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1. Teil


Prolog: Der Bärentraum!

Eine riesige Gestalt stürmte zwischen den Bäumen auf sie zu, knickte Äste um und zerstörte alles, was ihr in den Weg kam.
Lee und ihre drei Freunde jagten durch den Wald, doch das Monstrum verfolgte sie mit seinen brennenden Augen immer weiter. Schließlich sprangen sie hinter einen umgefallenen Baumstamm. Sofort rollten sie sich zusammen.
Lee presste sich an Jenny, die wie immer versuchte die Situation irgendwie in den Griff zu bekommen und ihre Stirn in Falten legte, um eine Lösung zu finden. Ihre braunen, kinnlangen Haare hingen ihr zerzaust ins Gesicht. Die sonst so hervorstechenden Sommersprossen wurden von Dreck, Matsch und Erde bedeckt. Wenn ein Wohlhabener sie im Wald getroffen hätte, er hätte Lees beste Freundin für eine kleine Landstreicherin gehalten.
Jan, der sich neben ihr zusammengekauert hatte, zog einen Dolch aus seiner Gürteltasche. Seine Kleidung war heruntergekommen und an manchen Stellen zerrissen. Seine silbergrauen Augen wurden von seinen fuchsroten Haarsträhnen umrahmt. Seit sie ihr zu Hause verlassen hatten, waren seine Haare sehr gewachsen. Doch Lee wunderte sich über den entschlossenen Ausdruck in seinem Gesicht. Er schien keine Angst zu haben.
Lui drückte sich an Lees Schulter. Sie hörte wie schwer er atmete. Seine strohblonden Haare mischten sich mit ihren dunkelblonden Strähnen.
„Verdammt!“, zischte er. „Ist es weg?“
Lee wagte es, einen Blick über den Baumstamm zu werfen. Das Ungetüm war ihnen nicht weiter gefolgt. Ein riesiger Bär, dessen einziges Ziel es war, sie alle zu töten.
„Still!“, wisperte Jenny. Lee hielt die Luft an. Bildete sie es sich nur ein oder hörte sie wirklich, wie schwere Schritte über den Waldboden stapften.
Nein! Sie hatten ihn doch nicht abgeschüttelt. Er war noch da. Lee nahm den Bogen von ihrem Rücken und griff nach einem Pfeil in ihrem Köcher.
Jenny hatte die Wurfsterne aus ihrem Jagdbeutel geholt und Lui sein Messer gezogen.
Das Schnaufen des Bären war ganz nah. Lee wagte kaum zu atmen. Er würde sie wittern. Sie durften hier nicht weiter herumsitzen, sonst würde er sie auf der Stelle töten.
Sie warf Jenny einen Blick zu. Das Mädchen nickte ihr zu und stupste Jan an.
Blicke genügten den Freundinnen.
„Jetzt!“, rief Jenny. Lee packte Lui am Handgelenk und rannte mit ihm hinter dem Baumstamm hervor. Jenny und Jan rannten in die andere Richtung.
Wütend brüllte der Bär sie an. Weißer Schaum quoll aus seinem Mund und tropfte auf sein braunes Fell.
Zusammen versuchten die vier Freunde das Ungetüm einzukreisen, um es dann besiegen zu können, doch es bot sich ihnen keine Möglichkeit, denn schon rannte der Bär auf Jan und Jenny zu. Jan stieß Jenny zur Seite und rannte mit ihr zu einem Baum.
Lui packte Lee am Arm und drückte sie gegen eine große Kiefer.
„Wenn ich dich bitte“, fragte er außer Atem „Wenn ich dich bitte, dass du versuchst zu entkommen, würdest du es tun?“
Lee funkelte ihn wütend an.
Lui seufzte leise. „Dachte ich mir!“, murmelte er.
Das Mädchen riss sich los. „Würdest du?“, giftete sie.
Der Junge schwieg.
Ein Schmerzenschrei holte sie wieder zurück in den Kampf.
„Jan!“, rief Lui aus. Er wollte zu ihm rennen, doch Lee hielt ihn zurück.
„Stopp!“, zischte sie. „Wenn wir blindlings drauf losrennen, erreichen wir gar nichts!“
„Die Bestie bringt ihn um, wenn wir nichts unternehmen!“, schrie Lui sie an.
Der Bär hatte Jan vom Baum gestoßen und stand nun über ihm. Als er dem Jungen gerade die Kehle aufreißen wollte, traf ihn ein Wurfstern von Jenny am Ohr. Brüllend ließ das Monstrum von dem Jungen ab und verfolgte Jenny, die wie ein Hase zwischen den Bäumen umhersprang.
Lee hatte das Gefühl, dass er niemals von ihnen ablassen würde, egal, was für Schmerzen sie ihm bereiten würden.
Das Mädchen legte einen Pfeil in die Sehne und schoss. Der Pfeil striff den Bären an der Schulter. Brüllend und rasend vor Wut drehte sich der Bär um und suchte mit hitzigem Blick nach dem Angreifer.
Lee trat zwischen den Bäumen hervor. „Fang mich!“, schrie sie dem Bären entgegen. Ihre Knie zitterten, doch sie war zu stolz, um ihre Angst zu zeigen. Hauptsache Jenny war in Sicherheit. Sie drehte sich um und rannte los.
Der Bär verfolgte sie, da war sie sich sicher.
Auf einmal wurde sie von einer gewaltigen Kraft vornüber geschleudert.
Der Köcher drückte ihr unangenehm ins Kreuz. Glücklicherwiese lag ihr Bogen heil neben ihr, wenn er zerbrochen wäre, wäre alles aus gewesen. Geschwind drehte sich das Mädchen auf den Rücken und sah in den offenen Rachen des Bären.
In einem letzten Reflex kniff sie die Augen zusammen.
„Nein!“, hörte sie Jan schreien. Eine warme Flüssigkeit spritzte auf Lees Gesicht. Sie riss die Augen auf.
Lui hatte sich vor sie geschmissen. Die Arme ausgebreitet und den Kopf trotzig erhoben. Die Pranke des Bären hatte ihm eine tiefe Wunde in die Brust geschlagen und ihn zur Seite geschleudert.
Plötzlich verschwamm alles um sie herum. Es wurde alles schwarz und verschwand bis auf Lui, der neben Lee lag und sich die Hand auf die klaffende Wunde presste.
„Lui!“ Lees Stimme war rau und brüchig. „Lui! Was-Was hast du dir dabei gedacht?“
Lui lachte schwach. Blut hing in seinen Mundwinkeln. „Ich weiß nicht!“
Seine Augen verloren immer mehr an der Lebenslust und dem Schalk, den Lee so liebte.
„Nicht! Bitte, bleib bei mir!“ Das Mädchen strich ihm verzeifelt die Haare aus dem Gesicht. Lui lächelte nur schwach.
„Bitte!“, flehte Lee leise, während ihr die Tränen kamen.
„Okay, Leelay!“, mumelte Lui brüchig. Dann schloss er die Augen und erschlaffte.


Kapitel 1: Erinnerungen!

Von ihrem eigenen Schreien wachte Lee auf.
Ihr Zimmer sah unverändert aus, keine Spur von einem Wald. Poster schmückten ihre rote Zimmerwand. Poster von Pferden, Füchsen, Rehen, Hunden, Katzen...nur ein einziges Foto war dabei. Es zeigte einen etwa achtjährigen Jungen und ein blondes, gleichaltriges Mädchen, die sich grinsend den Arm um die Schultern gelegt hatten. Lui und Lee. Luis braune Augen funkelten, als wäre er hier in diesem Raum.
Lee schluchzte. Sie hatte noch nie wegen ihm geweint, aber heute tat sie es. Es war als ob er tot war oder noch schlimmer, als ob er sie ignorierte. Dabei war es nicht wirklich schlimm. Es war nur gewöhnungsbedürftig.
Die Tür schwang auf und ihre Mutter kam herein. Das Weinen endete auch nicht, als Jasmin sie in die Arme schloss. Ihre Mutter seufzte müde.
Lee schluckte, wieso weinte sie gerade jetzt? Wieso erst, wenn ihr vor Augen geführt wurde, was passieren kann, wenn es doch nun fast so war? Sie bemerkte, dass sie wieder übertrieben theatralisch wurde und versuchte sich zu beruhigen, doch es gelang ihr nicht.
„Liebling? Was ist denn?“, fragte Jasmin sanft.
„Ich habe schlecht geträumt“, schluchzte Lee und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Lee hasste es zu weinen. Das Schlimme waren nicht die Tränen, das Schlimme war das Gefühl bei jedem Schluchzer zu ersticken.
„Ist es wieder wegen Jack?“ Zärtlich strich ihr ihre Mutter über ihr volles, langes Haar.
Lee zuckte die Schultern. „Ich weiß nicht.“
Seit ihr Vater verschwunden war, bekam sie andauernd diesen Traum. Aber noch nie war er so real gewesen wie in dieser Nacht. Jack war schon fast ein halbes Jahr verschwunden, und die Polizei würde die Suche bald aufgeben.
Das Mädchen holte tief Luft und unterdrückte die Schluchzer.
Ihre Mutter sah müde aus. Ihre braunen Haare wirkten schlaff und spröde, und ihre haselnussbraunen Augen wirkten traurig und zerbrechlich. Sie schien kaum noch Kraft zu haben. Anders als die meisten Frauen in ihrem Alter, wirkte sie noch sehr jung und hatte immernoch eine perfekte Figur. Viele Frauen beneideten sie darum, doch Jasmin tat so als würde sie es nicht bemerken.
„Ich weiß es ist nicht immer leicht. Besonders ohne Jack“, ihre Mutter machte eine Pause. „Ich vermisse ihn genauso sehr wie du. Ich schaffe das nicht ohne ihn. Die Bank will Geld sehen und ich weiß einfach nicht, was ich noch machen kann.“
Sie drückte Lee noch fester an sich. Auf einmal stutzte sie und hob ein kleines Birkenblatt hoch. „Woher hast du das denn?“
„Aus dem Wald“, nuschelte Lee und strich sich die verschwitzten Haare aus dem Gesicht. Manchmal fragte sie sich, was sie eher ein ‚zu Hause’ nennen würde.
Den Wald oder ihr Haus?
Im Wald hatte sie die Tiere, die oft zu ihr kamen und sich streicheln ließen. Sie waren sozusagen ihre zweite Familie. Komischerweise zeigten die Tiere überhaupt keine Angst vor ihr. Lee konnte die Gefühle und Bedürfnisse der Tiere spüren und, so komisch das auch klang, mit ihnen reden, allerdings antworteten ihr die Tiere nur in Gefühlen. Zu Hause hatte sie ihre wahre Familie, die immer für sie da gewesen war, bis zu dem Tag, als ihr Vater, Jack, verschwand.
„Schlaf noch ein wenig“, flüsterte ihre Mutter. Lee nickte. Auch wenn sie jetzt kein Auge zu tun konnte. Jasmin stand auf und ging zur Tür, dort blieb sie stehen und drehte sich noch einmal um. Besorgt musterte sie ihre Tochter. Dann ging sie schläfrig aus dem Zimmer.
Als ihre Mutter verschwunden war, holte Lee ihr Lieblingsbuch „Der Wolf“, unter dem Kissen hervor. Wölfe waren ihre Lieblingstiere. Sie blätterte das Buch durch. Diese Bilder waren atemberaubend. Wie können so schöne Geschöpfe nur als böse Monster bezeichnet werden? Irgendwann habe ich meinen eigenen Wolf, versprach sie sich. Irgendwann.
Und so komisch es auch war. Dieses Versprechen beruhigte sie so ungemein, dass Lee fast im nächsten Augenblick wieder einschlief.


