. Der Junge taumelte zurück und konnte sie nur mit Mühe abwehren.
Verdammt! Er war in einer schlechten Verteidigungsstellung. Wenn er überhaupt eine Chance haben wollte, musste er in die Offensive gehen. Mit dem Schwert wehrte er einen Schwertschlag ab, wirbelte herum und stach mit dem Messer nach Tabarz Gesicht. Sofort zuckte der Magier zurück. Seine einzige und größte Angst war es, dass zweite Auge auch noch zu verlieren. Diese Bewegung reichte Colin aus, um selbst einen Schlag nach dem anderen auf Tabarz nieder hageln zu lassen.
Mit einer Antäuschung nach der anderen, ließ Colin Tabarz nach hinten straucheln. Aber plötzlich verspürte er einen stechenden Schmerz an der Schläfe und sprang zurück. Blut floss ihm ins linke Auge und ließ dort seine Sicht verschwimmen. Schnell kniff er das Auge zu.
„Nun ist es gerecht, findest du nicht?“, grinste Tabarz. Colin tastete nach der Wunde. Mist! Er war nicht schnell genug gewesen. Tabarz hatte irgendeine Lücke seiner Schwertstiche ausgenutzt und ihn mit dem Schwert verletzt. Nun hatte er die gleiche eingeschränkte Sicht wie Tabarz, jedenfalls fürs Erste.
Ein unmenschlicher Schrei riss Colin aus seinen Gedanken. Über ihm stürzte sich ein großes, dunkles Etwas herab und hielt genau auf ihn zu. Tabarz Augen weiteten sich vor Entsetzen. Colin sprang zur Seite. Jetzt erst bemerkte er, welchen Nachteil er davontrug.
Plötzlich wurde er von zwei großen Klauen gepackt und in die Luft gehoben. Colin versuchte sich aus dem festen Griff dieses Ungetüms zu wenden, doch es hielt ihn fest. Er konnte Tabarz wütenden Gesichtsausdruck sehen, als dieses Etwas immer höher flog.
Colin nahm gerade noch wahr, wie sich die Lippen des Magiers sich bewegten, als er schließlich aus seinem Sichtfeld verschwand. Er versuchte sich zu drehen, um dieses Tier besser erkennen zu können.
Er hörte schnelle Flügelschläge und spürte harte Schuppen, die grün schimmerten.
Der Drache!
Mit offenem Mund starrte Colin das katzenartige Tier an, während der Drache immer höher in den Himmel schoss. Colin warf einen flüchtigen Blick nach unten. Sie waren weit über den Baumwipfeln. Was wenn der Drache ihn losließ? Mit aller Kraft hielt er sich an der Klaue fest. Der Wind zauste sein Haar und seine verwundete Schläfe pochte. Plötzlich war ihm furchtbar übel. Ihm wurde schwarz vor Augen und dann verlor er das Bewusstsein.


Kapitel 13
Weich und warm. Lee kuschelte sich in ihren Schlafsack, nur dass es kein Schlafsack war. Es war eine Decke. Eine dicke, weiche Decke.
Sofort schlug Lee die Augen auf. Lilian lag zu ihren Füßen und gähnte. Der Jungwolf sah sie vorwurfsvoll an. Doch das Mädchen beachtete sie nicht. Lee sah sich um. Sie war in einem weißen, kleinen Zimmer und lag in einem Bett. Ihr Jagdbeutel lag neben einem kleinen, braunen Holzschrank. Die Wände schienen aus Marmor zu sein, ebenso der Boden. Es gab ein Fenster mit einem grauen Holzrahmen, durch das die Sonne schien. Schnell stürzte Lee ans Fenster und öffnete es. Unter ihrem Fenster ging es unendlich weit in die Tiefe. Schnell sprang sie zurück. Dann wagte sie noch einen Blick. Sie musste ziemlich weit oben sein, wahrscheinlich in einer Art Schloss. Ein Schloss, das auf einem riesigen Berg stand und neben sich eine Schlucht befand.
Moment, hatte Falem nicht etwas von einer Schlucht gesagt?
Lilian? Wo sind wir?
Lilian gähnte einmal herzhaft. Große Vögel!
Lee runzelte die Stirn. Sind wir vielleicht schon beim Adlervolk?
Große Vögel, wiederholte der Jungwolf noch mal und legte den Kopf wieder auf seine Pfoten.
Lee bemerkte, dass sie immer noch ihre Reiseklamotten anhatte, diese, welche die Elben ihr gegeben hatten.
Die Tür wurde aufgestoßen und Jamie kam freudig herein gesprungen.
„Lee! Wie geht’s dir?“, fragte Jenny und umarmte sie kurz. Jamie stupste Lilian mit der Schnauze an und forderte sie zum Spielen auf.
„Was ist passiert?“, fragte Lee.
„Als du, naja, wie soll ich sagen...geschlafen hast...da hat Falem die Geduld verloren und den Vorschlag gemacht, dass Navaje dich tragen könnte. Na, du weißt schon, in ihrer Wolfsgestalt eben. Jedenfalls hat Navaje schließlich zugestimmt. Aber jetzt erzähl, was war mit dir los?“ Jennys Gesicht wurde sorgenvoll.
Lee runzelte die Stirn. „Ich weiß nicht genau! Es war irgendwie alles so viel auf einmal!“
Jenny nickte verständnisvoll, dann ließ sie sich aufs Bett fallen. „Es ist ja auch viel passiert in der letzten Zeit.“
Lee nickte. „Wie lange habe ich geschlafen?“
„Einen Tag!“ Jenny zuckte mit den Schultern. „Vielleicht auch ein paar Stunden mehr.“
„Was ist alles passiert?“, fragte Lee.
„Noch überhaupt nichts!“, seufzte Jenny. „Wir haben noch nicht einmal den König getroffen. Sie lassen uns erst zu ihm, wenn du wach bist. Falem hat sich deshalb ziemlich aufgeregt. Aber, Lee, alle Leute hier besitzen ihren eigenen, riesigen Adler und die haben alle ganz komische Muster und alle fliegen nur durch die Luft und...“
„Was?“ Verwirrt rieb sich Lee die Augen.
„Komm mit raus! Ich muss Navaje sowieso Bescheid geben, dass du wach bist.“ Sie nahm Lee an die Hand und zog sie auf den Gang. Es war nicht so edel wie bei den Elben, doch trotzdem verschlug es Lee die Sprache. Man bemerkte, dass Menschen diese Gänge gebaut hatten. Die Gänge waren kleiner und schmaler, aber trotzdem wunderschön.
„Wie groß ist das hier alles?“, fragte sie.
„Keine Ahnung!“, erwiderte Jenny schulterzuckend. „Los, komm! Lass dich doch nicht so ziehen!“
Sie führte Lee um eine Kurve und stolperte, sodass Lee ebenfalls auf den Boden fiel.
„Autsch! Mann, Jamie!“, fluchte Jenny kurz. Lilian sprang Lee an und stupste ihre kleine Nase in Lees Rippen.
„Was war das denn?“, fragte Lee verärgert.
„Ich bin über Jamie gestolpert! Sie kam plötzlich hinter mir hervor geschossen!“
Sie rieb sich noch den Kopf, als Lee plötzlich eine weitere Stimme vernahm:
„Gut, dass euch sonst nichts fehlt!“
Lee schob Lilian sanft von sich und hob den Blick. Lorsch.
Der Indianer half den Mädchen auf.
„Jenny, die suchen euch schon überall!“, sagte er emotionslos.
„Ich wollte Lee doch nur was zeigen!“, maulte Jenny und kraulte Jamie kurz. „Werden wir jetzt endlich zum König vorgelassen?“
„Ich weiß nicht!“, erwiderte Lorsch. „Geht es Lee denn wieder besser?“
„Ja, mir geht es wieder gut!“, sagte Lee. Sie hasste es, wenn in der dritten Person von ihr geredet wurde, obwohl sie doch daneben stand.
Lorsch nickte. „Dann lasst uns zur großen Halle gehen.“


∼ξ ∼ ψ ∼ ζ∼


Colin war auf einer Wiese aufgewacht, nicht weit entfernt vom Wald. Der Drache stand neben ihm und beäugte ihn misstrauisch.
Wo waren sie? Der Junge stand auf. Erst schwankte er, doch dann hatte er sein Gleichgewicht wieder gefunden. Prüfend sah er den Drachen an. Eine Weile standen sie einige Meter voneinander entfernt und regten sich nicht.
Dann ging der Junge vorsichtig ein paar Schritte auf den Drachen zu.
Das Tier knurrte kurz.
Colin blieb stehen.
Der Drache verharrte in seiner Position, doch seine Lefzen senkten sich langsam.
Der Junge wollte den Versuch, sich dem Drachen zu nähern, nicht erneut ausprobieren.
Der Drache setzte sich wie eine Katze vor ihn hin und beobachtete ihn genau.
„Warum hast du mich gerettet?“, fragte Colin. Er hatte das Gefühl, dass der Drache ihn verstehen konnte.
Schuld!
Reue!
Dankbarkeit!
, spürte Colin.
Der Junge runzelte die Stirn. Waren das vielleicht die Antworten des Drachen? Sandte er ihm Gefühle?
„Tja...du meinst, also, jetzt sind wir quitt?“, fragte Colin.
Der Drache spielte mit seinen Ohren, die aussahen wie zwei weitere, kleine, grüne Flügel.
Zufriedenheit!
Colin drehte dem Drachen den Rücken zu. „Ich kann dich nicht töten“, murmelte er leise. „Ich kann’s nicht! Das bedeutet, ich werde nie nach Hause können.“
Er warf einen Blick über die Schulter. Der Drache hatte den Kopf schief gelegt und sah ihn mit wachen Augen an.
Colin drehte sich wieder weg. „Bitte, geh! Ich werde mir einen anderen Drachen suchen, den ich töten kann! Am besten ein Drachenei. Das ist auch einiges wert! Bitte, verschwinde!“
Verwirrung!
Trotz!
„Nun, hau schon ab!“, schrie Colin und drehte sich mit solcher Heftigkeit um, dass der Drache ihn anfauchte und einen Katzenbuckel machte.
Der Junge seufzte.
„Du kannst nicht bei mir bleiben.“
Verwirrung!
„Das ist viel zu gefährlich für dich!“
Ungläubigkeit!
„Das kannst du mir ruhig glauben!“, rief Colin wütend.
Trotz!
Wieder seufzte der Junge. Der Drache legte erneut den Kopf schief, sodass eines seiner Ohren wackelte.
Plötzlich durchfuhr es Colin wie einen Blitz.
„Du...du musst doch irgendwo wohnen, oder?“
Geborgenheit!
„Ja...wo wohnst du?“
Der Drache sah ihn fragend an und kratzte sich mit einer Klaue am Hinterkopf.
„Willst du nicht nach Hause zurückgehen?“, fragte der Junge.
Sehnsucht!
„Vielleicht könntest du mich ja mitnehmen?“
Der Drache knurrte und bleckte seine Zähne.
„Du hast mich doch gerettet!“
Verächtlich spuckte der Drache auf den Boden, was das umstehende Gras abbrennen ließ.
War ja klar, dachte Colin, doch dann lachte er.
Wie viel Zeit hatte er noch? Eine Woche hatte ihm sein Stiefvater gegeben....jetzt hatte er vielleicht nur noch drei bis vier Tage.
Das würde niemals reichen.
Seufzend schlug er die Hände vorm Gesicht zusammen.
Er setzte sich ins Gras und überlegte.
Der Blick des Drachen fiel auf einen kleinen Vogel. Verspielt sprang er hoch, um ihn zu fangen, und jagte ihm schließlich über die ganze Wiese hinterher.
Colin beobachtete das kleine Spiel interessiert, als der Drache plötzlich seine Flügel ausbreitete und mit einem kräftigen Flügelschlag hinter dem Vogel herrauschte.
Wie eine Fledermaus, dachte Colin grinsend. Dann schwieg er wieder betroffen.
„Was mache ich hier eigentlich noch?“, fuhr er sich an. „Ich gehe los und suche einen anderen Drachen! Und ich werde erst umkehren, wenn ich einen getötet habe!“
Sofort sprang er auf und stapfte missmutig Richtung Wald. Noch während er in das tiefe Dickicht trat, zog er sich seinen Mundschutz übers Gesicht.
Der Drache sah ihm verwirrt nach, dann trottete er ihm schließlich mit wackelndem Schwanz hinterher.
Colin schwor, den riesigen Begleiter zu ignorieren, doch der Schwanz des Drachen schlug immer wieder gegen Bäume oder Felsen und riss sie um.
Der Junge drehte sich kurz zu ihm. Der Drache beobachtete ihn aufmerksam. Ab und zu ließ er seinen Blick über die Bäume schweifen und seinen Schwanz gegen Bäume knallen, sodass sie gefährlich wackelten.
Dummes Vieh, dachte Colin wütend. Geh doch weg! Du machst nur andere auf mich aufmerksam!
Er kam an einem dichten Wäldchen vorbei und quetschte sich zwischen zwei engstehenden Bäumen hindurch.
Fragend sah der Drache ihn an, doch Colin beachtete ihn nicht und kämpfte sich weiter.
Plötzlich fing das Tier an zu wimmern. Erst leise, dann immer lauter.
Der Junge verschnellerte seine Schritte und hetzte irgendwann durch das dichte Unterholz.
Auf einmal hörte er Flügelschläge über sich. Ohne hochsehen zu müssen, wusste er, dass es der Drache war.
Er wurde ihn einfach nicht los.
Ihm schoss ein Gedanke durch den Kopf.
Vielleicht musste er den Drachen gar nicht loswerden. Vielleicht...
Er schloss kurz die Augen. Es tat ihm innerlich weh, daran zu denken, doch er musste. Keine Gefühle!
Der Junge atmete tief durch.
Er spürte, wie die kalte Kraft durch seine Glieder schoss und übte sich darin, dass sie voll und ganz von ihm Besitz ergriff.
Dann wandte er sich Richtung Westen.
Richtung seiner Heimat.
Richtung Atrikulis.


∼ξ ∼ ψ ∼ ζ∼


„Menschen! Indianer! Es ist doch immer das gleiche mit ihnen!“ Falem tigerte vor ihnen ungeduldig auf und ab. „Alle! Alle kommen sie immer zu spät!“
Lorsch, der an einer Säule lehnte, seufzte und verdrehte die Augen.
Navaje biss sich wütend auf die Lippe, um keine unfreundliche Bemerkung von sich zu geben, da Falem sowieso schon viel zu gereizt schien.
Sie standen in einer riesigen Halle, deren Wände voller geheimnisvoller Bilder waren, und vier aus Jade angefertigte Säulen, die in den jeweiligen Ecken standen.
Vor und hinter ihnen befanden sich zwei riesige Flügeltüren, die einzigen Durchgangsmöglichkeiten in der großen Halle.
Lilian und Jamie machten sich einen Spaß daraus, über den Boden zu rennen und dann prompt zu bremsen, um noch weitere zehn Meter zu schlittern.
„Ist Falem den ganzen Tag schon so?“, wisperte Lee ihrer Freundin zu.
Jenny kicherte leise. „Es wird immer schlimmer mit ihm. Jan und Lui haben ihn den ganzen Tag nur genervt, aber das ist ehrlich gesagt nicht verwunderlich, weil ihn im Moment alles nervt.“
Sie hielt sich die Hand vor dem Mund, um nicht laut loszulachen.
Falem warf ihnen einen giftigen Blick zu, aber bevor er ihnen etwas Vernichtendes an den Kopf schmeißen konnte, ging plötzlich die Flügeltür vor ihnen auf.
Falems Kopf fuhr so schnell herum, dass seine schulterlangen, dunklen Haare hin und her schwangen.
Ein großer, majestätischer, golden schimmernder Adler gefolgt von zwei weiteren kleineren, braunen Adlern, flog hindurch und landete sanft auf dem rutschigen Boden.
Navaje, die vor Lee stand, kniete sich hin. Lorsch tat es ihr nach.
Schnell folgten die Kinder ihrem Beispiel.
Nur Falem blieb stehen. Er verzog keine Miene.
„Erhebt euch!“
Das Mädchen hatte überhaupt nicht bemerkt, dass jemand auf den Adlern gesessen hatte. Sie sah auf und erblickte zwei muskulöse, große Wachen, die rechts und links von einer großen, schlanken Gestalt standen. Jede der Wachen hatte einen Speer in der Hand und ein grimmiges Gesicht.
Der Mann in der Mitte hatte schwarzes, kurzgeschnittenes Haar, auf dem eine goldene Krone thronte, und hellblaue Augen, die Lee sofort an Eiskristalle erinnerten. Sein Lächeln wirkte auf sie wie die Ruhe vor einem Sturm und als sie ihn genau musterte, bemerkte sie, dass er sehr angespannt war. Sein schmales Gesicht allerdings strahlte Stärke, Sicherheit und, was Lee schaudern ließ, Verachtung aus!
„Willkommen!“ Die Stimme war voll und tief. Lilian schmiegte sich ein wenig dichter an Lee.
Navaje kreuzte ihre Arme vor ihrer Brust und streckte sie darauf nach dem Mann aus. „Gamove, Kinoga!“
„Gamove, Navaje!“, erwiderte der Mann und vollführte dieselbe Geste. „Feri sheram ven!“
„Ye!“, erwiderte Navaje und hielt den Blick gesenkt.
Lee wollte Lui gerade fragen, wovon sie geredet hatten, als Falems laute Stimme ihre Gedanken unterbrach.
„König Trayas!“ Dem Elb lag ein überhebliches Lächeln auf den Lippen. König Trayas bedachte Falem mit einem flüchtigen Blick und nickte Lorsch kurz zu.
Lee kicherte leise, als sie Falems beleidigten Gesichtsausdruck sah.
König Trayas musterte sie so intensiv, dass sich keiner der Freunde traute, in seine Richtung zu sehen.
„Wir gehen aufs Dach!“, befahl er. Die Adler, flogen bei diesem Ausruf sofort wieder durch die Tür hindurch und verschwanden.
Jan zog eine Augenbraue hoch. „Aha!“
König Trayas drehte sich um und schritt den Adlern majestätisch hinterher. An jeder Seite eine Wache.
Navaje und Falem folgten ihm sofort.
Lee zögerte. Jenny trat neben sie. Jamie und Lilian sahen sie abwartend an.
„Lee! Was hast du?“ Jennys Stimme drang nur ganz leise bis zu ihr durch. Sie hob den Blick und sah, dass Jan und Lui dabei waren, Navaje und Falem zu folgen.
Lorsch stand hinter den Mädchen und fühlte sich sichtlich unwohl.
„Ich hab nichts!“ Sie lächelte Jenny an. „Ich bin nur noch etwas müde!“
Jenny lachte. „Das kann ich gar nicht glauben! So lange wie du geschlafen hast!“
„Wie lange war das noch mal?“
„Einen Tag!“
Lee grinste und lief Lui und Jan hinterher.


Kapitel 14

Das Dach war riesig. Es war so groß wie drei Fußballfelder zusammen.
In der Luft flogen hunderte von Adlern, landeten, um Schriftrollen an Menschen abzugeben oder aufzunehmen, und schossen dann wieder in dem Himmel hinauf. Die Schriftrollen wurden von Menschen entgegengenommen, die in großer Eile vom Dach verschwanden. Allerdings nicht ohne die Kinder vorher ehrfürchtig zu mustern.
Lee fielen vor allem die verschiedenen Farben der Adler auf. Es gab sowohl feuerrote Adler wie auch rabenschwarze. Manche waren gefleckt, andere hatten merkwürdig gemusterte Flügel oder Gesichter.
König Trayas räusperte sich kurz, nachdem sich die Kinder mit staunendem Mund umgesehen hatten. „Euer Begleiter wird sogleich hier auftauchen!“
Jan stöhnte und Lui verdrehte die Augen. „Nun müssen wir schon wieder warten“, raunte Lui seinen Freunden genervt zu.
„Die könnten sich ja mal beeilen!“, erwiderte Jenny und streichelte Jamie beruhigend, der die Höhe, in der sie sich befanden, ganz und gar nicht gefiel.
Lee bemerkte, wie Falem sich zusammenriss, um nicht irgendeine Bemerkung von sich zu geben.
Nur Navaje und Lorsch standen da. Wartend, kalt und unberechenbar!
Sie könnten fast miteinander verwandt sein, dachte Lee.
Lilian schmiegte sich an sie.
„Da kommt sie!“ König Trayas hatte den Kopf in den Nacken gelegt und sah auf einen Adler, der wie ein Pfeil auf sie zugeschossen kam.
Geschockt sprangen Lee und ihre Freunde zur Seite, doch kurz bevor der Adler auf das Dach aufprallen konnte, breitete er die Flügel aus und schoss knapp über sie hinweg. Dann vollführte er einen großen Looping und sauste wieder zurück, bis er dann schließlich langsam abbremste und sanft auf dem Dach landete.
Es war ein sehr schöner Adler mit glattem Gefieder, das golden schimmerte. An den Augen zogen sich schwarze, verschnörkelte Linien bis zum Rücken hinab.
Eine Gestalt sprang nun vom Adler und landete mit gesenktem Kopf auf allen Vieren.
Es war ein Mädchen und etwa so groß wie Lee. Sie hatte schwarzes Haar, das ihr fast bis in die Kniekehle hing. Das Mädchen hob den Kopf und Lee sah in zwei durchdringende, graue Augen. So grau, dass Lee dachte, sie würden silbern schimmern.
Sie war sehr blass, doch sie hatte eine hübsche Stupsnase.
Der Adler senkte den Kopf und das Mädchen strich ihm kurz über den Schnabel. Doch irgendetwas an ihrem Blick sagte Lee, dass sie sich nie im Leben dazu herablassen würde, mit ihnen auch nur zu reden.
Ohne sie auch nur eines weiteren Blickes zu würdigen, ging das Mädchen mit überheblichem Grinsen zu König Trayas hinüber und verbeugte sich vor ihm.
„Erhebe dich, Atrianna!“ König Trayas Lächeln war liebevoll.
Atrianna erhob sich.
Lorsch sah von ihr ungläubig zum König und Falem zog eine Augenbraue hoch.
„Das wird unser Begleiter?“, fragte Jan mit offenem Mund.
„Dieses ‚Das’ hat einen Namen“, erwiderte das Mädchen genervt. Sie hatte Lee und ihren Freunden immer noch den Rücken zugewandt.
Lui stöhnte. „Oh, Mann!“
„Was habt ihr denn erwartet?“, fragte das Mädchen giftig und drehte sich schwungvoll zu ihnen um.
„Irgendetwas mit mehr...Kraft!“, brauste Falem auf. „König Trayas, bei allem Respekt! Ich habe hier vier dreizehnjährige Kinder, mit denen ich nichts anzufangen weiß und um die ich mich kümmern muss. Schickt mir nicht noch eines mit!“
König Trayas wartete einen Moment und sah Falem kalt an. „Sie wird euch begleiten! Es ist ihre Aufgabe!“
Lee hatte erwartet, dass Falem etwas Vernichtendes erwidern würde, doch stattdessen zwinkerte er nur verwirrt. „Ihre Aufgabe? Seid Ihr sicher, dass sie das schafft? Sie ist noch so jung.“
„Sie besteht darauf und ich bin stolz darauf, dass sie es sich so sehr wünscht!“, sagte König Trayas lächelnd.
Der Elb schwieg und trat zurück.
Aufgabe? Lee runzelte die Stirn.
Ich weiß auch nicht, wovon die reden, meinte Lilian gleichgültig.
„Atrianna! Hilf ihnen bei der Adlerauswahl, aber nur den Auserwählten. Um die Erwachsenen kümmere ich mich!“ Mit diesen Worten verbeugte sich der König vor ihnen und gab Falem, Lorsch und Navaje ein Zeichen, dass sie ihm folgen sollten.
Sprachlos blieb Atrianna zurück und sah dem König wutentbrannt hinterher.
Dann drehte sie sich zu Lee um und musterte sie abschätzig.
„Wie heißt du?“, fragte sie unfreundlich.
„Lee!“, gab Lee ausdruckslos zurück.
Das Mädchen musterte sie erneut. „Folge mir, Lee, und nimm deine Freunde mit!“ Mit diesen Worten drehte sie sich um und ging die Treppe hinunter. Der Adler, auf dem sie gekommen war, flog vom Dach und warf sich im Sturzflug nach unten. Lee verabscheute es, wenn man sie von oben herab behandelte und dieses Mädchen konnte sie erst recht nicht leiden.
Jan stöhnte. „So eine eingebildete Kuh! Ich glaub’s nicht!“
„Kann man nicht ändern!“, erwiderte Jenny schulterzuckend. „Wir sollten ihr lieber folgen.“


∼ξ ∼ ψ ∼ ζ∼


Colin stand vor einer unsichtbaren Grenze, die ihn von der Grafschaft Atrikulis trennte. Von seiner Heimat.
Er hatte ein mulmiges Gefühl im Bauch.
Der Drache schien sich allerdings pudelwohl zu fühlen.
Warum? Warum vertraust du mir?
Colin verzog das Gesicht zu einer schmerzverzerrten Grimasse.
Nicht daran denken!
Er hatte nun sowieso ein größeres Problem. Wie sollte er den Drachen unbemerkt in die Grafschaft schmuggeln?
Oder er lief an der Grenze entlang, ohne sie zu übertreten.
Ihr Haus stand ziemlich nahe an der Grafschaftsgrenze und die Chance außerhalb von Atrikulis gesehen zu werden, war um einiges geringer als innerhalb der Grenze.
Der Drache grollte. Genervt verdrehte Colin die Augen und beobachtete weiter die Grenze.


Das Tier hatte einen Buckel gemacht und knurrte eine Gruppe engstehender Bäume an.
Plötzlich traten mehrere Gestalten hinter den Bäumen hervor.
Colin zog sein Schwert und stellte sich vor den Drachen.
Soldaten! Mist!
Sie waren ziemlich groß und stark. Alle hatten Uniformen an. Diese verdammten Uniformen. Wie er sie hasste! Diese furchtbaren weißen Hemden mit diesen blutroten Umhängen auf die das Zeichen von Atrikulis drauf genäht war. Zwei Türme. Einer etwas größer als der andere. Zwei schwarze Türme auf goldenem Hintergrund.
Jeder der Soldaten hatte eine Armbrust geladen in der Hand und es waren viele Soldaten! An die fünfzig!
Verflucht seien sie alle!
„Junge!“, rief einer von ihnen und deutete auf den Drachen. „Wo hast du den denn her?“
Der Drache fauchte erneut. Colin schwieg und funkelte den Mann ausdruckslos an.
„Wie heißt du?“ Der Mann war etwas verwirrt und als er Colin schließlich genau gemustert hatte, zog er sein Schwert.
„Gib uns den Drachen!“, sagte ein anderer und kam einen Schritt näher.
Der Drache knurrte bedrohlich.
„Vergesst es!“, rief Colin wütend und ließ sein Schwert durch die Luft fahren.
„Du bist wohl ein Rebell, was?“, fragte einer der Soldaten belustigt. „Na, klein bist du jedenfalls nicht mehr! Du bist ja schon ein junger Mann. Und Männer sind meistens schlau, also, gib uns den Drachen!“
„Nein!“
Die Soldaten zogen einen bedrohlichen Kreis um ihn. Der Drache schlug mit seinen Krallen nach ihnen, doch die Soldaten wichen den Pranken spielend leicht aus.
Freiheit!
Schwerelosigkeit!
Sofort begriff der Junge, was der Drache vorhatte. Er warf ein Wurfmesser nach einem der Soldaten und sprang auf den Rücken des Drachen. Mit einem Sprung war der Drache in der Luft und schoss senkrecht in die Höhe.
Colin hielt sich verzweifelt an den Schuppen fest und schlang seine Beine um den kräftigen Körper.
Ein Pfeil schoss knapp an ihm vorbei. Schnell presste sich der Junge enger an den Drachen.
Der Drache vollführte eine Schraube und wich so einem Pfeilregen aus.
Dann ließ er sich wieder in die waagrechte fallen. Er flog über die Grenze, doch nicht über die Stadt, die an der Luv-Seite eines Berges thronte, sondern er steuerte auf die Felder und den Wald zu.
Ein weiterer Pfeil schoss an ihnen vorbei. Der Drache wich geschickt aus, doch plötzlich zuckte er zusammen.
Colin spürte, wie das Tier am ganzen Körper bebte.
Schmerz!
Ein grauenvoller, stechender Schmerz durchzuckte den Jungen und es war ihm als höre er einen hohen, lauten Ton in seinem Kopf, der sich tiefer und tiefer in ihn hineinbohrte. Colin schrie auf und presste die Hände auf seine Ohren. Ihm wurde ganz schwarz vor Augen und er spürte, dass er all seine Sinne verlor.
Der Drache fiel in die Tiefe. Colin rutschte von seinem Rücken und dann wurde alles schwarz.


∼ξ ∼ ψ ∼ ζ∼


Das Adlermädchen blieb vor einer riesigen Schlucht stehen. Sie waren aus dem Schloss, beziehungsweise: der Stadt, hinausgegangen. Nicht ein einziges Mal hatte sich das Mädchen nach ihnen erkundigt oder sie auch nur angesehen. Sie hatte hochmütig geschwiegen und ihnen ab und zu einen überheblichen Blick zugeworfen.
„Dumme Schnepfe!“, hatte Jenny Lee zugewispert. „Ob hier alle so drauf sind?“
„Ich hoffe nicht“, hatte sie zurückgeflüstert und Jenny eine Grimasse geschnitten.
Nachdem sie die Stadt verlassen hatten, tauchte Atriannas Adler wieder über ihnen auf.
Erst an der riesigen Schlucht, an der sie nun standen, hatte sich der Adler voll unbändiger Freude in die Tiefe geworfen und war aus den Augen der Kinder verschwunden.
Lee war, als hätte sie bei Atrianna ein sanftes Lächeln gesehen, doch im nächsten Moment war sie wieder so arrogant und hochnäsig, dass Lee es für Einbildung hielt.
„Hier!“, meinte Atrianna und deutete auf die riesige Schlucht. „Wir nennen sie die fallende Schlucht!“
„Was sollen wir hier?“, fragte Jan genervt.
Atrianna verdrehte die Augen, dann bedeutete sie Jan näher zu kommen. Vorsichtig trat der Junge ein paar Schritte nach vorn und stand nun neben dem Mädchen. Atrianna grinste stolz, als sie Jans Gesichtsausdruck sah.
„Oh, Mann! Sind das viele!“, keuchte Jan und beugte sich weiter vor, „Die ganze Schlucht wimmelt nur so von Adlern!“
Atrianna nickte. „Du kannst dir einen aussuchen“, erwiderte sie steif.
Jan sah sie verwirrt an. „Wie kann ich sie mir denn alle genau ansehen? Ich weiß ja noch nicht einmal, worauf es überhaupt ankommt!“
Lui runzelte die Stirn und sah Atrianna aus scharfen Augen an. Doch das Mädchen beachtete Lui nicht, sondern hatte sich ganz Jan zugewandt.
„Das geht natürlich nur, wenn du sie dir aus der Nähe ansiehst“, meinte sie verschwörerisch. Jan zog genervt eine Augenbraue hoch. „Na, Klasse! Und wie bringe ich sie dazu zu mir zu kommen und sich in einer Reihe aufzustellen?“
„Sie sollen zu dir kommen?“ Atrianna lachte ein glockenhelles, arrogantes Lachen. „Nein, du musst zu ihnen kommen!“
„Wie soll ich das machen? Ich kann nicht fliegen!“, sagte Jan unfreundlich.
Atrianna verdrehte erneut die Augen. Dann beugte sie sich zu Jan vor und gab ihm einen kräftigen Schubs. „Spring, Wölflein, spring!“, lachte sie und sah übermütig zu, wie Jan erschrocken strauchelte und in die unendliche Leere fiel.


Kapitel 15

„Jan!“ Verzweifelt sprang Jenny nach vorne, um ihn noch zu packen, doch Jan war schon aus ihrer Reichweite.
Atrianna sah sie genervt an. „Beruhig dich! Es geht ihm gut!“
„Du hast ihn in den Tod geschickt!“, schrie Lui wütend und wollte sich auf sie stürzen. Das Mädchen sah Lui ausdruckslos an und bewegte sich nicht von der Stelle. Plötzlich schoss ihr Adler hinab und breitete genau vor Lui kreischend die Flügel aus.
„Wag es ja nicht, du wertloser Hund!“
Lui blieb erschrocken stehen. Wütend funkelte er den Adler an.
Lee zwinkerte kurz.
Was...Was passiert hier eigentlich? Was ist los? Hat der Adler gerade gesprochen?
Lilian hatte ihr Nackenfell gesträubt und knurrte dem Adler entgegen.
„Lass mich!“, rief Lui wütend und wollte an dem großen Adler vorbeilaufen, doch dieser breitete mit einem weiteren viel zu hohen Kreischen erneut die Flügel aus.
„Ich warne dich! Reiz mich nicht!“, zischte der Adler wütend. Lee nahm an, dass es sich um ein Adlerweibchen handelte, denn ihre Stimme war hell und klar und scharf wie ein Messer.
Eine Weile schwiegen sie. Jamie winselte und Jenny sah Atrianna hasserfüllt an.
„Wie ich eben sagte“, begann Atrianna darauf, „eurem Freund geht es gut. Er lebt!“
„Ach ja?“ Lui knurrte sie wütend an. „Wo ist der Beweis?“
Das Adlermädchen deutete nach oben. „Da kommt er“, erwiderte sie nüchtern.
Sofort sahen die Kinder in den Himmel. Ein riesiger, rotbrauner Adler schoss über sie hinweg, drehte eine kurze Runde und ging dann in Landeanflug.
Als der Adler ein paar Meter entfernt von ihnen landete, konnte man deutlich einen lachenden Jan auf seinem Rücken erkennen.
„Jan!“ Jenny sah ihn fassungslos an. „Was...?“ Jamie sah genauso fassungslos aus wie Jenny. Was bei einem Wolf ziemlich witzig aussah.
Lee sah Jan sprachlos an. Das alles war einfach viel zu seltsam.
„Jan?“ Lui rannte zu ihm, blieb aber in sicherer Entfernung von dem Adler stehen. „Ist alles okay?“
Jan sah Lui aus großen Augen an. „Machst du Witze?“, fragte er, während er vom Rücken des großen Tieres rutschte. „Mir geht’s super!“
Lee musterte den Adler interessiert. Er war um einiges größer als Atriannas Adler und sein Gefieder hatte fast die selber Farbe wie Jans rotbrauner Haarschopf. Sein Bauch war weiß mit rotbraunen Sprenkeln und sein Schnabel war ganz schwarz. Die Flügel waren mit weißen Mustern verziert, die aussahen wie verschnörkelte Schlangenlinien.
„Seid gegrüßt, ihr Kinder aus der Prophezeiung!“, begrüßte der Adler sie feierlich. „Mein Name ist Efoy.“
Jan grinste seine Freunde an. „Efoy ist echt der Hammer! Er hat mich aufgefangen. Ihr müsst auch springen, so wählt ihr quasi euren Reisegefährten, der uns begleiten wird. Hat er mir alles erklärt!“ Jan deutete auf den Adler hinter sich.
Atrianna seufzte genervt. „Und bitte beeilt euch!“
Ihr Adler hatte sich neben sie gestellt und sah Lui immer noch aus scharfen Augen an.
Lee ignorierte Atrianna und trat neben Jenny, die noch immer am Abgrund kniete.
„Auf drei?“, fragte sie ihre beste Freundin.
Jenny nickte und erhob sich. „Jamie und Lilian sollten lieber hier warten.“
Lee nickte. „Bereit?“, fragte sie.
„Eins...“, erwiderte Jenny.
„Zwei...“, sagte Lee und holte tief Luft.
„Drei!“, riefen sie gleichzeitig, stießen sich ab und fielen in die Tiefe.
Der Wind zerrte an Lees Kleidern und ihrem Haar. Sie spürte diesen furchtbaren Druck auf ihren Ohren. Über ihr war ein Flügelrauschen zu hören. Ein gefleckter Adler stürzte sich in die Tiefe, fing Jenny sanft auf und schnellte wieder nach oben.
Noch während Lee den beiden nachgesehen hatte, bremste weiches Gefieder ihren Fall plötzlich ab und sie spürte, wie sie an Höhe gewann.
Der Adler, der sie aufgefangen hatte, hatte caramellfarbenes Gefieder, dass an den Flügelspitzen in ein schwarz überging. Um die Augen des Adlers waren schwarze, verschnörkelte Linien. Lee fiel auf, dass er nicht viel größer war als Atriannas Adler, doch dafür schien er, oder sie, sehr schnell zu sein.
„Sei gegrüßt, Lee“, schnurrte der Adler mit sanfter Stimme. „Mein Name ist Jarde.“
Lee keuchte auf. „Woher weißt du, wie ich heiße?“
„Ich glaube, dass jeder weiß, wie die vier Auserwählten heißen und dass jeder sie auch auseinander halten kann“, erwiderte der Adler.
Lee schwieg. Sie war viel zu fasziniert von diesem berauschenden Gefühl durch die Lüfte getragen zu werden.
Jarde flog über den Rand der Schlucht, drehte eine kurze Runde und landete, dann neben Jenny, die mit ihrem Reisegefährten ebenfalls schon gelandet war.
Als Lee von Jardes Rücke rutschte, hörte sie weitere Flügelschläge und ein dunkelbrauner Adler landete neben ihnen. Lui sprang ab und lief zu ihnen.
„Seid gegrüßt“, begann Luis Adler, „Mein Name ist Troy.“ Er hatte eine angenehme Stimme, das war das erste, was Lee an dem dunkelbraunen Adler auffiel. Doch dann bemerkte sie, dass der linke Flügel strahlend weiß war. Der Schnabel war bernsteinfarben und die Augen noch dunkler als das Gefieder mit hellen Punkten darin.
Jarde begrüßte die Kinder ebenfalls und stellte sich den anderen vor.
Jennys Adler erwiderte den Gruß nachdem Jarde geendet hatte. Sie hieß Mai und hatte ein hellbraunes Gefieder, was überall von weißen, schwarzen und dunkelbraunen Flecken übersät war.
Ein schwarzer Fleck war genau über dem rechten Auge, was Mai einen sehr frechen Ausdruck verlieh.
„Gut“, sagte Atrianna plötzlich und schwang sich auf ihren Adler. „Adler, bringt sie zum Trainingsplatz!“
Sofort schoss ihr Adler los.
Lui und Jan stöhnten.
„Die ist echt schlimm!“, meinte Jan.
Lui nickte. „Eine richtige Schreckschraube!“
„Das würde ich an eurer Stelle nicht zu laut sagen“, sagte Jarde plötzlich.
„Warum?“, fragte Jenny.
„Naja“, ergriff Efoy, Jans Adler, das Wort, „Atrianna und Anastasia gehören zur königlichen Familie!“
„Was?“, fragte Lee entsetzt.
„Ja, Atrianna ist König Trayas Tochter. Sie ist unsere Prinzessin und hat Anastasia zu ihrem Begleiter erwählt.“ Mai schüttelte ihr Gefieder.
„Wir sollten ihr lieber folgen, sonst wird sie noch ungemütlicher werden“, murrte Troy und bedeute Lui aufzusteigen. Seufzend hob Lee Lilian hoch und stieg auf Jardes Rücken, die sich klein machte, damit Lee leichter aufsteigen konnte.

∼ξ ∼ ψ ∼ ζ∼


Colin schlug die Augen auf. Sein ganzer Körper schmerzte. Stöhnend setzte er sich auf.
Was war passiert? Wo war er?
Sein Kopf brummte, wenn er versuchte etwas zu erkennen. Er legte die Hand an die Stirn und schloss für einen Moment erneut die Augen. Als er beschloss, dass es ihm nun besser ging, sah er sich um.
Er war in einem Zimmer. Besser gesagt in seinem Zimmer. Verwirrt tastete Colin sein Bett ab. Es war eine alte, müffelnde Matratze, an der an manchen Stellen Federn heraus quollen. Ja, keine Zweifel. Das war sein Bett.
Aber wo war der Drache?
Plötzlich ertönte ein Klopfen an seiner Zimmertür und sein Ziehvater trat ein. Er hatte ein breites Grinsen im Gesicht.
„Colin!“, sagte er triumphierend und kam lachend auf ihn zu. „Du Wunderknabe!“
Der Junge zwinkerte den Mann vor sich verwirrt an.
„Ich habe niemals an dir gezweifelt“, fuhr der Mann grinsend fort und setzte sich neben Colin aus Bett, „Natürlich nicht! Daran hatte ich nicht einmal gedacht! Ich wusste, dass du es schaffen würdest. Das mit den Soldaten war ein böser Ausrutscher. Du hast richtig gehandelt, mein Sohn!“
Colin erwiderte den Blick seines Ziehvaters. Sohn!
So hat er mich noch nie genannt, dachte Colin stolz.
„Was für ein Prachtexemplar du mir da gefangen hast.“ Der Mann sah verträumt in die Ferne. „Wunderbar, mein Junge! Wunderbar!“
Colin rang sich ein leichtes Lächeln ab.
„Aber, was ist denn mit dir, mein Junge? Kannst du schon nicht mehr sprechen?“ Sein Ziehvater lachte.
Colin räusperte sich. „Wie hast du mich gefunden?“
„Ich sah ein großes Ungetüm in den Wald hinter unserer bescheidenen Hütte stürzen.“ Er deutete durch das einsame Fenster, dass an der Wand hing und dem Raum wenigstens etwas Licht verlieh. „Natürlich bin ich sofort hingerannt um nachzusehen. Und da lagst du und neben dir dieser prachtvolle Drache.“
Colin atmete tief durch. „War er tot?“
„Nein!“
„Hast du ihn getötet?“
Sein Ziehvater sah ihn ungläubig an. „Nein! Nein, mein Sohn! Lebend ist er viel mehr Wert. Ich habe auch schon jemanden gefunden, der sich für den Drachen interessiert. Verstehst du es nicht, Colin? Wir sind reich!“ Der Mann schlug ihm grölend auf die Schulter, was den Jungen vor Schmerz zusammenzucken ließ.
„Wo hältst du ihn gefangen?“, fragte Colin nach einem kurzen Moment.
„Da hinten. In dem Käfig, in den ich die Bullen stecke, wenn ihr letztes Stündlein geschlagen hat.“ Der Mann lächelte und zeigte Colin eine Reihe gelber und kaputter Zähne.
„Du bist wirklich ungewöhnlich klug, mein Junge!“
Colin schwieg.
Der Drache ist im Käfig. Er ist gefangen. Er wird sterben. Ich werde ihm nicht helfen! Mein Plan ist aufgegangen.
Colin ließ die Worte nüchtern durch seinen Kopf streifen und es ärgerte ihn, dass er dennoch Bauchweh bekam, wenn er daran dachte, dass der Drache sterben musste.
„Der Mann, der sich für den Drachen interessiert sollte jeden Moment kommen. Hast du Hunger oder willst du vielleicht etwas trinken?“
Colin sah seinen Ziehvater verwirrt an. Noch nie hatte er sich um ihn gesorgt oder ihm etwas zu trinken angeboten, geschweige denn etwas zu Essen. Er hatte immer für sich selbst sorgen müssen.
„Nein, danke!“, sagte er ausdruckslos. „Mir geht es im Augenblick nicht so gut.“ Und das war die Wahrheit. Es ging ihm furchtbar!
„Naja, das war ja auch ein heftiger Sturz. Du kannst froh sein, dass du es überlebt hast.“ Der Mann erhob sich und ging aus dem Zimmer. Im Türrahmen blieb er stehen und sah Colin noch mal an. „Ich bin ehrlich froh, dass du den Sturz überlebt hast.“ Dann verschwand er aus Colins Blickfeld.
Einen Moment blieb der Junge noch sitzen und ließ diese letzten Worte auf sich wirken. Er hatte das, was er sich immer am meisten gewünscht hatte. Er wurde von seinem Ziehvater anerkannt. Er wurde respektiert und möglicherweise sogar geliebt.
Warum freute er sich nicht? Warum lachte er nicht und ging seinem Ziehvater hinterher? Warum saß er hier und dachte an den Drachen?
Er fuhr sich mit der Hand durch sein schwarzes Haar und schlug die Decke zurück. Vorsichtig setzte er die Füße auf den Boden und belastete sie. Es tat höllisch weh, doch er biss die Zähne zusammen und stolzierte aus dem Zimmer.
Als er ins Esszimmer kam, sah er neue Kleidung über einen der beiden dunklen Holzstühle hängen. Sie waren ganz neu. Sein Vater hatte sie für ihn gekauft. Automatisch sah der Junge an sich hinab. Seine dreckverschmierte Kleidung war jedenfalls alles andere als toll.
Schon sah er sich das blaue Oberteil an. Es war an den Armen kurz und hatte einen langen Ausschnitt. Die Hose daneben war dunkelblau bis gräulich und sehr weit und lang. Außer dem hing noch eine schwarze Weste über dem Stuhl. Schnell probierte der Junge die Sachen an. Sie passten ihm perfekt.
Als er nach draußen gehen wollte, sah er Schuhe, die an der Wand standen.
Er überlegte kurz, doch dann nahm er die Schuhe doch in die Hand, um sie sich genauer anzusehen.
Sie waren aus robustem, anschmiegsamen Leder. Sein Vater hatte ein Vermögen für ihn ausgeben müssen, um die zu kaufen. Er würde sich zutiefst verletzt fühlen, wenn er sie nicht trug.
Also schlüpfte er in die Schuhe, auch wenn er ein komisches Gefühl dabei hatte. Darauf trat er aus der Tür.
Er wusste nicht, wohin ihn seine Füße trugen. Er wusste nicht, warum. Er wusste nur, dass er plötzlich in dem Stall mit dem Käfig stand. Mit dem Käfig in dem der Drache war.
Das Tier lag zusammen gerollt auf den Boden. Es hob den Kopf als Colin auf ihn zuschritt.
Der Drache knurrte. Grollend erhob er sich.
Colin starrte ihn durch die Gitterstäbe schweigend an.
„Du hättest es wissen können.“ Colins Stimme war belegt und er sah dem Drachen unverwandt in die Augen.
Das Knurren wurde lauter. Bedrohlicher.
„Du hättest mir nicht folgen müssen!“, sagte Colin. Er spürte, wie Wut in ihm aufkam. Wie konnte dieses dumme Vieh, ihm nur an allem die Schuld geben?
Nur dieser doofe Drache trägt die Schuld!! Nur er! Ich habe nichts falsch gemacht!!
„Warum bist du nicht weggeflogen?“, rief Colin wütend. „Warum bist du nicht verschwunden und hast dich in irgendeiner Höhle verkrochen? Warum hast du mich nicht einfach fallen lassen? Wieso hast du mich gerettet? Und wieso wunderst du dich jetzt, warum du dann hier landest?“
Seine Stimme war immer lauter geworden. Seine Hände hatten sich zu Fäusten geballt.
Mit einem Ruck wandte Colin den Kopf zur Seite, um nicht in diese großen, katzenhaften Augen sehen zu müssen.
„Du dummes Vieh!“, flüsterte er voller Zorn. „Dumm!“
Ein Gefühl erfüllte ihn. Traurigkeit! Verrat!
Er spürte, wie die Wut in ihm für einen kurzen Moment verschwand und sah wieder zu dem Drachen. Der Wut war Trauer und Schmerz gefolgt, doch so schnell, wie der Hass verflogen war, so schnell kam er auch wieder.
„Glaub bloß nicht, dass ich deshalb Mitleid mit dir habe!“, knurrte Colin. Mit einem wütenden Aufschrei verpasste er dem Käfig einen kräftigen Tritt. Der Drache fletschte die Zähne, aber er war nicht wütend. „Verdammt!“, schrie Colin und sah den Drachen hasserfüllt an. „Wie kannst du nur alles an mir auslassen?“ Er wusste, dass er Quatsch redete, aber irgendetwas in ihm fühlte sich genau so. „Wie kannst du hier einfach nur rum stehen und mich anknurren? Wieso?? Scheiße!“
Ruckartig drehte er sich um und rannte aus dem Stall.


Kapitel 16

„Seid gegrüßt! Mein Name ist Ethan.“ Ein breitschultriger, junger Mann stand vor ihnen. Er hatte verwuscheltes, dunkelblondes Haar und ein freundliches Gesicht. Lee schätzte ihn ungefähr in Lorschs Alter. „Ich helfe euch, euch mit den Adlern zurecht zu finden.“
Die Kinder schwiegen. Der Trainingsplatz war ungefähr so groß wie ein Olympiastadion. Wie bei den anderen Völkern standen Zielscheiben, lebensechte Puppen, Hindernisse und andere Geräte herum.
„Verratet ihr mir eure Namen? Sowohl ihr als auch eure Reisebegleiter. Ich habe sie zwar schon einmal hier gesehen, doch ihre Namen kenne ich nicht!“
Während sich die Kinder und die Adler vorstellten, dachte Lee an Atrianna und ihre Eltern. Atrianna war eine furchtbare Zicke. Wie sollte sie die Reise nur mit ihr überleben?
Als ihre Eltern plötzlich in ihren Gedanken auftauchten, verspürte sie furchtbare Sehnsucht nach ihnen. Nach ihnen, der anderen Welt, sogar nach ihrer Schule sehnte sie sich und ihren Freunden.
Nach der Prophezeiung kann ich wieder zu ihnen gehen! Endlich wieder...nur diese eine Prophezeiung!
Lilian schmiegte sich an sie und Lee kraulte sie.
Ethan zeigte ihnen gerade zwei Beutel, in dem die Wölfe während den Flug mussten.
Lee bemerkte, wie sich Lilians Nackenfell sträubte und sie ihre Rute zwischen die Beine klemmte.
„Gibt es keine andere Möglichkeit?“, fragte sie.
Ethan schüttelte den Kopf. „Es ist eine wichtige Vorsichtsmaßnahme. Ohne sie, könnte dein Wolf von dem Rücken des Adlers fallen.“
Lee runzelte die Stirn und stellte sich vor, wie Lilian von Jardes Rücken fiel und nach einem qualvoll, langem Sturz auf dem Boden aufprallte.
Lui schwieg. Er hatte sich auf die Lippe gebissen und hielt den Kopf gesenkt.
Lee konnte genau erahnen an was er dachte. Lukes Tod lastete immer noch schwer auf ihm.
Sasuuns Adler, die Lees Vater damals gefangen hielt, hatte den Welpen gepackt und war mit ihm nach oben geflogen. Immer höher und höher...und dann hatte er Luke losgelassen.
Lui war verrückt geworden. Er war total irre gewesen, kurz davor war Leyla gestorben, weil sie sich für Lui geopfert hatte. Lee wusste bis heute nicht, wie sie das angestellt hatte. Doch die Tatsache war, dass Lui Leylas Blut wegen dieser Rettung in sich hatte, und da Leyla Lukes Mutter war, hatte er das Blut des Welpen in sich, weshalb er sich in einen Wolfskopf verwandelt hatte.
Das war alles sehr kompliziert! Und Lee konnte es immer noch nicht richtig verstehen.
Ethan hob ihr einen der beiden Beutel entgegen.
„Wir probieren sie gleich aus“, sagte er, als er Lees verwirrten Gesichtsausdruck sah. „Also, pack deinen Welpen hier rein!“
Lilian stellte das Nackenfell auf. NEIN!! Auf keinen Fall!! Das kann er vergessen!
Komm schon, Lilian! Die Reise musst du auch in diesem Beutel verbringen, versuchte Lee sie umzustimmen. Lilian gab ein beleidigtes Niesen von sich.
Dann knurrte sie noch einmal, doch als Lee ihr den Beutel hin hielt sprang sie doch, allerdings mit angewidertem Gesichtsausdruck hinein.
Jamie hatte war schwieriger in den Beutel zu bekommen. Am Anfang winselte sie furchtbar, doch irgendwann schien sie sich an das Gefühl zu gewöhnen und kuschelte sich nur in das angenehme, weiche Leder.
Ethan zeigte ihnen, wie man die Beutel an den Adlern befestigte. Er schlang die Schnur des Beutels einmal um den Hals von Mai und ließ sie dann noch mit dem Kopf durch eine Schlaufe gehen, die er sich von dem Band des Beutels gedreht hatte. Es sah wirklich sicher aus. Jamie hing links von Mais Hals.
„Jetzt steigt mal auf!“, sagte Ethan genervt. „Oder braucht ihr etwa eine Extraeinladung?“
„Wie? Ohne Sattel oder so was?“, fragte Jan entsetzt.
Ethan lachte. „Klar! Wie willst du die Bewegungen des Adlers sonst fühlen? Wie kannst du jemals mit ihm eins werden, wenn sich ein Stück Leder zwischen euch befindet?“
Jan schwieg.
„Das klingt einleuchtend“, murmelte Lui schließlich.
„Na, dann los! Rauf mit euch!“ Ethan machte eine auffordernde Handbewegung. Jan und Lui sprangen auf Efoy und Troy. Lee prüfte noch einmal ob Lilian wirklich fest an Jarde befestigt war, dann stieg auch sie auf.
„Gut!“ Ethan sah sie der Reihe nach an. „Ich will, dass ihr über dem Platz im Kreis flieht. Ich komme dann mit Mara dazu.“
Wie auf ein geheimes Zeichen schossen die Adler in die Höhe. Lee krallte sich in Jardes Gefieder bis sie wieder waagrecht in der Luft lagen.
„Lee! Verkrampf dich nicht so!“ Jarde flog einen kleinen Bogen. „Du schnürst mir die Luft ab!“
Verwundert prüfte Lee ihren Sitz und bemerkte, dass sie ihre Beine an Jardes Seiten presste. „Tut mir leid!“, erwiderte sie schnell und versuchte ihre angespannten Muskeln zu lösen.
„Du kannst mir ruhig vertrauen, Menschenkind. Ich lasse dich nicht fallen!“ Jarde flog eine weitere Kurve.
Lee schluckte. „Okay.“ Sie atmete tief durch.
Lilian? Geht’s dir gut?, versuchte sie Kontakt mit ihrem Welpen aufzunehmen.
Auf der Erde fühle ich mich sicherer, hörte sie Lilians Antwort.
Es ist bald vorbei, erwiderte Lee. Nach unserer Reise gehen wir wieder nach Hause!
Lilian schwieg. Doch Lee nahm ihr hoffnungsvolles Gefühl leicht auf.
Sie lächelte wohlig. Der Wind zauste ihr Haar und fuhr ihr liebkosend über das Gesicht. Sie verspürte eine unbändige Freude. Der ganze Turnierplatz war plötzlich so wunderschön. Die Schlucht. Die Sonne. Die Stadt.
„Jarde…das…das ist wundervoll!“, brachte Lee mit einem Lächeln heraus.
„Ich weiß“, erwiderte Jarde. „Das ganze Leben hier ist wundervoll. Siehst du die Kuppel da hinten?“
Lee kniff die Augen zusammen, da sie gegen die Sonne sehen musste.
„Du meinst, die neben dem großen Turm?“
„Ja!“, erwiderte Jarde. Lee empfing ein wohliges Gefühl. „Dort werde die Jungadler das erste Mal mit den Menschen vertraut gemacht.“
Lee lächelte. „Das heißt, dort wurdet ihr das erste Mal geritten?“
„Das kann man so nicht sagen“, sagte Jarde. „Wir werden nicht geritten wie Pferde! Wir teilen unsere Gefühle mit den Menschen, indem wir ihnen zeigen, wie schön es ist zu fliegen und Vertrauen haben zu können.“
Lee versuchte ihre Worte zu verstehen. So schön und wundervoll es klang, lag etwas in Jardes Stimme, was ihr unendlich traurig vorkam.
„Deswegen entstehen diese Bündnisse, oder?“, fragte Lee.
„Du meinst, weil ihr Menschen dieses Vertrauen und dieses Gefühl braucht und nicht ohne es leben könnt?“, fragte Jarde mit einem gezwungenen Lachen.
„Nein“, stammelte Lee, „Ich meinte, dass … dass man sich gegenseitig braucht.“
Jarde schwieg und Lee bemerkte, dass sie nicht über dieses Thema reden wollte.
„Du hast recht, Lee“, sagte sie schließlich, „Man braucht sich…“
Lee schwieg. Jardes Reaktion war ihr unangenehm und sie beschloss nicht weiter auf dieses Thema einzugehen.
„Na, gefällt es dir?“, hörte sie plötzlich Ethan neben sich fragen. Sie wandte den Kopf und sah in seine graublauen Augen. Er saß auf einem haselnussbraunen Adler, der golden glitzerte.
Es verwirrte Lee so sehr, dass sie zwei mal blinzeln musste, bis sie es verstand.
„Äh…Ja!“, meinte sie. „Es ist echt der Wahnsinn!“
Ethan grinste. „Sag dem Adler, er soll mir nachfliegen. Ihr habt euch doch bestimmt schon angefreundet."
Lee nickte.
Ethan lächelte. „Übrigens, dieser hübsche Adler hier“, er deutete auf seinen Adler, „heißt Mara!“
„Sie ist wunderschön!“, erwiderte Lee ehrfürchtig.
„Danke, Menschenkind!“ Mara sah sie durch graue Augen an. Dann wandte sie sich an Jarde. „Freut mich dich mal wieder zu sehen, Jarde!“
„Mich auch!“, erwiderte Jarde glücklich. „Wir sind und schon lange nicht mehr unter die Augen gekommen. Wie ich sehe bist du ein Bündnis eingegangen.“
Mara nickte. „Ich fühle mich mit Ethan sehr verbunden. Er rettete mich, als ich die Santiar-Wüste überqueren wollte.“
„Seit dem ist sie mir nicht mehr von der Seite gewichen!“, fügte Ethan hinzu und lehnte sich liebevoll zu Mara vor, um ihren Hals zu streicheln. „Nicht wahr, du großer Schmusevogel?“
Mara lachte und flog einen kurzen Schwung, so dass Ethan urplötzlich von ihrem Rücken gefegt wurde.
Erschrocken sah Lee dem fallenden Ethan nach.
„Das hat er nun davon!“, grummelte Mara. „Und jetzt entschuldigt mich, ich fliege los, um ihn wieder aufzufangen!“ Mit diesen Worten schoss sie wie ein Pfeil nach unten und fing Ethan noch einige Meter über dem Boden sanft wieder auf.
Lee lachte. „So, etwas wie Höhenangst kennen die Leute hier bestimmt nicht!“
Jarde nickte. „Sie fühlen sich in der Luft sicherer, als auf der Erde!“
Lee lächelte. „Los, fliegen wir ihnen hinterher!“
Als hätte sie nur auf Lees Worte gewartet, schoss Jarde kerzengerade nach unten. Lee hielt sich mit aller Kraft an ihrem Gefieder fest.
Jarde breitete die Flügel aus und ließ sich wieder nach oben treiben.
Das Mädchen bemerkte, dass Jan, Lui und Jenny hinter ihr waren.
Gut, sie war nicht allein!
Vor Jarde tauchte Mara auf. Ethan drehte sich zu ihnen um und bedeutete ihnen ihm zu folgen.
Mai flog neben Jarde. Jenny seufzte wohlig. „Das ist so schön!“, meinte sie lächelnd.
Lee nickte. „Es ist echt wunderbar!“
„Ich habe mir früher immer schon vorgestellt zu fliegen“, sie lachte und streichelte Mais Gefieder. „Nie hätte ich daran gedacht, dass es mal wahr werden würde.“
Lee schwieg.
Nein! Nie hätte sie sich träumen lassen, dass ihr Vater irgendwann verschwinden und von einer bösen Schamanin gefangen genommen werden würde! Nie hätte sie geglaubt, dass sie überhaupt je wieder mit Lui reden würde, wo sie sich doch so sehr auseinander gelebt hatten!
Sie warf einen kurzen Blick über die Schulter, um ihn sehen zu können. Er redete mit Jan und lachte.
Lee spürte plötzlich, dass sie ganz rot wurde. Schnell sah sie wieder nach vorne.
Was ist nur mit mir los?
Jarde flog eine scharfe Kurve. Lee krallte sich in ihr Gefieder. Erst jetzt fiel ihr auf, dass Jenny vor ihr war und die Figuren nach flog, die Mara und Ethan vormachten. Schnell konzentrierte sie sich wieder darauf, sich Jardes Bewegungen anzupassen und ihr nicht die Seiten zu zerquetschen.


Kapitel 17

Er war dumm! Er war ja so dumm!
Er musste!
Nein! Er zerstörte alles, was er sich erarbeitet hatte.
Er musste…
Leise schlich er sich aus seinem Zimmer. Sein Beutel war gepackt. Was er hinein getan hatte, darauf hatte er nicht geachtet. Zu viele Gedanken waren ihm im Kopf herumgeschwebt. Er hoffte, dass er das Notwendigste dabei hatte.
Sein Ziehvater schlief schon lange tief und fest.
Der Mann, der den Drachen haben wollte, wollte morgen kommen. Er musste den Drachen hier weg bringen! Er musste ihn freilassen!
Nein, Colin! Ein Fehler…
Das war die Diskussion, die er die halbe Nacht geführt hatte. Doch sein Entschluss stand fest. Er würde mit dem Drachen weggehen und ihn wieder dorthin bringen, wo er hingehörte.
Und wo ist das, Colin?, zischte die Stimme leise. Wohin willst du ihn bringen?
Colin wollte nicht an die Frage denken, sonst würde er eine Antwort brauchen und die, würde ihn unsanft wieder auf den Boden der Tatsachen zurückbringen.
Ein Fehler, Colin…
Der Junge schloss die Tür hinter sich und lief über den dunklen Hof zum Stall.
Leise trat er ein. Es war dunkel und roch nach vermodertem Heu. Vorsichtig tastete Colin sich vorwärts.
Es kam ihm vor wie ein Traum. Er fand den Käfig und seine kalten Finger suchten nach dem Schloss. Als er es gefunden hatte, zog er sein Messer und hieb es hinein. Er hörte das bekannte Geräusch, mit dem das Schloss zerbrach.
Er öffnete die Tür und – wurde sofort von dem Drachen grollend zu Boden geworfen. Die großen, katzenhaften Augen leuchteten sogar im Dunkeln und Colin konnte sehen, dass sie voll Zorn waren.
„Lass mich los“, zischte der Junge leise, „Ich bin doch wieder da! Ich habe dich doch jetzt befreit! Bekomme ich keinen Dank?“ Er konnte nicht verhindern, dass ein Hauch von Bitterkeit in seiner Stimme lag. Der Drache knurrte nur erneut. Doch dann wurde Colin von einem, ihm sehr bedeutenden, Gefühl durchströmt.
Vergebung! Freundschaft! Verbundenheit!
Colin lächelte. Der Drache stieg von ihm hinab und ließ ihn aufstehen. Colin spürte, dass er in dem Drachen seinen einzigen und wahren Freund gefunden hatte. Er schloss die Arme um ihn und hörte wie der Drache ein gurrendes Schnurren von sich gab. Schnell schwang sich Colin auf seinen Rücken. Der Drache sprang übermütig durch die Stalltür und schoss mit einem katzenhaften Sprung in die Lüfte.
Es tut mir leid …Vater!
Der Drache flog dem vollen, großen Mond hingegen. Colin spürte die Liebkosung des Windes und lächelte zufrieden. Es schien, als hätte er einmal…nur dieses eine Mal, etwas richtig gemacht.


∼ξ ∼ ψ ∼ ζ∼


Lee und Lilian saßen in ihrem Zimmer auf dem Bett. Lee starrte wie gebannt aus dem Fenster, an dem tausende von Adlern hin und her zischten.
Noch nicht einmal, wenn man sich aus dem Fenster lehnte, konnte man den tiefen Boden der Schlucht sehen. Man sagte, dass auf dem Grund ein schöner, schillernder, blauer Fluss fließen würde.
Ihre Kleidung war sauber und auch ihre Haare waren glatt gekämmt worden. Jemand klopfte an der Zimmertür.
Lilian sprang vom Bett und wartete neugierig.
„Herein!“ Lees Kehle war wie zugeschnürt und ihre Worte waren nur ein heiseres Krächzen. Die Tür öffnete sich, während Lilian den Jungen, der eintrat, freudig ansprang.
Auf Lees Gesicht stahl sich ein Lächeln.
„Hallo, Lilian!“, lachte Lui und streichelte sie. Man sah den Schmerz in seinen Augen, über seinen verlorenen Welpen Luke, kurz aufblitzen, doch dann wandte er sich Lee zu. Eine Weile sahen sie sich einfach nur mit undurchdringbarem Gesichtsausdruck an.
Das Mädchen musterte seine Augen, die nun ganz von den Bernsteinfarben erfüllt waren. Das Braun, was sie einst so geliebt hatte, gab es nicht mehr.
Diese Augen waren ihr fremd.
Der Junge sah sie fest an, dann setzte er sich neben sie auf das Bett.
„Ich muss mit dir reden“, sagte Lui ohne sie zu beachten.
Lee musterte ihn abwartend.
Er schien zu zögern, als hätte er Angst davor die Frage zu stellen.
„Wenn…wenn die Prophezeiung erfüllt ist…wirst du gehen oder bleibst du hier?“
Er musste es nicht näher erläutern. Beide wussten, was er mit ‚gehen’ meinte.
Lee schwieg. Diese Frage hatte sie sich oft genug selbst gestellt und war nicht zu einer Antwort gekommen. Navajes Worte, dass sie nach der Prophezeiung vielleicht nicht überleben konnten, trieben in ihr wie ein kleines Blatt auf einem unberührten See, das dennoch weiter und unbeirrt seine Kreise zog und die Oberfläche des Sees bewegte.
„Ich weiß nicht!“, erwiderte sie wahrheitsgemäß. Abwartend sah sie ihn an. Angst davor, was er antworten würde. „Und du?“ Sie wollte nicht, dass er in die andere Welt zurückkehrte, die nur noch ein grauer Schatten in Lees Erinnerung war.
Lui zuckte mit den Schultern und wandte endlich den Kopf zu ihr. „Jan hat gemeint, er will wieder zurück!“
Lee spürte, wie ihr Herz von einer kalten Eisschicht bedeckt wurde. Wenn Jan ginge, würden Lui und Jenny zweifellos auch gehen wollen.
„Dann geht doch!“, erwiderte sie ausdruckslos. Sie spürte, wie ihr Inneres sich mit aller Kraft an Vardell klammerte.
Lui sah sie erstaunt an. „Denkst du, ich könnte einfach so verschwinden. Nach alldem, was mir passiert ist?“
„Gibst du mir die Schuld an dem, was dir widerfahren ist?“ Sie wusste, dass sie Schuld an dem trug, was ihren Freunden passiert war. Trotzdem saß sie hier und funkelte ihn wütend an.
„Was? Nein! Ich bin mitgegangen, weil ich es wollte. Nicht, weil du es wolltest!“
„Willst du lieber wieder in deine heile Welt zurück?“, fragte Lee mit unverändertem Gesichtsausdruck.
„Sei still!“, knurrte Lui wütend.
Lee wandte den Blick von ihm ab und starrte wieder aus dem Fenster.
„Ich fasse es nicht, dass du so über mich denkst!“ Lui erhob sich und musterte sie kalt. „Früher hast du nicht so gedacht.“
Lee sah ihn wütend an. „Ich weiß besser als du, dass ich mich verändert habe!“, erwiderte sie. „Ich bin erwachsen geworden! Tut mir leid, dass ich nicht mehr so bin, wie du mich gerne hättest!“
„Du bist nicht erwachsen geworden“, sagte Lui mit einem unberührten Lachen, „Du hast dich verloren. Du hast deinen Vater gefunden, aber dich selbst hast du verloren! Ich habe das Gefühl du versteckst dich, um nicht wieder verletzt zu werden!“
„Vielleicht ist das ja auch richtig so!“, erwiderte Lee scharf.
Lilians kurzes Winseln ließ beide aufsehen.
Lui wandte den Blick von dem Mädchen. „Dann hoffe ich, dass du so bist, wie du es für richtig hältst!“ Mit diesen Worten ging er aus dem Zimmer.
Lee blieb sitzen. Sie wollte sich nicht bewegen. Sie wollte nicht nachdenken. Sie wollte einfach nur hier sitzen bleiben und warten bis alles wieder okay werden würde. Sie spürte eine nasse Schnauze und drückte Lilian an sich.
Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie weinte. Lilian leckte zärtlich über ihr Gesicht.
Rudelgefährte?, fragte sie vorsichtig.
Lee erwiderte nichts. Sie drückte sie nur fester an sich.
Ich wider mich selbst an, Lilian, schluchzte sie, alle Leute, die mir zu Nahe kommen, behandele ich wie Dreck! Lui hat Recht! Ich will mich verstecken!
Lilian schmiegte sich an sie. Dann komm raus, erwiderte sie so verständnislos und unschuldig, dass Lee ein kehliges Lachen von sich gab.
Ich kann nicht, versuchte sie es Lilian zu erklären, Es ist als hätte ich mich selbst in Ketten gelegt.
Lilian legte verwundert den Kopf schief. Warum?
Lee lächelte schräg und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Dann ließ sie Lilian los und stand auf. Das muss ich noch herausfinden!
Sie öffnete die Tür, packte ihren Beutel, in dem alles drin war, was sie für die Reise brauchte und ging aus dem Zimmer. Lilian sprang zufrieden hinter ihr her.
Während Lee durch die Gänge lief, wurde sie plötzlich von Jan überrascht.
„Was hast du mit ihm gemacht?“, fragte er sofort und packte sie an den Schultern.
„Was? Was habe ich mit wem gemacht?“, fragte Lee verwirrt.
„Lui!“, erwiderte Jan.
„Was soll ich mit ihm gemacht haben?“, fragte Lee kalt. Sie spürte, wie sie versuchte alles, was er von sich gab an sich abprallen zu lassen.
„Das frage ich dich gerade!“, erwiderte Jan trotzig. „Er ist furchtbar schlecht gelaunt.“
„Warum muss ich daran Schuld sein, wenn er schlecht gelaunt ist?“ Wütend stieß Lee ihn von sich.
Jan hob abwehrend die Hände. „Schon gut…beruhige dich mal wieder.“
Lee schwieg und wandte den Blick von ihm.
Jan sah sie prüfend an, doch dann grinste er nur und nahm sie am Handgelenk. „Naja, egal! Komm, wir wollen los fliegen. Die Anderen warten schon!“
Er zog sie mit sich und sie ließ sich widerstandslos von ihm lenken.