Kapitel 2: Der Traum!

In der Schule suchte sie nach Lui. Sie fand ihn in einer Gruppe Jungs stehen und scherzen.
Was hatte sie nur auseinander getrieben? Früher waren sie die besten Freunde gewesen und heute, sahen sie sich noch nicht einmal an.
Der Junge sah zu ihr hinüber und lächelte. Lee lächelte zurück. Es schien ihm gut zu gehen. Seine Haut war braungebrannt und seine Frisur sah fast genauso aus wie damals, bis auf die braunen Strähnen, die sich nun in seine Haare stahlen. Die braunen Augen mit der feinen Iris leuchteten wie immer. Warum traute sie sich nicht zu ihm rüber zu gehen?
„Hallo, Lee!“, hörte sie eine Stimme an ihrem Ohr. Ein Mädchen mit braunen Haaren, blauen Augen und Sommersprossen gesellte sich zu ihr.
„Hallo, Jenny“, begrüßte Lee sie.
Jenny war ihre beste Freundin und normalerweise hatten sie keine Geheimnisse voreinander. Nur von Lui hatte Lee ihr nie etwas erzählt. Als sie wieder zu dem Jungen sah, stand Jan bei ihm. Er war ein rotschöpfiger, lustiger Junge, der immer nur Witze riss und mit dem man jede Menge Spaß haben konnte.
Natürlich nur, wenn man mit ihm befreundet war.
Neckisch stupste Lee ihre beste Freundin an. Jenny bemerkte Jan und seufzte theatralisch.
„Ob er mich jemals ansprechen wird?“, fragte sie fast leidend.
„Vielleicht musst du den ersten Schritt machen“, meinte Lee feixend.
Jenny schüttelte störrisch den Kopf. „Nein, dafür bin ich viel zu schüchtern. Wenn er was von mir will, muss er schon selber kommen.“
„Vielleicht hat er dich ja noch gar nicht bemerkt“, gab Lee zu bedenken.
Jenny zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Dann ist das nun mal so. Du würdest den doch auch nie ansprechen“, sagte sie und deutete auf Lui.
Lee schluckte. Doch dann zuckte sie nur mit den Schultern und äffte Jenny grinsend nach: „Dann ist das nun mal so.“





Nach der Schule fiel Lee müde in ihr Bett. Es war schon spät. Doch sie fürchtete sich davor einzuschlafen. Fürchtete sich davor zu träumen. Sie sah noch immer Lui vor sich, dessen Augen das Leben verlierten und dessen Haut grau und fahl wurde.
Seufzend stand sie auf, ging zu ihrem Fenster und öffnete es. Ein sanfter Windhauch strich über ihr Gesicht. Warm und erfrischend streifte er ihr über die Haare.
Die Sterne funkelten zu ihr hinab und gaben ihr ein Gefühl von Sicherheit.
Lee schloss die Augen. So oft hatte sie schon das Gefühl gehabt gar nicht hierher zu gehören. Und wenn sie ehrlich war, wollte sie es auch nicht.
Wenn sie die Chance hätte mit einem der Personen in ihren Lieblingsbüchern zu tauschen, würde sie nicht zögern.
Egal welche Figur es auch war.
Diese Bücher spielten oft in anderen Welten und waren auf alle Fälle besser, als in so einer Welt wie hier, zu leben.
Hier konnte sie sich nicht wohl fühlen. Immer passierte irgendetwas Grausames. Und immer waren die Menschen Schuld!
Nur das Schlimme an dieser Welt war, dass Lee nichts dagegen machen konnte. Sie konnte nur davon hören, aber ändern konnte sie es nicht.
Werde ich mich je an dieses Gefühl gewöhnen? In dieser großen, unbekannten, grauen Welt? Nachdenklich schloss sie das Fenster und legte sich wieder in ihr Bett. Unruhig wälzte sie sich hin und her und befahl sich an etwas anderes, als an den Bären zu denken. Das Letzte, an das sie sich erinnerte, war Luis Gesicht heute früh in der Schule, das sie anlächelte.





Die Sonne schien durch die Blätter. Tau glitzerte auf den Farnen. Fröschequaken war zu hören.
Der Traum war anders. Er war freundlicher. Hier war kein blutrünstiges Monster, das ihren früheren besten Freund umbrachte. Hier war es ruhig und warm und sicher.
Die Vögel zwitscherten und ihre fröhlichen Laute ließen Lee vergessen, was in ihrem anderen Traum sonst immer geschehen war.
Verträumt setzte sie sich ins Gras und sah sich um. Ein kleiner See spiegelte die Sonnenstrahlen wieder. Er schien in regenbogenfarben zu leuchten.
Ein Ast knackte. Erschrocken zuckte das Mädchen zusammen. Ein großer Felsvorsprung ragte vor ihr empor. Angestrengt sah Lee in die Sonne, um dort das Etwas, welches auf dem Felsvorsprung stand, zu erkennen.
Ein weißer Wolf.
Das anmutige Tier legte den Kopf in den Nacken und heulte. Ein klagender Schmerzenslaut in dem der ganze Kummer der Welt lag.
Der Wolf drehte sich um und verschwand.
Das Mädchen stand auf. Sie wollte diesem Wolf hinterherlaufen, ihn fragen was ihn bedrückte.
Flink lief sie den Felsen hinauf. Immer den Wolfsspuren nach, die dieser im Schlamm hinterlassen hatte. Plötzlich endete die Spur.
Das Mädchen lief noch ein paar Meter, doch weit und breit war nichts mehr von dem schönen Geschöpf zu sehen.
Frustriert schlurfte sie durch den Farn. Sie befand sich auf einem kleinen Wildwechsel.
Ein paar Rehe sprangen kurz vor ihr auf, Vögel zwitscherten in den Bäumen, Füchse mit ihren Jungen sahen ihr neugierig hinterher. Ohne auf den Weg zu achten lief Lee weiter.
Sie wusste noch nicht einmal, wohin sie ging.
Auf einmal ragte vor ihr ein Tipi in die Höhe. Ein braunes Lederzelt.
Sie hatte das Gefühl, als ob da drinnen irgendetwas war, was sie brauchte. Ohne, dass sie nicht gehen könne.
Es spannte sich eine so große Neugier in ihr, dass sie nicht widerstehen konnte.
Mit festem Schritt ging sie hinein, ohne auf die Zeichen zu achten, die auf die Gefahren in diesem Tipi hinwiesen.


Kapitel 3: Sasuun, Finn und Mina!
Der Anblick verschlug ihr den Atem. Ein Pfosten, der das gesamte Tipi zu halten schien, stand in der Mitte des Zeltes. Eine Gestalt war an den Pfosten gefesselt. Lee brauchte einen Moment bis sie bemerkte, dass es ihr Vater war.
„Papa!“ Lee ging auf ihn zu. Bis jetzt hatte ihr Vater seinen Kopf gesenkt gehalten, doch nun hob er seinen Blick. Jedoch schien er Lee nicht zu bemerken. Er sah auf jemanden, der hinter dem Mädchen stand.
Lee fuhr herum.
Eine hübsche junge Frau grinste ihren Vater hämisch an. Sie hatte lange schwarze Haare, in denen Federn eingebunden waren, um die Stirn hatte sie sich ein Lederband gebunden mit einem Adlerkopf darauf.
In einem war Lee sich sicher, die Frau war eine Indianerin. Eine verstoßene Indianerin, denn sie trug das Lederband um die Stirn gebunden. Das Zeichen einer Verstoßenen.
Ihr Vater hatte ihr einmal von verstoßenen Indianern erzählt. Das war vor ein paar Jahren und das Stirnband war das einzige, was Lee in Erinnerung geblieben war.
Wahrscheinlich ist sie sogar eine Schamanin, dachte das Mädchen, als sie am Wams der Frau viele verschiedene Säckchen baumeln sah. Vielleicht sogar eine sehr mächtige Schamanin. Hochnäsig sah die Frau zu Jack herüber. Alles an ihr war makellos, außer den kalten, grauen Augen. Sie waren denen einer Schlange so ähnlich, dass Lee schauderte. Die Wangen waren mit nasser Erde verziert, es waren komische Zeichen darauf zu sehen, die aussahen wie Flügel, oder Schlangen, doch sie waren auf der dunklen Haut kaum erkennbar.
„Sie wird nicht kommen“, begann die Frau. Ihre Stimme war sanft und warm wie süßer Honig und doch hatte sie einen bedrohlichen und dunklen Klang.
Lee fand sie sofort unsympathisch.
„Du hast keine Ahnung“, gab ihr Vater zurück. „Ich sah sie heranwachsen, ich kenne ihre Stärken und ich weiß, dass sie es schaffen kann.“
Die Frau schlenderte gedankenverloren auf ihn zu und fuhr mit den Fingernägeln über den Pfosten.
Lee fielen die dunkelbraunen Muster auf, die die Zeltwand verzierten.
Verschiedene Zeichen, manche waren ineinander verschlungen, andere standen alleine.
„Du wünschst dir, sie würde kommen, nicht wahr? Du wünschst, dass sie statt deiner hier steht“, sagte die Schamanin.
„Niemals, würde ich mir so etwas wünschen!“, rief Lees Vater.
„Du wünschst dir aber, dass sie kommt“, sagte sie sanft und ging um den Pfosten herum. „Und wenn sie kommt“, fuhr sie fort „glaube mir, dann wird sie glorreich empfangen werden!“
„Wenn du sie auch nur anfasst! Sasuun, ich schwöre dir, dann wirst du mich nicht mehr los!“ „Ach, Jack“, trällerte die Frau. „Was kannst du schon tun?“
Lees Vater ließ gequält den Kopf hängen.
„Und wenn sie nicht kommt“, wisperte Sasuun leidenschaftlich „Dann werde ich sie verfolgen, bis ich sie habe.“





Urplötzlich war Lee wach.
Hatte ihr Vater in dem Traum von ihr gesprochen? Wer war diese Sasuun und hatte sie irgendetwas mit dem Verschwinden ihres Vaters zu tun? Wie konnte sie von einer Frau träumen, die sie noch nie zuvor gesehen hatte? Warum hatte sie dieses mal nicht von dem Bären geträumt?
Die Fragen füllten ihren Kopf und brachten ihn fast zum Platzen. Lee konnte nicht mehr klar denken. Nach ein paar Sekunden hatte sie sich wieder beruhigt.
Warum machte sie überhaupt so einen Aufwand darum? Es war schließlich nur ein Traum.