Kapitel 18

Als sie in die große Halle kamen, waren Navaje, Falem und König Trayas über eine große Steintafel gebeugt, auf der eine riesige Karte ausgebreitet war.
„Ihr werdet diese Route nehmen. Über den Katrus-Wald und dann über das Nahagat.“
„Das Nahagat ist viel zu gefährlich!“, erwiderte Falem kopfschüttelnd. „Das könnt Ihr nicht von uns verlangen. Ich würde vorschlagen, dass wir dem Katrus-Wald weiter folgen und dann an der Warìn-Küste entlang fliegen.“
„Das ist ein viel zu großer Umweg“, meinte König Trayas nüchtern.
„Aber er ist sicher!“, fiel Falem ihm ungeduldig ins Wort.
„Keine Wege sind sicher in der heutigen Zeit“, erwiderte Navaje und musterte die Karte prüfend, „Ich glaube, es würde sich am ehesten lohnen, wenn wir die Ebaros überqueren würden und dann über den Atria-Pass zum Jebor-Gebirge flögen.“
„Hast du den Verstand verloren?“, fragte Falem fassungslos. „Warum gerade die Ebaros?“
„Dann ist es also wahr“, erwiderte Navaje mit einem zufriedenen Lächeln. „Elben können Kälte wirklich nicht ausstehen!“
„Ich könnte mir durchaus, angenehmere Orte vorstellen!“, murrte Falem.
„Für die Adler, ist die Kälte kein großes Problem“, sagte König Trayas und sein Adler neben ihm neigte leicht den Kopf. „Somit ist es entschieden!“
Falem wollte etwas erwidern, doch König Trayas eindringlicher Blick brachte ihn sofort zum schweigen.
Navaje nickte. „Wir werden über den Katrus-Wald zur Ebaros fliegen, dann nehmen wir den Atria-Pass!“
Als Lee sich umsah, wurden die Adler gerade mit Wasserbeuteln und Proviant beladen. Jan seufzte. „Das wird anstrengend werden!“
Jenny und Lorsch traten zu ihnen. „Das ist ja so aufregend!“, grinste Jenny.
Lee lachte, doch es erstickte in ihrer Kehle. Sie schwieg einen Moment betroffen. „Ich habe Angst!“, sagte sie plötzlich. Sie wusste, dass Jan, Lorsch und Jenny sie nun anstarren würden und erwartete, dass sie irgendetwas erwidern würden, doch als sie aufsah, blickte Jenny auf den Boden und Jan zu den Adlern. Nur Lorsch sah kalt und ausdruckslos aus. Er sah Lee an und schwieg.
Sie also auch, dachte Lee, Sie haben auch Angst! Alle!
Nicht lange und Lee saß auf Jardes Rücken. Lilian war in ihrem Beutel und versuchte sich ihre Angst nicht anmerken zu lassen.
„Du bist so angespannt“, meinte Jarde hohl.
„Ich frage mich, was kommen wird“, erwiderte das Mädchen.
„Denke nicht daran. Das macht dich nicht glücklich. Die Zukunft und die Vergangenheit können wir nicht ändern, nur in der Gegenwart kannst du etwas erreichen.“ Jarde sah sie nicht an. Lee wollte ihr gerade danken, als ein goldener Adler mit seinem Reiter plötzlich neben ihr auftauchte.
„Jarde! Versuchst du ihr etwa Mut zu zusprechen?“, sagte Anastasia, die mit Atrianna auf dem Rücken neben ihnen aufgetaucht war. Atriannas Haare steckten in einem langen, komplizierten, geflochtenen Zopf.
Jarde funkelte Anastasia wütend an.
„Siehst du nicht, dass sie sich vor Angst fast in die Hosen macht?“, fragte Atrianna mit einem gemeinen Grinsen. „Natürlich, versucht sie es! Wenn du mich fragst, Anastasia, kann man mit denen echt nichts anfangen!“
„Was ist dein Problem?“, fauchte Lee sie an.
„Du bist mein Problem, falls du es noch nicht bemerkt hast! Bevor ihr kamt, gab es den Krieg noch gar nicht! Erst als ihr die Schamanin getötet habt, kam er hierher!“ Atrianna war kühl und ihre grauen Augen waren so kalt wie Eis.
„Atrianna!“
Atrianna fuhr so heftig herum, dass ihr Zopf in einem schönen Schwung hinterher flog. König Trayas stand hinter ihnen. „Hör auf, die Auserwählten zu beleidigen! Sie mussten viel durchmachen!“
Atrianna senkte den Blick. „Ja, Vater!“, murrte sie leise. Sie warf Lee noch einen giftigen Blick zu, bevor ihr Adler in die Höhe schoss.
„Das war nicht sehr schlau von dir“, hörte Lee Jarde sagen.
„Was meinst du?“, fragte Lee.
„Dich mit der Prinzessin anzulegen“, erwiderte der Adler. „Sie hat viele, die hinter ihr stehen.“
„Ich lasse mich doch nicht einfach von ihr beleidigen!“ Empört verschränkte Lee die Arme vor der Brust.
Nach kurzem Überlegen hörte Lee sie sagen: „Das war mutig!“
„War es jetzt mutig oder dumm?“, fragte Lee lachend.
„Beides!“, erwiderte Jarde und auch, wenn Adler es schwer zeigen konnten, war Lee sich sicher, dass sie lächelte.
„Aufbruch!“ Falem hatte eine Hand nach oben gehalten und die Adler hoben ab. Er saß auf einem riesigen, pechschwarzen Adler. Navaje war neben ihm gestartet. Ihr Adler war ganz weiß mit einem gelben Schnabel.
Jarde flog in die Höhe und Lee spürte ein wunderbares Kribbeln im Bauch.
Plötzlich schoss Troy, Luis Adler, genau vor Jarde in die Höhe und Lee spürte, wie sie innerlich auf den Boden gepresst wurde. Warum hatten sie und Lui sich so seltsam gestritten? Warum hatte sie so seltsam reagiert?
Wieso musste sie ihn gerade jetzt genau vor sich haben?
Seufzend vergrub sie das Gesicht in Jardes Gefieder.
„Ihr habt euch gestritten. Du und der Wolfskopf!“, meinte sie nüchtern.
Lee hob den Kopf wieder. „Woher weißt du das?“
„Tiere können Spannungen besser wahrnehmen, als Menschen“, erwiderte sie.
Lee schwieg. Das hatte sie schon immer gewusst, doch irgendwie überraschte es sie trotzdem, so etwas aus dem Mund, beziehungsweise: Schnabel, eines Tieres zu hören.
Lorsch zischte auf einem Adler an ihr vorbei, der golden schimmerte. Allerdings war es kein furchtbar kitschiges Gold wie bei Anastasia, sondern eher ein gelbliches, bräunliches Gold.
Sie seufzte.
Wie lange sie wohl fliegen würden?
Unweigerlich musste Lee an ihren Flug mit dem kleinen Flugzeug denken, mit dem sie in einen riesigen Sturm gekommen waren.
Hoffentlich bleibt das Wetter so! , dachte sie zynisch.


∼ξ ∼ ψ ∼ ζ∼


Der Drache flog immer weiter. Colin lag auf seinem Rücken und genoss den Wind. Er hatte sich an die Bewegungen des Drachen gewöhnt und war nun stolz darauf, dass er, ohne sich festhalten zu müssen, auf dem Drachen liegen konnte. Er griff in seinen Beutel und holte das letzte Stück Brot heraus.
Erst jetzt fiel ihm auf, dass der Drache die ganze Zeit über, in der er mit ihm zusammen war, weder etwas gegessen noch etwas getrunken hatte.
Er lehnte sich zum Kopf des Drachen vor um ihn zu fragen, denn er war sich nun hundertprozentig sicher, dass der Drache ihm antworten konnte, als er sie sah!
Ein kleines Dorf unter ihm stand in Flammen. Er sah Frauen und Kinder schreien und umherlaufen. Met’c fingen die Kinder ein, rammten ihnen Schwerter in den Bauch. Töteten kaltblütig und zeigten keine Gnade.
Dreckige Kreaturen! Verflucht sollen sie sein! Auch wenn sie es schon lange sind.
Colin sah sich die Körper an, die nur aus Schlamm und Zweigen bestanden. Die gelben, menschlichen Augen waren so durchdringend, dass man sie kaum ansehen konnte und ihr Geruch war so widerlich, wie der eines faulen Pilzes.
„Siehst du sie?“, fragte Colin. Er spürte, wie sich das kalte Gefühl in sein Herz einschlich.
Der Drache schnaubte.
Wut!
Colin atmete tief durch. „Ich bin bereit!“ Sein Schwert ruhte schon lange in seiner Hand. „Los!“
Der Drache stürzte sich nach unten. Colin hielt sich mit der einen Hand an den Schuppen des Drachen fest und umfasste das Schwert fester, damit es von der Geschwindigkeit nicht mitgerissen wurde.
Kurz bevor der Drache den Boden erreichte, breitete er die Flügel aus und stieß einen unmenschlichen Schrei aus.
Sofort drehten sich die Met’c zu ihm um. Schon hatte Colin sein Schwert in einen der seltsamen Körper gerammt.
Bevor der Drache wieder in die Höhe schießen konnte, sprang der Junge von seinem Rücken und zog sich sein Tuch über das halbe Gesicht.
Eines der Monster rannte mit erhobenem Breitschwert auf ihn zu. Colin stieß ihm sein Schwert zwischen die Rippen. Der Met’c viel mit einem grässlichen gurgelnd zu Boden.
„Es ist genug!“, zischte Colin wütend. Er ließ sich ganz von dem kalten Gefühl steuern und bemerkte bald, dass er alles um sich herum vergaß, während er einen nach dem anderen tötete. Der Drache stieß immer wieder von oben auf die Kreaturen hinab und zerfleischte sie.
Irgendwann realisierte Colin, dass die Met’c flohen. Sie flohen wegen ihm und seinem Drachen. Er bemerkte, wie sich das kalte Gefühl verflüchtigte und nahm den Kampfplatz endlich mit wachen und scharfen Augen wahr.
Er sah Frauen und Männer blutend oder tot auf dem Boden liegen. Kinder in Stücke gerissen oder verletzt.
Was hat sie nur veranlasst, so etwas zu tun? Bis jetzt hatten Lubomir und Tabarz die Menschen und ihre Grafschaften in Ruhe gelassen. Warum greifen sie ein unschuldiges Bauerndorf an?
Der Drache landete neben ihm und sah den Met’c zornig hinterher.
Colin sah sich um. Sie hatten alles zerstört.
Manche Häuser standen vollständig in Flammen.
Eltern riefen verzweifelt nach ihren Kindern.
Kinder weinten.
Verflucht sollen sie sein!, knurrte Colin wütend.
Er spürte ein sanftes Zupfen an seinem Arm. Der Junge drehte sich um und sah ein kleines Mädchen neben sich stehen. Sie weinte und starrte ihn mit großen Augen an. Colin musste den Reiz unterdrücken, das Kind von sich zu stoßen. Er hasste es, wenn ihm jemand zu nah kam. Doch er wollte sie nicht noch weiter verstören. Stattdessen starrte er das Kind nur an.
„Wer bist du?“, brachte sie schließlich heraus. Ihre Stimme quietschte und sie wischte sich mit ihrem schmutzigen Ärmel ihres Bauernkleides einmal durchs Gesicht.
Colin schwieg. Er hörte den Schrei einer Frau, die auf sie zu rannte, das kleine Mädchen packte und panisch von ihm wegzerrte.
„Halt dich von ihm fern! Hörst du, Maya!“ Mit beiden Armen umschlang sie das Mädchen und funkelte Colin an.
Der Junge zeigte keine Regung.
„Aber, Mama, warum denn?“, fragte das kleine Mädchen fassungslos.
„Er hat einen Pakt mit dem Teufel geschlossen!“, brachte die Frau heraus. „Geh! Los! Uns bekommst du nicht!“ Ihre grellen Schreie ließen die anderen Dorfbewohner zu ihnen aufsehen.
Colin bewegte sich immer noch nicht.
Pakt mit dem Teufel?
„Mach, dass du wegkommst!“, schrie die Frau wieder. „Hau ab! Ich warne dich!“
Das kleine Mädchen sah schockiert hinter ihrer Mutter hervor.
Der Drache knurrte einen Mann an, der sich ihnen von links mit einer Sense genähert hatte.
Colin wandte den Kopf, um nach dem Mann zu sehen. Ängstlich doch entschlossen stand er da.
„Weg! Nimm deinen Dämon und verschwinde!“, war alles, was er herausbrachte. Colins Blick streifte die Frau und das Mädchen noch einmal.
Sie haben Angst! Alle! Sie können noch nicht einmal mehr ‚gut’ von ‚böse’ unterscheiden!
Mit einem Sprung war er auf dem Rücken des Drachen.
„Komm nicht wieder!“, hörte er die Frau schreien, als der Drache in die Höhe schoss.


Kapitel 19

Sie waren auf einer Wiese gelandet, um zu rasten. Lee saß im Gras mit Jenny um das kleine Feuer herum, das Falem gemacht hatte.
Er spielte mit seinem Messer in der Hand, was Lee nervös machte.
Navaje, die neben Lee am Feuer saß, schien es auch zu stören. „Falem, pack das Messer weg!“
Falem sah zu ihr auf und zog eine Augenbraue hoch. „Und warum?“
Navaje deutete mit einer kaum wahrnehmbaren Kopfbewegung, auf Lee, Jenny, Jan und Lui. „Du weißt, warum!“
Mit einem Seufzen steckte Falem sein Messer weg.
Lorsch starrte in die Flammen und Atrianna hatte sich, ein paar Meter weit weg von ihnen, an ihren Adler gelehnt und starrte ausdruckslos zu ihnen herüber.
Jenny hatte sich an Lee gelehnt und streichelte Jamie, die auf ihrem Schoß lag.
Lui blickte ins Leere und hatte sich von Lee abgewandt.
Wie lange wollte er denn noch schmollen? Warum sah er sie denn nicht an? Oder, war sie vielleicht diejenige, die schmollte?
Lee seufzte und streichelte Lilian, die neben ihr im Gras lag.
Die Adler, bis auf Anastasia, hatten sich zu einem Knäuel aus Federn zusammengetan und schliefen. Sie hatten ihren Kopf unter einen Flügel gesteckt und schmiegten sich aneinander.
Jan musterte fachmännisch die Umgebung.
Die Stille war unangenehm, deshalb war Lee fast froh, als sie diesen verzweifelten Schrei hörte.
Die Adler zuckten zusammen und hoben geschockt den Kopf. Atrianna war mit einem Sprung auf Anastasia, die sofort in die Luft schoss.
Falem sprang auf und zog sein Schwert. Lorsch war sofort mit einem Messer in seiner Hand neben ihm.
Navaje verwandelte sich knurrend, was Lui und Jan ihr sofort nach taten. Lees Hand hatte automatisch zu ihrem Rücken gegriffen, als ihr auffiel, dass ihr Bogen an dem Beutel hing, den Jarde noch um ihren Hals geschlungen hatte.
Eine Weile war es still.
Lee atmete langsam und vorsichtig. Sie beobachtete Navajes Wolfsohren, die unruhig hin und her zuckten.
Da brachen sie plötzlich aus dem Dickicht.
Ein kleines Mädchen, höchstens fünf Jahre alt, strauchelte, fiel immer wieder hin, rappelte sich wieder auf und lief weiter auf sie zu. Genau hinter ihr rannte in einem komischen Galopp ein Kobold.
Er fletschte die Zähne und knurrte etwas, was Lee nicht verstand.
Er ging Lee bis zu den Knien, war pelzig und hatte kleine, spitze Zähne. Das Gesicht ähnelte dem einer Katze. Einer sehr hässlichen Katze.
Die Nase war platt gedrückt und das Maul war riesig.
Die Arme schienen sogar noch länger zu sein als die Beine, weswegen der Kobold sich mit ihnen immer wieder am Boden abstieß, um schneller rennen zu können.
Das Mädchen fiel wieder auf den Boden und drehte sich wimmernd zu dem Kobold um, der sich in einem Sprung auf sie stürzen wollte.
Genau im richtigen Moment schoss Anastasia herab und Atriannas Kurzschwert durchschnitt die Luft.
Der Kobold war ausgewichen und fixierte Atrianna knurrend.
Jenny war losgerannt. Jamie jagte vor ihr her.
Es dauerte einen Moment bis Lee verstand, dass Jenny das Mädchen retten wollte. Schon sah Lee die Shuriken in ihrer Hand aufblitzen.
Jarde war neben ihr aufgetaucht. „Dein Bogen!“, sagte sie, während sie das Geschehen fixierte.
Lee nickte ihr dankbar zu. Schnell riss sie ihn von Jardes Hals und spannte ihn. Dann nahm sie sich ihren Köcher und schlüpfte hinein.
Los, Rudelgefährte!, trieb Lilian sie an.
Atrianna griff immer wieder aus der Luft an und versuchte den Kobold mit ihrem Schwert zu töten. Jenny hatte sich über das Mädchen gekniet und warf immer wieder einen Blick auf den Kobold, wenn er ihr zu Nahe kam, warf sie einen ihrer Shuriken nach ihm. Sie versuchte das Mädchen hochzuheben, doch es schrie und wand sich in ihrem Griff. Jamie gab immer wieder kläffende Laute von sich und trieb den Kobold von Jenny und dem Mädchen weg.
Lee wollte losrennen und ihnen helfen, doch Navaje griff nach ihrem Arm.
„Nein, Lee!“, sagte sie sanft.
Verwirrt sah das Mädchen zu der Schamanin hoch. Sie hatte nicht bemerkt, dass sie sich wieder in einen Menschen verwandelt hatte.
„Was? Warum nicht?“ Ihre Stimme klang schwach und brüchig. Hinter Navaje standen Jan und Lui.
Jans Blick war auf Jenny gerichtet. Lee bemerkte, wie verzweifelt er mit den Zähnen knirschte.
Lui sah zur Seite und schloss die Augen.
Auch die beiden hatten sich wieder in ihre menschliche Gestalt verwandelt.
Falem hatte den Kämpfenden den Rücken zugedreht. Lorsch beobachtete das Geschehen, doch er hatte sich wieder ans Feuer gesetzt und Lee bemerkte, dass sie auch von ihm keine Hilfe verlangen konnte.
„Warum greift ihr nicht ein?“ Lee schrie es fast. „Wieso steht ihr hier und wartet?“
Jarde hatte einen intensiven Blick mit Mai gewechselt. Nun sah auch sie zu Boden. Keiner der Adler war bereit einzugreifen.
Navaje zögerte. „Wir können nicht helfen.“
„Warum kann sie es dann?“, fragte Lee wütend und deutete auf Atrianna, die wieder auf den Kobold hinabstürzte und mit ihrem Schwert nach ihm schlug. „Warum kann sie es und wir nicht?“ Lees Stimme war ein hysterisches Fauchen geworden.
Sie wollte es auch beweisen! Ihr selbst und auch den anderen! Sie wollte auch beweisen, dass sie kämpfen konnte! Doch besonders wollte sie dieser Atrianna beweisen, dass sie besser war als sie!
„Jedes Volk muss für sich bestimmen ob es hilft“, versuchte Navaje sanft zu erklären.
„Aber die Adler helfen doch gar nicht“, erwiderte Lee fast verzweifelt. „Sie stehen hier und schauen zu!“
„Weil sie wissen, worum es sich handelt“, fiel Navaje ihr hart ins Wort.
Alle scheinen es zu wissen und zu verstehen! Sie alle wissen, was los ist und lassen mich dumm dastehen!
Mit einem wütenden Schrei riss sich Lee aus Navajes Griff und rannte neben Lilian her. Im Laufen legte sie einen Pfeil in die Sehne ein.
Plötzlich hörte sie über sich ein Flügelrauschen.
Lee rannte schneller und hob kurz den Kopf. Mai zischte wie ein geölter Blitz über sie hinweg und steuerte auf Jenny und das Mädchen zu.
Doch hinter ihr waren noch weitere Flügelschläge. Lee wurde an ihrer braunen Lederjacke gepackt und in die Luft gehoben.
Verzweifelt schlug sie um sich, doch der Griff war zu stark. Sie wurde hoch in die Luft geschleudert und befand sich nun auf Jardes Rücken.
„Es tut mir leid, Lee“ Die Stimme des Adlers war brüchig. „Wir haben den Befehl erhalten, dass euch nichts geschieht!“
Lee krallte sich in Jardes Gefieder, die in einem Bogen wieder zurück flog.
Jenny war in Sicherheit. Mai hatte sie.
Sie warf einen kurzen Blick über die Schulter und sah Jenny mit dem kleinen Mädchen auf Mais Rücken sitzen. Wütend funkelte Lee Navaje an, die ihr ausdruckslos entgegensah.
Plötzlich hörte sie ein leises Winseln.
„Lilian!“, rief sie verzweifelt und lehnte sich über Jardes Rücken.
„Ich habe sie, Menschenkind, es geht ihr gut!“, sagte Jarde beruhigend.
Lilian baumelte in den Krallen des Adlers.
„Gib sie mir!“, befahl Lee verzweifelt. Sie spürte ein Ziehen in ihrem Bauch. Das Ziehen von Angst.
Gehorsam hob Jarde ihre Klaue so weit es ging neben ihrem Kopf und musste sich deswegen fast senkrecht in der Luft halten.
Lee beugte sich nach vorne um Lilian aus den Krallen und in ihren sicheren Schoß zu befördern ohne runter zu fallen.
Sanft landete Jarde neben Navaje. Mit wütendem Gesichtsausdruck stieg Lee von ihr und ließ Lilian auf den Boden springen.
Sie drehte Navaje und Falem den Rücken zu, die sie mit unergründlichem Blicken ansahen und ging langsam zu Mai hinüber.
Jenny lag auf ihrem Rücken und beugte sich über das kleine Mädchen.
„Es wird wieder gut! Es wird alles wieder gut!“ Ihre Stimme war ein verzweifelter Singsang, von dem Lee eine Gänsehaut bekam. Jamie, die neben ihr lag knabbere zärtlich an einer Haarsträhne des Mädchens.
„Jenny?“, fragte Lee vorsichtig.
Jenny hob den Kopf und sah Lee mit verweintem Blick an. „Lee, sie schafft es! Sie hält durch! Sie wird überleben! Es wird alles wieder gut! Es wird wieder gut!“ Ihre Stimme wurde von Schluchzern geschüttelt.
Lee sah ihre Freundin hoffnungslos an. Schnell kletterte sie zu ihr auf Mais Rücken.
Das Mädchen war aschfahl und atmete mit einem seltsamen rasselnden Geräusch. Ihre hellbraunen Haare waren verklebt von Schweiß, Dreck und Blut. Ihr kleiner Körper sah so zerbrechlich aus als wäre er aus Glas.
Eine klaffende Wunde prangte in ihrem Bauch, aus dem noch unerlässlich das Blut floss.
Lee wusste nicht wieso. Sie hatte nur das dringende Gefühl, dass sie ihn jetzt brauchte! Dass er helfen konnte!
Sie hob den Kopf und sah zu Jan und Lui. Mit bestürztem Gesichtsausdruck erwiderten sie ihren Blick und Lee bemerkte plötzlich, dass sie weinte.
Ihr Blick schweifte über Jan, dann Navaje, dann Falem und blieb schließlich an Lui hängen. Er erwiderte ihren Blick. Am Anfang dachte sie, er hätte möglicherweise Mitleid mit ihr, doch dann veränderte sich sein Gesicht in eine eiskalte Maske und er starrte sie einfach nur an.
Sein Blick war wie tausend Nadeln und Lee konnte es weder ertragen, noch konnte sie ihn ebenso böse ansehen. Sie konnte nur weinen und ihren Blick losreißen.
Endlich fand ihr Blick ihn. Lorsch!
„Lorsch!“, schrie sie verzweifelt, doch ihre Stimme war viel zu brüchig und zu leise. Es kam ihr vor, als würde ihre Kehle schmerzen und wenn sie sprach, würde sich das Kratzen in ihrem Hals verschlimmern. Doch sie riss sich zusammen, schluckte kurz und schrie erneut: „Lorsch!!!“
Der junge Indianer starrte sie fassungslos an. Flügelschläge rauschten über Lee hinweg.
Atrianna setzte mit ernstem Gesicht zur Landung an. Dann grinste sie überheblich und hielt einen kleinen, zappelnden Beutel hoch.
„Ich habe ihn!“, lachte sie spöttisch.
Lee ignorierte sie. Ihr Blick heftete weiterhin an Lorsch.
Lass mich nicht hängen…Ich flehe dich an…lass mich nicht hängen!
Mit gesenktem Blick erhob sich der Indianerjunge. Dann ging er mit kräftigen Schritten zu Lee hinüber bis er genau vor ihr stand.
Lee schluchzte.
Er blieb vor ihr stehen.
Ohne zu wissen, was sie tat, schlang sie die Arme um ihn und klammerte sich an ihm fest, suchte nach Halt, nach irgendetwas, was ihr weiterhelfen konnte!
„Bitte hilf ihr!“, flüsterte sie schwach.
Lorsch schwieg. Er erwiderte die Umarmung nicht und schien sie nicht zu realisieren. Endlich seufzte er.
„Kleines Menschenkind“, sagte er mit bitterem, heiserem Lachen und schloss sie in die Arme. „Kleines, hilfloses Menschenkind!“


Kapitel 20

Er wachte auf und fror. Zitternd zog er seine Jacke fester um sich und sah sich verwirrt um.
Alles war so seltsam weiß. Die grünen Schuppen des Drachen stachen ihm in die Augen.
„Wo sind wir?“, fragte er verschlafen.
Fremd!
Kalt!
Orientierungslos!
Sofort war Colin wach. „Was? Du weißt nicht, wo wir sind?“
Mit wachen Augen sah er nun um sich und plötzlich erkannte er die Gegend.
„Oh, nein!“, stöhnte er verzweifelt.
Die Ebaros! Die ewige Ebene!
Sie bestand nur aus Eis, Gletscher, zugefrorenen Seen und weißen, verwirrenden Gebirgen.
„Ich hoffe du weißt, was du tust“, sagte Colin leise. „Ich war hier noch nie, doch ich habe die Geschichten gehört!“
Der Drache schnaubte. Colin lächelte schief.
„Ja, klar! Du machst das schon!“ Eine Weile schwieg er. „Weißt du, ich finde, du brauchst einen Namen!“
Der Drache sah ihn abwartend an. Grinsend erwiderte der Junge den Blick. Schon die ganze Zeit hatte er nach einem Namen für den Drachen gesucht und nun hatte er einen gefunden.
„Aèron!“
Der Drache sah ihn an und Colin wusste nicht, ob ihm der Name gefiel oder nicht, doch dann schnurrte der Drache sein seltsames Gurren und schoss in die Höhe.
Colin lachte, während er sich an den Schuppen des Drachen festhielt.
Aèron schoss wieder nach unten und flog kurz vor dem Aufprall, wie ein Pfeil am Boden entlang, sodass er eine Menge Schnee aufwirbelte. Der Junge breitete übermütig die Arme aus und ließ einen Freudenschrei hören.
Endlich fühlte er sich zu Hause! Endlich hatte er ein reines Gewissen!
So rein, wie der Schnee.


∼ξ ∼ ψ ∼ ζ∼


„Wieso machst du dir so eine Mühe mit dem Mädchen?“, flüsterte Falem leise.
Sie schliefen schon und er wollte nicht riskieren, dass er die Anderen weckte.
Lorsch schwieg. Er stocherte mit einem Stock lustlos im Feuer herum. Das Mädchen lag neben ihm. Sie atmete etwas ruhiger und auch die Wunde schien sich sehr verbessert zu haben.
Der Kobold, den Atrianna in den Beutel gesteckt hatte, war gefesselt und dann erneut im Beutel verstaut worden.
Die Nacht war so schwarz und klar, dass die Sterne aussahen, wie tausend kleine Sonnen.
„Antworte mir!“, zischte Falem eindringlich. „Du weißt, dass wir sie nicht mit uns nehmen können! Früher oder später müssen wir sie töten!“
Lorsch seufzte und warf den Stock in die Glut.
„Tust du es, wegen ihr?“, fragte Falem weiter.
Mit hochgezogenen Augenbrauen sah der Junge den Elb an. „Ihr?“
Falem musterte ihn. „Du weißt, wen ich meine. Unser dickköpfiges Menschenmädchen!“
Lorsch starrte wieder in die Glut.
Falem seufzte, doch er wandte den Blick nicht ab. „Tust du es wegen Lee?“
Lorsch zuckte die Schultern.
„Wie gern hast du sie?“, fragte Falem unnachgiebig.
„Wieso muss ich dir antworten?“ Lorschs Blick war eiskalt und durchdringend wie ein scharfes Messer, doch Falem ließ sich davon nicht beeindrucken.
„Oh, so sehr?“ Grinsend sah der Elb ihn an. „Es geht mir nicht um dich, glaub mir! Es geht mir um Lee! Um die Prophezeiung! Je mehr Gefühle sie entwickelt, desto zerbrechlicher und verwirrter wird sie.“
Schweigend wandte Lorsch den Blick ab und sah auf den Schlafsack in dem Lee zusammengekauert schlief. Lilian döste neben ihr.
Falem stöhnte genervt. „Dieses Gespräch scheint mir sehr einseitig zu verlaufen.“
Lorsch zuckte mit den Schultern. „Dann beende es!“
Eine Weile schwieg Falem. „Denk an Lee! Denk an die Kinder! Verwirr sie nicht!“
„Hey!“ Lorschs Stimme war lauter als beabsichtigt. „Sie hat mich umarmt und nicht umgekehrt! Und überhaupt: Es war nur eine Umarmung!“
Falems Blick war eisern. „Du hast es zugelassen, Lorsch!“
Nun war es Lorsch, der genervt aufstöhnte.
„Ich sehe, dass ich dieses Gespräch nicht zu führen brauche“, meinte Falem und grinste gemein, „Ich wollte dich nur darauf ansprechen! Es gehört immer etwas Vertrauen in eine Gruppe!“
Lorsch musterte ihn amüsiert. „Das ist der Grund, warum du mit deinem Schwert schläfst, oder?“
Falem lächelte ihn an. „So ist es!“
Lorsch grinste. „Ihr seid ein verrücktes Volk!“
„Das wissen wir schon, doch wir sind nicht so viel verrückter als ihr mit euren komischen Booten!“, erwiderte Falem.
„Kajaks!“, verbesserte Lorsch.
„Wie auch immer, du bist bestimmt müde! Geh schlafen, ich übernehme die restliche Wache und wecke dich falls etwas mit unserem Sonderfall sein sollte!“ Er deutete auf das verletzte Mädchen, das ruhig und leise atmete.
Lorsch lächelte. „Ich danke dir!“ Er erhob sich und sah auf Falem herab. „Ihr Elben seid gar nicht so egoistisch, wie man immer denkt.“
„Wer sagt denn, dass ich dich nicht einfach loswerden will“, grinste Falem, „Und denke jetzt bloß nicht, wir sind so etwas wie ‚Freunde’!“
Lorsch verzog angewidert das Gesicht. „Auf die Idee würde ich nie kommen!“
Mit einem frechen Grinsen ging der junge Indianer zu seiner Schlafstätte und drehte dem Elben seinen Rücken zu.


∼ξ ∼ ψ ∼ ζ∼


Wie er sie hasste!!
Mit einem gewaltigen Satz sprang über einen Baumstamm und hastete weiter. Diese Wut in ihm. Er konnte nicht anders. Er hatte sich in den großen Wolf verwandeln müssen!
Warum war ihm nie aufgefallen, was für ein bescheuertes Flittchen sie doch war?
Mit einem wütenden Knurren lief er noch schneller.
Navaje würde sauer auf ihn sein, weil er sich einfach davon gestohlen hatte. Doch er hatte es einfach nicht mehr aushalten können! Konnte es nicht mehr aushalten sie anzusehen.
Lui jagte weiter. Er schreckte ein paar Rehe auf, die erschrocken davon rannten, doch er verfolgte sie nicht. Stattdessen lief er weiter.
Wie konnte sie nur? Er war so wütend auf sie!!
Ich hasse sie! Ich hasse sie! Ich hasse sie!
Irgendetwas in ihm protestierte gegen diese Aussage, doch er ließ die Stimme nicht zu Wort kommen.
Ich hasse sie! Ich hasse sie! Ich hasse sie!
Er wollte nicht, dass es anders war. Er wollte sie hassen!
Du willst dich selbst hassen, Lui!, sagte die Stimme in ihm sanft. Grollend blieb Lui stehen.
Von wegen, erwiderte er kalt. Es war doch die ganze Zeit klar! Sie hat mich nur ausgenutzt! Wenn sie Hilfe gebraucht hat, hat sie sich immer an mich gehangen! Immer! Und jetzt, wo wir uns gestritten haben und sie nicht mehr weiter weiß, nimmt sie sich den nächst besten Jungen!
Er stemmte die Pfoten in die Erde und sah auf seine vor Anstrengung zitternden Beine. So dastehend verweilte er. Sollten sie ihn doch suchen! Sollten sie ihn doch finden! Es war ihm egal! Hauptsache er hatte eine Entscheidung getroffen und konnte die Stimme in seinem Innern zum Schweigen bringen.
Sein Bauch zog sich, wegen der fehlenden Luft, krampfhaft zusammen, oder war es wegen etwas anderem?
Langsam hob Lui den Kopf wieder. Er schwankte kurz etwas, dann hatte er sich wieder gefasst. Hinter sich hörte er Jan anrennen.
Schon schoss sein Freund hinter ihm hervor und vollführte genau vor ihm eine Vollbremsung.
Junge, warum rennst du denn so?, fragte er außer Atem.
Schwer atmend stierte Lui ihn an. Ich wollte nicht, dass mir jemand folgt.
Jan seufzte. Vertrag dich doch wieder mit ihr.
NEIN!
Jan stutzte und sah ihn eindringlich an. Was ist eigentlich mit dir los? Da draußen geht eine Welt unter, wenn wir es nicht verhindern können und du regst dich auf wegen….wegen….wegen einem Mädchen?
Lui schwieg. Verzweifelt starrte er auf seine Vorderpfoten.
Lui! Wach auf! Sie ist nicht wichtig…ich meine…du weißt, was ich meine! Es geht um eine Welt! Um unschuldige Leute! Jan sah ihn mitleidig an. Das musst du verstehen.
Hör auf, Jan, erwiderte Lui barsch, Es geht auch um meinen Tod! Wir könnten alle sterben, um diese Welt zu retten in die wir nicht mal gehören?
Aber wir gehören hierher, meinte Jan entschlossen, oder meinst du wir gehören in die andere Welt? Da passen wir schon lange nicht mehr rein! Schon seit wir auf der Insel gestrandet sind und Sasuuns Zwillingsbruder, Marek, getroffen haben. Da hat er versucht uns umzubringen, weißt du noch? Schon da hat sich etwas in uns verändert.
Lui schüttelte schmerzerfüllt den Kopf. Was ist mit unseren Familien Jan? Hast du sie schon vergessen?
Jan schüttelte den Kopf. Ich weiß nicht, wie es ihr geht und die einzige, um die es mir deswegen Leid tut, ist meine kleine Schwester, Kate. Denkst du mich interessiert, was mein Vater macht?
Lui erinnerte sich nur vage an Jans Vater. Er wusste, dass er getrunken hatte und, dass er seine Frau geschlagen hatte, dass er Jan die Schuld gegeben hatte, als er sie niedergeschlagen hatte und dass Jan ihn mit einer seiner Bierflaschen erschlagen hatte. Ob seine Eltern noch lebten, wusste Jan nicht einmal selbst, doch Kate war am Leben und lebte nun bei Jans Nachbarn.
Ich glaube, es ist einfach besser, wenn ich nicht bei ihr bin…Ich würde sie nur in Gefahr bringen, er sprach immer noch von Kate.
Denkst du auch an meine Familie, Lui fragte es schärfer als beabsichtigt. Verblüfft sah Jan ihn an.
Meine Familie liebt mich! Ich habe sie verlassen! Für Lee! Siehst du es jetzt ein! Sie ist immer im Weg!
Jan verstand kein Wort. Wovon redest du? Sie wollte gar nicht, dass wir mitgehen. Hast du das schon vergessen? Wir sind ihr hinterher gegangen!
Mit einem Sprung hatte Lui seinen besten Freund zu Boden geworfen und stand nun knurrend über ihm. Nein, das stimmt nicht! Ihr lasst euch alle von ihr täuschen! Sie hat doch gewusst, dass wir ihr folgen würden!
Jan schnappte nach Luis Hals. Aufheulend strauchelte der Wolfskopf von Jan hinunter.
Du bist verrückt, Lui! Ich verstehe nicht, was du mir damit sagen willst? Willst du nicht hier sein? Willst du wieder nach Hause? Ist es das?
Lui schwieg und stellte sich knurrend vor ihm auf. Weißt du wie sie es aufgefasst hat, als ich sie gefragt habe, ob sie nach der Prophezeiung wieder nach Hause geht?
Fragend sah Jan ihn an. Du hast es ihr also gesagt?
Lui wandte den Blick ab. Ja, ich hab ihr gesagt, dass ich gehen will!
Jan schüttelte den Kopf. Ich verstehe immer noch nicht, warum.
Ja…sie auch nicht! Langsam verwandelte sich Lui wieder in die Menschengestalt. Er setzte sich auf den dreckigen, feuchten Boden und vergrub das Gesicht in den Armen.
Er schluckte. Seine Finger krallten sich in seine Kleidung, so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten.
Er spürte eine Hand, die sich auf seine Schulter legte.
„Hey…Hey, Lui!“ Jans Stimme war mitfühlend und gleichzeitig verwundert. „Was hast du? Was ist eigentlich die ganze Zeit über mit dir los?“
Lui hob den Kopf. Stirnrunzelnd sah Jan ihn an. Er hatte wohl damit gerechnet, dass Lui weinte. Doch er weinte nicht! Er konnte es gar nicht!
Wie sollte man Weinen, wenn der Körper zu Eis erstarrt war?
Wie sollte man Weinen, wenn man vergessen hatte, wie sich Tränen anfühlten?
„Nichts ist mit mir los!“, sagte Lui und sah Jan scharf an. „Was soll denn sein?“
Jan wich langsam zurück. „Du bist vollkommen neben dir. So warst du noch nie!“
„Woher willst du das wissen? Ihr habt doch keine Ahnung von mir!“, fauchte Lui wütend.
Jans Blick verdüsterte sich. „Hör mal zu, du Idiot!“, schnaubte er. „Ich versuche, dir zu helfen, obwohl ich im Moment das Gefühl habe, dass dir überhaupt nicht mehr zu helfen ist!“
Schweigend funkelte Lui den Boden an.
„Na, wie nett, dass wir uns doch alle so gut verstehen, nicht wahr?“ Falem trat hinter Jan hervor. Gefolgt Troy, Efoy und von einem schwarzen Adler, von dem Lui keine Ahnung hatte, wie er, oder vielleicht auch sie, hieß. Das einzige, was er wusste war, dass er, oder sie, Falems Reisegefährte war.
„Du brauchst ziemlich lange, Seelenwolf! Du solltest nur den Wolfskopf zurückbringen!“, meinte Falem scharf.
Genervt sah Jan ihn an. „Versuch du es doch!“, murrte er.
Troy landete mit ein, zwei Flügelschlägen neben Lui und stupste ihn sanft mit dem Schnabel an.
Jan stellte sich neben Efoy und verschränkte schmollend die Arme.
Falem seufzte. „Lubomir, was ist los? Warum hältst du unsere Reise auf?“
Lui hasste diesen Namen! Er und der Schamane waren damit auf sonderbare Weise miteinander verbunden gewesen, wenn er ihn geändert hätte, hätte Lubomir sofort gewusst, wo er sich befand und wäre zu ihm gekommen, um ihn zu töten.
„Ich wollte endlich mal alleine sein!“, knurrte Lui.
„Oh, der feine Herr wollte alleine sein?! Vielleicht sollten wir ihm etwas Ruhe gönnen und warten bis ganz Vardell zerstört wurde!“ Falem sah ihn ungläubig an. „Das kann doch unmöglich dein Ernst sein!“, fauchte er wütend. „Was denkst du, wie es mir geht? Ich würde liebend gern von hier verschwinden, aber ich tue es nicht! Vardell braucht uns!“ Mit energischen Schritten stampfte er auf den sitzenden Lui zu und blieb hinter ihm stehen. „Also, beweg dich!“, sagte er unwirsch.
Langsam erhob sich der Junge und stand nun genau vor dem Elb.
„Los!“ Falem machte eine Kopfbewegung nach hinten. Doch Lui blieb wütend vor ihm stehen.
„Ich hab gesagt ‚Los!’“, wiederholte Falem knurrend und schlug Lui mit der Faust ins Gesicht.
Jan zuckte zusammen und sah Lui mit offenem Mund zu, wie sich der Wolfskopf mit der Handfläche vorsichtig übers Gesicht fuhr.
Falem holte erneut aus, um Lui zu schlagen. Dann geschah alles ganz schnell.
Troy warf sich mit einem wütenden Kreischen vor Lui und breitete schützend die Flügel vor ihm aus, und ein Shuriken zischte kurz vor Falems Gesicht vorbei und fuhr dahinter in den Baum.
Falem wandte den Blick zu dem jungen Mann, der das Shuriken geworfen hatte.
„Schluss!“, zischte Lorsch zornig. „Das reicht, Falem!“ Er stand neben Falems Adler, dem roten Efoy und dem verwirrten Jan.
Falem funkelte den Indianer an. „Denkst du, dass ich auf dich höre?“
Lorschs Augen blitzten vor Zorn. „Das solltest du!“
Langsam ging er auf Falem zu, der sich wütend abwandte und zurück zu dem schwarzen Adler ging.
„Los!“, sagte er mit rauer Stimme, sprang auf den gefiederten Rücken und der Adler schoss in die Höhe.
Troy war zur Seite gegangen, um Lorsch Platz zu machen, der sich Luis Gesicht betrachtete. Lui starrte wütend zu Boden.
„Ist alles okay?“, fragte Lorsch vorsichtig.
Lui schwieg. Lorsch hob die Hand, um sich den Striemen, der sich durch Luis Gesicht zog besser ansehen zu können, doch Lui stieß sie zur Seite.
„Lass mich in Ruhe!“, grollte er.
Troy machte sich klein, damit Lui aufsteigen konnte und der Junge nahm die Möglichkeit zu verschwinden dankbar an.
Jan verdrehte die Augen, bedachte den Indianer mit einem nicht zu deutenden Blick, sprang auf Efoys Rücken und flog Lui hinterher.
Lorsch schwieg und blieb eine Weile stehen, ohne sich zu bewegen. Irgendwann hörte er Flügelschläge hinter sich.
„Lorsch?“ Sola, seine Begleiterin für die Reise, war hinter ihm gelandet. „Alle warten schon auf dich!“
Der Indianer wandte langsam das Gesicht zu ihr. „Danke!“
Schnell zog er sein Shuriken aus dem Baumstamm und schwang sich auf ihren Rücken.
„Was ist passiert?“, fragte Sola schüchtern.
Sie war so leise und verhuscht, wie ein kleines Kind.
„Probleme mit dem Wolfskopf“, erwiderte Falem nüchtern.
„Wie kann man mit dem keine Probleme bekommen?“, meinte Sola, doch dann wurde sie wieder scheu. „Ich meine, dass ich damit schon gerechnet habe.“
Lorsch schwieg.
Natürlich, auch er hatte schon damit gerechnet.
Er seufzte leise. „Bitte, beeile dich! Ich will nicht, dass wegen mir wertvolle Zeit vergeudet wird.“
Solas goldbraune Flügel schlugen auf Anhieb schneller.
Lorsch starrte gedankenverloren vor sich hin.
Wieso meinte jeder, er bekäme alles wieder hin? Wieso hatten sie so ein großes Vertrauen zu ihm?
Erst nach ein paar Sekunden war ihm klar, dass er eigentlich nur Lee meinte und fragte sich, warum er das Gefühl hatte, dass Andere sich genauso benahmen wie sie.
Er war doch auch nur ein...ein...ja, was? Was war er? Ein Kind? In seinem Stamm zählte er zu den Erwachsenen, schon seit drei Jahren und er hatte sich auch schon damals, wie einer gefühlt, doch nun fiel ihm auf, dass er noch bei Weitem nicht so weise war wie Navaje und noch lange nicht das Durchhaltevermögen und die Kraft besaß, mit der Falem sie antrieb und weiter geleitete.
Also, was war er? Ein erwachsenes Kind? Ein junger Erwachsener?
Wie er es auch drehte, er fand keinen Ausdruck mit dem er zufrieden war.


Kapitel 21

„Nicht mehr lange und wir erreichen die weiße Wüste!“, meinte Navaje und sah starr nach vorn.
Jarde und Navajes weißer Adler, der sich Lee als Pollux vorgestellt hatte, flogen nebeneinander her.
„Die weiße Wüste?“, fragte Lee und runzelte die Stirn.
Navaje nickte. „Auch bekannt, als die ewige Ebene oder die Ebaros!“
„Was ist mit dieser Ebaros?“, fragte Jenny, die urplötzlich auch neben Navaje auftauchte.
„Einst war es ein Ozean, wenn man es als solchen beschreiben kann, doch vor ein paar hundert Jahren ist er ganz zugefroren. Die Eisschicht ist mal meterdick und mal hauchdünn.“
Lee bemerkte, wie Jarde sich anspannte. „Alles in Ordnung?“, fragte sie mitfühlend.
Jarde zögerte kurz. „Dort können wir euch nicht hinüber fliegen“, sagte sie leise.
Navaje drehte ihnen sofort den Kopf zu und sah Jarde durchdringend an. „Was sagst du da, Jarde?“
Bevor Jarde etwas weiteres sagen konnte, fiel Pollux ihr ins Wort: „König Trayas hat zwar gesagt, dass Kälte uns nicht viel anhaben kann, jedoch kommt es ganz darauf an, wie stark es stürmt!“
Navaje kniff misstrauisch die Augen zusammen. „Was meint ihr damit?“
„Das ist doch ganz leicht“, mischte sich Mai mit ihrer fröhlichen Stimme ein, „Wenn zu viel Wind ist, werden wir nicht fliegen können!“
Jenny griff in ihr Gefieder. „Und wenn wir gerade mitten über der weißen Wüste sind und dann in einen riesigen Sturm kommen? Werden wir dann landen und den Rest laufen?“
„So leid es mir tut, ich sehe keine andere Möglichkeit“, erwiderte Pollux.
Lee stöhnte. „Ich kann nicht noch einen Sturm gebrauchen!“
„Noch einen?“, fragte Navaje interessiert.
„Ja, wir sind in so einen bescheuerten Sturm geraten, als wir Lees Vater befreien wollten“, begann Jenny grinsend, „nur deswegen sind wir überhaupt abgestürzt und auf Mareks Insel gestrandet, auf der es echt total scheiße...äh, ich meine natürlich...auf der es echt total doof war, weil der Typ vor hatte uns umzubringen. Und dann war da noch so seltsames, giftiges Wasser, das wir alle getrunken haben. Wegen diesem Wasser haben sich Jan und Lee andauernd gestritten und Lee hat komische Tiere gesehen, wie Krokodile und Dinosaurier und so was!“ Sie schüttelte sich schockiert. „Das war vielleicht ein Horrortrip!“
Lee lachte. „Ich hab doch gar keine Dinosaurier gesehen!“
Jenny winkte kichernd ab. „Na, komm! Eine Spinne ist doch fast dasselbe wie so ein Riesenvieh!“
„Vergiss die Schlangen nicht!“, feixte Lee.
„Wie könnte ich, die wollten dich und Lui doch töten, nachdem wir ihn endlich wieder gefunden hatten und Marek dich dann entführt hat.“ Jenny zwinkerte ihr zu. „Gut, wenn man einen starken Jungen als Beschützer bei sich hat, nicht wahr?“
Lee schwieg. Warum hatte Jenny unbedingt wieder auf Lui anspielen müssen?
Sie warf einen kurzen Blick zu ihm. Er und Jan unterhielten sich gedämpft.
Lui, der wahrscheinlich gemerkt hatte, dass sie ihn anschaute, drehte sich zu Jenny und ihr um.
Dieser verdammte gleichgültige Gesichtsausdruck! Lee hatte das Gefühl, dass es ihm egal war, ob sie lebte oder starb.
Wahrscheinlich würde er noch nicht mal um sie trauern, sondern sich freuen, dass er sie endlich los war.
Plötzlich senkte sich Jarde nach unten und steuerte mit den Anderen auf eine Wiese zu. Als der karamellfarbene Adler wieder festen Boden unter den Füßen hatte, sprang Lee sofort ab und befreite Lilian aus dem Beutel, die sofort wie wild herum sprang.
„Wir machen hier noch eine letzte Pause vor der Ebaros!“, rief Falem. „Es wäre sehr angenehm, wenn die feinen Herrschaften Feuerholz suchen würden. Navaje! Bitte nimm Jan und Lubomir und gehe mit ihnen jagen. Wir brauchen Verpflegung für die Wüste.“
Navaje nickte und gab den Jungen ein Zeichen ihr zu folgen. Dann sprang sie als großer, grauer Wolf davon. Jan und Lui, die beiden schwarzen Wölfe, folgten ihr.
Lee bewunderte immer wieder Jans rabenschwarzes Fell, das in der Nacht als vollkommen unsichtbar galt. Luis Fell war nicht ganz so verschluckend und der weiße Fleck auf seiner Stirn leuchtete auch nur dumpf. Nicht so hell wie Jamie, die sich gerade mit Jenny über den Boden rollte. Nein, Jamie war so weiß, dass sich, sobald die Sonne auf sie fiel, ein schwacher Blaustich in ihr Fell stahl.
Lilian hingegen ging schon in Richtung dunkleres weiß und ihr schwarzer Fleck ging so sanft in das weiß über, dass man ihn fast übersehen konnte.
Lee schüttelte sich, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen.
„Lee!“, hörte sie Lorsch erstaunt aufrufen. „Komm her! Rasch!“
Schnell sprang sie auf und rannte zu ihm. Er hatte sich über das Mädchen gebeugt und versuchte sie zu beruhigen.
„Sie ist aufgewacht“, sagte er konzentriert, ohne Lee anzusehen.
Rasch kniete sich das Mädchen neben ihn.
„Hör zu, ich will, dass du ihr die Hand auf den Kopf legst! Lass sie sich nicht aufsetzen!“
Lee nickte. Sie konzentrierte sich so sehr darauf, das Mädchen in Schach zu halten, dass sie gar nicht bemerkte, wie sich Atrianna, Falem, Jenny und die Adler um sie drängten.
Dunkelbraune Strähnen fielen dem kleinen Mädchen ins Gesicht. Schweißnass wand sie sich in Lees Griff.
„Ruhig! Alles okay! Sscchht!“, versuchte sie, sie zu beruhigen. „Alles wird gut! Du bist in Sicherheit!“ Lee versuchte den Blick des Mädchens festzuhalten, doch sie strampelte und schluchzte.
Doch plötzlich hörte sie auf sich zu wehren und lag nur noch da. Den Blick auf Atrianna gerichtet, die den Kopf des Mädchens in ihren Schoß bettete. Es dauerte einen Augenblick bis Lee verstand, dass Atrianna sang. Es klang so wunderschön, dass sie jeder nur anstarren konnte. Doch Atriannas Augen waren auf das Mädchen gerichtet und ihre Stimme erklang nur für sie.
Das Lied war traurig. Lee hatte so etwas noch nie gehört. Es war melancholisch und gab einem gleichzeitig das Gefühl von Kraft und Verbundenheit.
Lee konnte ihre Augen nicht von Atrianna wenden. Sie hätte niemals für möglich gehalten, dass die Adlerprinzessin so lieblich sein konnte.
Gleichzeitig aber hasste sie Atrianna aus tiefstem Herzen. Warum? Warum?
Warum kann sie alles? Das ist doch nicht fair!
Mit steinernem Gesichtsausdruck stand sie auf und starrte auf das kleine Mädchen hinab, das sich beruhigte und Atrianna hoffnungsvoll ansah. Als plötzlich ein Schwert in ihrer Brust steckte.
Das Mädchen röchelte und stierte nach demjenigen, der die Waffe geworfen hatte. Lees Kopf fuhr herum.
Hinter ihr stand Falem. Mit ausdruckslosem Blick, während er auf das sterbende Mädchen sah.
Atrianna wirbelte herum.
„Wie könnt Ihr nur?“, fauchte sie außer sich. „Wie könnt Ihr es nur wagen, ein unschuldiges Leben auszulöschen?“
Lee konnte den Blick nicht von dem leblosen Körper wenden. Lorsch hatte den Kopf gesenkt und fuhr sich mit einer Hand durch sein Haar.
„Ich musste es tun!“, verteidigte sich Falem. „Ihr habt doch keine Ahnung mit wem Ihr es da zu tun hattet, Prinzessin!“
„Warum sagt Ihr es uns nicht einfach!“, schrie Atrianna. Anastasia flog zu ihr und versuchte sie zurückzuhalten.
„Habt ihr verfluchten Wesen keine Gefühle?“, schluchzte Atrianna. „Sie war ein Kind! Unschuldig und Hilfebedürftig! Und Ihr schmeißt ihr einfach so ein Schwert zwischen die Rippen!“ Verächtlich funkelte das Adlermädchen den Elb an.
„Ich diskutiere nicht mit kleinen Mädchen!“, erwiderte der Elb kalt und drehte sich um.
Lee sah, wie fassungslos Atrianna ihm hinterher sah. „Und ich höre auf keinen widerlichen Elben!“, keifte sie. Dann spuckte sie auf den Fleck an dem Falem eben noch gestanden hatte und sprang auf Anastasias Rücken.
Lee sah ihnen nach, wie sie über den Wald davon flogen.
Geschockt wanderte ihr Blick wieder zu dem Mädchen. Das war ihr alles ein Tick zu schnell gegangen! Verzweifelt griff sie sich in ihr blondes, dichtes Haar.
Falem hatte das Mädchen umgebracht! Er hatte es einfach...einfach getötet!
Sie atmete einmal tief ein und setzte sich dann wieder neben Lorsch, der immer noch neben dem Mädchen kniete.
Eine Weile saßen sie nur schweigend da und beobachteten das Mädchen. Ihre aschfahlen Wangen und die hellen Lippen, dann die dunklen Augen vor Schreck geweitet und der Mund zu einem Schmerzensschrei verzerrt.
Lee spürte wie ihr die Tränen übers Gesicht liefen. Lilian schmiegte sich an sie. Versuchte ihr Trost zu schenken.
„Tut...Es tut mir leid, Lee!“, sagte Lorsch leise.
Lee schwieg.
„Du hast es gewusst!“ Es dauerte einen Moment bis Lee bemerkte, dass sie selbst gesprochen hatte. Sie wandte den Kopf zu ihm.
Er sah sie schweigsam an.
„Du hast es gewusst!“, wiederholte Lee wütend und sprang auf.
Lorsch seufzte leise. „Ja, aber...“
„Wieso?“, fragte Lee schluchzend. „Wieso spielst du mir was vor? Wieso hast du mir nichts davon gesagt? Wieso hast du dann zugestimmt, dass wir sie retten? Sie war gerade wieder aufgewacht! Sie hätte leben können!! Sie hätte nicht sterben müssen!!“ Ihre Hände ballten sich zu Fäusten und Schluchzer schüttelten ihren Körper. „Du hättest es mir sagen müssen! Oder...du hättest es mir ausreden müssen!“
Schluchzend rieb sie sich die Augen. Lilian winselte und streifte um ihre Beine.
Lorsch schwieg. Er sah aus, als würde er sie am Liebsten trösten, doch er bewegte sich nicht und sein Gesicht war abgewandt.
Stattdessen starrte er auf das kleine Mädchen.
Jenny legte einen Arm um Lees Schultern. Auch sie weinte.
„Es ist okay, Lee! Es ist okay! Es geht ihr bestimmt gut...wo auch immer sie jetzt ist.“
Lee schlang die Arme um ihre beste Freundin. „Ich komme mir vor wie eine kleine Heulsuse!“, schluchzte sie leise.
Jenny schniefte kurz. „Ist okay! Ich mir auch! Manchmal...manchmal darf man weinen, weißt du? Das hat...meine Mutter mal zu mir gesagt, als ich sie...“ Sie brach ab und schluchzte.
Lee wollte sie nicht drängen weiter zu reden.
Lilian heulte ihr seltsames, junges Wolfsgeheul und Jamie stimmte ein.
Es klang zwar etwas schräg, doch Lee beruhigte es ungemein. Es gab ihr Kraft und Zuversicht.
Sie krallte sich an Jenny. Es tat gut jemanden zu haben, den man halten konnte. Jemanden den man halten konnte...jemanden...der immer da war, wenn man ihn brauchte...und plötzlich bemerkte sie, wie sehr sie ihre Freundin brauchte. Wie sehr sie Jenny links liegen ließ und wie wenig sie sich um ihre Probleme kümmerte. Und Jenny hatte das nicht gestört. Sie hielt trotzdem zu ihr und versuchte ihr zu helfen. Versuchte für sie da zu sein, obwohl Lee es nicht immer für sie war.
Alles wird gut! Alles...wird gut!


Kapitel 22

„Was hast du gemacht?“ Fassungslos starrte Lui Lorsch an, der noch immer bei dem Mädchen kniete. Lee sah auf. Auch Jenny hob den Kopf.
Was meint er?, fragte sich Lee verwirrt.
Sehr wütend, erwiderte Lilian und legte den Kopf schief. Warum?
Ich weiß auch nicht, sagte Lee.
„Was hast du gemacht?“, wiederholte Lui wütend.
Ausdruckslos sah Lorsch ihn an. „Was meinst du? Ich habe nichts getan!“
„Lüg nicht!“, zischte Lui. „Warum weinen sie?“ Er deutete auf Lee und Jenny. Jan kniete sich neben das tote Mädchen und beobachtete sie genau. Navaje legte Lee und Jenny je eine Hand auf die Schulter.
„Es ist nicht seine Schuld, Wolfskopf!“, rief Falem ihm zu. Wütend drehte sich Lui zu dem Elb um. „Wessen dann?“
„Schluss!“ Navajes Stimme war kalt und scharf wie ein Messer. „So kommen wir nicht weiter! Wie sollen wir ein Land retten, wenn wir uns nur streiten? Wie sollen wir gegen das Böse kämpfen, wenn wir nicht zusammenhalten und uns nicht vertrauen?“
Falem schwieg. Lui sah zornig auf den Boden, während sich Lorsch langsam aufrichtete.
„Das...Sie ist tot!“, hörte man Jans erstickte Stimme. Navaje sah ihn ruckartig an. „Was sagst du da?“
„Sie ist tot, Navaje!“, wiederholte Jan lauter, doch er konnte die Augen nicht von dem leblosen Gesicht wenden. Sofort schnellte Navaje in die Höhe. „Das warst du!“, zischte sie wütend und funkelte Falem an.
„Ich musste es tun“, erwiderte Falem zornig, „das weißt du doch!“
Navaje knurrte kurz. „Aber nicht so offensichtlich! Siehst du nicht, was du angestellt hast?“ Sie deutete auf Jenny und Lee, die sich über die Augen wischten und sich die Haare aus dem Gesicht strichen.
Falem zuckte mit den Schultern. „Sie werden sich schon an so etwas gewöhnen.“
Verwirrt sah Lee sich um. Was war hier eigentlich los? Alle widersprachen sich...oder beschuldigten sich? Warum hatte Navaje davon gewusst? Was hatte es mit diesem Mädchen auf sich? Warum war Lui so wütend? Und wieso schien ihn das tote Mädchen überhaupt nicht zu interessieren? Warum war nur Jan derjenige, der anscheinend noch normal dachte?
Lee hatte das Gefühl als ob ihr Kopf platzen würde. Als ob diese Fragen von innen gegen die Seitenwände ihrer Kopfhaut rennen würden, weil sie nach draußen wollten. Was zum Teufel war hier los?
„Schluss jetzt!“, schrie sie. Ihre Stimme klang hoch und schrill. Sie konnte sich gut vorstellen, wie unglaublich verrückt sie gerade aussehen musste. Mit zerzaustem Haar, verweinten Augen und wütendem Blick. Aber es war ihr egal! Sie wollte es endlich wissen!
„Warum habt ihr Geheimnisse vor uns?“, fragte sie wütend. „Warum erklärt ihr uns nicht einfach, was hier los ist?“
Navaje schwieg.
„Ich sage dir doch, dass es besser ist, wenn sie davon wissen“, meinte Falem an Navaje gewandt.
„Wir haben nicht das Recht dazu, Atrianna etwas davon zu sagen“, sagte Navaje ausdruckslos.
„Das sehe ich ein“, Falem sah sie durchdringend an, „aber was ist mit Lee und Jenny?“
Navaje seufzte. „Eigentlich wollte ich es keinem der Kinder sagen...Jan und Lui wissen es nur, weil ich daran gedacht hatte, als wir alle verwandelt waren.“
Falem seufzte. „Wo ist deine Vorsicht geblieben?“ Er sagte es mit einem seltsam zärtlichen Unterton. Navaje schwieg. „Es hat sich vieles verändert, Falem. Aber nun gebe ich dir Recht! Sie müssen es erfahren!“
Falem wandte den Blick von ihr und starrte auf das tote Mädchen.
„Gut, hört zu!“, begann Navaje. „Ihr habt bestimmt schon von den Met’c gehört.“
„Wir haben sogar gegen sie gekämpft!“ Jenny fuhr sich mit dem Ärmel übers Gesicht. „Damals...mit Karu.“
Karu war der Gott des Waldes und der Tiere in Gestalt einer riesigen, weißen Wölfin. Sie hatte Lui aufgenommen und ihn gerettet, als er von irgendwelchen bescheuerten Jägern angeschossen worden war. Danach hatte er sich ihr angeschlossen und in ihrem Namen, als Wolfsbandit, ein Dorf tyrannisiert. Was nicht hieß, dass Karu bösartig war. Nein, sie war einfach nur energisch und streng, doch auch liebevoll wie eine Mutter. Sie war...ein Gott! Man konnte es nicht anders beschreiben.
Navaje nickte wissend. „Und ihr habt gesiegt. Hat einer der Met’c versucht euch zu beißen?“
Lee versuchte sich zu erinnern. Hatten diese Ungetüme sie beißen wollen? Sie wusste es nicht mehr. Die meiste Zeit war sie bei Sasuun und Lui gewesen und wäre wegen dem Zauber der Schamanin fast erstickt.
Jenny zuckte mit den Schultern und rieb sich die verweinten Augen trocken. „Ich glaube nicht!“
„Weil es verboten war!“, erklärte Navaje. „Es ist Met’c nicht erlaubt einen Menschen zu beißen.“
„Warum nicht?“, fragte Lee verwundert.
„Sie haben ein bestimmtes...Gift in den Zähnen, das durch einen Biss auf den Menschen übertragen wird. Dieses Gift dringt in die Blutbahn des Menschen ein und verändert die DNA!“
Lee sah Navaje ungläubig an. „Und das bedeutet...?“
„Diese Menschen...werden zu anderen Wesen...In ihnen wächst ein Fluch! In ihnen wächst die Saat!“
„Die Saat?“, fragte Jenny. Lee dachte an Felder und Gemüse...säen...die Saat...Was meinte Navaje damit?
„Ihre Haut bekommt Risse, weil die Saat nach draußen will. Der Körper wendet sich quasi von innen nach außen. Nur, dass innen etwas gesät wurde. Wenn die Saat fertig ist, haben sie die Haut und den Körper eines Met’c!“
Lee sprang erschrocken auf. „Aber...Dann könnten sie ihre eigene Armee bilden! Sie könnten jeden verwandeln!“
Navaje schüttelte den Kopf. „Das könnten sie, wenn es ihnen von Nutzen wäre.“
„Wie meinst du das?“, fragte Jenny, die sich nun auch erhob.
Navaje sah die beiden Mädchen durchdringend an. „Es wird den Met’c nichts nützen, denn der Mensch besitzt seine Menschlichkeit weiterhin. Wenn er nicht will, dann tötet er nicht! Und Uneinigkeit in den Reihen der Met’c ist nicht zu akzeptieren. Der Wandler, so nennen wir so etwas, hat sich nicht unter Krontrolle. Er weiß nicht, was er tut und ist deshalb sowohl für uns gefährlich, als auch für die Met’c nicht von Nutzen! Ein Wandler muss auf der Stelle getötet werden!“
Lee schwieg.
„Warum darf Atrianna nichts davon wissen?“, fragte Jenny und sah in die Richtung, in die sie geflogen war.
„Es liegt nicht an uns, es ihr zu erzählen! König Trayas wird einen Grund haben, es ihr verschwiegen zu haben, und ich kenne weder die Gesetze des Adlervolkes, noch weiß ich, warum es so ist“, erwiderte Navaje.
Efoy stupste Jan mit dem Schnabel an. Jan nickte. „Efoy und ich fliegen los und holen Atrianna!“
Falem nickte. „In Ordnung! Beeilt euch, Efoy!“
Der rotbraune Adler nickte. Jan sprang auf seinen Rücken und Efoy schoss sofort in die Luft. Jenny sah ihnen Stirnrunzelnd nach. Lee konnte sich vorstellen, dass ihr nicht gefiel, dass Jan sich bereit erklärt hatte, Atrianna zurückzubringen. Bestimmt fragte sie sich gerade, wie sehr er das Adlermädchen wohl mochte.
„Hey, bleib hier!“ Falem griff nach Lorschs Arm. „Wir können nicht noch jemanden gebrauchen, der sich einfach davon stiehlt.
Ausdruckslos starrte Lorsch auf Falems Griff. „Lass mich los!“, knurrte er gefährlich leise.
„Mach keine Dummheiten!“, erwiderte Falem im selben Tonfall. Der Indianerjunge wandte den Blick von ihm ab und riss sich los, dann setzte er sich ans Feuer und starrte in die Flammen. Lee beobachtete ihn. Sie hatte ihm Unrecht getan. Sie hätte ihn nicht so anschreien dürfen. Während die Anderen beim Mädchen knieten und sich gedämpft unterhielten, ging Lee vorsichtig zu Lorsch an die Feuerstelle. Leise setzte sie sich neben ihn. Er beachtete sie nicht.
„Es tut mir leid, Lorsch“, begann Lee, „Ich hätte dich nicht so anschreien dürfen. Aber, ich hatte ja keine Ahnung!“
„Ist schon gut“, unterbrach er sie hart. „Gib dir keine Schuld!“
Lee wusste nicht, was sie darauf sagen sollte. Er sah sie noch nicht einmal an, sondern starrte weiter in die Flammen.
Enttäuscht erhob sie sich wieder und ging zu den anderen, die sich immer noch, um das Mädchen tummelten. Ruhig und geisterhaft lag es da. Nun bemerkte auch Lee die Risse in ihrer Haut.
Die Arme, dachte sie verzweifelt, Warum kann man nichts gegen so etwas tun?
Rudelgefährte?, Lilian schmiegte sich an sie. Du bist verwirrt!
Lee nickte und kniete sich neben den Jungwolf.
Der Wolf schnupperte an dem toten Mädchen.
Kalt?, fragte Lilian und legte den Kopf schief. Lee nickte.
Ja, Lilian! Kalt, Das Mädchen hatte sich daran gewöhnt, dass manche Worte der Wölfe andere Bedeutungen hatten, als die menschlichen Worte.
Wieso? Lilian legte den Kopf schief.
Es gab keine Wahl!, erwiderte Lee. Sie wollte das Thema vergessen. Sie wollte es Lilian nicht erklären.
Der Jungwolf schob die Schnauze unter die Hand des Mädchens und blies sachte gegen die Haut. Schlaf!
Das Mädchen kniff die Augen zusammen. Die blasse Haut...besprenkelt mit Blut...die starren Augen weit aufgerissen, auch wenn Navaje sie inzwischen geschlossen hatte.
Das Bild ging Lee nicht mehr aus dem Kopf.
Navaje fragte mit belegter Stimme, ob Falem das Mädchen in den Wald tragen könne.
Falem nickte.
„Das sind wir ihr schuldig“, meinte Navaje stockend ohne die Augen von dem Mädchen zu wenden. „Sie ist noch so jung!“
Der Elb legte der Schamanin sanft eine Hand auf die Schulter. „Jung sind die Auserwählten auch. Wir müssen uns auf unsere Mission konzentrieren. Damit sie lebendig wieder zurückkehren!“
Navaje nickte tapfer, was Lee an ein kleines Mädchen erinnerte, das sich das Weinen verkniff.
Als Falem mit dem Mädchen auf dem Arm in den Wald schritt, sah Navaje ihnen starr nach.
Lee, die mit ihren Freunden am Feuer gesessen und mit den Adlern geredet hatte, gesellte sich zu ihr.
„Ich hätte sie in eine Decke gewickelt“, sagte Navaje monoton, ohne ihren Blick von dem Punkt abzuwenden, an dem Falem verschwunden war, „...aber wir können keine Decken entbehren, da wir die Ebaros durchqueren müssen.“
Lee spürte, wie sie etwas sagen wollte. Irgendetwas, dass bedeutete, dass alles gut werden würde, aber ihr fiel nichts ein. Also schwieg sie, starrte ebenfalls auf den Waldrand und stellte sich vor, wie sie das Wolfsauge finden und sie ihre Eltern wiedersehen würde.