Nach der Schule ging Lee sofort in den Wald. Sie hatte ein so starkes Verlangen nach ihm, dass sie sich nicht zurückhalten konnte.
Während sie auf verschiedenen Wildwechseln trottete und ein paar Rehen beim Grasen zusah, dachte sie an ihren Traum und fragte sich, was sie machen würde, wenn diese Indianerin, Sasuun, wirklich ihren Vater gefangen halten würde.
Sie würde ihn befreien. Lee stellte sich vor, wie sie Jack aus den Klauen der bösen Schamanin retten könnte.
Plötzlich rannte sie los. Sie sprang über Bäche und umgefallene Bäume. Über ihr flog kreischend ein Falke. Sie versuchte schneller zu sein, als er. Auf einmal hatte das Mädchen den Waldrand erreicht und blieb abrupt stehen. Vor ihr erstreckte sich eine riesige Wiese, lila, gelbe und rote Blumen überzogen sie. Die Sonne schien darauf und ließ alles aussehen, wie im Märchen. Über ihr zog der Falke seine Kreise. Er sauste über die Wiese, ließ sich fallen, um kurz vor dem Boden wieder in die Lüfte zu schnellen und im senkrechten Winkel wieder in den Himmel empor zu steigen.
Das Mädchen spürte die unbändige Freude des Tieres, fliegen zu können und rannte unter ihm mit.
Der Falke stieß neben ihr hinab und schoss erneut in den Himmel hinauf.
Immer wieder sah sie zu ihm hoch und versuchte seine Laute nach zu machen.
Zusammen in einem Tanz aus verschieden Mustern wirbelten sie hin und her.
Der Falke schoss erneut über die Blumen hinweg und umkreiste Lee auf Brusthöhe.
Lachend drehte sie sich im Kreis, um den Falken nicht aus den Augen zu verlieren. Irgendwann verlor sie das Gleichgewicht und ließ sich ins Gras fallen.
Doch der Falke schoss immer wieder in den Himmel empor. Seine Flügel trugen ihn mit dem Wind.
Es war, wie einen Gefährten zu haben, der einen auf Schritt und Tritt verfolgte, einen auf den man sich verlassen konnte.
Aus Übermut schoss der Falke hinab und raste auf das Mädchen zu.
Lee riss die Arme nach oben und hielt sie sich reflexartig vors Gesicht.
Jeden Moment mussten sie und der Falke aufeinanderprallen.
Eine Weile blieb es ruhig, nur Lees Herzklopfen und die Flügelschläge des Falken waren zu hören. Vorsichtig nahm das Mädchen die Hände von den Augen. Die Flügelschläge des Falken hauchten ihr ins Gesicht.
Kurz vor ihr flog der kleine Turmfalke stehend in der Luft. Die Flügel schlugen in kurzen Schlägen auf und ab, doch er bewegte sich nicht von der Stelle. Lee hob den Arm, damit der Falke sich ausruhen konnte. Die kleinen, gebogenen Krallen schlossen sich um ihren Unterarm. Die spitzen Klauen krallten sich in ihre Haut.
Lee sürte das Blut an ihrem Arm herunterlaufen. Es brannte, doch das war ihr egal.
Noch nie war ein Vogel zu ihr gekommen. Plötzlich fühlte sie sich mit dem Falken auf komische Art und Weise verbunden.
Vorsichtig ließ das Mädchen den Arm auf Kopfhöhe sinken.
Es war ein Turmfalke. Er hatte einen grauen Kopf, was Lee darauf hinweisen ließ, dass es ein Männchen war; einen hellbraunen Körper, bis auf die Flügelspitzen, die in ein helleres schwarz übergingen.
Sanft streichelte Lee dem Falken über die weiche, gefiederte Brust.
Und auf einmal fiel ihr ein Name für ihn ein: Finn.
Der Falke stob mit schnellen Flügelschlägen auf. Er schnellte empor und flog der untergehenden Sonne entgegen.
Immer noch sitzend kniff das Mädchen die Augen zusammen und sah Finn nach.
Eine nasse Schnauze berührte sie am Handgelenk.
„Mina!“, rief sie aus. Die Füchsin sah sie durch ihre goldenen Augen an und rollte sich neben ihr zusammen. Liebevoll kraulte Lee das rotbraune Fell.
Wie geht es dir?, fragte sie. Sie spürte ein so großes Wohlbehagen in sich aufsteigen und wusste, dass das Minas Antwort war. Es schien ihr gut zu gehen.
Dann drehte die Füchsin den Kopf zu ihr und schnupperte an dem Blut. Vorsichtig leckte sie über die Wunde.
Danke!, sagte das Mädchen. Hunde-,Fuchs- und Wolfsspucke war sehr wirkungsvoll, wenn es um blutende Wunden ging.
Es war nicht verwunderlich, dass Finn fort geflogen war. Mina war einer von vielen Feinden, die die Turmfalken jagten.
Die Sonne kitzelte ihr Gesicht und Mina ließ ein wohliges Schnurren hören. Sanft strich Lee über ihr Fell. Genüsslich streckte sich die Füchsin aus.
Auch Lee wurde langsam müde.
Sie ließ sich in das bunte Blumenmeer gleiten.
Mina legte ihren Kopf auf Lees Bauch und schmiegte sich an sie. Ruhig lagen sie zwischen den gelben Raps Blumen, den Gänseblümchen und den Osterglocken.
Frühling. Frühling war Lees Lieblingsjahreszeit.
Es war wunderschön die ersten Blumen und Knospen zu entdecken und zu sehen, wie die Welt von grau zu blau, lila, rosa, weiß, gelb und grün wurde.
Sie spürte wie der Schlaf sie übermannte und wie sie nach und nach mit ihren Gedanken davontrieb.


Kapitel 4: Der Entschluss!

…Die Frau schlenderte gedankenverloren auf ihn zu und fuhr mit den Fingernägeln über den Pfosten.
Lee fielen die dunkelbraunen Muster auf, die die lederne Zeltwand verzierten. Verschiedene Zeichen, manche waren ineinander verschlungen, andere standen alleine.
„Du wünschst dir, sie würde kommen, nicht wahr? Du wünschst, dass sie statt deiner hier steht“, sagte die Schamanin.
„Niemals, würde ich mir so etwas wünschen!“, rief Lees Vater.
„Du wünschst dir aber, dass sie kommt“, sagte sie sanft und ging um den Pfosten herum. „Und wenn sie kommt“, fuhr sie fort „glaube mir, dann wird sie glorreich empfangen werden!“
„Wenn du sie auch nur anfasst! Sasuun, ich schwöre dir, dann wirst du mich nicht mehr los!“
„Ach, Jack“, trällerte die Frau. „Was kannst du schon tun?“
Lees Vater ließ gequält den Kopf hängen.
„Und wenn sie nicht kommt“, wisperte Sasuun leidenschaftlich „dann werde ich sie verfolgen, bis ich sie habe.“





Lee fuhr hoch. Erschrocken zuckte Mina zusammen und sah das Mädchen vorwurfsvoll an. Entschuldigend streichelte Lee sie. Tut mir leid!
In dem Moment ging die Sonne unter und der Himmel war in vielen, verschiedenen, rosa Farbtönen getunkt.
Das zweite Mal, dass sie diesen Traum gehabt hatte.
Die Füchsin gähnte herzhaft, stand auf und reckte sich. Dann fuhr sie Lee einmal mit der Zunge übers Gesicht und verschwand im Dickicht.
Auch Lee rappelte sich auf. Höchste Zeit nach Hause zu gehen, um ihre Wunde etwas näher zu begutachten.





…„Wenn du sie auch nur anfasst! Sasuun, ich schwöre dir, dann wirst du mich nicht mehr los!“
„Ach, Jack“, trällerte die Frau. „Was kannst du schon tun?“
Lees Vater ließ gequält den Kopf hängen.
„Und wenn sie nicht kommt“, wisperte Sasuun leidenschaftlich „dann werde ich sie verfolgen, bis ich sie habe.“





Lee strich sich verwirrt ihre strähnigen Haare aus dem Gesicht. Was sollte dieser Traum? Dieser weiße Wolf ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Sie hatte das Gefühl, dass er sie rief, dass er ein Beweis wäre, dass dieser Traum eine Vision sei und dass ihr Vater noch lebte. Plötzlich schoss ihr ein Satz durch den Kopf, den sie in ihrem Lieblingsbuch gelesen hatte:
„Einer indianischen Legende zufolge schützen weiße Wölfe jeden, der sie erblickt oder der von ihnen träumt.“
Ihr Vater hatte ihr viel von Indianern erzählt und Lee gelehrt an die alten Legenden und Sagen zu glauben.
Stärker denn je verspürte sie den Drang, dass Jack noch lebte.
Und selbst wenn der Traum keine Vision war, so wollte sie es doch versuchen. Sie musste ihren Vater retten! Sie musste irgendetwas tun! Je länger sie hier herumsaß, desto wahrscheinlicher könnte es sein, dass ihr Vater tot war. Sie musste sich beeilen.


Kapitel 5: Wahre Freundschaft!

In der Schule war Lee mit den Gedanken bei Jack.
Das Einzige was sie wusste war, dass sie nach Nordamerika musste, weil sie meinte, dass ihr Vater mal etwas von Indianern erzählt hätte, die dort leben sollten. Doch was sollte sie dann tun und vorallem, wie sollte sie da hinkommen?
„Was hast du denn?“, fragte Jenny auf einmal „So hast du dich noch nie benommen.“
„Was? Ich hab nichts!“, sagte Lee schnell.
Jenny wurde misstrauisch. Auf jeden Fall wollte Lee vermeiden, dass irgendjemand mitbekam, was sie vorhatte.
„Ich weiß, dass du was hast!“, beharrte Jenny. Lee schwieg und beschränkte sich darauf, die Stangen am Geländer anzustarren, an dem sie standen. Fragend sah ihre Freundin sie an.
„Jenny! Das ist schwer zu erklären. Ich weiß nicht ob…“ Lee verstummte.
„Ob was? Ob du mir vertrauen kannst?“, fragte Jenny wütend „Was ist los mit dir?“
Das Mädchen seufzte.
„Du musst mir versprechen, dass du es niemandem erzählst!“, sagte sie eindringlich.
Jenny nickte verwirrt.
Lee zog ihre beste Freundin hinter eine Ecke und schaute sich suchend um. Als sie niemanden erblickte, fing sie an. Sie erzählte ihr alles, außer von ihren Träumen mit Lui und dem Bären. Als sie geendet hatte sah Jenny entsetzt aus.
„Wie willst du die Indianer denn finden? Nordamerika ist riesig!“
Lee schwieg für einen kurzen Moment.
„Ich weiß es nicht!“, murmelte sie.
„Wie kann man nur so waghalsig sein! Lee, du kommst nicht übers Meer, noch nicht mal bis in irgendein Flugzeug oder auf irgendein Schiff oder sowas! Und selbst wenn...was hast du dann vor? Willst du ganz Amerika nach deinem Vater absuchen!“ Sie verstellte ihre Stimme und äffte Lee nach: „Mein Vater ist von Indianern entführt worden, hätten Sie vielleicht eine Idee, wo er sein könnte? Denkst du das kauft dir jemand ab, der auch nur halbwegs bei klarem Verstand ist?“
„Ich weiß es nicht, Jenny!“, rief Lee wütend. „Ich weiß nur, dass ich etwas tun muss! Irgendetwas!“
Jenny zog eine Augenbraue hoch.
„Der weiße Wolf aus meinem Traum, wird mich zu ihm führen, da bin ich mir ganz sicher.“
„Verzeihen Sie, mein Herr! Ich suche nach einem weißen Wolf, der mich zu meinem Vater führen wird. Hätten sie eine Idee, wo ich suchen könnte?“, äffte Jenny mit viel zu hoher Stimme nach.
„Also, Jenny! Jetzt mal ehrlich! So rede ich nicht!“, sagte Lee beleidigt.
„Lee! Sieh es ein! Du kannst nichts tun!“
„Aber…Ich kann doch nicht einfach nur dasitzen. Wenn irgendjemand verschwunden wäre, der dir sehr viel bedeutet und du weißt, dass er noch lebt. Was würdest du dann tun?“, hilfesuchend sah sie ihre Freundin an.
Jennys Gesicht war ausdruckslos. „Den weißen Wolf aufsuchen und mit ihm durch die Stadt preschen, vielleicht ein paar Leute erschrecken und diesen Menschen dann irgendwo in der Stadt treffen!“
„Das ist nicht witzig!“, keifte Lee sie an.
Jenny verdrehte die Augen. „Und wie willst du nach Nordamerika gelangen? Willst du schwimmen?“
„Natürlich nicht!“, flüsterte Lee. Soeben war ihr der rettende Einfall gekommen. „Ich werde fliegen!“
„Ach, Leelay! Komm mal wieder in die Realtität zurück, du kannst nicht fliegen!“, sagte ihre Freundin abfällig.
„Nein, Jenny!“, sagte Lee freudig. „Ich schleiche mich in ein Flugzeug!“





Jenny sah sie an, als wäre sie jetzt völlig verrückt geworden.
„Geht’s dir nicht gut?“, fragte sie entsetzt.
„Wie soll ich sonst nach Nordamerika kommen?“
„Ich weiß nicht, aber du kannst dich nicht in irgendein Flugzeug einschleichen, das ist alles viel zu gut überwacht!“
„Ich finde schon einen Weg.“
„Du hast doch keine Ahnung, was alles passieren könnte!“
„Und du schon?“, feuerte Lee zurück.
Jenny schluckte. Dann schien in ihr ein erbitterter Kampf abzulaufen.
Eine Wahl zwischen Familie und Freundschaft. Suchend schaute sie sich um, als ob sie irgendetwas finden könnte, was ihr helfen würde. Flehend sah sie an die Decke. Sie ließ den Kopf wieder sinken und sah Lee fest an.
„Ich komme mit!“
„Das habe ich nicht von dir erwartet!“, sagte Lee „Du musst nicht mitkommen.“
„Ich kann dich aber nicht alleine gehen lassen. Dir könnte was passieren. Dann wärst du in Nordamerika! Irgendwo im Nirgendwo!“
„Ich will nicht, dass du mitkommst!“
„Es ist mir egal, was du sagst!“, rief Jenny. „Du würdest auch mitkommen wollen, wenn ich abhaue!“
„Was?“, fragte eine Jungenstimme irritiert. „Ihr wollt abhauen?“
„Nicht so laut!“, wisperte Lee und drehte sich zu dem Jungen um, der sie verblüfft anstarrte. Es war Jan. „Du wirst uns eh nicht daran hindern können!“, zischte sie, wütend darüber, dass er sie belauscht hatte.
Jan sah sie verdutzt an.
„Spinnt ihr?“ Lui trat neben Jan. „Wieso wollt ihr denn von hier weg?“
„Ich muss das machen“, erwiderte Lee abweisend, doch innerlich versuchte sie sich seine Stimme so gut es ging einzuprägen.
„Und ich werde bei ihr sein“, sagte Jenny und griff nach Lees Hand.
Dankbar lächelte das Mädchen sie an.
Jans Augen weiteten sich. „Lasst es bleiben. Das ist doch verrückt.“
„Du verstehst das nicht. Ich muss das tun“, sagte Lee noch mal.
„Lass es bleiben!“, sagte nun auch Lui. „Es bringt nichts, wenn euch die Polizei wieder einfängt!“
Lee atmete tief durch. „Ich muss das tun!“, sagte sie nun zum dritten Mal.
„Nein, musst du nicht!“, sagte Lui.
„Du hast keine Ahnung!“, fuhr sie ihn an. Sie wollte sich umdrehen und weggehen, doch er hielt sie am Ärmel fest.
„Lee! Wenn du gehst, dann hetze ich euch die Polizei auf den Hals!“ Seine Augen waren ausdruckslos und starrten sie an. Doch plötzlich veränderte sich etwas in seinem Blick. Er schien verzweifelt, doch es war nur für einen kurzen Moment. So kurz, dass Lee meinte sie hätte es sich nur eingebildet.
Wütend riss sich das Mädchen los und lief mit Jenny davon.


Kapitel 6: Die Abreise!

„Wenn Jenny nicht bald kommt, gehe ich ohne sie los!“, murrte Lee. Es war schon schwer genug ihre Mutter zurückzulassen. Plötzlich tauchte an der Straßenecke eine kleine Gestalt auf.
„Na, endlich!“, flüsterte das Mädchen ungeduldig. Sie rannte Jenny entgegen. „Ich dachte schon du kommst überhaupt nicht mehr!“, flüsterte Lee.
„Ich lass dich doch nicht hängen!“, raunte Jenny. Dankbar lächelte Lee ihre Freundin an.
„Wir gehen zum Bahnhof und fahren zu Onkel Bob, nicht wahr?“, fragte Jenny.
Lee nickte. Ihr Onkel lebte direkt neben dem Flughafen und besitzte sogar selbst ein kleines Flugzeug mit vier Sitzen.
„Ich habe extra Geld für mich mitgenommen“, sagte Jenny.
„Gut, denn ich habe viel zu viel dabei!“, lachte Lee. „Lass uns gehen!“
In dem Moment als sie sich in Bewegung setzten, war ein unheimliches Knacken zu hören. Lee und Jenny fuhren herum.
„Warst du das?“, fragte Jenny zitternd. Sie schien sich alle Mühe zu geben, ihre Angst zu verbergen.
Lee schüttelte den Kopf, dann sagte sie leise: „Wir sind nicht allein.“
Sie nahm all ihren Mut zusammen. „Kommt raus!“, rief sie so laut, dass immerhin keiner von den Nachbarn geweckt wurde.
„Ihr Feiglinge!“, rief nun auch Jenny.
Nichts geschah. Sie wandten sich schon zum Gehen, als zwei Gestalten vor die beiden Mädchen traten.
„Ihr?“, rief Jenny ungläubig aus.
Jan und Lui standen mit Rucksäcken und Verpflegung vor ihnen.
„Was wollt ihr denn hier?“, fragte Lee entsetzt.
„Wir kommen mit!“, sagte Jan.
„Woher wusstet ihr, wann wir uns treffen?“, wisperte Jenny und sah sich panisch um.
„Wir haben es in der Schule zufällig mitangehört“, sagte Lui mit einem schiefen Grinsen „und wenn du uns jetzt nicht mitnimmst, dann schreie ich!“
„Nein!“, rief Lee aus. Schnell schlug sie sich die Hand auf den Mund. „Nicht Schreien! Bitte!“