Kapitel 23

„Nein!“
„Ach, nun komm schon!“ Ungeduldig ging Jan auf sie zu, doch Atrianna sprang schnell nach hinten und fauchte, dass er es bloß nicht wagen sollte, sie anzufassen!
Jan stöhnte genervt. „Falem musste es tun! Glaub mir!“
„Warum sollte ich dir glauben?“, entgegnete sie schnippisch. „Warum sollte ich irgendjemandem hier vertrauen? Ihr gehört nicht zu meinem Volk!“
„Deinem komischen Vogelvieh kannst du doch auch vertrauen!“, knurrte Jan wütend.
Der Adlerprinzessin blieb vor Empörung der Mund offen stehen und Anastasia gab ein drohendes Kreischen von sich. „Sie heißt Anastasia und ist einer der besten Adler in ganz Vardell! Wie kannst du es nur wagen, so von ihr zu reden?“
Jan seufzte und schlug sich mit der Hand gegen die Stirn.
„Efoy“, er machte eine auffordernde Handbewegung, „Bitte, unterstütz mich!“ Der rotbraune Adler schüttelte sein Gefieder und wandte sich an das Mädchen. „Prinzessin, wir müssen die Reise fortführen, sonst ist es bald zu spät.“
„Bitte! Reist von mir aus weiter, aber ohne mich und meine Verbündete!“ Atrianna hatte die Arme verschränkt und sah beleidigt zur Seite. Efoy musterte sie einen Moment lang. „Das würde bedeuten, dass Ihr die Aufgabe nicht bestündet, eure Hoheit!“
Atrianna sog erschrocken die Luft ein. „Die Aufgabe!“
Anastasia gab einen verzweifelten Laut von sich. „Die hatten wir ganz außer Acht gelassen!“
Atrianna nickte, während sie angestrengt ins Weite starrte und sich mit einer Hand die Haare raufte. „Wir können die Aufgabe nicht abbrechen, Ana!“
Anastasia schüttelte resigniert den Kopf. „Dann reisen wir weiter!“, erwiderte sie fest.
Atrianna nickte. „Ja...dann reisen wir weiter!“
„Wie kann man nur so egoistisch sein!“, fauchte Jan. „Es ging um tausend Menschenleben, die du nicht retten wolltest, aber wenn es um diese seltsame Aufgabe geht, dann kann man ganz plötzlich doch wieder weiter reisen!“
„Hüte deine Zunge!“, zischte Atrianna. Ihre Augen waren so schmal wie die einer Schlange. Hasserfüllt sah sie Jan an.
Jan wollte etwas erwidern, doch Efoy stieß ihn mit einem Flügel zur Seite, was ihm einen bösen Blick von Jan einhandelte.
„Oh, das wird er!“, erwiderte Efoy für ihn und sah den Jungen durchdringend an. „Und jetzt steigt auf, damit es endlich weiter gehen kann!“
In der Luft, in der Jan sich sicher war, dass Atrianna ihn nicht verstehen konnte, griff er das Thema noch mal auf. „Was sollte das denn eben?“
„Du solltest vorsichtig sein, was du in Atriannas Gegenwart sagst!“, erwiderte Efoy ruhig. „Sie hat schon so manchen verbannen lassen, weil er ungehobelt über sie geredet hatte.“
Jan schluckte erschrocken. „Das...Das darf sie?“
„Nicht sie persönlich, doch für König Trayas ist es ein großes Verbrechen, wenn das Volk an den Herrschern zweifelt. Es ist ihm zu unsicher.“
Jan schwieg. Er versuchte sich daran zu erinnern, was er alles zu der Königstochter gesagt hatte. Wie viele schlimme Sachen hatte er schon zu ihr gesagt? War es schon genug um verbannt werden zu können? Als hätte er seine Gedanken gelesen, lachte Efoy halbherzig.
„Keine Sorge, Seelenwolf. Dich werden sie bestimmt nicht verbannen!“


∼ξ ∼ ψ ∼ ζ∼


Zitternd schmiegte sich Colin an die eiskalte Steinwand. Er hatte kein Holz finden können, um Feuer zu machen und nun war es stockdunkel. Sie waren in einer kleinen Höhle, die sich tief in einen Berg hinein grub, doch Colin hatte noch nicht ausgetestet wie weit. Der Drache schlief gegenüber von ihm. Colin beobachtete, wie seine Atemwolken an die niedrige Höhlendecke stiegen und sich dort auflösten.
Aèron scheint die Kälte nichts auszumachen...doch mir leider schon!
Bibbernd rieb er die Hände aneinander. Es war als wäre alles in ihm zu Eis gefroren und seine Haut würde aus Stein an ihm hängen. Er hauchte in seine Hände und steckte sie unter seine Jacke. Es war eine mit Wolle gefütterte Lederjacke, die Colin bei der Frau des Schäfers für einen Hasen eingetauscht hatte. Damals hatte er nicht damit gerechnet, dass er sie je wirklich brauchen würde. Er hatte sie nur gegen den Hasen getauscht, weil die Schäferfamilie fünf Kinder hatte und zu dieser Zeit das Essen sehr knapp gewesen war.
Er fragte sich, warum er die Jacke eingepackt hatte. Irgendein Gefühl hatte ihn an starre Knochen und gefrorene Finger erinnert und deshalb hatte er sie kurzerhand in seinen Beutel gesteckt. Doch nun war er froh darüber, dass er sie hatte, auch wenn sich die Wolle fast so kalt anfühlte, wie der Steinboden.
Hustend rieb sich der Junge die Hände. Sein Hals fühlte sich an, als würden sich tausend, spitze Nadeln in seine Haut bohren.
Neugierig hob Aèron den Kopf. Colin lächelte ihn gequält an.
Verwirrung!
„Es ist kalt!“, brachte der Junge mühsam heraus.
Noch größere Verwirrung!
„Ich habe keine Schuppenschicht wie du!“ Colin schlang die Arme erneut um sich.
Mit einem schnurrendem Geräusch hob der Drache einen seiner grün schimmernden Flügel. Verblüfft starrte Colin ihn an.
Meint er das ernst? Will er mich wirklich wärmen?
Vorsichtig erhob er sich und ging schlotternd auf den Drachen zu. Dann schmiegte er sich an den schuppigen Körper des Drachen. Er hatte erwartet, dass die Schuppen kalt und hart sein würden, doch stattdessen waren sie ganz warm und weich. Colins Lider wurden schwer und er spürte, wie die Müdigkeit ihn übermannte.
„Ich danke dir!“, flüsterte er leise. Kurz darauf war er eingeschlafen.


∼ξ ∼ ψ ∼ ζ∼


Lee schmiegte sich an Jardes Rücken. Der Wind wurde immer stürmischer und kälter. Er riss an Lees Kleidern und zauste ihr Haar. Falem hatte sie gewarnt. „Es ist der kälteste Ort in ganz Vardell. Ihr müsst euch immer bewegen. Bleibt nicht zurück.“ Eindringlich hatte er sie der Reihe nach angesehen. „Bindet euch diese hier um, damit ihr nicht Schneeblind werdet.“ Er hielt eine schwarze Augenbinde hoch in der ein schmaler Schlitz war.
Lee rückte den schwarzen Stoff zu recht. Es war so furchtbar hell. Durch den schmalen Schlitz konnte man kaum etwas erkennen.
Plötzlich wurde es ganz dunkel und Lee spürte wie Jarde landete.
Sie streifte sich die Augenbinde vom Gesicht und sah, dass sie sich in einer großen Höhle befanden. Falem war schon vom Rücken seines schwarzen Adlers gesprungen.
„Ariadne! Flieg los und such die Gegend ab“, befahl er. Der schwarze Adler nickte ihm zu und schoss aus der Höhle.
Lee rutschte von Jardes Rücken und öffnete den Beutel um Lilian nach draußen zu lasen, während Falem und Navaje die Vorräte überprüften und Befehle gaben. Lee und Jenny sollten das Holz anzünden, das die Jungen im Wald gesammelt hatten, bevor sie die Ebaros erreicht hatten. Ariadne, kam genau in dem Moment herein gerauscht, indem sich alle um das Feuer gesetzt hatten und Falem die Lage erklären wollte.
„Es ist viel zu stürmisch draußen“, sagte sie. Ihre Stimme war schon etwas älter und ohne Emotionen. „Wir müssen hier warten bis der Wind nachlässt.“
Falem seufzte. „Gut, wenn es nicht anders geht!“ Darauf wandte er sich wieder den anderen zu, die ihn mit erwartungsvollen Gesichtern ansahen. Navaje ergriff für ihn das Wort. „Wir werden hier rasten!“
„Für wie lange?“, fragte Lorsch. Falem zuckte mit den Schultern und sah den schwarzen Adler fragend an.
„Mindestens einen Tag!“, erwiderte Ariadne.
Atrianna stöhnte. „Oh nein!“ Anastasia plusterte sich kurz auf.
Jan knurrte wütend, doch Efoy stieß ihn hart mit dem Schnabel an. Lilian hatte sich neben Lee gesetzt und kratzte sich nun mit der Hinterpfote am Kopf, was Jamie als die Gelegenheit sah, um sich auf sie zu stürzen. Während sie kläffend und fiepend über den Boden rollten, erklärte Falem die restliche Lage. „Wir haben nicht mehr so viele Vorräte und das Jebor-Gebirge ist noch zwei Tagesflüge entfernt.“ Er machte eine Pause und sah bedeutend in die Runde. „Und jetzt sitzen wir hier fest und das Problem wird sein, dass wir auch wieder zurück müssen.“
„Wie lange reichen unsere Vorräte noch?“, fragte Lorsch konzentriert.
„Knappe zwei Tage“, erwiderte Navaje schuldbewusst. „Wir haben unterschätzt, wie viel wir brauchen. Wir sind noch mindestens fünf Tage in der Ebaros. Erst danach sind wir wieder im Wald!“
„Ab heute werden wir an Vorräten sparen“, knurrte er undeutlich, „Ich und Navaje werden ohne Essen auskommen müssen. Die Adler brauchen auf alle Fälle etwas, weil sie bei Kräften bleiben müssen und auch die Anderen...“
„Ich brauche nichts!“, warf Lorsch ausdruckslos ein.
„Doch!“, erwiderte Falem scharf. „Du bist auch ein Kind!“
„Bin ich nicht!“, knurrte Lorsch wütend. „Ich zähle zu den Erwachsenen! Siehst du nicht meine Tätowierung?“ Er deutete auf seine Stirn, wo die rote Schlangenlinie prangte.
„Das Zeichen eines Erwachsenen beweist noch lange nicht, dass du einer bist!“, sagte Ariadne kalt. Fassungslos starrte Lorsch sie an. Zornig sprang er auf. „Bin ich für euch etwa nur ein Kind?“
Falem sah gleichgültig zu ihm hinauf.
„Natürlich nicht!“, versuchte Navaje ihn zu beruhigen. Sie erhob sich und legte ihm sanft eine Hand auf die Schulter. „Wir wissen deine Fähigkeiten zu schätzen.“
„Meine Fähigkeiten?“, rief Lorsch entgeistert und schüttelte ihre Hand ab. „Heißt das ich bin ein äußerst begabtes Kind?“
„Setz dich!“ Falems Stimme duldete keinen Widerspruch. Lorschs Blick wanderte wirr zu ihm. „Setz dich hin!“
Gefasst ließ sich Lorsch wieder auf seinem Platz nieder. Auch Navaje setzte sich wieder.
„Hört zu!“, begann Falem ruhig. „Das geht an alle. Jeder von uns ist müde und gereizt, aber wenn wir uns jetzt wegen irgendwelchen Kleinigkeiten streiten, schaffen wir das nicht! Habt ihr mich verstanden?“ Es war als wollte er jeder Silbe einen Ausdruck verleihen. „Egal ob ihr euch mögt oder hasst! Ihr müsst zusammenhalten! Jetzt mehr denn je!“ Er seufzte kurz. „Okay, ich gebe es frei, wer auf Essen verzichtet oder nicht. Aber bedenkt, dass wir alle Kräfte brauchen können, die wir haben.“ Nun sah er nur noch unendlich müde aus. Er wirkte älter als sonst. Lee fragte sich wie alt Falem wohl war und wie lange Elben eigentlich lebten.
Es blieb still. Falem erhob sich. „Ich werde die Wache übernehmen! Der Rest kann schlafen.“
Navaje schüttelte den Kopf. „Nein, Falem! Das mache ich.“ Sie stand auf und sah ihn sanft an. „Du musst schlafen!“
„Kann ich mich auf dich verlassen?“, fragte Falem leise. Navaje nickte fest. „Ich trage zwei Seelen in mir. Ich bin noch nicht müde!“
„Aber wenn du es bist, wirst du doppelt so müde sein!“
„Ich schaffe das!“
Falem nickte. „Ladet die Adler ab. Baut eure Schlafstätten auf!“
Erleichtert sprangen alle auf und liefen zu den Adlern. Schnell schnallte Lee die Beutel um Jardes Hals und Jardes Rücken ab.
„Danke, Lee“, sagte Jarde leise. Lee, die eben ihren Bogen von Jardes Rücken schnallte, sah sie fragend an. „Wofür?“
„Dafür, dass du mich so schätzt“, erwiderte Jarde.
Lee legte den Kopf schief und nahm den letzten Beutel von Jardes Schultern. „Wie meinst du das?“
Jarde lächelte nur. „Das ist nicht von Bedeutung. Du sollst nur wissen, dass ich dir dankbar bin.“
Lee runzelte die Stirn. Jarde lachte. „Du siehst müde aus! Schlaf!“
Dann flatterte sie einmal kurz mit den Flügeln und gesellte sich zu den anderen Adlern, die sich schon zu einem großen Knäuel zusammen gerollt hatten. Nur Anastasia und Atrianna schliefen abseits.
Die sind sich wohl zu fein, um bei uns zu liegen!, dachte Lee bitter. Dann rollte sie schnell ihren Schlafsack aus und legte sich neben Jenny, der ihre braunen Haare ins Gesicht fielen und ihre Sommersprossen verdeckten. Jamie war zu ihr in den Schlafsack gekrochen und schlummerte selig.
Eine kalte Nase schob sich unter Lees Haare und das Mädchen hielt die Öffnung des Schlafsacks offen, damit Lilian hineinkriechen konnte.
Sie spürte, wie sich der warme Körper an sie schmiegte und sich an ihrem Bauch zusammenrollte.
„Lee?“ Ein leises Flüstern. Vorsichtig drehte sich Lee zur Seite. Jenny sah sie durch ihre blauen Augen an. „Sind du und Lui immer noch zerstritten?“
Lee schwieg. Sie war sich sicher, dass alle in der kleinen Höhle die Ohren spitzten und lauschten...auch Lui. Sie schwieg.
„Wir können jetzt keine Streitereien gebrauchen“, wisperte Jenny und sah sie ernst an, „du musst dich wieder mit ihm versöhnen.“
„Das geht nicht so leicht!“, flüsterte Lee aufgewühlt zurück. „Dafür muss er sich auch mit mir versöhnen wollen.“
„Vielleicht will er das ja“, wisperte Jenny.
„Jen! Er ignoriert mich! Er sieht mich nicht einmal mehr an...und wenn, dann mit diesem kalten, ausdruckslosem Blick...“
„Was hast du denn getan?“, fragte Jenny fassungslos.
„Nichts!“, fauchte Lee wütend. Sofort bemerkte sie, dass sie viel zu laut redeten. „Ich habe nur meine Meinung gesagt...“
„In Bezug auf was?“, fragte Jenny.
Lee seufzte. Nun war es ihr egal, ob die anderen sie hörten. Von ihr aus, konnten sie alles mitbekommen. Und Lui auch.
„Auf zu hause...“, sagte sie. „Was nach der Prophezeiung sein wird.“
Das stimmte nicht ganz. Es war auch um ihre und Luis Freundschaft gegangen.
„Was war denn so - ?“, wollte Jenny fragen, doch sie wurde von Falems schneidender Stimme unterbrochen.
„Schlaft endlich!“
Schnell schwiegen sie. Lee drehte sich von Jenny weg und krallte sich in Lilians Fell. Der Duft des Jungwolfes war tröstlich und endlich schaffte es Lee sich zu beruhigen und einzuschlafen.


Kapitel 24

Colin machte sich bereit. Sein Hunger war ins Unermessliche gewachsen, ansonsten hätte er sich nie so nah an dieses fremde Feuer gewagt. Noch wartete er. Es waren sehr viele. Mindestens acht und noch mal genauso viele Adler. Dazu noch zwei Wölfe. Was machten die hier? So weit draußen in der Ebaros?
Aèron kauerte neben ihm. Schon eine ganze Weile hatten sie diese komische Gruppe beobachtet und schätzten ab, wie gut sie waren.
„Hör zu“, wisperte Colin dem Drachen zu. „Im Morgengrauen werde ich dort hoch schleichen und mir ein paar Sachen holen. Sollte irgendetwas schief gehen, dann bleib weg von ihnen! Flieg einfach weg, okay?“
Unsicherheit!
„Ich muss mir etwas zu essen holen! Ich habe einen Riesenhunger!“
Besorgtheit!
„Sie könnten sehr gefährlich sein. Sie könnten dich töten, wenn du versuchst mir zu helfen!“
Trotz!
„Ich würde es schaffen zu fliehen! Ich verspreche es, aber nur wenn du mir versprichst dich nicht einzumischen!“
Ein unbeschreibliches Gefühl erfüllte Colins Körper und er wusste, dass der Drache einverstanden war. Es war seltsam für ihn auf die Gefühle des Drachen zu antworten. Er war noch nie besonders gut in dieser Gefühlssache gewesen. Er hatte von Anfang an versucht sie zu unterdrücken und hatte ihnen ganz einfach verboten wieder hervorzukommen. Dass nun so viele Gefühle auf einmal auf ihn einstürmten beunruhigte ihn sehr.
Bald würde die Sonne aufgehen. Er musste schnell sein. Sofort zog er sich den Mundschutz übers Gesicht und griff nach Tabarz Messer.
Er bedeutete dem Drachen da zu bleiben und sprintete auf die kleine Höhle zu. Immer darauf bedacht keinen Laut zu machen und nicht gesehen zu werden.
„Werde eins mit dem Wind und deiner Umgebung! Sei schnell! Das macht dich unsichtbar!“
Die Worte seines Ziehvaters bohrten sich in seinen Kopf. Nicht daran denken! Nicht an ihn denken! Er hatte sich entschieden!
Er sprang über einen kleinen Schneehügel und sprintete in die Höhle. Sofort drückte er sich gegen die Höhlenwand. Seltsam...sie hatten doch eine Wache aufgestellt. Da war er sich sicher! Doch die Frau, die stundenlang nur dagesessen hatte und mit ihren Augen das Weite abgesucht hatte, war verschwunden.
Verdammt!
Nun musste er sehr schnell sein. Mit einem Blick hatte er die Lage im Blick. Acht Schlafsäcke. Einer leer. Acht Adler! Die Wölfe konnte er nicht sehen. Sein Blick fiel auf die Beutel, die um eine Feuerstelle standen. Ohne zu zögern rannte er auf die Beutel zu. In irgendwelchen war bestimmt etwas zu essen!
Etwas Fleisch oder Früchte! Irgendetwas! Während er einen Beutel nach dem anderen öffnete und nach etwas Nahrhaftem suchte, hatte er nicht bemerkt, wie sich jemand hinter ihm aus einem Schlafsack schälte. Er bemerkte es erst, als ihm dieser jemand ein Messer an den Hals hielt.
„Was soll denn das werden?“, knurrte ihm eine Jungenstimme ins Ohr.
Mit einer schnellen Bewegung hatte Colin ebenfalls sein Messer gezogen und stieß das Messer des Angreifers zur Seite. Es war ein Junge. Ein wenig jünger als er selbst. Der Junge strich sich die blonden Haare zur Seite und funkelte Colin wütend an.
Colin griff nach einem zweiten Messer.
„Was...was ist hier los?“, fragte eine verschlafene Mädchenstimme. Colin wandte sich kurz zu der Stimme. Das Mädchen schien im gleichen Alter zu sein wie der Junge vor ihm.
„Lui? Wer ist das?“, fragte sie verwundert. Ein weißer Jungwolf mit einem schwarzen Fleck auf der Stirn sprang hinter ihr hervor und knurrte Colin gefährlich an.
„Kein Freund!“, knurrte der Junge ohne das Mädchen anzusehen. „Weck die anderen, Lee!“
Das Mädchen nickte und krabbelte aus dem Schlafsack, um an dem braunhaarigen Mädchen neben ihr zu rütteln.
Mist! Wie komme ich hier jetzt raus! Dieser dumme Junge steht mir im Weg!
Ohne darüber nachzudenken, griff sich Colin einen der Beutel und wollte an Lui vorbeisprinten, doch der kleine Wolf, zu dem sich nun auch noch ein zweiter gesellt hatte, schnappte nach seinen Knöcheln und trieb ihn zur Seite. Schnell sprang Colin zur Seite und stach mit dem Messer nach dem Jungen. Er hatte erwartet, dass der Junge ausweichen würde, doch stattdessen sprang er ihn von der Seite an und verwandelte sich während dem Sprung in ein riesiges schwarzes Etwas, das ihn zu Boden drückte. Colin stach mit dem Messer nach den Klauen.
Verdammt! Ich habe sie unterschätzt!
Er bohrte das Messer tief in die Pfote des großen Wolfes. Der Wolf jaulte auf und taumelte von ihm herunter. Schon war Colin wieder auf den Beinen. Genau vor ihm sah er den Ausgang der Höhle. In ein paar Sekunden hatte er ihn erreicht. Fast sofort war er im Freien!
Da wurde er plötzlich von der Seite gerammt und diesmal noch härter zu Boden gedrückt. Über ihm kniete ein grauer, riesiger Wolf. Colin wand sich und stach um sich, doch der Wolf hielt ihn knurrend fest. Das geifernde Maul mit den spitzen Zähnen näherte sich seinem Hals.
„Nein!“
Der Kopf des Wolfes wandte sich zu dem blonden Mädchen das gerufen hatte und nun auf sie zu rannte. „Nicht, Navaje!“
Was?
Was meinte sie damit?
Plötzlich war das Gewicht weg, stattdessen hatte er nun ein Schwert an der Halsschlagader. Ein Mann mit schwarzen, schulterlangen Haaren beugte sich über ihn. „Lee hat Recht!“, stimmte er zu. „Wir sollten ihn vorerst noch nicht töten!“
Colin wurde in die Höhe gerissen und an den Handgelenken gefesselt.
„Na, komm mit!“ Die raue Stimme des Mannes dröhnte in Colins Ohren, während ihn der Mann vorwärts stieß, am Mädchen und der Frau, die Wache gehalten hatte, vorbei in die Höhle.


∼ξ ∼ ψ ∼ ζ∼


„Wieso wolltest du uns bestehlen?“ Falem starrte den Jungen an, der vor ihm saß und versteinert auf den Boden starrte. Seine Hand schnellte vor und gab dem Jungen einen Schlag ins Gesicht. „Sag schon!“
Lee wollte nicht hinsehen. Der Junge schien nicht darauf aus gewesen zu sein, sie zu töten. Warum ließen sie ihn nicht einfach laufen?
„Ich hatte...Hunger“, brachte der Junge mühsam heraus.
„Hunger?!“ Fassungslos schüttelte Falem den Kopf. „Und das soll ich dir glauben?“
Der Junge schwieg.
„Warum solltest du es ihm nicht glauben?“ Lorsch musterte den Jungen in seinem Alter genau. „Sieh nur, wie dünn er ist.“
Falem schüttelte den Kopf. „Wir können ihn nicht laufen lassen! Er könnte ein Spion Lubomirs sein.“
Der Junge hob fassungslos den Kopf. „Das glaubt ihr doch nicht wirklich!“
„Sei still!“, erwiderte Navaje scharf. „Was machen wir dann mit ihm?“
„Ihn töten!“ Mit gezogenem Schwert lief Atrianna auf den Jungen zu.
„Nein!“, rief Lee und schlug ihr mit ihrem Messer das Schwert aus der Hand. Wütend funkelte Atrianna sie an. „Bei unserem Volk, Auserwählte, wird Diebstahl an der Prinzessin mit der Todesstrafe bestraft.“
„Und in meiner Welt ist die Todesstrafe verboten!“, knurrte Lee.
„Bei unserem Volk ebenfalls!“, stimmte Lorsch zu und stellte sich neben Lee. Navaje schüttelte den Kopf. „Bei uns gibt es sie zwar, aber nicht bei Diebstahl!“
Falem sah sich mit einem undurchschaubarem Blick um. „Deswegen sind eure Völker auch so schwach!“
Navaje knurrte ihn wütend an. „Halt den Rand!“
„Wir werden ihn nicht töten!“, sagte Lorsch entschlossen.
„Was sollen wir dann mit ihm machen? Ich werde ihn ganz sicher nicht laufen lassen!“, grollte Falem bedrohlich.
„Wir können ihn aber auch nicht mitnehmen“, warf Navaje ein.
„Wieso nicht?“, fragte Jenny. Ihr Blick brannte sich in Navajes. „Nehmen wir ihn mit! Und nach der Reise beschließen die vier Völker, was mit ihm geschieht!“
Lorsch schüttelte den Kopf. „Was hat das für einen Sinn? So müssten wir ihn ja doch mit uns rumschleppen!“
„Wir machen es so!“, entschied Falem plötzlich. „Keine Diskussion! Aber unser kleiner Dieb hier, bekommt nichts zu essen!“
„Das ist unmenschlich!“, fuhr Lee ihn an. „Dann wird er verhungern!“
„Im Gegenteil, Kleine!“, knurrte Falem, „Wir sollen ihn nicht töten! Aber wenn er von selbst stirbt? Außerdem brauchen wir die Vorräte für euch.“
Wütend funkelte Lee ihn an. „Du bist kaltherzig!“
Falem sah ausdruckslos auf sie hinab. „Wenn ich es nicht wäre, wärt ihr alle schon lange tot! Denk darüber nach!“
Der Junge hatte den Kopf gehoben und starrte das Mädchen erstaunt an. Wieso setzte sie sich für ihn ein?
Falem riss sich von Navaje los, die ihm eine Hand auf den Arm gelegt hatte, um ihn zu beruhigen, und stapfte missmutig weiter in die Höhle hinein.
Navaje sah streng in die Runde. „Sobald die Sonne ganz aufgegangen ist, fliegen wir weiter.“
Lee warf einen prüfenden Blick nach draußen. Der Sturm war vorbei. Nur vereinzelte Schneeflocken rieselten sanft auf die dicke Eisschicht. Die aufgehende Sonne spiegelte sich im Schnee und reflektierte das Licht in vielen verschiedenen Farben. Dann fiel ihr Blick erneut auf den Jungen. Er war ungefähr so groß wie Lorsch und hatte dichtes, schwarzes Haar. Seine grünen Augen waren so mystisch und geheimnisvoll, dass Lee sie einfach nur anstarren konnte. Immer tiefer versank sie in den grünen Mustern. Dunkelgrüne Punkte. Sternenförmige, hellgrüne Muster. Ein rabenschwarzer Ring, um die Iris.
Plötzlich berührte sie jemand am Handgelenk. Erschrocken zuckte Lee zusammen und wandte den Blick von den Augen des Jungen.
Hinter ihr stand Lui und musterte sie. „Komm, Lee!“ Er schenkte dem unbekannten Jungen einen feindseligen Blick und zog das Mädchen von ihm weg. Lee warf einen weiteren Blick auf den Jungen, der ihr mit unergründlichem Gesichtsausdruck nachsah.
„Zu offensichtlich, Wolfskopf!“, lachte Lorsch. Sein Mund verzog sich zu einem widerlichen Grinsen. „Viel zu offensichtlich.“
„Halt’s Maul!“, knurrte Lui. Sein Blick bohrte sich unnachgiebig in Lorsch. Der Indianer sah ihn mit einem überheblichen Lächeln von oben herab an.
Lee zog ihr Handgelenk aus Luis Griff. „Was gibt es?“ Sie war verunsichert. Lui hasste sie doch! Diese Blicke waren doch keine Show gewesen! Sie waren echt!
Für einen Moment schien Lui zu überlegen, wieso er das eigentlich getan hatte, doch dann fasste er sich wieder. Hilflos stand er vor ihr und versuchte Lorsch zu ignorieren, der mit gespitzten Ohren neben ihm stand.
„Wollen wir uns jetzt für immer anschweigen?“ Für einen Moment hörte Lee einen verzweifelten Unterton heraus.
„Du hast geschwiegen!“, erwiderte sie ausdruckslos.
„Aber du ebenfalls!“ Schon war der Unterton wieder verschwunden.
„Nur, weil du mich ignoriert hast!“, feuerte sie zurück. Lilian winselte kurz und drückte sich an ihr Bein.
Nicht so böse!
Er versucht alles wieder auf mich abzuschieben, erwiderte sie hitzig.
Lilian schüttelte verständnislos den Kopf. Das ist nicht wahr!
Lee schloss die Augen und atmete gezwungen aus.
Lui griff sich mit einer Hand in seine dunkelblonden Locken und krallte sich hilfesuchend an ihnen fest. „Wie kann man nur so arrogant und stur sein?!“
„Arrogant?!“ Ungläubig starrte Lee ihn an. „Bin ich in deinen Augen etwa arrogant?“
„Ja!“, rief Lui aufbrausend. „Weißt du eigentlich, dass du immer versuchst die Schuld auf andere zu schieben? Du willst immer perfekt sein und als das kleine, hilfebedürftige, unschuldige Mädchen dastehen!“
Lee schnappte empört nach Luft. „Das ist nicht wahr!“
„Es ist sehr wohl wahr!“, erwiderte Lui wütend. „Du willst niemals Fehler eingestehen und versuchst es jedem Recht zu machen und wenn ein Versuch mal nach hinten losgeht, fühlst du dich gleich angegriffen!“
„Hör auf!“, flehte Lee. Sie presste sich die Hände auf die Ohren und kniff die Augen zusammen. Die Worte hämmerten in ihrem Kopf und hallten nach. Ihr Magen zog sich zusammen und sie spürte ein hartes, anhaltendes Ziehen im Brustbereich. „Das ist nicht wahr!“ Ihre Kehle fühlte sich ausgedorrt und trocken an. Sie schluchzte. Wieso sagte er so etwas zu ihr? Und wieso tat es ihr so weh?
Verzweifelt wünschte sie sich, dass alles nur ein langer Traum war und dass sie zu Hause in ihrem Bett aufwachen würde. Dass sie ganz normal weiter zur Schule gehen würde und dass sie einfach nur versuchte ganz normal zu sein. Aber das ging nicht. Es würde nie mehr gehen! Denn all das war passiert! Ihr Vater war entführt worden! Lee hatte versucht ihn zu retten! Lui war dadurch zum Wolfskopf geworden! Und sie hatten viele Opfer gebracht! All das, war nie mehr rückgängig zu machen! Und wegen all dem, würde sie niemals normal sein können! Niemals!
Sie schlug die Augen auf.
Lui war nur ein paar Zentimeter von ihr entfernt. Sein Körper bebte. Seine Nasenlöcher blähten sich auf und seine Augen waren wirr auf Lee gerichtet.
„Es reicht jetzt, Lui!“ Lorsch stellte sich zwischen sie. Wütend starrte der Junge ihn an.
Lee schüttelte zornig den Kopf und wischte sich schnell über die Augen. „Ich brauche keinen Beschützer, Lorsch!“, fauchte sie verzweifelt. „Ich kann selbst für mich sorgen!“
Lorsch musterte sie mit gerunzelter Stirn. „Natürlich!“, sagte er schließlich. „Du hast recht! Verzeih, dass ich mich eingemischt hatte!“
Mit einem unterdrückten Knurren, drehte Lui sich um. Schnell drückte sich Lee an dem Indianer vorbei und griff nach Luis Arm.
Lorsch ließ sich bewegungsunfähig zur Seite schieben.
„Warte!“, keuchte Lee. Mutlos klammerte sie sich an Lui, der mit dem Rücken zu ihr stehen geblieben war. „Ich will mich nicht mit dir streiten.“
Lui schwieg.
„Bitte!“ Es war ein leises, kaum wahrnehmbares Flehen, doch Lee wusste, dass er sie hörte. „Bitte...sag doch was...irgendwas...“
Endlich drehte sich Lui zu ihr um und sah sie an.
Seine bernsteinfarbenen Augen waren ausdruckslos und doch waren seine Worte so bedeutungsvoll, so sanft und hilfreich.
„Ich will dich nicht verlieren!“