Das Rattern des Zuges war das einzige Geräusch. Nichts bewegte sich. Sie waren fast die einzigen in ihrem Wagon. Nur ein Mann, der am PC spielte war noch bei ihnen.
Lee sah sich um. Sie saß am Fenster, neben ihr saß Jenny.
Ihre beste Freundin starrte ins Leere und zitterte. Sie war kein Angsthase, aber bestimmt fragte sie sich ob sie das Richtige tat.
Ihre Eltern waren immer in Sorge um sie und auch wenn sie das nervte, liebte sie sie.
Lee konnte sie gut verstehen. Lees Mutter war, als ihr Vater noch nicht verschwunden war, vertrauenswürdig und spaßig gewesen. Jasmin hatte ihrer Tochter vertraut, wie sonst niemandem. Aber seid ihr Vater verschwunden war, war sie so zerbrechlich wie Glas und so reizbar wie ein aufgescheuchter Keiler.
Neben Jenny schlief Jan. Er hatte bestimmt nicht solche Probleme, seine Eltern waren hart im Nehmen. Früher hatte sein Vater jede Nacht getrunken und wenn er nach Hause kam, stritt er sich oft mit seiner Frau. Jan hatte diese Streitereien meistens miterlebt. Nun hatte sein Vater mit dem Trinken aufgehört, doch seine Eltern stritten sich noch immer. Er war bestimmt froh von dort weg zu kommen.
Und Lui?
Er schaute auf den Gang hinaus. Ihm ging es fast genauso wie Lee, nur dass sein Vater noch da war. Sie waren eine große glückliche Familie, und Lee hatte sich zwischen ihn und seine Familie gestellt. Sie hatte tiefe Schuldgefühle, besonders deswegen, weil sie ihm erlaubt hatte mitzukommen. Er hatte es bestimmt am schlimmsten von allen.
„Wann sind wir da?“, fragte Jan, der aufgewacht war und sich verschlafen die Augen rieb. Lee schaute prüfend auf ihre Armbanduhr.
„In einer halben Stunde“, sagte sie.
„Ein Glück“, stöhnte Lui und auch die anderen seufzten erleichtert.
„Wohnt dein Onkel weit weg vom Bahnhof?“, fragte Jenny.
„Ungefähr eine Viertelstunde zu Fuß“, antwortete Lee.
„Lass uns doch ein Taxi nehmen“, sagte Jan.
„Gute Idee“, sagte Lee „Hat einer ein Handy dabei?“
Die Kinder schüttelten den Kopf. „Das kann man doch orten“, sagte Jenny.
„Und wie sollen wir dann ein Taxi rufen? Dort in der Nähe gibt es keine Telefonzelle.“
Jenny seufzte und lehnte sich in ihren Stuhl. Stöhnend ließ sich Jan in den Sitz zurücksinken.





Es war stockdunkel als sie endlich aus dem Zug stiegen. Doch Lee kannte sich hier gut aus. Die Kinder waren total erschöpft und schwiegen den ganzen Weg über.
Endlich sagte Lee den befreienden Satz: „Wir sind da.“
Sie standen vor einem kleinen Haus, welches nahe an einem Flughafen lag. Man konnte von hier aus die Flugzeuge starten hören.
Hinter dem Haus erstreckte sich anstatt dem Garten eine riesige Landebahn mit einer monströsen Garage.
„In was für ein Flugzeug schleichen wir uns ein?“, wisperte Lui.
Lee schwieg.
„Hallo? Erde an Lee!“, sagte Jan genervt.
„Lass mich mal nachdenken!“, fuhr das Mädchen ihn an.
Jenny stöhnte. „Würde es dir etwas ausmachen, laut zu denken? Ich will wissen, was in dir vorgeht!“
„Ich überlege nur gerade, ob wir nicht das Flugzeug von meinem Onkel nehmen können.“
Jenny, Jan und Lui starrten sie fassungslos an.
„Bist du noch ganz dicht?“, fragte Jan. „Wie willst du das Ding denn in die Luft kriegen?“
„Da werde ich mich ganz sicher nicht reinsetzen“, sagte Jenny abwehrend. „Du bist zwölf Lee! Willst du etwa ganz allein ein Flugzeug fliegen?“
„In ein normales Flugzeug kommen wir nie rein! Das ist alles viel zu gut überwacht! Bobs Flugzeug ist die einzige Möglichkeit!“ Lee sah ihre Freunde durchdringend an. „Ich habe so ein Teil schonmal geflogen. Ich durfte es immer lenken und einmal sogar abheben. Nur landen durfte ich noch nicht.“
„Verständlich!“, erwiderte Lui.
„Das Flugzeug hat einen Autopiloten. Ich müsste noch nicht mal viel machen“, versuchte Lee es weiter. „Das ist die einfachste Möglichkeit!“
„Und die Verrückteste!“, sagte Jan abfällig.
„Vielleicht fällt unserem Obermacker ja etwas Besseres ein!“, fauchte Lee wütend.
„Vielleicht könnte die Zimtzicke mal vernünftige Vorschläge machen!“, giftete Jan zurück.
„Vielleicht könntet ihr mal damit aufhören“, sagte Lui genervt. „Wir machen es so, wie Lee es gesagt hat.“
„Was?“, riefen Jan und Jenny gleichzeitig aus.
„Wenn es stimmt, das es so einfach ist dieses kleine Ding zu fliegen, dann ist das bestimmt besser als sich irgendwie irgendwo einzuschleichen.“
Lee lächelte ihn dankbar an. „Wir müssen uns jetzt vertrauen! Ab hier, müssen die, die nicht mitkommen wollen, umkehren!“
Jenny sah kurz zur Seite. „Ich bleibe!“, sagte sie gereizt.
Jan seufzte ergeben. „Ich auch.“
Lee grinste, dann sah sie Jan schuldbewusst an. „Tut mir leid, dass ich dich Obermacker gennant habe!“
„Schon okay! Aber, dass ich dich Zimtzicke genannt habe war nicht okay. Das bist du nämlich nicht.“
Lee lächelte ihn an und nickte dankbar.
„Wir werden eine Nacht bei Onkel Bob verbringen.“
„Was, wenn er deine Mutter anruft?“, gab Jenny zu bedenken.
„Keine Sorge, um die Zeit traut der sich das nicht mehr!“, grinste Lee.
Sie drückte auf die Klingel.
Nichts!
Sie drückte erneut. Plötzlich wurde im ersten Stockwerk ein Fenster aufgestoßen.
Ein großer dunkelhaariger Mann, etwa Anfang dreißig, schob seinen Kopf heraus und sah die Kinder verschlafen an.
„Wer seid ihr? Was wollt ihr hier?“, fragte er etwas verwirrt.
„ Bob!“, rief Lee zu ihm herauf „Ich bin es!“
„Lee?“, fragte Onkel Bob.
„Ja, und drei meiner Freunde.“
„Was macht ihr denn hier?“
„Onkel Bob, Willst du uns nicht hereinlassen?“, fragte das Mädchen, das die Frage ignoriert hatte.
„In Ordnung, aber dann erzählst du mir was los ist!“ Er schloss das Fenster und man hörte wie er die Treppe herunter polterte. Kurz darauf schwang die Tür auf und ein groß gewachsener Mann mit hellblauen Augen stand vor ihnen. Lee drängte sich an ihm vorbei und schritt ins Haus.
„Lee! Was - ?“, fing Onkel Bob an, doch er wurde von ihr unterbrochen.
„Onkel Bob, bitte, wir sind müde! Kann ich es dir morgen erzählen?“, fragte Lee.
„Lee! Weiß deine Mutter, dass ihr hier seid?“
„Ja, sie weiß bescheid!“, beruhigte ihn Lee. Notlügen waren ja wohl erlaubt!
„Und warum weiß ich nichts davon?“, fragte Bob sichtlich verwirrt. „Es ist schließlich Mitternacht!“
„Kann ich es dir genau deswegen, bitte, morgen erklären?“, fragte Lee.
Onkel Bob murrte zwar, doch dann willigte er ein. „Geht ins Gästezimmer, dort stehen zwei Betten. Aber denkt bloß nicht, dass ich euch die Matratzen hoch schleppe. Du weißt ja wo sie sind, Lee.“
Zufrieden grinste das Mädchen.
„Kein Unfug! Ja, Kleine?“ Onkel Bob zwickte ihr in die Nase.
„Versprochen!“, sagte Lee. Beruhigt lief Onkel Bob die Treppe wieder hoch.
„Jedenfalls noch nicht heute Nacht“, murmelte das Mädchen. „Kommt mit! Ich zeige euch das Zimmer!“
Jenny kicherte. „Ich mag deinen Onkel.“
„Ich auch. Ich hasse es, ihn anlügen zu müssen!“, sagte Lee angewidert.
Sie durchquerten den ungefähr fünf Meter langen Flur, bis Lee an einer Tür rechts von ihr stehen blieb. Das Mädchen stieß die Tür auf und die vier Kinder erblickten einen großen Raum mit blau gestrichenen Wänden. An der gegenüberliegenden Wand standen zwei Betten mit bezogenen Bettlaken, Decken und Kissen. Ein kleiner Tisch stand in der linken Ecke des Zimmers. An der Wand über den Betten war ein Fenster, welches den Blick auf eine große Tanne fallen ließ.
„Ihr könnt ruhig in den Betten schlafen!“, sagte Lui müde. „Ich werde die Matratzen holen, wenn du mir erklärst wo sie sind, Lee!“
Das Mädchen nickte, dann stutzte sie. „Habt ihr eigentlich Schlafsäcke dabei?“
Die drei Kinder nickten.
„Gut!“, lächelte Lee.
Schnell erklärte sie Lui, wo die Matratzen waren und richtete sich eines der Betten.