Kapitel 25
Schweigend saß sie da. Sie sah ihn nicht an. Sie beachtete ihn nicht. Aber er beobachtete sie. Wie gebannt starrte er schon seit Stunden auf ihren Hinterkopf. Auf ihr blondes, langes Haar und ihren Rücken.
Sie hieß Lee. Das wusste er schon. Und was er auch wusste, war, dass der kleine weiße Wolf, mit einem seltsamen, schwarzen Fleck auf der Stirn, nie von ihrer Seite wich. Sie hatte eine Wache übernommen, während die anderen ihre Sachen zusammenpackten.
Die Anderen...Colin wusste nicht, was er von ihnen halten sollte. Gut, dass sie nun weit genug weg waren, sodass sie nichts hören konnten, wenn er hier mit jemandem sprach...Nicht, dass er es wollte.
„Warum guckst du denn so?“ Lee hatte sich zu ihm umgewandt und musterte ihn.
Colin hatte gar nicht bemerkt, dass sie sich zu ihm umgedreht hatte. Nun sah er direkt in ihr Gesicht. „Ich habe nur überlegt, mit wem ich es zu tun habe!“, erwiderte er sachlich.
Sie drehte sich ganz zu ihm und legte fragend den Kopf schief.
„Und zu welchem Schluss bist du gekommen?“
„Ich weiß noch nicht!“
Abwartend sah sie ihn an. Er schwieg und sah zur Seite. Colin spürte ihren Blick wie tausend, kleine Nadeln.
„Wer bist du?“, fragte sie und sah ihn interessiert an.
„Ich wüsste nicht, was dich das angehen sollte!“, erwiderte Colin. Er spürte, dass er in Gefahr geriet von seinen Gefühlen beeinflusst zu werden, deshalb war seine Stimme schärfer als beabsichtigt.
„Ich sage dir auch meinen Namen, wenn du mir den deinen verrätst!“, bot sie an.
„Den kenne ich schon....Lee!“ Gleichgültig sah Colin sie an. Das Mädchen zog einen Schmollmund. „Jetzt wäre es gerade fair, wenn du mir sagst, wie du heißt, weil du meinen Namen schon kennst!“
Der Junge ignorierte sie. Er versuchte ganz tief in seinem Innern, irgendwo, diese kalte Macht zu finden, die von irgendeiner, ihm unbekannten Wärme vertrieben worden war. Doch das Mädchen blieb unnachgiebig vor ihm sitzen. Colin zwang sich an etwas anderes zu denken. Plötzlich fiel ihm Aèron wieder ein. Wo war er? Hatte er sich an Colins Worte erinnert? War er davon geflogen? Jedenfalls zeigte er sich nicht oder versuchte gar ihm zu helfen. Irgendwie würde er es schon schaffen zu entkommen. Colin bemerkte, dass Lee immer noch vor ihm saß. Zwar hatte sie sich von ihm weggedreht und ihre Augen auf den strahlend weißen Eis-Horizont gerichtet, doch ihre Gegenwart machte ihn nervös. „Hast du nicht etwas Besseres zu tun?“
„Ich wüsste nicht, was dich das angehen sollte!“, erwiderte sie in dem selben Ton, in dem Colin ihr vor ein paar Minuten geantwortet hatte. Colin schwieg. Was hatte er auch erwartet? Eine Antwort? Eine Antwort bedeutet Vertrauen...Glaubte er wirklich, sie würde ihm vertrauen? Komischerweise hatte er deswegen ein seltsames Gefühl in der Bauchgegend. Er spürte, dass ihn dieses Gefühl verletzlicher machen würde und versuchte es zu verdrängen. Aber, wieso sollte sie ihm auch trauen? Ihm, einen fremden Jungen, der versucht hatte, sie zu bestehlen und nun gefesselt vor ihr saß. In dem Moment bemerkte Colin, wie armselig er auf sie wirken musste. Erst hatte er gestohlen und dann wurde er auch noch erwischt. Plötzlich spürte er eine feuchte Schnauze an seinen Handgelenken und eine raue Zunge, die über die Fesseln leckte. Es war der kleine weiße Wolf mit dem schwarzen Fleck auf der Stirn.
„Lilian!“, befahl das Mädchen. Ohne zu Zögern huschte der Jungwolf zu ihr und senkte unterwürfig den Kopf. Lee seufzte und kraulte den schwarzen Fleck des Jungwolfes. Heimlich beobachtete Colin sie dabei. „Lee! Wir sind fertig!“ Der dunkelhaarige Indianerjunge kam hinter Colin hervor und lief auf Lee zu. Colin starrte dem breitschultrigen Jungen hinterher, sah wie er ihr, fast selbstverständlich, aufhalf, sah wie sie ihn anlächelte und er wusste sofort, dass er diesen Jungen nicht mochte. Gut, er hatte ihm geholfen, indem er die anderen versucht hatte zu überzeugen, dass man ihn nicht töten sollte, aber...nun ja, er konnte es nicht beschreiben. Er mochte ihn nicht, wieso sollte er es auch begründen?!
Finster sah er auf den Boden.
„Du musst besser aufpassen?“, hörte Colin den Indianer Lee ins Ohr flüstern.
„Worauf?“, erwiderte sie begriffsstutzig.
Die Augen des Indianers huschten kurz zu Colin herüber, der seinen Blick wütend erwiderte.
„Sieh ihn dir doch an“, flüsterte der Junge.
Lee verdrehte sie Augen. „Oh man, Lorsch! Bist du meine Mutter?“
Lorsch zog verständnislos die Augenbrauen hoch und sah an sich herunter. „Sehe ich so aus?“
„Ja, gelegentlich!“
Der Junge packte sie am Kragen und rieb ihr scherzhaft mit den Knöcheln über die Haare, während Lee kichernd versuchte sich zu wehren.
Colin beobachtete die beiden. Sie hätten Geschwister sein können. So wie sie sich verhielten. Plötzlich überfiel ihn eine ungeheure Sehnsucht. Er sehnte sich nach Freunden und einer richtigen Familie.
Er war so geschockt von diesem Gefühl, dass er gar nicht bemerkte, wie Lee und Lorsch zu den Anderen gingen und ihre Sachen packten und um die Rücken der Adler hingen.
Er kam sich furchtbar jung und verletzlich vor. Gefühle waren etwas ganz Neues. Er wusste nicht, was er mit ihnen anfangen sollte.
Verzweifelt suchte er nach der kalten Kraft in sich, die ihn sonst immer wie eine Rüstung schützte, aber nun seltsamerweise verschwunden war. Dass er sie nicht vorfinden kann, beunruhigte ihn.


∼ξ ∼ ψ ∼ ζ∼


Na, toll! Weiß! Kalt! Ätzend!!! Wieso konnten sie nicht am Strand entlang laufen? Wieso musste es gerade so ein blöder, eiskalter Berg sein? Also, ihrer Meinung nach, wuchs hier oben sowieso kein Grünzeug. Viel zu kalt dafür. Naja, aber Jennys Meinung wollte ja auch keiner wissen. Sie griff fest in Mais hellbraunes Gefieder, welches überall von weißen und schwarzen Flecken übersät war.
„Alles in Ordnung?“, fragte Mai mit ihrer fröhlichen Stimme.
„Wir...sind so hoch“, erwiderte Jenny und starrte auf die riesigen Berge unter sich.
„Hey, wehe, dir wird schlecht!“
„Nein...keine Sorge. Aber es ist so kalt!“ Jenny zitterte und zog ihre Jacke fester um sich.
Falem hob eine Hand.
Jenny stöhnte. „Oh man. Wieso halten wir schon wieder?“
Mai folgte den anderen nach unten und landete als Letzte am Hang des Berges. Lee kam auf Jenny zu und drückte ihr einen grünen, dünnen, samtenen Umhang in die Hand.
„Was soll ich damit?“, fragte Jenny mit hochgezogenen Augenbrauen.
Lee grinste verschwörerisch. „Zieh ihn an!“ Ohne weitere Zeit zu verschwenden, drehte sie sich wieder um, sodass ihr grüner Umhang schwungvoll hinter ihr her schwankte und lief zu Jan und Lui, um ihnen ebenfalls einen Umhang zu überreichen. Skeptisch starrte Jenny den grünen Samt an. Dann zuckte sie ausdruckslos mit den Schultern und band ihn sich um. Eine seltsame Wärme umfing sie und durchströmte ihren Körper bis hin zu ihren durchgefrorenen Zehen.
Lee lachte und zwinkerte Jenny zu. Schnell lief das Mädchen zu ihr. „Danke!“, sagte Jenny lächelnd. „Wo hast du die denn her?“
„Sahara hat sie mir kurz vor unserer Abreise gegeben“, antwortete Lee. „Am Anfang habe ich mich gefragt, was die uns bringen sollten, aber dann habe ich sie doch mit eingepackt. Ein Glück!“
Jenny nickte und betrachtete Jamie und Lilian beim Herumtollen.
„Eigentlich dachte ich, Sahara wolle mich nur auf ihre Seite ziehen“, fuhr Lee leise fort und starrte auf den Schnee zu ihren Füßen.
„Seite?“, fragte Jenny und runzelte die Stirn. Wie meint sie das?
Lee setzte ein falsches Lächeln auf. „Ach, nicht so wichtig.“
Skeptisch sah Jenny sie an. „Wie jetzt? ‚Nicht so wichtig’ gibt’s nicht! Sag mir, was los ist und zwar schnell!“ Sie war es leid, immer im Dunkeln zu tappen und abwarten zu müssen, was passiert. Immer war sie außen vor gewesen. Sie wollte nicht weiter im Hintergrund stehen.
Ihre Freundin musterte sie kurz, doch dann schüttelte sie stur den Kopf. „Nein, Jen! Es hat überhaupt keine Bedeutung, wirklich!“
Jenny schnappte empört nach Luft und wollte etwas erwidern, doch Lee unterbrach sie eisig. „Mach dir keinen Kopf darüber. Das ist meine Sache und mit der hast du nicht das Geringste zu tun.“ Mit diesen Worten drehte sie sich um und stolzierte zu Jarde hinüber. Jamie hatte sich Lilian, die Lee schnell hinterher gelaufen war, unauffällig genähert und sprang sie nun spielerisch an. Mit einem wütenden Knurren fuhr Lilian herum und schnappte nach Jamies Kehle. Sofort wich der Jungwolf verwirrt winselnd zurück. Sofort drehte sich Lilian wieder um und lief zu Lee, die an Jardes karamellfarbenem Gefieder lehnte.
Jennys Blick verdüsterte sich. Mit zusammengekniffenen Lippen sah sie Lee an.
Plötzlich hörte sie Flügelschlagen neben sich und dann spürte sie einen leichten Windzug als Mai neben ihr landete.
„Was war los?“, fragte sie interessiert, während sie immer wieder von Jamie zu Lilian und von Jenny zu Lee sah.
Das Mädchen schüttelte die braunen Haare. Das machte keinen Sinn!
Sie kratzte sich kurz hinter dem linken Ohr, wie sie es oft tat, und senkte den Kopf. „Ich weiß nicht...Lee benimmt sich merkwürdig und Lilian übernimmt ihre Gefühle und handelt als wären es ihre Eigenen.“
„Und das macht dir Sorgen?“, fragte Mai und sah sie aus großen Augen an. Jenny zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht!“
Sie beugte sich zu Jamie herunter und streichelte sie tröstend. Schon sah sie Falems Hand wieder in die Höhe schnellen.
Zeit Aufzubrechen.


∼ξ ∼ ψ ∼ ζ∼


Der Atria-Pass? Was? Waren sie denn alle lebensmüde?? Warum musste ausgerechnet er von solchen Spinnern gefangen genommen werden? Von Idioten, die Adler besaßen und über den Atria-Pass laufen wollten? Entsetzt starrte Colin zu der Gruppe hinüber, in der gerade alle standen und miteinander berieten.
„Zu scharfe Luft“, hatte der schwarze Adler versucht zu erklären, „sie zerschneidet die Lunge wie Dolche!“
Es war egal, wie viel der Elb auch zeterte und tobte. Die Adler hatten sich gegen das Fliegen entschieden und dabei blieb es.
Colin musste sich ein Grinsen verkneifen, als der Elb sich schließlich wutentbrannt abwandte und die Arme wie ein trotziges, kleines Kind vor seiner Brust verschränkte.
„Wie könnt ihr uns dann folgen?“, fragte die Seelenwölfin.
„Gar nicht“, erwiderte der weiße Adler.
„Was soll das nun wieder heißen?“, brüllte der Elb ungehalten über die Schulter. Seine Laune war deutlich schlechter geworden. Auch wenn Colin sich gar nicht hatte vorstellen können, dass so was möglich gewesen wäre.
„Das bedeutet, dass wir hier auf euch warten werden“, erklärte ein dunkelbraunes Vogelvieh, das neben dem blonden Wolfsjungen stand.
„Bis auf mich“, warf der goldene Adler hochmütig ein.
„Oh, welch Ehre uns zu Teil ist, dass ausgerechnet Ihr und begleitet!“, sagte der rotschöpfige Junge ironisch und verdrehte die Augen.
„Anastasia und ich bleiben zusammen, was auch passiert!“, erklärte das Adlermädchen und sah Jan mit zusammengekniffenen Augen an. „Sie würde mich niemals im Stich lassen! Ebenso wenig würde ich es bei ihr tun!“
Genervt sah sie der Rotschopf an und Colin hatte das Gefühl, dass er ihr jeden Moment ins Gesicht spucken würde.
„Wie kommt sie über die Ebene, wenn sie nicht fliegen kann?“, fragte Lee stirnrunzelnd. „Ich glaube nicht, dass sie sehr lange laufen kann.“
Das Adlermädchen bedachte Lee mit einem verächtlichen Blick bevor sie antwortete. „Natürlich wird sie jemand tragen!“
„Ach wirklich? Und von wem?“, fragte der blonde Wolfsjunge mit hochgezogenen Augenbrauen und gereiztem Gesichtsausdruck.
„Von euch!“
Der Wolfsjunge lachte, als hätte sie einen schlechten Witz gemacht und der Rotschopf murmelte. „Das wüsste ich aber!“
„Können wir nicht um den Pass herum fliegen?“, fragte das braunhaarige Mädchen mit den vielen Sommersprossen.
„Nein“, erwiderte die Seelenwölfin „Der breite Atria-Pass führt um das ganze Gebirge herum. Früher waren es Inseln im Wasser, doch nachdem Lubomir kam, fror alles zu.“
Colin sah auf die weiße Ebene vor ihm. Das Gebirge konnte er schon sehen und auch der Anfang des Atria-Passes war unverwechselbar. Die helle weiße Eisschicht der Ebaros ging in ein sehr helles blau über.
„Der König hätte uns die Planung mit einbeziehen müssen!“, fauchte der Elb und sah das Adlermädchen vorwurfsvoll an.
„Mein Vater hielt es nicht für angebracht dies zu erwähnen!“, deklamierte dieses von oben herab.
„Nicht für angebracht?“, wiederholte der Elb mit wirrer Stimme.
Colins Blick huschte zwischen den beiden hin und her. Würde es gleich zum Kampf kommen? Auf welcher Seite würde Lee stehen? Er bemerkte, wie sich das Adlermädchen anspannte.
„Falem!“, sagte die Seelenwölfin schnell, um einen unnötigen Kampf zu verhindern. „Ich würde gerne allein mit dir reden!“
Der Elb warf dem Mädchen noch einen wütenden Blick zu, dann drehte er sich mit einem Knurren zu der Seelenwölfin um und folgte ihr ein paar Meter abseits des Lagers.
Colin sah wieder auf das Eis unter sich. Was würde mit ihm geschehen? Wo war Aèron? Ging es ihm gut? War er schon fortgeflogen? Würde er irgendwann fliehen können?
„Ist dir kalt?“
Lee!
Obwohl er sie noch nicht lange kannte, war ihm alles im Gedächtnis geblieben, was sie bis jetzt zu ihm gesagt hatte.
„Nein!“, log er und vermied es sie anzusehen.
Ohne zu zögern zog sie ihren grünen Samtumhang aus und legte ihn Colin um. Wütend funkelte der Junge sie an. „Wenn ich nicht gefesselt wäre, hätte ich dir den Umhang vor die Füße geworfen.“
Das Mädchen zuckte mit den Schultern und zog ihre Jacke enger um sich.
Zu seiner Verblüffung spürte Colin, dass der Stoff ihn wärmte. Doch wie war das bei so einem dünnen Stoff möglich?
„Ey, Leelay!“ Der Rotschopf setzte sich neben sie. „Spinnst du? Wieso gibst du dem Gefangenen deinen Umhang?“ Während er sprach, zog er selbst seinen Umhang aus und legte ihn Lee um.
Colin hasste diesen Jungen dafür.
Dafür, dass er die Möglichkeit hatte, ihr den Umhang umzulegen. Wie gern hätte er ihr ebenfalls einen schützenden Umhang umgelegt.
Doch gleich darauf war er sich seinen seltsamen Gedanken im Klaren und zwang sich seine kalte Kraft zu erwecken.
„Wir können ihn doch nicht einfach erfrieren lassen“, erwiderte Lee.
„Mich würde allerdings interessieren, was wir mit ihm machen sollen.“ Das braunhaarige Mädchen stand neben ihnen und Colin sah aus den Augenwinkeln, wie ihr Jungwolf versuchte, sich Lees Wolf vorsichtig zu nähern.
„Wir lassen ihn bei den Adlern!“ Der Wolfsjunge hatte sich neben Colin an den schneebedeckten Stein gelehnt und musterte ihn abschätzig. Als ob er nicht wusste, ob er ihn nicht lieber wie ein Insekt zerquetschen wollte. Wütend blitzte Colin ihn an, was der Junge nur gleichgültig zur Kenntnis nahm.
„Nein!“ Der junge Indianer trat heran und blickte bestimmt in die Runde. „Wir lassen ihn gehen!“


Kapitel 26
„Das werden wir nicht!“, fauchte Lui.
„Was macht dich so wütend darüber? Wieso willst du unbedingt, dass er bestraft wird?“, fragte Lorsch und sah ihn fragend an. Doch Lui schien es, als würde er die Antwort schon kennen.
Trotzdem...er konnte es nicht erklären. Es war die Art wie dieser Junge Lee ansah. Einzig das allein störte ihn. Genauso sehr, wie es ihn störte, dass sich Lee und Lorsch so gut vertrugen.
„Was wird denn das hier für eine Teegesellschaft?“ Atrianna stellte sich mit verschränkten Armen zu ihnen. Ungerührt von den missbilligenden Blicken mit denen sie empfangen wurde. Lui fiel auf, dass ihr Adler, Anastasia, ausnahmsweise nicht bei ihr sondern bei den anderen Adlern war.
„Ich verlange, dass man mir erläutert, worüber hier gesprochen wird!“ Oh man, sie schien wirklich nicht zu begreifen, wann man nicht erwünscht war! „Navaje und Falem sollten entscheiden, was mit ihm passieren wird!“, meinte Jan und ignorierte Atrianna absichtlich, doch diese ließ sich davon nicht abschrecken.
„Falem und Navaje sind zu gutgläubig. Sie bekommen nichts auf die Reihe!“, sagte sie mit verschränkten Armen vor der Brust.
„Das ist nicht wahr!“, fuhr Lee sie an. Lui sah, wie sie vor Wut kochte. „Was können sie dafür, dass ihr nicht vorher mit dieser Information herausgerückt seid? Und warum hat euer König ihnen nichts davon gesagt?“
Alle Blicke waren auf Atrianna gerichtet, die Lee wütend anfunkelte. Als ob sie sich fragte, wie dieses Mädchen es nur wagen konnte, ihren Vater in Frage zu stellen.
„Ich habe bereits gesagt, dass unser ehrenwerter König Trayas es nicht für angebracht hielt!“
„Das ist kein Grund!“, warf Jan ein.
„Grund genug für euch“, erwiderte Atrianna.
„Das darf doch nicht wahr sein! Es geht hier um eure Welt, die wir retten sollen? Wieso macht ihr es uns absichtlich schwer? Es ist euer Zuhause, wie kann man da nur so nachlässig sein?“, fauchte Jenny. Sie machte ein paar Schritte auf Atrianna zu, sodass es den Anschein hatte, dass sie sich jeden Moment auf sie stürzen würde. Lui kannte Jenny gut genug, um zu wissen, dass sie nicht zögern würde, um der arroganten Zicke das Maul zu stopfen. Anscheinend hatte Atrianna dasselbe gedacht, denn sie wich verblüfft zurück. Doch bevor Jenny sie erreichen konnte, sprang Jan auf und hielt sie zurück.
„Verdammt! Lass mich los, Jan!“, keifte Jenny, die sich in seinem Griff hitzig wehrte. „Ich werde der verwöhnten Schnepfe das Gesicht polieren! Prinzessin hin oder her!“
„Jen! Beruhige dich doch!“, fuhr Jan sie an und legte die Arme um sie, damit sie ihm nicht doch noch entwischte. Mit großen Augen starrte Atrianna Jenny an, die sich in Jans Griff wand und wie verrückt fluchte. „Warum verteidigst du sie?“, schrie sie Jan nun an. „Wieso nimmst du sie in Schutz? Es wird Zeit, dass sie lernt, dass wir keine ekelhaften Kakerlaken sind, die man behandeln kann, wie man will!“
„Es bringt aber auch nichts, wenn du dich mit ihr schlägst!“, fuhr Jan sie an, packte sie an den Schultern und drehte sie zu ihm herum, sodass sie ihn ansehen musste.
„Das ist Verrat, Jan!“, fauchte Jenny. „Eiskalter Verrat! Lass mich los!“ Sie stieß seine Hände von sich, was nur funktionierte, weil er seinen Griff gelockert hatte. Dann drehte sie sich um und stapfte davon.
Lui sah zu Lee, die immer noch neben dem Gefangenen saß. Man konnte ihr ansehen, wie wütend sie war. Ihr Blick war hasserfüllt auf Atrianna gerichtet, die Jan mit großen Augen anstarrte. Doch Jan bemerkte das nicht. Fast wehleidig sah er Jenny nach und sah plötzlich einfach nur noch sehr jung und sehr klein und sehr verloren aus.
„Lee!“, bat Lorsch und deutete in die Richtung, in die Jenny gegangen war. Lee nickte. „Das hatte ich mir gerade vorgenommen!“ Sie stand auf und lief ihrer Freundin hinterher.
Die Adlerprinzessin warf ihr einen hasserfüllten Blick zu, bevor auch sie aus der Runde verschwand. Lui beunruhigte dieser Blick. Er hatte sich lange nicht mehr gefürchtet, doch dieser Blick ließ ihn schaudern. Und plötzlich begriff er, dass Atrianna zu allem fähig war. Wenn ihr etwas nicht passte, würde sie es aus dem Weg räumen. Ihm kam ein Gedanke, der ihm aber nicht sonderlich behagte. Schließlich überwand er sich und zwang sich zu Lorsch hinüber zu gehen.
Der Indianer musterte ihn genau, um erraten zu können, was Lui von ihm wollte. Kurz vor ihm blieb Lui stehen und sah ihm fest in die Augen. Es gab ihm eine gewissen Genugtuung, dass er fast genauso groß und muskulös war wie er.
„Ich mache mir Sorgen!“, gestand er kurz.
Lorsch legte den Kopf schief und zog eine Augenbraue hoch. „Um Lee?“
Lui nickte, doch dann schüttelte er schnell den Kopf. „Auch, aber ich meine eigentlich die ganze Gruppe!“
Lorsch nickte wissend. Als ob er etwas wüsste, was er selber nicht wusste.
„Ich traue dieser Atrianna nicht!“, fuhr Lui fort und warf einen Blick zu der Prinzessin, die auf Anastasias Rücken lag und nachdenklich mit einem Messer in der Hand spielte.
„Ich ebenso wenig“, stimmte Lorsch zu, ohne Lui aus den Augen zu lassen.
„Es würde mich beruhigen, wenn ich wüsste, dass du genauso achtsam bist wie ich!“, sagte Lui und sah ihn fest an.
Lorsch nickte. Dann verzog er seinen zu einem schrägen Lächeln. „Ich dachte, du magst mich nicht!“
„Das tue ich auch nicht!“, erwiderte Lui ohne eine Miene zu verziehen. „Aber wenn es zum Kampf kommt, hätte ich dich gern auf meiner Seite. Ich weiß, dass du Lee sehr magst. Allerdings weiß ich nicht, wie sehr. Doch ich nehme an, dass du mir helfen wirst, wenigstens sie zu schützen und das reicht mir, um dir im Kampf vertrauen zu können.“
Das Lächeln auf Lorschs Gesicht verschwand und er nickte ernst. „Ich werde aus demselben Grund an deiner Seite sein, doch will ich, dass du weißt, dass ich mit allen Mitteln versuchen werde jeden aus dieser Gruppe zu retten und einen Kampf zu verhindern.“ Er hielt ihm die Hand hin und Lui ergriff sie erleichtert. „Gut!“
Lorsch lächelte. „Ich bin froh, mit dir darüber gesprochen zu haben, Wolfskopf.“
Lui lächelte zurück. „Ich auch.“ Dann warf er noch einen nicht zu deutenden Blick auf Colin, bevor er zu Jan lief, der sich neben Efoy und Troy an die Feuerstelle gesetzt hatte.
Ihm fiel auf, dass er Jan in letzter Zeit gar nicht beachtet hatte. Wann hatten sie zuletzt herumgealbert? War er überhaupt noch fähig herumzualbern, so als wären sie noch Kinder? Und auch, wenn er erst dreizehn Jahre alt war, so fühlte er sich um Einiges älter und reifer.
Er hatte Lee vorgeworfen, sich innerlich zu verstecken. Doch er tat nichts anderes. Er versteckte sich vor seinen Gefühlen, um stärker zu wirken. Er entfernte sich von seinen Freunden, um nicht so verletzlich zu sein. Doch seit er sich mit Lee wieder vertragen hatte, fragte er sich immer öfter, ob das die richtige Vorgehensweise war.
Erst als er sich neben Jan setzte, fiel ihm auf, dass Lorsch Luis Theorie, dass er Lee sehr gern habe, nicht abgestritten hatte.


∼ξ ∼ ψ ∼ ζ∼


„Bist du nicht mehr wütend auf mich?“, fragte Jenny verbittert. Sie stand abseits der Gruppe und hatte Lee den Rücken zugedreht.
Lee seufzte. „Ich war nie sauer auf dich! Nur gereizt. Ich bin auf mich allein gestellt und will dich nirgendwo mit rein ziehen!“
„Verdammt, Lee! Hältst du mich für so naiv? Hör zu! Ich verstehe, dass du deine Geheimnisse hast und das ist okay...irgendwie jedenfalls!“ Sie drehte sich zu ihr um und runzelte die Stirn. „aber du kannst nicht immer so tun, als wärst du alleine in dieser scheiß Welt, denn das bist du nicht! Du hast mich!“
Lee sah verblüfft, dass Jenny Tränen in den Augen hatte.
„Ich bin für dich da! Ganz egal, was passiert und das solltest du wissen. In letzter Zeit scheine ich dir vollkommen unwichtig zu sein. Du erzählst mir überhaupt nichts mehr. Der streit mit Lui hat dich fertig gemacht. Das kann ich verstehen! Aber ihr habt euch nun wieder vertragen und du benimmst dich immer noch seltsam! Ich mache mir Sorgen um dich, Leelay!“
Lee lächelte gequält. Sie bemerkte plötzlich wie still und zurückhaltend sich Jenny in letzter Zeit verhalten hatte. Dass ihre freche, tapfere Freundin so verschwiegen gewesen war, fiel ihr erst jetzt auf. Was für eine furchtbare Freundin sie gewesen sein musste!
„Ich glaube, ich habe den Tod von diesem Mädchen noch nicht ganz verkraftet“, erwiderte sie schließlich schuldbewusst.
Jenny nickte verständnisvoll. „Ich habe lange darüber nachgedacht“, begann sie „und mir ist aufgefallen, dass Falem recht hat, Lee. Wir werden uns an Tode gewöhnen müssen und anscheinend war der Tod in diesem Fall besser als das Leben.“ Sie verstummt und starrte auf den weißen Boden.
„Ich habe schon so viele Tode verkraften müssen und jedes Mal hat es mich wieder aufs Neue getroffen. Ich dachte immer, man würde sich an so was gewöhnen, aber das kann ich nicht.“ Lees Stimme war immer leiser geworden, bis man sie kaum noch verstand.
„Weil du es nicht versuchst!“, fiel Jenny ihr ins Wort. „Du musst dich damit abfinden, dass es passiert ist, immer noch passiert und auch passieren wird. Denk an Leyla, Luke und Jason, an dieses kleine Mädchen, in der die Saat war und an Lui!“
Lee zuckte zusammen. Es traf sie wie ein Schlag ins Gesicht.
„Lui wird nicht sterben!“, keifte sie ihre Freundin an. „Er wird nicht sterben!“
„Wie soll das funktionieren, Lee!“, fuhr Jenny sie an. „Er ist mit Lubomir verbunden! Und Lubomir muss sterben!“
„Er wird leben, Jen! Er wird leben!“ Ihre Stimme wurde immer schriller und lauter.
Jenny sah sie verblüfft an. „Lee? Weinst du?“
„Nein!“, schrie Lee und schüttelte heftig den Kopf. Ihre Haare wehten um sie herum. „Nein, ich weine nicht!“
„Ich finde es ja auch furchtbar, dass er sterben muss.“
„Halt die Klappe!“ Sie presste sich die Hände auf die Ohren, um es nicht hören zu müssen. „Halt die Klappe, Jen! Ich will es nicht hören! Es stimmt nicht!“
Jenny verstummte.
Lee sah auf und suchte ihren Blick. Sie bemerkte, wie Jenny sich unter ihrem Blick immer unwohler fühlte und dennoch starrte Lee sie weiterhin an. Jenny versuchte ihrem Blick auszuweichen, doch Lee ließ es nicht zu.
Ihre Freundin fing an zu schluchzen. „Ich will doch auch nicht, dass er stirbt!“
Sie rannte weinend an Lee vorbei, die ihr erschüttert hinterher sah.


∼ξ ∼ ψ ∼ ζ∼


Nach langem hin und her Gerede beschlossen Navaje und Falem endlich, dass der Gefangene mitkommen sollte. Sie verabschiedeten sich von den Adlern, die ihnen viel Glück wünschten. Doch Jan fand, dass Efoy sich komisch benahm und auch Sola, Lorschs Adler, es vermied sie anzusehen.
Als sie sich von den Adlern abwandten und losmarschierten, erinnerte die zickige Schnepfe von einer Prinzessin, dass ihr heiliger, wunderschöner Adler getragen werden musste, wenn sie den Pass erreichten.
Jan verstand nicht, warum ihr ach so heiliger, wunderschöner Adler nicht einfach bei den anderen blieb, doch die zickige Schnepfe von einer Prinzessin erklärte ihm ungeduldig, dass das nicht möglich sei.
Er hätte ihr am Liebsten den dünnen Hals umgedreht. Was hätte sie dann wohl gemacht?
„Warum nehmen wir ihn jetzt mit?“, fragte Jan Lui und deutete auf den Jungen, der an den Händen gefesselt war und von Lorsch dazu getrieben wurde weiter zu gehen.
„Falem traut den Adlern nicht“, erwiderte Lui kurz angebunden. Sein Blick schnellte andauernd zwischen dem Gefangenen und der zickigen Schnepfe von einer Prinzessin hin und her.
„Alles okay?“, fragte er stirnrunzelnd.
Lui schüttelte den Kopf und senkte die Stimme. „Ich vertraue ihnen nicht!“
Jan nickte verständnisvoll. „Ich auch nicht“, murrte er.
Falem hob den Arm und die Gruppe kam zum Stehen. Genau vor Falems Füßen hatte sich die Farbe des Bodens von strahlend weiß zu hellblau verändert. Der Elb drehte sich zu der Gruppe um.
„Ich will, dass ihr hintereinander lauft! Kommt bloß nicht vom Weg ab, wenn euch euer Leben lieb ist! Lee und Jenny, achtet auf eure Jungwölfe! Ich werde als erster gehen! Danach Jenny, dann Lee, dann Jan und Lui mit Anastasia auf dem Rücken. Atrianna kommt nach ihnen. Dann Lorsch mit dem Gefangenen. Navaje bildet das Schlusslicht. Irgendwelche Fragen?“ Er sah ernst in die Runde. Schweigen! Der Elb seufzte erleichtert. „Gut! Ihr habt euch sicher schon gefragt, warum dieser gefrorene Ozean der Atria–Pass genannt wird. Ganz einfach. Weil unter dieser Eisschicht einmal ein schmaler Pfad war, der sich über dem Wasserspiegel erhoben hatte, doch mit der Zeit hat ihn das Wasser vollständig überschwemmt. Wir werden uns über diesem Pfad bewegen, denn genau da drüber ist das Eis am dicksten.“
Jan sah auf die Eisfläche. Dass unter diesem Eis noch immer Wasser in Bewegung war, konnte er sich kaum vorstellen.
„Jan! Lubomir! Braucht ihr eine Extra-Einladung?“, fragte Falem genervt. Mit einem Murren verwandelte sich Jan in die größere Gestalt von Jason. Nun war er so groß wie ein Pferd. Er und Lui stellten sich mit dem Rücken zu Anastasia, während Falem und Lorsch versuchten, den Adler vorsichtig auf dem Rücken der beiden festzubinden. „Für euch wird es besonders schwierig“, erklärte Lorsch, während er Anastasia mit einem Seil festband, „ihr müsst nebeneinander laufen und seid um Einiges schwerer. Was auch passiert, ihr müsst zusammen arbeiten, um euch drei retten zu können!“
Es reicht doch, wenn wir nur zwei retten!, murrte Jan. Lui lachte über seinen Kommentar, den keiner bis auf Lee und ihn hören konnte, da Lee die Sprache der Tiere beherrschte und Lui die Wolfssprache in der Wolfsgestalt perfekt verstand. Doch sie lachte nicht, sie runzelte nur die Stirn und wandte dann den Blick ab.
„Los jetzt!“, rief Falem und die Gruppe gliederte sich in die lange Kette ein, bevor sie den ersten Schritt aufs Eis setzten.
Jan spürte, wie sich das Eis unter seinem Gewicht langsam nach unten beugte. Und es war kalt. Sehr kalt. Seine Pfoten fühlten sich an, als würde sich ihnen das Fell abziehen. Es tat weh. Das zusätzliche Gewicht auf seinem Rücken machte die Sache nicht gerade leichter.
Lui und er bewegten sich sehr langsam und vorsichtig, nur darauf bedacht nicht einzubrechen oder von dem schmalen Pfad unter ihnen abzuweichen. Dicht hinter ihnen lief Atrianna, welche die Nähe zu ihrem Adler suchte und sich vergewisserte, dass sie auch nicht von den Rücken der Wölfe abrutschen konnte.
Sie ist so nervig, knurrte er leise.
Lui lachte. Gerade wir beide müssten sie verstehen können. Schließlich ist sie mit ihrem Adler irgendwie verbunden. Er wurde ernst. Genau wie wir mit unseren Wölfen...
Jan schwieg. Er wusste, dass Lui recht hatte. Jason und er. Das war wie Mond und Stern oder Luft und Leben. Sie hatten einfach nicht ohne einander gekonnt. Das war einfach unvorstellbar gewesen. Doch dann hatte Jason sich für Jan geopfert und er war allein gewesen...so alleine, wie er sich noch niemals gefühlt hatte. In der Schule war er sehr beliebt gewesen. Er war niemals allein gewesen. Alle hatten sich um ihn getummelt, weil er der witzige Draufgänger war und er, Jan, hatte es genossen. Aber als Jason von ihm ging, war er allein gewesen und er hatte begriffen, wie man sich fühlen musste, wenn man von allem verlassen war. Auch wenn das nicht ganz stimmte. Seine Freunde waren schließlich bei ihm gewesen, aber in dieser Situation hatte er sich nicht einmal wahrgenommen. Er war allein gewesen. Hätte er noch einmal die Wahl, die Zeit zurückzudrehen, hätte er Jason ohne zu Zögern aus Reichweite des Schwertes gestoßen, dass der Met’c damals auf sie gerichtet hatte. Auch wenn er dafür selber draufgegangen wäre. Er hätte es getan! Selbst wenn Lui, Lee oder sogar Jenny im selben Moment in Gefahr gewesen wären, hätte er sich dafür entschieden Jason zu retten. So unvorstellbar das auch klang. Er hätte es getan!


∼ξ ∼ ψ ∼ ζ∼


Vorsichtig. Einen Schritt vor den anderen. Lee wich den Rissen im Boden geschickt aus. Lilian war dicht neben ihr. Der Jungwolf fand kaum halt auf dem rutschigen, vereisten Boden.
Es ist so kalt, Rudelgefährtin! Lilian sah sie ängstlich an und ging zögernd immer mal wieder ein paar Schritte vorwärts.
Komm, Lilian! Vertrau mir! Dir wird nichts geschehen, Lee versuchte sie zu beruhigen und schließlich trabte der Jungwolf etwas schneller, doch immer noch wachsam. Lee fühlte sich gar nicht wohl. Immer hatte sie das Gefühl die Risse im Boden zu vergrößern und einzubrechen.
Hey Lee!, hörte sie Jan in ihren Gedanken rufen. Sie sah sich kurz zu ihm um.
Ja?
Glaubst du, dass man wirklich so ein weißes Licht sieht, wenn man kurz davor ist zu sterben?
Sie sah ihn verwirrt an. Wie kommst du darauf?
Naja...Lui meint, dass es nicht so ist, aber ich wette dagegen!, grinste er.
Ich glaube auch nicht, dass es so ist, kicherte Lee.
War ja klar, dass ihr beiden zusammenhaltet, grummelte Jan beleidigt.
Sie lachten.
Und dann geschah es.
„Pass auf!“ Jemand schubste sie zur Seite und schlitterte mit ihr von dem Pass weg. Lee hörte Schreie und das furchtbare Geräusch von brechendem Eis. Sie rollte sich zusammen und versuchte sich nicht zu bewegen. Da, wo sie eben noch gestanden hatte, steckten Pfeile im Boden und genau über ihr kniete der Gefangene. Der Junge.
Was...ist passiert?, dachte sie benommen und wollte sich aufsetzen.
Verblüfft sah sie den Jungen vor sich an.
„Geht es dir gut?“, fragte er ohne sie anzusehen. Sein Blick war auf etwas weit hinten gerichtet. Von da, wo sie hergekommen waren. Lee folgte seinem Blick und schnappte nach Luft. Ein Kampf!
Die Adler waren in der Luft und griffen die Met’c an, die unter ihnen standen.
„Geht es dir gut?“, wiederholte der Junge ungeduldig und sah sie an. Wieder zogen sie diese grünen Augen in den Bann. Doch sie nickte nur leicht. Dann sah sie, dass seine Handgelenke immer noch gefesselt waren.
„Du hast mir das Leben gerettet“, sagte sie leise.
Er schnaubte nur. „Bilde dir ja nichts darauf ein!“
Lee konnte ihn nur anstarren. Plötzlich hörte sie ein lautes Knurren und schon sah sie Lui in seiner Wolfsgestalt auf den Jungen zuspringen.
Das Eis ist zu dünn, schoss es Lee sofort durch den Kopf.
„Lui! Nein!“, schrie sie noch, als sich der riesige Wolf auf den Jungen stürzte und ihn zu Boden drückte und dann geschah es. Das Eis brach unter dem Gewicht zusammen und Lui und der Gefangene brachen in das eiskalte Wasser ein.
Lee schnappte nach Luft. Die Risse breiteten sich immer weiter aus und drangen auch bis zu ihr vor. Schnell rappelte sich Lee auf. Lorsch sprintete an ihr vorbei, um die beiden Jungen zu retten. Auch Falem raste zum Eisloch, wobei er den Rissen geschickt auswich. Ohne zu Zögern sprang er in voller Montur mit einem Kopfsprung ins Wasser, während Lorsch sich an das Eisloch kniete und verzweifelt versuchte jemanden oder etwas zu erkennen, doch das Wasser war zu dunkel. Zu schwarz. Zu albtraumhaft. Es verschluckte alle Farben und Bewegungen. Ganz ruhig lag es vor ihm. Nur ganz kleine Wellen bewegten die Oberfläche, doch so leise und unwirklich, dass man sie für Einbildung hätte halten können.
Aus weiter Ferne hörte Lee Jan knurren, auch Navaje gab Tiergeräusche von sich, doch sie war im Moment nicht in der Lage irgendetwas der Tierworte zu verstehen. Ebenfalls hörte sie Atrianna, die Anastasia gut zuredete und Jan erklärte, wenn er nun auch einfach seinen Gurt durchbeißen würde, würde sie ihm seinen Kopf abreißen! Aber sie nahm den Sinn dieser Worte nicht wahr. Sie starrte nur auf dieses schwarze, eiskalte Loch, in dem Falem, Lui und der Gefangene verschwunden waren. Lee hörte Lilians Winseln in ihrem Kopf. Jenny hielt sie fest, damit sie nicht auch aufs Eis lief.
Rudelgefährte! Rudelgefährte! Lilians Schreie zerrissen sie. Hatte sie wirklich solche Angst um Lee?
Bleib bei Jenny!, befahl sie und tastete sich vorsichtig zum Eisloch vor. Endlich schaffte sie es bis zu Lorsch zu kommen. Eilig beugte sie sich über das Loch.
„Geh nicht zu nah ran!“ Lorsch zog sie zurück und sah sie vorwurfsvoll an. „Bist du verrückt? Willst du einbrechen?“
Sie schüttelte ihn ab. „Kannst du etwas sehen?“, fragte sie hysterisch. „Wo sind sie?“
„Beruhig dich, okay!“ Er packte sie an den Schultern und schüttelte sie. „Falem ist bei ihnen!“
„Toll! Drei Wasserleichen zum Rausholen!“, giftete Lee und stieß ihn von sich. Auf Knien robbte sie wieder zum Loch zurück.
„Lui!!!!“, schrie sie verzweifelt. „Lui!!!“
Hinter ihr hörte sie ein lautes Knacksen. Das Eis brach und sie und Lorsch gerieten in Gefahr ebenfalls ins Wasser zu fallen, doch Lorsch reagierte blitzschnell, krallte sich Lee und sprang mit ihr zur Seite.
Aus dem klaffenden Loch, das entstanden war, sah man eine Hand gen Himmel strecken. Lee war wie erstarrt. Lorsch rannte herbei und packte die Hand. Kurz darauf zog er einen Wasserspuckenden Lui heraus.
„Lee! Kümmere dich um ihn!“, rief er ihr zu.
Was sollte sie? Sie sah, wie sich seine Lippen bewegten und wie Lui vor Kälte zitterte. Seine Lippen waren ganz blau. Sie wollte zu ihm, doch sie konnte nicht aufstehen. Seine Augen waren geschlossen. Er zitterte so sehr. Würde er sterben?
„Lee! Verdammt! Hör auf da rumzustehen und in die Gegend zu starren!!“ Jennys Stimme riss sie aus ihren Gedanken. „Er braucht dich jetzt!“
Lee drehte sich zu ihr um. Sie nickte langsam dann erhob sie sich wie eine Schlafwandlerin. Kaum hatte sie ihn erreicht, fiel sie schon neben ihm auf die Knie. Sie versuchte ihn aufzurichten, lehnte sich gegen ihn und versuchte ihn zu wärmen.
Sie hörte wie das Eis erneut brach und endlich schien Leben in sie zu kehren. Sie packte Lui fester und versuchte ihn zur Seite zu tragen. Doch er war schwerer als sie gedacht hätte. Sie konnte ihn nur schleifen. Die Risse folgten ihr auf jedem Schritt. Verzweifelt versuchte sie Lui aus der Gefahrenzone zu ziehen.
Lilian! Hektisch sah sie sich nach ihrer Rudelgefährtin um.
Schon war der Jungwolf bei ihr. Seine kleinen Zähnen waren in Luis Umhang geschlagen. Lee wunderte sich wie stark die Kleine war.
Bring ihn weg, Lilian! Zu den Anderen!
Sie gab Lui noch einen kräftigen Stoß, sodass er auf die anderen übers Eis zuschlitterte und Lilian den Schwung nutzen konnte, um ihn weiterzuziehen.
Lee spürte noch wie das Eis unter ihr brach und von einem Moment auf den anderen, sah sie sich von eiskaltem schwarzen Wasser umgeben.
Sie versuchte wieder an die Wasseroberfläche zu gelangen, doch ihre Kleidung war so schwer. Zu schwer.
Sie spürte, wie sie trotz ihrer Anstrengungen immer tiefer sank. Und schließlich ließ sie die Bemühungen sein.
Sie sank tiefer und tiefer. Mit dem Blick nach oben gerichtet. Jedenfalls nahm sie an, dass es oben war.
Es war gut. Es war gut. Es war gut. Es war vorbei...und das war gut.
Jenny wird es nicht verstehen, dachte sie. Sie wird nicht verstehen, wieso ich es für gut heiße. Jan ebenfalls nicht...Lui...er wird es vielleicht verstehen.
Seltsamerweise hatte sie das Gefühl, dass Atrianna es verstehen würde. Ja, Atrianna wird es verstehen.
Sie spürte wie jemand sie packte und zur Seite zog...oder vielleicht auch nach unten. Jedenfalls zog sie jemand in eine bestimmte Richtung. Sie wollte nicht, schlug um sich und wehrte sich. Doch dieser Jemand ließ sie nicht los.
Lee bemerkte, dass sie keine Luft mehr in ihren Lungen hatte und dass die Kälte plötzlich sehr einladend wirkte.
Ohne darüber nachzudenken, gab sie sich der Kälte hin. Das einzige war sie noch wahrnahm war ein wunderschönes weißes Licht, dass immer näher kam.
Also, stimmt die Sache doch...mit dem Licht...es kommt zu mir...und es bedeutet, dass ich sterbe. Jan hatte recht!
Dann verlor sie das Bewusstsein.


Kapitel 27
„Atme! Verdammt, atme!!“ Immer wieder drückte Colin mit beiden Händen auf ihre Brust, drehte sie abwechselnd immer wieder auf den Bauch, damit sie Wasser ausspucken konnte, doch es geschah nichts.
„Bitte! Tu mir das nicht an! Lebe! Atme!“
Jemand riss ihn unsanft nach hinten und schleuderte ihn zu Boden. Sie befanden sich immer noch auf der Ebaros, weswegen Colin schnell auf den Eisboden sah und ihn nach Rissen absuchte. Dann erst sah er den Indianer vor sich an.
„Lass sie in Ruhe!“, fauchte der Junge wütend. Er beugte sich runter, um Lee hochzuheben. Colin schwieg. Was hätte er auch sagen sollen? Er verstand es ja selbst nicht...
Was ging ihn dieses Wolfsmädchen an? Warum war sie ihm so wichtig?
Ohne dass er ihn bemerkt hatte, war der blonde Wolfsjunge von hinten an ihn herangeschlichen und drehte ihm beide Hände auf den Rücken. Colin schrie auf vor Schmerzen.
Der Elb hatte dem Wolfsjungen mit einem Zauber belegt...einen, der ihn stärker machte...anders konnte er es sich nicht erklären, dass dieser Junge schon wieder Kraft besaß, wo er doch erst gerade aus dem Wasser gezogen worden war.
Dem Jungen schien sein Leid zu gefallen, denn er drehte Colins Arme noch weiter herum. Doch diesmal verkniff sich Colin einen Laut und biss die Zähne zusammen.
Der Indianer stand mit Lee in den Armen vor ihm und musterte Colin.
„Ich bring ihn um!“, knurrte der Wolfsjunge. „Halt mich nicht zurück, Lorsch!“
Colin ließ ein heiseres Lachen ertönen. „Lee wird nicht erfreut sein, wenn du es tust, Wolfsjunge!“
Der Griff an seinen Arm verhärtete sich schmerzhaft und Colin sank auf die Knie, doch aufgeben? Nein, dafür war er zu stolz. Die Sache mit Lee könnte ihm das Leben retten.
„Was sagst du da?“, zischte der Junge leise.
„Du weißt, was ich meine. Du weißt, dass sie mich mag! Du hast ihren Blick gesehen!“ Colin grinste hämisch, obwohl der Schmerz unmenschlich durch seinen Körper stieß. Dieser arme Junge! Er war so leicht zu berechnen. Ganz im Gegensatz zu ihm. Er wettete um tausend Dublonen, dass dieser Wolfsjunge keine Ahnung hatte, was in Colin vorging. Und das gab ihm eine gewisse Genugtuung.
Aber was ihn beunruhigte war, dass er selbst wahrscheinlich genau dasselbe für dieses Mädchen empfand.
Der Junge lachte, doch Colin bemerkte seine Unsicherheit. „Was geht mich das an? Warum sollte es mich kümmern, was sie will?“
Colin verkniff sich eine weitere Bemerkung, wenn er jetzt weiter sprach, würde dieser Junge ihn wahrscheinlich wirklich töten.
„Lubomir! Lass ihn los!“ Der Elb trat hinter dem Indianer hervor und nahm ihm Lee ab, die noch immer bewusstlos war. Er trug sie, als wäre sie eine Puppe.
„Ihn loslassen??“, fragte Lubomir ungläubig.
„Lubomir, also?“, fragte Colin heiser. Er dachte an den machtbesessenen Schamanen und ein riesiger Hass übermannte ihn. „Du bist bestimmt stolz auf den Namen“, giftete er.
„Halt’s Maul!“, rief der Wolfsjunge und Colin spürte, dass er einen wunden Punkt getroffen hatte.
„Lorsch!“, meinte der Elb zum Indianer und machte einen gleichgültigen Wink während er sich mit Lee umdrehte und zu den anderen ging.
Der Indianer, Lorsch, ging auf Lubomir zu und stieß ihn von Colin weg.
„Beherrsch dich!“, fuhr er ihn an.
Lubomir knurrte bedrohlich.
Lorsch sah ihn kurz prüfend an. „Du bist ja gar nicht mehr nass“, stellte er nüchtern fest.
Lubomir reckte stolz das Kinn empor. „Hast du vergessen, dass ein Wolfskopf zehnmal mehr Feuer in sich hat als ein normaler Seelenwolf. Kälte kann mir nicht lange etwas anhaben!“
„Sie gibt dir auch mehr Kraft, aber du spürst nicht, wie viel du davon verbrauchst“, erwiderte Lorsch gleichgültig, während er Colins Fesseln prüfte, die noch immer an seinen Handgelenken festgebunden waren. „Pass auf, dass du nicht plötzlich umkippst!“
„Pah!“, erwiderte Lubomir, doch man sah ihm an, dass er zwanghaft versuchte das Feuer in sich zu zähmen.
Ein Wolfskopf, dachte Colin bewundernd. Er hatte von ihnen gehört. Nicht viel. Nur dass sie sehr schnell in Zorn gerieten und unmenschlich stark und schnell waren. Ansonsten sollten sie anscheinend sein wie Seelenwölfe auch. Nun sollte er sich doppelt vor diesem Jungen in Acht nehmen.


∼ξ ∼ ψ ∼ ζ∼


Lee wachte zitternd auf. Sie fühlte etwas weiches, warmes neben sich und kuschelte sich bibbernd näher an dieses Etwas heran. Sie lehnte an einer kalten Steinwand und schloss aus der seltsamen Stille, dass sie sich in einer Höhle befand. Sie spürte eine warme Zunge, die ihr übers Gesicht schleckte.
Rudelgefährte?
Lillian, brachte Lee schwach heraus. Wo sind wir?
Viel konnte sie von Lilians Gedankengängen allerdings nicht herausfinden.
Hinter uns das Weiße, vor uns der Himmel!, das war das Einzige, was die kleine Wölfin von sich gab.
Lee war zu verwirrt, um diese Worte zu verstehen.
Sie lebte. Wie war das möglich? Sie hatte das weiße Licht doch gesehen!
Sie erinnerte sich daran, dass jemand sie gegriffen hatte.
Dann hat diese Person vielleicht versucht, mich zu retten und dieses weiße Licht war die Wasseroberfläche...das Loch im Eis.
Ja, so musste es sein!
Plötzlich spürte sie zwei Hände, die sie zur Seite drehten und dann sah sie in Lorschs Gesicht.
„Sie kommt zu sich!“, hörte sie den Jungen zu zwei Personen hinter ihr sagen. Schon drängte sich Falem in ihr Gesichtsfeld, begutachtete sie schnell und präzise von oben bis unten und bedachte sie dann mit einem kurzen Grinsen. „Na! Das nenn ich aber mal widerspenstig.“
Navaje beugte sich zu ihr herunter und hielt ihr die Hand an die Stirn. Ihre Hand war so warm...So schön warm.
„Sie ist immer noch eiskalt!“, meinte sie stirnrunzelnd. Lee wollte sagen, dass es ihr gut gehe, doch sie brachte nur ein rasselndes Husten heraus.
Navaje setzte sich neben sie und schloss sie in die Arme. Sie flüsterte beruhigend auf sie ein und streichelte ihr sanft übers Haar.
Heiße Tränen rannen über Lees Gesicht.
Genau wie Mama es macht...Jasmin! Mutter!
„Ich...will...nach Hause!“ Ihre Stimme brach an allen Ecken und Kanten.
„Pscht!“ Navaje legte den Kopf auf ihr Haar. „Bald darfst du nach Hause. Bald ist es vorbei!“
Lee wusste, dass es erst wirklich vorbei sein würde, wenn sie Lubomir besiegt hätten und Lui tot umfiel...dann war es vorbei...Ja, dann würde es vorbei sein. Sie hatte schon lange darüber nachgedacht. Sollte sie es tun? Was war mit Jasmin und Jack, ihren Eltern, oder Jan und Jenny? Was sollte aus ihnen allen werden? Konnte sie es ihnen antun?
„Sie ist wach??“ Jan bahnte sich einen Weg zwischen Lorsch und Falem hindurch, indem er sie unsanft zur Seite drückte. „Lee!“, rief er überglücklich, als er sie sah. Dann verscheuchte er Lilian von ihrer Seite, die sich grollend auf Lees Beine legte, und setzte sich selbst neben sie. „Wie geht es dir? Besser? Du weinst ja! Ist alles okay?“
Die letzte Frage war eher an Navaje gerichtet, als an Lee selbst.
Lee brachte nur ein Nicken zu Stande.
„Jan!“, zischte Navaje scharf.
Lee bemerkte, dass Jan schuldbewusst den Kopf einzog. „Tut mir leid! Hab ja nur gefragt.“
Navaje verdrehte die Augen.
„Lee?“ Jenny setzte sich vor sie und versuchte ihr ins Gesicht zu sehen, doch Lee hielt den Kopf gesenkt, sodass ihre Haare ihr die Sicht versperrten.
Jenny seufzte leise. „Du hast lange geschlafen“, sagte sie leise.
„Ich dachte, ich würde nicht mehr aufwachen“, erwiderte Lee genau so leise „und ich wollte es noch nicht einmal verhindern.“
Jenny schwieg betroffen.
„Ihr seid doch alle Suizid gefährdet“, schimpfte Jan und klatschte sich mit der Hand gegen die Stirn.
Jenny kicherte und auch Lee konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
„Irgendwie hat er recht!“, sagte Jenny.
Lee nickte nur. „Wo sind Lui und der gefangene Junge?“
„Es geht ihnen gut“, meinte Navaje sanft. „Lui ist einem anderen Teil der Höhle und achtet auf den Gefangenen. Er heißt übrigens Colin und er hat einen weiten Weg hinter sich gebracht.“
Lee sah Navaje verwirrt an, deren Augen plötzlich gläsern wurden. „Er ist kaltblütig. Es klebt viel Blut an seinen Händen. Auch unschuldiges! Außerdem hat er einen Gefährten bei sich...“
Auf einmal kniete Falem vor ihr und hielt ihr eine Hand an die Stirn. „Wer ist es, Navaje? Konzentrier dich!“
Lee erinnerte sich daran, dass Navaje in manchen Momenten Dinge wusste, die sie eigentlich niemals wissen dürfte. Das war ihre Gabe, auch wenn sie es selbst als Fluch bezeichnet hatte.
Navaje atmete gezwungen aus und schloss die Augen. „Tut mir leid, Falem! Mehr weiß ich nicht!“
Der Elb nickte wissend. „Das war mehr als genug, Seelenwölfin! Danke!“
Navaje deutete ein Nicken an und lächelte schwach.
Lee starrte auf den Höhlenboden. Colin, also! Colin...


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„Na los! Lauf schon!“ Der Elb stieß ihn nach vorne. Colin verlor beinahe das Gleichgewicht. Der Schnee war kniehoch und er fror fürchterlich. Dieser Lubomir war bei Lee und packte sie sofort am Arm, sobald sie nur einen halben Fuß einsank. Lächerlich!
Er machte sich lächerlich! Der Rotschopf und das braunhaarige Mädchen liefen ebenfalls nebeneinander her, aber der Rotschopf machte sich nicht ganz so lächerlich wie der Wolfsjunge.
Colin musste dem Drang widerstehen Lubomir ein Messer in den Rücken zu werfen.
Was suchten sie hier oben überhaupt? Was wollten sie hier schon finden?
Der Berg wurde immer steiler und Colin strauchelte immer unbeholfener vorwärts.
Dauernd musste er an den Drachen denken. Wo war Aèron? Ging es ihm gut? Was war mit den Met’c, die sie angegriffen hatten? Folgten sie ihnen?
„Ich hab die Blume!“, hörte man den Rotschopf schreien.
Blume? Das alles hier, ist für eine bescheuerte Blume??
„Es ist ein Kraut, Jan“, meinte das sommersprossige Mädchen gelangweilt.
„Ja! Das habe ich hier!! Sieh doch!“ Sein Finger deutete ein paar Meter weiter in den Schnee. Der Rotschopf rannte an die Stelle und musste plötzlich abrupt stoppen. „Scheiße!“
Das sommersprossige Mädchen war ihm nachgerannt. „Was ist...Oh mein Gott!“
„Eine Schlucht“, rief Jan genervt. Er drehte sich fluchend um und trat gegen den Schnee. „Klar!! Wir können nicht einfach so mal auf einen Berg steigen um irgendeine Blume zu holen! Nein, wir brauchen natürlich noch tausend Hindernisse, die alle lebensgefährlich sind!!!“
„Es ist ein Kraut, Jan“, wiederholte das braunhaarige Mädchen ungeduldig.
Knurrend funkelte Jan sie an.
Das Mädchen hob besänftigend die Hände. „Ganz ruhig.“
Sie lächelte gezwungen. Anscheinend wollte sie nicht, dass der Rotschopf sich zu sehr aufregte.
Der Elb stieß Colin unsanft nach vorne, um ebenfalls einen Blick auf dieses Kraut zu erhaschen.
Dieser Rotschopf hatte Recht! Dort war etwas! Aber ob es ein Kraut war, konnte Colin nicht sagen. Es schimmerte Bernsteinfarben!
Die Seelenwölfin kam herbei. Sie sah es sich genau an, dann nickte sie. „Ja, das könnte es sein! Das Wolfsauge!“
Wolfsauge?
„Aber wie kommen wir da runter?“ Der Indianer war herangetreten und besah sich den steilen Felsabhang.
Es war wirklich sehr tief...Wenn man abstürzte, würde man es nicht überleben, so viel war sicher.
„Na, ganz leicht!“, meinte das Adlermädchen, die mit ihrem goldenen Adler neben ihm landete. „Anastasia und ich machen das!“
Der Elb nickte. „Gut!“
Ohne noch ein weiteres Wort zu verschwenden, stürzte sich der Adler in die Schlucht. Direkt auf das bernsteinfarbene glänzende Etwas zu.
„Das ist so unfair!“, zeterte der Rotschopf, von dem Colin nun wusste, dass er Jan hieß. „Ich habe diese Blume zuerst entdeckt! Ich will sie holen! Das ist so gemein!“
„Es ist ein Kraut!“, hörte Colin das sommersprossige Mädchen gereizt rufen. Kurz darauf hörte er einen Schlag.
„Aua! Jenny! Das tut doch weh!“, jammerte Jan.
„Krieg das endlich in deinen Dickschädel!“, feuerte sie wütend zurück.
„Ob Blume oder Kraut ist doch vollkommen egal“, maulte der Rotschopf.
„Ist es nicht!“, erwiderte Jenny. „Es ist ein wichtiges Kraut!!“
„Wohl eher ein wichtiges Unkraut“, murmelte Jan, doch Colin hörte dem Gezeter nicht mehr zu. Seine Augen waren auf das Adlermädchen gerichtet. Ihr Adler, den sie Anastasia genannt hatte, stand nun mit kräftigen Flügelschlägen in der Luft und das Mädchen auf dem Rücken des Tieres, streckte soweit wie möglich die Hand aus, um an diese Pflanze zu kommen.
Ein unmenschliches Brüllen durchschnitt die eiskalte Luft, das schaurig von den Wänden der Schlucht zurückgeworfen wurde.
Colin verschlug es den Atem.
Aèron!
Er war da! Er war immer da gewesen und jetzt gerade sauste er durch die Schlucht. Direkt auf das Adlermädchen zu, die gerade noch so die Pflanze zu fassen bekam, bevor ihr Adler wie ein Pfeil nach oben schoss.
Die grünen Schuppen des Drachen stachen unangenehm in Colins Augen. Doch er realisierte sofort, was gerade passierte.
Aèron schnappte nach den Schwanzfedern des goldenen Adlers, der sich mit einem wütenden Kreischen zu dem ungefähr gleich großen Drachen umdrehte und die Krallen in die Flügel des Drachen schlug.
Das Tier schrie vor Schmerzen auf. Mit rasendem Blick sah es den Adler an und schnappte nach dessen Kopf.
Doch der Adler wich aus, indem er steil nach unten flog. Der Drache folgte ihm. Währenddessen hatte das Adlermädchen sein Schwert gezogen und sich kampfbereit gemacht.
„Was ist das?“ Lee rief es nun bestimmt zum zehnten Mal. Doch keiner beachtete sie. „Verdammt! Falem!“, schrie sie den Elb an. „Sag uns, was das ist!!“
Doch Falem beachtete sie nicht. Wie erstarrt sah er auf den Kampf, der sich unter ihm in der Schlucht abspielte.
„Es ist ein Drache!“, erwiderte Lorsch auf einmal.
„Ein Drache?“, fragte Jenny und legte sofort ihre Stirn in Falten. Colin konnte förmlich hören, wie es in ihrem Kopf arbeitete.
„Atrianna!“ Die Seelenwölfin stand am Rand der Schlucht. Sie konnte sich anscheinend nicht entscheiden, ob sie lieber in der Wolfs- oder in der Menschengestalt sein wollte, denn sie zitterte am ganzen Körper.
„Atrianna! Hau da ab!“, versuchte sie es noch einmal.
Plötzlich war wieder Leben in Falems Körper. Er packte sich einen Bogen, den Lee über der Schulter hängen hatte und einen Pfeil.
„Ich erledige dieses Mistvieh!“
„Nein!“, rief Colin und stürzte sich auf den Elb, der von seinem Gewicht zu Boden gestoßen wurde. Zum Glück hatte sein Bewacher mehr auf den Drachen als auf ihn geachtet. Eine Weile rangen sie miteinander bis Falem Colin zu Boden drückte und ihm die Luft abschnürte.
„Was hast du mit diesem Drachen am Hut? Wer bist du? Und was willst du eigentlich?“, fuhr er ihn an. Blut lief ihm über das Gesicht aus einer frischen Wunde an seiner Schläfe. Colin sah schwarze Punkte vor seinen Augen tanzen. Er bekam keine Luft mehr und seine Brust schmerzte von dem Gewicht des viel größeren Mannes.
„Falem! Hör auf!“
Nur ganz leise drang Lees Stimme bis zu ihm hindurch.
„Halt dich da raus, Lee!“
„Lass mich los, Lui! Er bringt ihn um!“
„Es ist besser so...“
Colin schmeckte Blut. Er musste sich irgendwann auf die Zunge gebissen haben. Seine Lungen lechzten verzweifelt nach der Luft, die sie nicht bekommen konnten.
„Wenn er was mit dem Drachen zu tun hat, kann er ihn vielleicht bändigen!“, rief Lorsch plötzlich. „Falem, töte ihn nicht!“
Colin spürte, wie das Gewicht von seinem Körper verschwand und schnappte sofort nach Luft. Er wurde in die Höhe gerissen und urplötzlich wieder fallen gelassen. Colin hustete. Blutsprenkel fielen vor ihm in den Schnee.
„Pfeif das Ungeheuer zurück, Junge! Oder ihr werdet tot sein!“, zischte Falem, der sich zu ihm heruntergekniet hatte gefährlich leise.
Colin funkelte ihn trotzig an. Er sah in die Schlucht, in der Aèron immer noch nach dem goldenen Adler jagte. Sein linker Flügel hatte einen tiefen Ritz.
„Nun mach schon!“, knurrte Falem ohne ihn aus den Augen zu lassen.
Colin erhob sich so gut es ging. Erst jetzt bemerkte er, wie schwach er war. Er hatte seit Tagen nichts gegessen. Ab und zu hatte der Indianerjunge ihm etwas zugesteckt oder Lee war gekommen und hatte ihm unbemerkt etwas Brot gegeben. Doch es war nie viel gewesen. Zittrig versuchte er stehen zu bleiben. Er musste wenigstens die Kraft aufbringen um Aèron zurückzurufen. Wenigstens das...eine andere Möglichkeit hatten sie nicht. Der Drache riskierte sein Leben für ihn. Er würde nicht zulassen, dass er getötet werden würde.
„Aèron!“, rief er so laut er konnte. Sein Ruf hallte durch die Schlucht. Er spürte, wie der Drache zusammenzuckte.
„Aèron, komm zu mir!“
Der Drache sah sich nach ihm um und flog in die Höhe. Er hörte auf das Adlermädchen zu verfolgen und segelte auf ihn zu. Colin spürte die unbändige Freude in ihm. Die Freude ihn, Colin, wiederzusehen. Dem Jungen wurde schlecht, als er das Adlermädchen hinter dem Drachen hervor schießen sah. Sie hatte das Schwert hoch über ihren Kopf erhoben und flog nun genau über dem Drachen, bereit ihm das Schwert in den Rücken zu stoßen.
„Nein!“, rief Colin.
Aèron drehte den Katzenkopf nach oben und erfasste die Situation sofort. Er drehte sich im Flug auf den Rücken und spie Feuer.
Es war kein großes Feuer...Eigentlich war es nur eine mickrige Flamme, doch die Hitze stach dem Adler so unangenehm in die Augen, dass sie sofort abdrehten.
Endlich landete der Drache. Der Rest der Gruppe wich zurück als der Drache sich nun direkt neben Colin niederließ.
Aèron warf Colin zu Boden und schon spürte er eine lange Drachenzunge über sein Gesicht lecken. Gegen seinen Willen musste er grinsen und schlang die Arme um den geschuppten Körper.
„Du hast mich nicht im Stich gelassen“, flüsterte er.
Vertrauen! Zusammen! Glücklich!