Kapitel 7: Sylvia

Lee schrak hoch. Warum war sie aufgewacht? Sie wusste es nicht. Ihr war nur schlagartig klar, dass sie jetzt sofort los mussten, bevor Onkel Bob aufwachte. Und ihr Vater womöglich doch noch starb. Sie durfte keine Pause machen, sie musste sofort zu ihm.
Wie der Blitz schoss sie aus dem Bett hoch. Sie sah auf ihre Armbanduhr. Es war schon halb acht.
Sofort taumelte das Mädchen durch das Zimmer und schaltete das Licht an.
Als sie die anderen geweckt hatte und sie still und leise aus dem Haus gegangen waren, war auch der letzte verschlafene Ausdruck auf ihren Gesichtern verschwunden.
Der Wind spielte mit Lees Haaren und das Mädchen blieb für einen kurzen Moment stehen und genoss den Duft der Bäume, den der Wind von einem kleinen Wäldchen hinüber trug. Dann eilte sie weiter.
„Wo steht das Flugzeug?“, fragte Lui leise.
„In der Garage“, erwiderte Lee. Die Freunde fingen an zu rennen bis sie die Garage erreicht hatten.
„Helft mal!“, sagte Lee, die an dem Tor zog, und zusammen schafften sie es, das Tor zu öffnen. Und dort stand es. Das kleine Passagierflugzeug für fünf Leute. Drei hinten und zwei vorne. Verträumt strich Lee über die blaue Schrift auf dem weißen Untergrund.
„Sylvia!“, sagte sie.
„Was?“, fragte Jan verwirrt. Ihre Freunde traten staunend an das Flugzeug heran.
„Das Flugzeug“, sagte Lee bekümmert „Bob hat es nach seiner toten Frau benannt: Sylvia!“
„Warum ist sie gestorben?“, fragte Lui mitfühlend.
„Lungenkrebs!“, sagte Lee kurz angebunden. Es war sehr schlimm gewesen und Lee würde sich ihr ganzes Leben lang daran erinnern können.
Bei einem Familientreffen, Lee war sechs Jahre alt gewesen, da war Sylvia auf einmal zusammengebrochen, hatte Blut gespuckt und nach Luft gekeucht. Ihre Augen waren hervor gequollen und ihr Blick hatte den einer Irren angenommen. Ihr Vater und Bob hatten sie schnell ins Schlafzimmer getragen, während Lee mit Jasmin im Wohnzimmer blieb. Nach ein paar Minuten war der Krankenwagen da und untersuchte Sylvia. Etwa eine halbe Stunde später war Jack ins Wohnzimmer gekommen und hatte traurig den Kopf geschüttelt. Lees Mutter hatte die Hand vor den Mund geschlagen und entsetzt aufgeschrieen. Im Nebenzimmer hatte Lee Onkel Bob weinen gehört.
„Was ist passiert?“, hatte Lee gefragt.
„Sie tragen jetzt die Leiche raus. Lass Lee das nicht sehen“, hatte ihr Vater gemeint. Lee hatte nicht verstanden was passiert war, sie hatte auch nicht gewusst was „Leiche“ bedeutete.
An all das erinnerte sie sich in diesem einen Moment. Es war als ob es alles noch einmal passieren würde.
Schließlich sah sie auf und bemerkte, dass ihre Freunde sie besorgt ansahen.
Plötzlich begriff sie, dass sie darauf warteten, dass Lee ihnen sagte, was sie tun sollten.
Das Mädchen schluckte einmal schwer, dann riss sie sich zusammen.
„Am anderen Ende der Garage ist noch ein Tor. Dahinter liegt die Landebahn“, sagte sie „Könnt ihr es aufmachen? Ich fahre dann durch.“
„Also gut“, erwiderte Jan. „Kommt!“
Er wandte sich an Lui und Jenny und lief mit ihnen zum Tor. Geschickt kletterte Lee in das Flugzeug. Für andere Flugzeuge brauchte man einen Schlüssel um den Motor zu starten, aber für Sylvia gab es ein Kennwort den man an der Tür eingab, wie an einem Computer, und den kannte Lee. Sie setzte sich auf den Sitz und fing an den Code einzutippen: Sylvia12503
Sie machte die Tür auf und schwang sich auf den Sitz. Das Mädchen drückte einen Knopf und schon startete der Motor. Sofort griff Lee nach dem Lenkrad. Langsam rollte sie durch das geöffnete Tor auf die Landebahn hinaus. Noch nie hatte sie das wirklich ganz alleine gemacht. Immer war Onkel Bob dabei gewesen und hatte auf der anderen Seite, an der noch ein Lenkrad war gesessen.
„Jetzt könnt ihr das Tor wieder zu machen!“, rief sie den Anderen leise zu. Als das Tor wieder geschlossen wurde, zeigte sie Jenny, Jan und Lui, wie sie am besten in das Flugzeug einstiegen. Jenny stieg als letzte ein, doch gerade als sie den Fuß auf den Flügel gestellt hatte, wurde sie von hinten gepackt und weggerissen.


Kapitel 8: Der Adler!

Die Gestalt stand im Schatten der Garage, sodass Lee sie nicht erkennen konnte.
Die Silhouette machte einen Schritt vor und Lee erkannte Onkel Bob. Vorwurfsvoll sah er ihr direkt in die Augen.
Vor Schreck ließ das Mädchen Sylvia losrollen. Und schon hatte sich ein Gedanke in sie festgekrallt und ließ sie nicht wieder los.
„Was machst du da?“, fragte Jan panisch „Willst du sie dort zurücklassen?“
Doch Lee hörte nicht hin. Sie hatte eine Idee, auch wenn diese Idee ihr Herz zerriss.
Aber konnte sie das tun?
Es gab keine andere Möglichkeit, denn wenn sie jetzt umdrehte würde sie Onkel Bob erwischen und sie würde nie nach Nordamerika gelangen. Niemals!
Sie sah in den Rückspiegel, während das Flugzeug immer schneller wurde.
Jenny wand sich trat und biss um sich, doch es hatte keinen Zweck. Onkel Bob hielt sie zu fest.
„Vorsicht!“, schrie Lui.
Sie waren am Ende der Landebahn angelangt und rasten mit voller Geschwindigkeit darauf zu. Mit all ihrer Kraft riss Lee das Lenkrad nach oben. Das Flugzeug reagierte sofort und hob ab.
„Es tut mir leid Jenny!“, flüsterte sie, dann lenkte sie das Flugzeug nach Westen.
Richtung Nordamerika.





Jenny biss, kratzte und trat, doch sie kam einfach nicht los.
„Lass mich los!“, schrie Jenny.
„Nein!“, sagte Onkel Bob.
„Bitte, lass mich los!“, bettelte das Mädchen. Ihre blauen Augen füllten sich mit Tränen.
„Tut mir leid Jenny. Das geht nicht, das weißt du!“
Jenny zappelte. Sie wollte Onkel Bob nicht wehtun. Plötzlich fing das Flugzeug an zu rollen und hob ab.
„Was macht sie denn?“, fragte Jenny verzweifelt. Sie lässt mich hier zurück! Sie lässt mich hier tatsächlich zurück.
„Nein! Nein!“, sagte Jenny leise. Plötzlich begriff sie, dass Lee nicht zurückkommen würde. Und vor lauter Enttäuschung schrie sie aus Leibeskräften: „Lee! Nein! Lass mich nicht allein! Komm zurück! Bleib hier!“
Ihr Schreien verwandelte sich in ein schluchzendes Weinen. „Nein, Lee! Nein, bitte nicht!“
„Jenny, es tut mir leid, aber ich rufe jetzt die Polizei“, sagte Onkel Bob und zog sie mit sich.
„Nein! Nein!“, Jenny schrie so laut, dass sogar ihr die Ohren dröhnten. „Nein!“
Plötzlich zischte ein Vogel herab und hieb auf Onkel Bobs Kopf mit der flachen Seite des Schnabels ein. Ohnmächtig fiel er zu Boden.
Wie der Blitz rannte Jenny dem Flugzeug hinterher.
Warum auch immer ihr dieses riesige Vieh geholfen hatte, das würde sie wann anders herausfinden müssen.
Der Vogel kreiste einen Moment über ihr und stieß dann ganz plötzlich mit ausgefahrenen Krallen zu ihr herab. Und plötzlich begriff Jenny.
Das Vieh war nicht hier, um ihr zu helfen.





„Lee! Flieg zurück!“, schrie Jan „Wir müssen sie holen! Du kannst sie nicht zurücklassen.“
Lee rannen Tränen übers Gesicht.
Nein, sie konnte Jenny nicht zurücklassen. Sie sollte umdrehen. Aber wenn sie umdrehte, würde sie ihren Vater vielleicht nie mehr wieder sehen, außer in ihren Träumen.
Ihr Blick wanderte durch das Flugzeug und blieb an einer Strickleiter hängen. Da kam ihr eine Idee. Oh nein, ich werde meine Freundin nicht im Stich lassen.
Sie riss das Lenkrad herum. Das Flugzeug wendete.
Lee sah Jenny auf sie zu rennen, doch da war irgendetwas, das genau über ihr durch die Luft flog. Sie kniff die Augen zusammen und erkannte einen Adler. Ein riesiger Vogel mit einem weißen Kopf und braunem Gefieder. Das Tier stürzte herunter und krallte sich in Jennys Haare.
„Lui! Mach die Strickleiter an der Tür fest“, rief Lee schnell. Sie wusste nicht, warum sich ihre Stimme so ruhig anhörte. Sie wusste nur, dass sie innerlich fast starb, solche Angst hatte sie.
Sofort machten Lui und Jan sich daran die Strickleiter an der Tür zu befestigen.
Jenny schrie auf. Ihr Schrei hallte durch die Nachbarschaft!
Das müssen viele Leute gehört haben, wer weiß wann sie kommen!
„Macht die Tür auf!“, befahl Lee, ohne den Blick von Jenny zu wenden.
Jenny hatte es geschafft sich vom Adler zu befreien und rannte auf das Flugzeug zu. Doch der Adler stürzte erneut herunter und fuhr Jenny mit seinen Krallen in den Rücken.
Lee schrie auf, doch Jenny litt viel mehr.
Lui und Jan schwiegen geschockt, sahen jedoch ängstlich auf den Adler, der Jenny umgeschmissen hatte. Blutend lag sie auf der Landebahn und rührte sich nicht, während der Adler wieder nach oben flog und über ihr kreiste. Sie waren noch gute fünfhundert Meter voneinander entfernt.
Lee versuchte verzweifelt sich in das Tier hinein zu versetzen, damit sie seine nächste Attacke mitkriegen würde. Mit aller Kraft konzentrierte sie sich auf seine Gedanken. Es war als würde sie auf eine unsichtbare Mauer stürzen. Immer wieder versuchte sie eine Schwachstelle zu finden. Plötzlich bemerkte sie eine und rannte mit aller Kraft dagegen an. Es fühlte sich an, als ob sie durch einen Wackelpudding lief, plötzlich…





…hatte sie Flügel. Ihre Augen sahen auf ein Mädchen hinab. „Töte sie!“, hörte sie eine Stimme in ihrem Kopf. Alles sträubte sich in ihr. Sie wollte nicht dort hinunter fliegen. Das war gegen ihre Natur.Doch diese andere mächtige Seele hatte ihre verdrängt und steuerte nun ihren Körper. Sie konnte sich nicht dagegen wehren.
Alles an ihr verkrampfte sich und sie machte sich auf einen Sturzflug gefasst. Gleich, im richtigen Augenblick, musste sie nach unten schnellen.
„Nein!“, rief Lee. Sie versuchte dieses Wort in das Gehirn, des Adlers zu hämmern. „Nein!“ Es half nichts! Wieder war diese unsichtbare Mauer da, die Lee nicht durchbrechen konnte und diesmal gab es keine Schwachstelle.
Mit aller Kraft rannte sie immer wieder dagegen an. „Nein!“, versuchte sie es noch einmal, doch der Adler ignorierte sie und zog die Flügel an, ums ich nach unten zu stürzen.