Kapitel 28
Was machen wir jetzt nur? Ratlos ging der Elb auf und ab. Es war schon dunkel, doch Falem machte das nichts aus. Elben konnten sowohl am Tage als auch in der Nacht perfekt sehen. Sie waren erschöpft und sie konnten nicht über den Atria-Pass zurück, da das Eis gebrochen war.
Falem seufzte und beschleunigte seine Schritte. Drehte wieder um und lief ein paar in die andere Richtung, bis er einen neuen Rhythmus gefunden hatte. Wie ein Tiger in einem Käfig...Bei dem letzten Wort streifte er den Gefangenen mit einem Blick. Würde auch dieser Junge im Käfig enden?
Der Junge hatte ihnen geschworen, dass der Drache ungefährlich war. Konnte er ihm vertrauen? Und was noch viel seltsamer war, der Junge war nicht geflohen. Er hatte dagestanden und ihn abwartend angesehen. Er war nicht geflohen. Nein, es war fast so als hätte dieser Fremde darauf bestanden, mit ihnen zu gehen.
Er warf einen unsicheren Blick zu dem Drachen, der an einem Felsen gelehnt lag und ihn mit wachem Blick beobachtete.
Wie eine Katze, die ihre Beute fixiert...
Er schüttelte sich und wandte den Blick ab. Der Junge lag unter dem einen Flügel des Drachen, den er wie eine Decke benutzte. Die Fesseln waren immer noch um seine Handgelenke gebunden, doch weder Lorsch noch er, Falem, hatten ihn irgendwo angebunden. Sie hatten sich die Aufgabe über den gefangenen Dieb zu wachen unabgesprochen geteilt. Doch seit der Drache aufgetaucht war, hatte sich keinen von ihnen näher an ihn heran gewagt. Warum blieb der Junge? Warum versuchte er nicht zu verschwinden? Es würde ihn niemand aufhalten. Mit einem Drachen an der Seite, war er so gut wie unverwundbar.
Trotzdem lag er da. Ob er schlief? Es sah aus, als würde er jeden Moment sein Messer ziehen. Was hielt ihn hier?
„Falem?“
„Navaje!“ Der Elb fuhr herum. Er unterschätzte immer wieder, wie leise sie sich bewegen konnte. Ihm war klar, dass sie ihn um Rat fragen würde. Was sollte er ihr antworten? Sich die Blöße geben und ihr sagen, dass er es nicht wusste? Auf gar keinen Fall! Das wäre eine Schande für das Volk der Elben. Er musste sich etwas ausdenken.
„Du bist so aufgewühlt“, stellte sie nüchtern fest.
Gereizt sah er sie an. „Ich habe auch allen Grund dazu!“
Navaje nickte kurz und hielt seinem Blick stand.
Schließlich musste er den Blick abwenden. Er hasste es, wenn ihn jemand zu lange ansah und schon gar nicht, wollte er, dass Navaje ihn zu lange ansah. Zum Glück wandte auch sie den Blick ab.
„Was hast du vor?“
„Wie meinst du das?“
„Was gedenkst du zu tun?“
Falem zuckte mit den Schultern. „Am liebsten würde ich den Jungen und seinen Drachen töten“, murrte er, während er einen bösen Blick zum Drachen warf, der diesen mit einem gefährlichen Grollen erwiderte.
„Hältst du das für richtig?“ Navaje folgte seinem Blick und musterte den Drachen. „Er scheint nicht gefährlich zu sein.“
Falem schnaubte. „Weißt du, über was für ein Wesen wir reden? Willst du mir weismachen, ein Drache sei ungefährlich?“
Navaje legte den Kopf schief. Ihr Blick ruhte immer noch auf dem Drachen. „Er hat uns nichts getan...Natürlich ist Vorsicht angebracht.“
„Er hat uns nichts getan, weil der Junge es ihm gesagt hat!“, unterbrach Falem sie unwirsch. „Alles scheint mit diesem Jungen zusammenzuhängen! Er ist ein Dieb und laut deiner Vision wahrscheinlich ein Mörder noch dazu. Er könnte uns alle umbringen, wenn er wollte.“
„Meinst du denn, er ist sich seiner Macht bewusst? Meinst du, er weiß, wie stark er durch diesen Drachen ist?“ Nun hatte sich ihr Blick wieder ihm zugewandt.
Falem schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht, aber sieh ihn dir an! Er hat uns nicht verletzt und er hat Lee gerettet!“
„Meinst du wir können ihm vertrauen?“
„Auf keinen Fall!“ Falem wandte sich von dem Jungen ab und sah Navaje fest an. „Er hat irgendetwas an sich, was mich beunruhigt! Ich fürchte, er wird uns noch ganz schöne Schwierigkeiten machen.“
„Wo du die Schwierigkeiten erwähnst...Was wird aus den Kindern, wenn wir wieder da sind?“
Falem zuckte zusammen, als sie die Kinder erwähnte. Sie wusste genau, was passierte und wenn er ehrlich war, machte ihm das Angst...
Etwas in Navajes Stimme hatte sich verändert. Sie war kalt und angespannt geworden.
„Ich weiß nicht, was du meinst“, wich er ihr aus und vermied es in ihre durchdringenden Augen zu sehen.
„Du weißt ganz genau, was ich meine!“, erwiderte sie scharf. „Und denke bloß nicht, ich wüsste nicht genau bescheid!“
„Was weißt du?“, fragte Falem bedrohlich. Doch Navaje schien das überhaupt nicht zu irritieren.
„Ihr wollt sie außer Gefecht setzen! Nur wie, weiß ich nicht!“ Sie trat näher an ihn heran und funkelte zu ihm hinauf. „Wollt ihr sie töten, Falem? Oder sperrt ihr sie nach Korossan? Was habt ihr vor, du nichtsnutziger Elb!“
Falem hob abwehrend die Hände. „Beruhige dich! Wie kommst du auf so einen Unsinn?“
„Spiel mir nicht den Unschuldigen vor!“ Es war als würde sie ihm jedes einzelne Wort ins Gesicht spucken. „Ich habe gehört, was König Evallan mit dir und Sahara besprochen hat! Er hat gesagt, er will die Kinder nach der Prophezeiung aus dem Weg schaffen, da sie eine zu große Bedrohung darstellen würden. Da ihr Lui niemals unter Kontrolle bekommen würdet, und seine Freunde würden eher zu ihm halten als zu euch! Wie feige muss das Volk der Elben sein, wenn ihr vier wehrlose Kinder umbringen wollt, aus Angst, sie könnten...was? Ganz Vardell erobern und darüber herrschen? Was fürchtet ihr?“ Sie war immer lauter geworden, sodass das letzte Wort gespenstisch in der folgenden Stille widerhallte. Beunruhigt sah Falem sich um. Keiner der Gefährten bewegte sich. Nur Jenny ließ ein leises, klagendes Seufzen ertönen.
Sein Blick huschte zurück zu Navaje, die ihn hitzig anstarrte. Er sah, wie sie die Fäuste ballte und sich ihr Brustkorb unkontrolliert hob und senkte. Wenn er nicht aufpasste, würde sie sich verwandeln und in ihrer Wut, wer wusste was, anstellen! Er musste sie überraschen! Sie von ihrer Wut ablenken.
„Er heißt Lubomir, Navaje! Nicht Lui!“ Er hatte es ruhig und geduldig gesagt, als würde er zu einem kleinen trotzigen Kind sprechen. Mit einem kurzen, rauen Knurren stieß Navaje Luft aus und sah ihn verächtlich an. „Er ist erst dreizehn und ist ohnehin genug gestraft! Ich will ihn nicht weiter so nennen! Dieser Name verletzt ihn mehr als du es für möglich halten kannst - “
„Der Junge muss akzeptieren, worum es in seinem Schicksal geht!“, unterbrach Falem sie.
„Das ist nicht fair!“, grollte Navaje, wobei sich ihre Stimme in ein unmenschliches Knurren verwandelte. „Nur, weil er von diesem Fluch besessen ist, heißt das noch lange nicht, dass er unweigerlich sterben muss, wenn ER es tut!“
Falem ließ ein schräges, hinterhältiges Grinsen um seine Mundwinkel spielen. „Wie niedlich! Du traust dich immer noch nicht seinen Namen auszusprechen!“
Navaje starrte ihn geschockt an und Falem musste innerlich lachen, wie schnell ihre Stimmung umschlug. „Er heißt Lubomir! Lubomir Tarek!“
Sie presste sich die Hände auf die Ohren. „Sei still!“, flehte sie panisch. „Sei still!“
„Dann gehe ich recht in der Annahme, dass du den Namen deiner Cousine auch nicht aussprechen kannst.“ Er bemerkte, wie viel Spaß es ihm machte, sie zu quälen und war selbst überrascht, wie leicht er ihr das antun konnte.
„Halt den Mund!“, fuhr sie ihn an, doch dann wurde ihre Stimme weinerlich. „Halt den Mund...“
Schweigend sah er sie an.
Zittern nahm sie die Hände runter. „Ich...werde nicht zulassen -“
„- dass was?“, fragte Falem bissig. „Nur zu deiner Information, wir haben nicht vor, sie zu töten!“
Sie sah ihn abwartend an. Er bemerkte, dass sie noch immer unregelmäßig atmete, doch sie schien nicht mehr wütend zu sein und stellte so keine allzu große Gefahr mehr für ihn da.
„Noch besteht kein Grund dazu.“
Navajes Augen huschten durch Falems Gesicht. Versuchten irgendein Anzeichen einer Lüge zu erkennen, doch sein Gesicht blieb so steinern wie eine Maske.
„Wenn ihr es tut, werdet ihr einen Krieg hervor rufen“, zischte sie leise.
„Nicht wenn die Völker unserer Meinung sind!“, erwiderte Falem.
Navaje schnappte nach Luft und schüttelte den Kopf. „Das würden sie nicht -“
„Bist du dir sicher? Kein Häuptling, König oder Rudelführer will, dass sein Volk stirbt. Je älter sie werden, desto gefährlicher werden sie. Wir leben in einer Zeit, in der so was den Tod für uns alle bedeuten könnte -“
„Könnte!“, unterstrich Navaje.
„Wir haben keine Zeit die Möglichkeiten abzuwägen und Dinge auszuprobieren. Jeder Tag könnte zu spät sein!“
Navaje schüttelte fassungslos den Kopf. „Was habt ihr nur vor?“, murmelte sie erschüttert.
Falem schwieg. Ein heller Lichtstrahl zog über die Berge und seine Hand umfasste automatisch das Wolfsauge, das unter seinem Mantel in einem kleinen Beutel um seinen Hals baumelte. Seltsam, dass so viel von so einer kleinen Pflanze abhing...
„Die Sonne geht auf“, sagte er nüchtern. „Wir sollten aufbrechen. Weck die Anderen, Navaje!“
Als sie sich nicht bewegte, verdrehte er die Augen. „Wir werden sie nicht töten, Navaje. Es wird nicht so weit kommen!“
„Das hoffe ich für euch. Wenn das Volk der Elben etwas so Bedeutendes ohne die Zustimmung der anderen Völker tut, wird es untergehen!“ Mit diesen Worten rauschte sie an Falem vorbei und begann die schlafenden, aneinandergeschmiegten Körper sanft aufzuwecken.


Kapitel 29
Lee schmiegte sich in Jardes Gefieder. Sie hörte Lilians Herz sogar über die kleine Entfernung deutlich schlagen. Hoffentlich war es nicht allzu schlimm für sie im Beutel. Jardes Flügelschläge wurden immer mühsamer. Das Mädchen hob den Kopf und bemerkte die Einschnitte am Hals des Adlers. Das Seil, das am Beutel festgemacht war, in welchem Lilian steckte, scheuerte bestimmt unangenehm an den Einschnitten.
„Jarde...“ Lee versuchte das Seil etwas nach hinten zu ziehen, doch Jarde zuckte sofort zusammen.
„Nicht! Du machst es nur schlimmer, Menschenmädchen!“
„Tut mir leid“, erwiderte Lee kleinlaut. Sie wollte nicht, dass Jarde litt und sie fragte sich, wann sie wohl ankommen würden. Während sie auf der anderen Seite der Ebaros gewesen waren, hatten die Adler tapfer gekämpft. Die Met’c waren aus dem Nichts aufgetaucht und laut Pollux, Navajes weißem Adler, war sogar Tabarz dabei gewesen.
„Warum haben sie aufgegeben?“ Navajes Ausdruck war voll Sorge gewesen, doch Pollux hatte nur das edle Haupt geschüttelt. „Wir wissen es nicht!“
Jarde und die Anderen hatten schwere Verletzungen zugetragen bekommen und doch hatten sie gewartet. Gewartet bis sie alle wieder über die Ebaros gegangen waren. Und auch als sie den Drachen sahen, blieben sie ruhig und voll Vertrauen.
Der Drache!
Lee hatte noch nie ein so eindrucksvolles Geschöpf gesehen. Sie wandte sich um, um ihn und Colin zu sehen.
Er flog genau zwischen Pollux und dem schwarzen Adler Ariadne, auf dem Falem mit grimmiger Miene saß.
Seltsam...wieso versucht er nicht abzuhauen? Wieso kommt er freiwillig mit?
Es wurde schon dunkel als sie schließlich beim Elbenvolk ankamen. Es war still und leise. Niemand hatte mit ihrer Rückkehr gerechnet. Still und schweigend empfingen sie Sahara und Evallan.
Lee war so müde, dass sie kaum bemerkte, wie die Erwachsenen darüber diskutierten, was nun mit dem Drachen zu machen war. Sie bemerkte auch nicht, dass Jarde sich sanft von ihr verabschiedete und Lilian sich sofort flach auf den Boden legte.
„Leelay?“
Verwirrt wandte sie den Blick. „Jen?“
Jenny sah sie besorgt an. „Komm. Wir gehen in unser Haus. Wir gehen schlafen! Morgen wird alles besprochen...Es ist vorbei!“
Lee nickte. Es ist vorbei....Es ist alles gut...Es ist vorbei.


∼ξ ∼ ψ ∼ ζ∼


Lui war immer noch tot müde, auch wenn er fast einen ganzen Tag geschlafen hatte. Eine Elbin war heute Morgen zu ihnen ins Haus gekommen und hatte ihnen ein reichliches Festmahl hingestellt. Doch er hatte kaum gegessen. Es ging ihm furchtbar. Alles war so chaotisch. Er hatte das Gefühl auf der Stelle zu rennen, aber nicht voranzukommen.
König Evallan sprach nun schon mindestens eine Stunde. Die ganze Zeit darüber, wie dankbar er den Völkern war und so was. Lui schüttelte abwertend den Kopf. Er war ein Narr! Diese ganze distanzierte „Freundschaft“, die sich die Völker ausmalten, war alles nur vorgegaukelt. Alle hörten schweigend zu.
König Trayas und Häuptling Jorou waren ebenfalls gekommen und mit ihnen die Rudelführerin Larissa. Sie war etwas älter als Navaje und hatte sehr strenge Gesichtszüge. Sie war die Einzige, die Lui noch nie kennengelernt hatte.
„Die Pflanze wird von den Schamanen der vier Völker hier in der Elbenstadt studiert. Gibt es noch Fragen?“
Lui wachte aus seiner Trance aus und sah die Anderen abwartend an. Sie waren in dem selben Raum, in dem Sahara ihnen die Prophezeiung vorgelesen hatte. Sie saßen an einem runden Tisch. Neben König Evallan saßen Sahara und Falem. Dann kamen Lorsch, Häuptling Jorou und der Schamane Koriu. Dann Navaje, die Rudelführerin Larissa und einen Mann mit grauem, zerzaustem Haar und einer Narbe quer über seinem einem Auge. Er schien andauernd zu lächeln, was Lui eine Gänsehaut machte. Neben diesem unheimlichen Typen hielten sich die Adler auf. Dann Atrianna, König Trayas und ein weiterer Mann, der schon sehr alt aussah.
Und dann...dann kamen sie. Jenny, Lee, Jan und Lui. Sie schienen etwas abseits zu sitzen. Sie hatten fast die ganze Hälfte der runden Tafel für sich. Sahen sie so schlimm aus?
„Was passiert mit dem Jungen und seinem Drachen?“, fragte Häuptling Jorou.
„Tötet ihn!“, rief König Trayas ohne mit der Wimper zu zucken und in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.
Eine Weile hing dieser Befehl wie ein nasser Sack im Raum.
Nach einer Weile schüttelte Falem den Kopf. „Nein. Ich bin dagegen!“
Lui riss erstaunt die Augen auf. Nun war er wieder hellwach. Nein?? Die ganze Zeit wollte er ihn doch töten?? Wieso jetzt plötzlich nicht mehr?
„Der Junge hat geklaut! Man kann ihm nicht vertrauen!“, erwiderte König Trayas hitzig.
„Der Junge besitzt einen Drachen!“, konterte Falem sofort und erhob sich langsam. „Er hatte die Gelegenheit zu fliehen. Er ist bei uns geblieben! Wenn wir ihn auf unserer Seite hätten...stellt euch nur mal vor, was für Möglichkeiten uns im Kampf offen stehen würden.“
König Trayas lachte höhnisch auf. „Wie kann man nur so närrisch sein, Elb! Er wird uns an Lubomir verraten, sobald er die Gelegenheit dazu bekommt! Woher weißt du, dass er kein Spion ist?“
Falem wollte etwas erwidern, doch dann schien ihm nicht das Richtige einzufallen und so senkte er nur den Blick.
„Ich weiß, dass er nicht für uns gefährlich ist“, ertönte plötzlich Navajes Stimme „Ich hatte eine Vision. Er wird uns dabei helfen Lubomir zu töten.“
Falem hob den Blick und Lui bemerkte, wie erstaunt er aussah, doch dann veränderte sich sein Blick in Dankbarkeit.
Häuptling Jorou nickte verständnisvoll. „Ich bin dafür, dass der Junge bleibt und mit uns kämpft!“
Auch die Rudelführerin nickte. „Wir ebenso! Doch wer, würde sich ihn annehmen und das Risiko eines Drachen auf sich nehmen?“ Ihre Stimme war sehr laut und sie erinnerte Lui an einen Soldaten.
Eine Weile war es still. „Ich werde es machen!“, sagte Falem plötzlich.
König Evallan warf ihm einen nicht zu deutenden Blick zu. Falem verbeugte sich hochachtungsvoll in seine Richtung. „Solange es mir erlaubt ist!“
König Evallans Blick brannte sich in Falems, doch dieser blieb ruhig. Gespannt verfolgte Lui das Blickduell.
Schließlich nickte Evallan. „Es ist dir erlaubt!“
König Trayas erhob sich. „Ich schwöre euch, wenn mein Volk unter dieser Entscheidung leidet, ist der Frieden zwischen den Völkern vorbei!“, rief er wütend.
„So weit wird es nicht kommen!“, sagte Falem fest. „Dieser Junge befindet sich samt dem Drachen ab heute unter meiner Obhut, Eure Hoheit! Glaubt mir, ich weiß, was ich tue!“
König Trayas funkelte ihn zornig an. „Ich hoffe es für dich, Falem!“
„Habt Ihr je an mir gezweifelt?“, fragte er keck.
König Trayas hob hochmütig den Kopf. „Ich nehme an, dass dieser Teil der Besprechung beendet ist. Doch nun gibt es etwas Weiteres, das zu besprechen ist!“
Abwartend sah Lui ihn an.
„Was wird aus den Auserwählten?“
Schweigen.
Lui sah zu Navaje, die König Evallan hart ansah. König Evallan ließ sich keinen seiner Gedankengänge ansehen.
„Wir...werden zu unseren Eltern gehen!“, erklang Lees Stimme. Lui bemerkte, dass sie zitterte.
König Evallan bewegte sich nicht, doch er schloss kurz die Augen.
Nichts regte sich.
„Lasst uns nach Hause gehen!“, rief Lee lauter.
„Das können wir nicht!“, sagte Falem fest.
„Wieso nicht?“, fragte Jan fassungslos.
„Ihr seid keine Gestalten mehr, die in diese Welt passen würden. Ich schlage vor, dass ihr hier bleibt und trainiert werdet. Dass ihr mit uns an eurer Seite gegen Lubomir kämpft!“ Falem richtete sich auf und sah jedem Einzelnen von ihnen fest in die Augen.
„Ihr wollt uns nicht nach Hause lassen?“, fragte Jenny geschockt.
„Es ist zu eurem Besten!“, erwiderte Falem sanft.
„Eher zu eurem!“, rief Lui wütend. „Ihr wollt uns doch nur als Druckmittel! Damit die Völker euch folgen!“
„Nein!“, sagte Falem ruhig. „Nicht als Druckmittel, Wolfskopf, sondern als Motivation! Ihr seid im ganzen Land bekannt. Ihr gebt den Menschen und den Völkern Hoffnung! Deshalb will ich, dass ihr bleibt!“
Lui zitterte, als er die nächsten Worte aussprach. „Wieso...müssen wir alle hierbleiben?“
Erstaunt sahen ihn die Völkeroberhaupte an. Nun hatte er ihre volle Aufmerksamkeit. Er ballte die Fäuste und zwang sich dazu weiter zu reden.
„Es ist der selbe Effekt, wenn nur einer von uns hier bleibt...“
Navaje suchte seinen Blick, doch er wich ihr aus.
„Dass ich sterbe, ist klar! Ich kann bleiben! Ich muss bleiben! Aber lasst die Anderen gehen!“
Eine Weile sahen sich alle untereinander an. Lui verharrte in seiner Position. Er durfte keine Schwäche zeigen.
„Was?“, hörte er plötzlich Lee wispern. „Das kannst du doch nicht ernst meinen. Wenn du bleibst, bleiben wir auch! So war es schon immer!“
„Nicht dieses Mal!“, erwiderte Lui kalt, ohne sie anzusehen.
Lee sprang wütend auf. „Das kannst du nicht von uns verlangen!! Ich werde auch bleiben!“
Lilian sprang auf die Tafel und setzte sich schwungvoll hin, als wolle sie sagen, dass sie niemand da runter holen konnte.
„Ich bleibe ebenfalls!“, sagte Jenny fest.
Jan zögerte, doch dann seufzte er. „Und ich werde ganz sicher nicht alleine gehen!“
Lui sah die drei fassungslos an. „Ich habe euch so eben eine Möglichkeit gegeben, eure Familien wieder zu sehen!“, knurrte er.
Lee schüttelte den Kopf. „Das war keine Möglichkeit!“, erwiderte sie und sah in die Runde.
„Also...bleiben sie alle“, sagte König Trayas amüsiert.
König Evallan nickte langsam.
„Wir werden sie auf die Völker verteilen!“, sagte Navaje fest. Entsetzt sahen sie die Kinder an.
„Jeder von ihnen hat andere Fähigkeiten! Die Völker verkörpern bei ihnen genau diese!“
Auch die Mitglieder der Runde schienen nicht überzeugt zu sein.
Lee sah Navaje hasserfüllt an. Wie konnte sie nur?
„Ich glaube, die Kinder sind am stärksten, wenn sie zusammen sind!“, meinte Sahara nachdenklich.
„Damit ein Volk alle vier Auserwählten hat? Sagt selbst, würde euch das gefallen?“, erwiderte Navaje hart.
Nun schienen fast alle ihr zu zustimmen.
Die Schamanin suchte Luis Blick. „Ihr werdet so in euren besten Fähigkeiten trainiert. Aber das heißt auch, dass ihr eine längere Zeit voneinander getrennt sein werdet.“
Lui versuchte so ausdruckslos wie möglich zu schauen. „Ja! So wird es geschehen!“
Fassungslos starrten seine Freunde ihn an. Lui ignorierte sie. Er wollte ihre Blicke nicht sehen. Wie verletzt und wütend sie aussehen mussten.
„Sind alle einverstanden?“, fragte Navaje in die Runde. Ein Nicken ging durch die Reihen. „Falem!“, rief Navaje. „Du und ich werden sie den Völkern zuteilen. Wir waren nun lange genug mit ihnen unterwegs und kennen ihre Stärken und Schwächen.“
Falem runzelte die Stirn, sagte jedoch nichts. Niemand schien zu verstehen, was Navaje zu bezwecken versuchte. Niemand außer Lui.
Sie hatte gedacht, dass sie sich anders entscheiden würden. Dass sie doch gehen würden. Dass sie in die andere Welt fliehen würden, doch da hatte er ihr einen Strich durch die Rechnung gemacht. Sie schien nicht erwartet zu haben, dass Lui sich entschieden hatte zu bleiben. Keiner von ihnen würde nun einen Rückzieher machen, denn die Entfernung zwischen zwei Welten war viel größer als die weiteste Entfernung in der selben Welt.
Falem sah Navaje abwartend an, doch sie starrte schweigend auf die Marmortafel vor sich. Er räusperte sich kurz.
„Ich schlage vor, dass Jan dem Adlervolk übergeben wird!“
Lui sah aus den Augenwinkeln, wie Jan zusammenzuckte.
„Er ist ein unglaublicher Schwertkämpfer und als ich ihn mit Efoy gesehen habe, ist mir klar geworden, dass er anpassungsfähig und strapazierbar ist. Im Adlervolk würde er lernen aus der Luft zu kämpfen und zu gehorchen.“ Falem sah erst Navaje und dann Jan fragend an. Navaje nickte müde. „Der Meinung bin ich auch!“
„Jan?“, fragte Falem sanft. „Bist du einverstanden?“
Jan schwieg kurz.
Wenn er jetzt einen Rückzieher macht, werden die drei nach Hause gehen! Dann würden sie wieder normal leben! So gut, wie eben möglich und müssen nicht in diesem Krieg feststecken, der sie eigentlich gar nichts angeht...Lui betete innerlich, dass Jan sagte, dass er nach Hause wolle oder dass er sich weigerte zum Adlervolk zu gehen, doch seine Hoffnung wurde enttäuscht, als er sah, wie Jan ihn ansah und ihm ein schiefes, trauriges Lächeln schenkte.
„Ich bin einverstanden!“
Vorbei! Nun war alles vorbei...Lui versuchte nicht so geschockt auszusehen, wie er sich fühlte. Auch Navaje schien entsetzt darüber zu sein. Nun gab es kein zurück mehr. Lee und Jenny würden jetzt nicht mehr umkehren.
Falem nickte und lächelte Jan ermutigend zu. „Des Weiteren würde ich vorschlagen, Jenny zu den Indianern zu schicken. Sie ist immer so aufmerksam und kann sich erstaunliche Sachen ohne Probleme merken. Außerdem wird sie dort gewiss gut aufgehoben sein und lernen richtig mit dem Messer umzugehen.“ Der Elb zwinkerte ihr kurz neckisch zu und Jenny zwang sich zu einem Lächeln, doch ihre Augen waren abwesend und alle wussten, dass die Kinder niemals in ihrem Leben getrennt werden wollten und mit so was nicht gerechnet hatten.
„Ich stimme dir zu!“, sagte Navaje leise.
„Ich bin einverstanden!“, sagte Jenny leise und sah auf ihre ineinander verschränkten Hände.
Falems Blick ruhte nun auf Lee. „Ich würde Lee gerne bei uns lassen. Ihre Fähigkeit mit dem Bogen umzugehen, ist phänomenal und die Bindung, die sie zu dem Wald und den Tieren hat, wäre hier am Besten aufgehoben. Sie wird lernen, dass es nicht immer nur nach ihrem Kopf gehen kann.“
Navaje nickte schwach. „Das meine ich auch!“ Ihre Stimme war brüchig und ihre Augen wurden glasig.
Lui sah zu Lee, die bis jetzt nur auf den Boden gesehen hatte, doch nun hob sie den Blick und er sah deutlich, wie eine Träne über ihre Wange rollte. Sie lächelte schwach. „Ich bin einverstanden!“
Lui schloss bei ihren Worten schmerzerfüllt die Augen. Ihre Stimme war so voller Schmerz und doch versuchte sie sich nichts anmerken zu lassen und versuchte ihre Gefühle zu verstecken.
Falem holte tief Luft. „Meiner Meinung nach wäre Lui bei den Seelenwölfen am Besten aufgehoben. Seine Schamanenkunst ist schon fast ausgereift und seine Kräfte als Wolf müssen richtig kontrolliert werden. Das Rudelgefühl wird ihm helfen sich zu beherrschen.“
„Ich stimme dir zu!“ Navajes Stimme war nur noch ein heiseres Flüstern, sodass Luis Stimme nun den ganzen Raum erfüllte.
„Ich bin einverstanden!“ Seine Stimme schwankte weder, noch zitterte sie. Sie war fest und klar und sicher.
Falem nickte und sah zu Navaje, die leise und schnell aus dem Raum huschte, ohne sich noch einmal umzusehen.


Epilog
Colin saß auf einem Ast, lehnte sich an den Stamm und ließ die Beine baumeln. Der Drache lag ruhig unter ihm am Fuße des Baumes.
Der Junge konnte es kaum fassen. Er hatte ein zu Hause! Er gehörte irgendwo dazu!
Blumen sprossen aus dem dunkelgrünen Moos, das den Waldboden wie eine Decke zudeckte.
„Geht es dir gut?“, fragte er den Drachen lächelnd.
Glück!
Colin nickte. Es war seltsam. Er, Colin, der noch nie so etwas wie Gefühle hatte, wurde nun seit er den Drachen kannte von ihnen erfüllt. Er spürte sie. Doch er ließ sich nicht von ihnen beeinflussen. Er wusste, dass er von außen immer noch aussah wie ein unzurechnungsfähiger, unberechenbarer, kalter Junge, der zu allem im Stande war.
Der Drache hob den Kopf. Colin lauschte. Ein leises Knacken kam immer näher. Colin legte die Hand auf seinen Schwertgriff, doch der Drache blieb ruhig. Plötzlich brach ein weißer Jungwolf aus dem Dickicht und blieb beim Anblick des Drachens neugierig stehen.
Das war doch...
„Lilian?“
Lee!
Colin wagte nicht sich zu bewegen, als sie plötzlich neben dem Welpen auftauchte. Den Bogen über der Schulter, einen Hasen in der einen und ein Messer in der anderen Hand.
Er sah von oben, wie sie den Drachen musterte und sich nach ihm umsah.
„Colin?“, flüsterte sie.
Woher kennt sie meinen Namen?
Er ließ sich vom Ast fallen und landete genau vor ihr. Sie schrak kurz zurück, doch dann wurde sie wieder ruhig.
„Woher weißt du, wie ich heiße?“
„Du weißt doch auch, wie ich heiße!“, erwiderte sie. „Ich will mich bei dir bedanken.“
Colin vermied es sie anzusehen. „Wofür?“
Sie schien etwas verlegen zu werden. „Auf der Ebaros ... da hast du mich gerettet.“
Colin versuchte sich zu erinnern. Ja...das hatte er.
„Vergiss es!“, sagte er achselzuckend. Er nahm seinen Beutel, den er an den Baum gelehnt hatte und band es Aèron um die Schultern.
„Denk ja nicht, wir könnten so etwas wie Freunde sein!“
„Das tu ich auch nicht!“, sagte sie ehrlich. „Ich wollte nur, dass du weißt, dass ich dir dafür danke. Wenn du nicht wärst, wäre ich jetzt tot!“
Lilian sah zwischen den beiden neugierig hin und her.
Colin schwieg und zog das Band, an dem der Beutel hing, mit einem Ruck fest. Er zog probehalber daran, ob es auch gut an Aèron festgemacht war und nickte zufrieden.
Als er sich umdrehte, bemerkte er, wie Lee ihn musterte.
„Sind deine Freunde schon weg?“, fragte er.
Lee schüttelte den Kopf. „Sie gehen erst heute Abend. Wirst du dich auch von ihnen verabschieden?“
Colin sah zur Seite. „Ich denke nicht. Ich glaube nicht, dass sie es begrüßen würden, mich zu sehen!“
Lee schwieg.
Colin schwang sich auf Aèrons Rücken. „Ich fliege zurück in die Stadt!“, sagte er knapp. „Willst du mitkommen?“
Er bemerkte, wie Lilian unwohl das Fell sträubte. Lee überlegte kurz.
„Na gut!“, meinte sie schließlich. Vorsichtig ging sie an Aèron vorbei, steckte ihr Messer in die Scheide und nahm Lilian auf den Arm. Mit Mühe verfrachtete sie diese auf den Rücken des Drachens. Nicht mehr lange und sie würde es nicht mehr schaffen, ihren Wolf zu tragen. Dann kletterte sie selber hoch.
„Halt dich fest!“, grinste Colin. Lee schlang die Arme um seine Taille und der Drache schoss in den Himmel.
Lee krallte sich fest und drückte Lillian an sich und obwohl sie es für Einbildung hielt, dachte sie doch, dass sie Colin ganz deutlich lachen hörte.

Ende




Namenaussprache:

Aèron – AjehroN
Anastasia – Ahnahstahsiah
(Ana – Annah)
Ariadne - Äriaddne
Atrianna – Ätrijännah
Colin - Collinn
Efoy – Ehfeu
Ethan - Ehtahn
Evallan – Ehvallahn
Falem – Fahlemm
Hasa – Hahsah
Jamie – Dschäimieh
Jan – Jann
Jarde - Jarrde
Jason - Dschäisän
Jenny –Dschähnih
(Jen – Dschenn)
Jorou - Johroou
Kalim - Kahlimm
Karu – Kahruh
Koriu - Kohriuh
Lee – Lih
Leyla - Läilah
Lilian – Lilliän
Lorsch - Lorrsch
Lubomir - Luhbohmihr
Lui – Lui
Luke – Luhk
Mai – Mei
Mara - Mahrah
Marek – Mahrekk
Maya - Maiah
Navaje – NahvaJEH
Pachu - Patschu
Pollux - Pollukss
Ray – Rääi
Sahara - Sahahra
Sasuun – Sahsuhn
Sliker – Sleihker
Sola - Sohlah
Tabarz – Tahbarrz
Trayas – Traiiass


Elfensprache – Aussprache

Ebaros - Ehbahross
Feri sheram ven! – Fehrih shehramm venn!
Gamove, Kinoga! – Gahmohveh, Kihnohgah
Nahagat - Nahhahgatt
Ye! – Jeh


Elfensprache – Übersetzung

Ebaros – Die ewige Ebene
Feri scheram ven – Es ist lange her
Gamove – Sei gegrüßt
Kinoga – Neutrale Anrede
für einen König oder eine Königin
Nahagat – das tote Gras
Ye – Ja


Zaubersprüche – Aussprache

Gayir – Gajihr
Arvuen kamitra zyra sol – Arrwuenn kahmihtrah zühra soll


Zaubersprüche – Übersetzung

Gayir – Schmerz
Arvuen kamitra zyra sol – Finde den Namenträger!
(Namenträger = Jemand, der den Namen eines Schamanen oder Zauberers achtlos ausspricht wird Namenträger genannt und kann von dem Schamanen oder dem Zauberer gefunden werden)

Impressum

Texte: lillianwaving
Bildmaterialien: lillianwaving
Tag der Veröffentlichung: 13.04.2012

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