Kapitel 9: Wer hoch fliegt, wird auch tief fallen!

„Nein!“, schrie Lee auf.
„Was ist?“, fragte Lui erschrocken.
„Der Adler, er wird jeden Moment wieder herunterstürzen!“, rief sie, während Jan krachend die Tür öffnete.
Der Wind toste durch die Tür und blies Lee die Haare ins Gesicht. Erst jetzt bemerkte sie, dass er einen Gegenstand in der Hand hatte. Kraftvoll holte der Junge aus und warf es dem Adler entgegen.
Als sie es fliegen sah, bemerkte Lee, dass es eine kleine Box war. Klein und schwarz. Irgendwie kam ihr diese Box bekannt vor, aber sie wusste nicht woher.
Der Wurf verfehlte seine Wirkung nicht und traf den Adler mitten ins Gesicht, dieser konnte das Gleichgewicht nicht mehr halten und stürzte in die Tiefe, doch kurz vor dem Aufprall breitete er die Flügel aus und flog wieder nach oben.
Hektisch sah sich Jan um. Er suchte wohl wieder etwas, was er nach dem Alder schmeißen könnte. Fluchend warf er ein paar Wolldecken von einer Truhe.
Auf einmal kam Lee eine Idee. „Jan, in der Truhe sind Fallschirme!“, rief sie gegen den Wind, der wütend durch die Tür brauste.
Blitzschnell hatte Jan die Truhe geöffnet, in der sich über zehn Fallschirme befanden. Er griff sich einen, zog ihn an und stand in der offenen Tür. Ängstlich schaute er auf den 30 Meter tiefen Grund. Er hatte sofort verstanden was Lee vorhatte, doch er hatte Angst. Trotzdem hatte er es wirklich fest vor.
„Du musst hier dran ziehen“, sagte Lee schnell und zeigte ihm eine Schnur. „Und mach die Augen zu, während du fällst! Sonst fangen sie an zu tränen!“ Jan atmete tief durch, schloss die Augen und sprang…





Sofort stellte sich das Gefühl des freien Fallens ein. Und es kribbelte in der Bauchgegend.
Er öffnete die Augen und bemerkte sofort, warum Lee ihn davon abhalten wollte. Obwohl die Tränen schon über seine Wangen liefen, konnte er Jenny, die immer noch blutend auf der Landebahn lag, erkennen.
Der Wind pfiff ihm ins Gesicht und Jan wirbelte für einen Moment ziellos durch die Luft.
Wo ist der Adler?
Er war jetzt nur noch zehn Meter hoch, schnell zog er an der Schnur. Nach ein paar Sekunden hatte er wieder festen Boden unter den Füßen. Seine Beine waren zittrig und er hatte Mühe zu stehen, doch er riss sich zusammen. Schnell schnallte er den Fallschirm ab und rannte so schnell er konnte zu Jenny. Bewegungslos lag sie da. Schnell legte er einen ihrer Arme um seine Schultern.
„Jenny! Ich hol uns hier raus!“, versprach er leise. Auf einmal traf ihn von hinten ein stechender Schmerz und er spürte wie ihm spitze Krallen den Rücken aufschlitzten und das warme Blut seine Haut herunter lief.
Der Adler! Trotz der Schmerzen richtete er sich auf und lief in Richtung Flugzeug.
Wieder trafen ihn die Krallen von hinten. Wie gerne wäre Jan jetzt zusammengebrochen und liegen geblieben, doch das ging nicht, er musste Jenny zurückbringen.
Also lief er weiter ohne auf die Schmerzen zu achten. Jetzt sah er das Flugzeug und auch die Strickleiter die hinuntergelassen wurde. Er lief schneller. Als er näher kam, bemerkte er, dass zwei Gurte, die eigentlich zu den Fallschirmen gehörten, an der Strickleiter befestigt waren. Sofort begriff er den Plan. So schnell er konnte, lief er, mit dem Gewicht von Jenny auf den Schultern, zu der Strickleiter.
Er schnallte sie in den Gurt und dann sich selbst, dennoch hielt er sie fest.
Plötzlich krallte sich der Adler in seinen roten Pullover. Er schrie auf und schlug um sich, jetzt hatte er genug Willen, um sich zu verteidigen.
Jans harte Faust traf die weiche, gefiederte Brust des Adlers, doch dieser ignorierte seine Schläge und krallte sich weiter in seinen Pullover bis Jan wieder fühlte wie ihm die Krallen ins Fleisch schnitten.
Er schlug so wild um sich, dass der Adler schließlich von ihm abließ und wieder nach oben schoss.
„Lee! Lui!“, schrie Jan so laut er konnte „Zieht uns rauf!“ Endlich bewegte sich etwas über ihnen und er merkte, dass das Flugzeug an Höhe gewannen.
Nun zog jemand an der Strickleiter.
„Keine Angst!“, rief Lui von oben „Ich zieh euch hoch!“
„Pass auf!“, rief Jan „Der Adler!“
Erschrocken fuhr Lui herum. Der Adler schoss auf ihn zu und er konnte sich gerade noch rechtzeitig ducken, bevor ihn der spitze Schnabel am Kopf getroffen hätte.
„Lui! Tu was!“, brüllte Jan panisch, da der Adler schon wieder auf Jenny zuschoss.
„Fang das!“ Lui beugtre sich vor und warf etwas zu ihm herunter. Jan war es vollkommen egal, was er fangen sollte, wenn es nur ein fester Gegenstand war mit dem er auf den Adler einschlagen konnte. Er fing es und stutzte. Der Gegenstand war weich. Weich wie Baumwolle. Es war ein lilafarbenes Tuch.
Was sollte er denn mit einem Tuch anfangen?
Ein Tuch würde dem Adler kaum Schaden zufügen. Doch plötzlich begriff er, was Lui damit meinte.
Ohne zu zögern schleuderte er das Tuch über den Adler, der sich gerade wieder auf Jennys Haaren niedergelassen hatte.
Kreischend hielt der Adler inne und Jan nutzte die Gelegenheit um ihn von Jennys Kopf zu stoßen. Der Adler verfing sich in dem Tuch, fiel zappelnd und kreischend immer tiefer und verstummte schließlich, als er auf den Boden aufkam und ein widerliches Knacken zu hören war. Die Wirbelsäule war gebrochen.
Der Adler war tot!
Lui hatte sie nun fast ganz hochgezogen. Und nach ein paar Sekunden waren er und Jenny endlich oben im Flugzeug und lagen keuchend auf dem harten Boden.
„Jenny!“, rief Lee und lief zu ihnen.
„Musst du nicht am Steuer sitzen?“, fragte Jan atemlos.
„Autopilot“, sagte Lui außer Atem, denn Lee hatte sich neben Jenny gesetzt und untersuchte stirnrunzelnd ihre Wunden. Als sie endlich erleichtert festgestellt hatte, dass Jenny noch atmete, verband sie die Wunden mit Verbänden aus einem Verbandskasten, der in der Ecke lag. Sie wog verschiedene Salben ihr ihrer Hand ab und überlegte, welches wohl gegen Schmerzen war. Sie seufzte. „Ich könnte ihr ebenso gut auch noch irgendein Gift verabreichen. Ich weiß einfach nicht, wofür was ist!“
Schließlich rollte sie Jenny vorsichtig auf eine Decke und richtete sie auf. Schnell nahm sie eine Desinfektionssalbe und tupfte sie auf die Wunden, danach verband sie die Verletzungen vorsichtig.
Danach begutachtete sie Jan, der immer noch keuchte und sich noch nicht einmal aufgesetzt hatte.
„Jan?“, fragte sie zögernd „Hast du…Hast du ihn getötet.“ Sie sprach so leise, dass er sie kaum verstand.
„Ja!“, sagte er gepresst.
Lee atmete tief durch. „Was hatte das arme Tier nur?“, fragte sie murmelnd.
„Ich weiß auch nicht“, sagte Lui „Aber habt ihr ihn kommen sehen?“
„Nein!“, sagte Lee.
Jan hörte dem Gespräch nur mit halbem Ohr zu. Er zitterte am ganzen Leib und konnte alles nur noch verschwommen erkennen. Schließlich dauerte es keine weitere Sekunde, da verlor auch er das Bewusstsein.


Kapitel 10: Der Flug!

Vorsichtig postierten Lee und Lui Jan auf eine Decke.
Danach machte Lee die Flugzeugtür zu, die noch immer offen stand und Lui verband Jans Verletzungen. Drei tiefe Schnitte zogen sich von seinem linken Schulterblatt bis rechts hinunter zu seiner Taille. Diese Narben würde er für immer tragen. Lee setzte sich seufzend auf den Fahrersitz.
„Ich frage mich, ob…“, dachte sie laut.
„Was?“, fragte Lui.
„Mein Vater hat mir von Schamanen erzählt, die ein Tier mit ihrem bloßen Geist beeinflussen können.“
„Wow!“ Er schien ihr nicht wirklich zu zuhören, aber Lee wollte einfach nur jemandem all das erzählen, was ihr schon die ganze Zeit durch den Kopf ging.
„Er sagte, dass er selbst einmal Bekanntschaft mit Indianern gemacht habe, doch das glaubte ich ihm nicht.“ Sie lachte heiser. „Ich wünschte, er würde mir die Geschichte noch mal erzählen.“
„Was hat er erzählt?“, fragte Lui. Nun schien er doch etwas Interesse zu zeigen.
„Mein Vater meinte, dass sehr mächtige Schamanen in ein Tier wandeln könnten. Ihr Körper ist dann sozusagen in Hypnose, weil die Seele der Schamanen, die Seele des Tieres zusehr einschüchtert. Die Seele des Tieres ist so verschreckt, dass sie sich nicht gegen die andere Seele des Schamanen wehren kann. So hat der Schamane das Tier unter Kontrolle.“
„Was ist das eigentlich? Ein Schamane?“, fragte Lui stirnrunzelnd.
„Das ist ein Magier, der bei den Indianern lebt. Er hält alles Böse und Schlimme von dem Stamm fern, also, erzählte mein Vater.“ Sie war stolz darauf, dass sie noch genau wusste, was ihr Vater ihr erzählt hatte.
„Kann ein Schamane zaubern?“
„Ja, sehr gut sogar, und er wird von allen respektiert und gefürchtet.“
„Interessant“, sagte Lui.
Auf einmal fiel Lee etwas auf. „Lui, hast du meinen Kompass gesehen?“, fragte sie stirnrunzelnd.
„Deinen Kompass?“
„Ja! Meinen Kompass. Er lag genau hier!“, sagte sie und deutete auf eine kleine Vorlage an ihrem Sitz. Lui schüttelte den Kopf. „Nein, ich habe keinen Kompass gesehen.“
„Merkwürdig!“, murmelte Lee. „Wohin habe ich ihn dann gelegt?“
Plötzlich kam ihr ein furchtbarer Verdacht.
Jan hatte wahrscheinlich nach dem erstbesten gegriffen, um den Adler zu treffen.
Der Kompass! Jan hatte den Kompass geworfen!
Deswegen war ihr dieser Gegenstand auch so bekannt vorgekommen. Es war ihr Kompass gewesen!
„Oh nein!“, rief sie entsetzt.
„Was ist denn los?“, fragte Lui. Er war gerade dabei gewesen die Strickleiter wieder in die Kiste zu stopfen.
„Jan hat den Kompass geworfen! Er wollte doch Jenny retten.“
„Ist das so schlimm?“, fragte Lui mit seinem schiefen Grinsen.
„Ein Kompass ist immer nützlich, aber jetzt haben wir nun mal keinen“, sagte Lee bitter.





Sie waren schon etliche Stunden unterwegs, als Jan aufwachte und sie an ihr nächstes Problem erinnerte: Essen! Sie fanden Onkel Bobs Verpflegungskiste.
Der Inhalt betrug ein paar Schokoriegel, zwei belegte Brötchen, ein paar Äpfel und dann hatten sie noch die Sachen, die sie selbst in ihren Rucksäcken hatten. Nach zwei weiteren Stunden musste Lee den Tank nachfüllen. Sie war froh, dass das bei Sylvia während dem Flug ging. Sie zeigte Lui, wie man das Flugzeug steuerte. Zufrieden bemerkte sie, dass er sehr schnell lernte. Schließlich wurde sie müde und sagte Lui, er solle sie wecken, wenn irgendwas mit dem Autopiloten nicht stimmen würde. Als sie wieder wach wurde, aß sie etwas und unterhielt sich währenddessen mit den Jungs. Jenny schlief, aber immerhin lebte sie noch.
Irgendwann fragte Lui, wann sie da seien?
„Einen Tag noch, dies ist kein sehr schnelles Flugzeug, leider“, erwiderte Lee.
Nach etwa weiteren drei Stunden machte Lee sie auf etwas aufmerksam: „Jan! Lui! Schaut mal raus! Jetzt kommt das Meer!“ Sofort stürzten die Jungen ans Fenster.
„Jetzt kommt nur noch Wasser!“, stellte Jan beunruhigt fest.
„Ja! Bis wir in Nordamerika sind, kommt nur noch Wasser“, bestätigte das Mädchen und atmete tief durch.
„Du hast Angst“, stellte Lui fest.
Lee sah ihn an und nickte. „Ich habe Angst, was uns erwartet, was kommen wird und was passiert, während wir weg sind. Ich habe Angst, weil ich das Gefühl habe nicht mehr zurück zu kommen!“ Sie fing an zu zittern.
Jan ging zu ihr und legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Du brauchst keine Angst zu haben! Wir kommen bestimmt zurück…mit deinem Vater! Ich bin mir ganz sicher! Jetzt musst du an die Gegenwart denken, nicht an die Zukunft!“
Lee nickte. „Danke!“
Sie flogen einen Tag weiter, bis Lui etwas Schlimmes entdeckte, was ihr Ende bedeuten könnte.


Kapitel 12: Der Sturm!

„Hallo? Könnt ihr uns hören?“, kam eine knisternde Stimme aus dem Lautsprecher.
„Roger! Wir hören klar und deutlich.“, sagte ein Mann in ein kleines Funkgerät und zwirbelte an seinen braunen, schulterlangen Haaren herum.
„Ein fremdes Flugzeug ist ohne Erlaubnis in unser Land eingedrungen.“, sprach die Stimme weiter.
„Wie groß?“, fragte der Mann am Funkgerät und kaute auf seiner Unterlippe.
„Nicht sehr groß. Ein kleines Passagierflugzeug mit fünf Sitzen.“
„Meinen sie es ist gefährlich?“
„Schon möglich! Wir dürfen kein Risiko eingehen. Es könnte eine Falle unserer Gegner sein! Schicken Sie ein paar Leute los die versuchen mit dem fremden Fahrzeug Kontakt aufzunehmen! Verweigern diese den Kontakt so eliminiert es auf der Stelle!“
„Wie viele Personen sitzen im Gefährt?“, fragte der Mann weiter.
„Wir wissen nicht, ob es sich hier um erwachsene Personen handelt. Es sind vier kleine Gestalten ungefähr so groß wie ein zwölfjähriges Kind, jedes von ihnen.“
„Aber, Sir, “, protestierte der Mann „wollen sie auf Kinder schießen?“
„Wie gesagt, es könnte sich um eine Falle handeln, außerdem, glauben Sie wirklich, dass Kinder alleine in einem fliegenden Flugzeug sitzen?“
„Nein, Sir! Sie haben Recht! Wir dürfen kein Risiko eingehen. Ich werde sofort Männer ausschicken, die versuchen werden Kontakt mit dem fremden Flugzeug aufzunehmen.“
„Gut. Aber passen sie auf, eine riesige Sturmwolke nähert sich von Westen.“
„Vielen Dank, Sir. Wir werden wachsam sein! Over!“ Der Mann stellte das Funkgerät neben sich und überlegte ob es eine gute Idee war, was ihm der Kommandant befahl. Doch er hatte keine Wahl, er musste gehorchen.





„Lee!“, rief Lui „Hinter uns!“ Sofort sah Lee in den Rückspiegel. Zwei Militärflugzeuge genau hinter ihnen. Es waren keine Deutschen, denn auf den Türen stand eine Schrift die Lee noch nie gesehen hatte.
„Verdammt!“, entfuhr es ihr. Was hatte das Militär vor?
Sie konnten ja nicht sagen: „Halten sie das Flugzeug an!“ Entweder waren sie hier um per Funk mit ihnen Kontakt aufzunehmen, aber das ging nicht ihr Funkgerät war kaputt, oder… Ach was! Das würden sie nie tun. Das dürften sie gar nicht. Oder dürfen sie es etwa doch? ZISCH! Eine an ihr vorbeischießende Rakete, beantwortete ihre Frage mit „Ja.“ Sie konnte gerade noch rechtzeitig den Autopiloten ausstellen und vor der zweiten ausweichen. Die Jungen waren so verschreckt, dass sie sich nicht rührten und die Flugzeuge mit offenen Mündern anstarrten, doch das konnte sie jetzt überhaupt nicht gebrauchen.
„Jan, geh an das rechte Fenster und halte dort nach Raketen Ausschau. Lui, du bleibst und schaust hier.“, rief sie ihnen zu. Die Jungs waren so verängstigt, dass sie Lee gehorchten ohne Fragen zu stellen.
„Vorsicht! Fahr nach rechts!“, rief Lui ihr zu. Lee drehte das Lenkrad und für einen kurzen Moment lagen sie schräg in der Luft. Sie würde besser ausweichen können, wenn sie Loopings und Schrauben schlagen könnte, auch wenn sie das noch nie getan hatte.
„Jan, beeil dich, bitte, und schnall Jenny an.“ Jan reagierte sofort, da er merkte, dass die Lage ernst war. Die Seite von Jan war nun unbesetzt und Lee musste sich doppelt konzentrieren. Ein Fehler konnte tödlich sein. Automatisch verkrampfte sie sich. Wenn sie jetzt was falsch machte, konnte sie es nie wieder rückgängig machen.
„Lee! Nach links!“, rief Lui. Sie wich nur mit knapper Not aus.
„Verkrampf dich nicht so.“, hörte sie Onkel Bobs Stimme bei ihrer ersten Flugstunde sagen.
„Wenn du erst das Gefühl hast, könntest du mit geschlossenen Augen fliegen. In der Luft sind keine Hindernisse.“ Als sie daran dachte, entspannte sie sich wieder.
„Lee! Nach rechts!“, rief Jan panisch.
„Nein! Nicht nach rechts!“, rief Lui noch panischer. Lee kam sich vor wie in einem Krimi. Dennoch fühlte sie neuen Mut in sich aufsteigen. Sollten sie nur kommen. Sie würden sie nicht bekommen. Lee nicht! Und ihre Freunde auch nicht! Mit einem triumphierenden Lächeln auf den Lippen sagte sie ruhig: „Jungs! Haltet euch fest!“ Und schon schraubte sie sich in einem waghalsigem Sturzflug nach unten. Die Jungs hatten sich gerade noch rechtzeitig an den Sitzen festhalten können. Lee betete, dass ihr Plan funktionieren würde. Sylvia raste drehend auf das Meer zu. Fast hätte Lee die Kontrolle verloren, aber nur fast.
Das Lenkrad wurde von ihr nach oben gerissen. Die beiden Raketen waren über ihr zusammengeschossen und in einem lauten Knall explodiert. Die Jungs rappelten sich wieder auf.
Als Lee wieder auf normalem Kurs war erstarrte sie. Der Himmel hatte sich schwarz verfärbt und verdunkelte die Sonne. Vor Lee baute sich eine riesige Wolkenwand auf, ob man nach links oder nach rechts blickte auf beiden Seiten türmten sich Wolken, Wolken nichts als Wolken. Sie mussten dadurch.
„Lee, was ist das?“, fragte Lui geschockt.
„Ein Sturm“, sagte Lee ruhig.
„Ein Sturm?“, rief Jan panisch.
„Und jetzt?“, fragte Lui.
„Wir müssen durch den Sturm fliegen“, sagte Lee.
„Was?“, fragte Jan entsetzt „Spinnst du! Das ist viel zu gefährlich.“
„Das Militär ist noch viel gefährlicher“, rief Lee wütend „Wenn du gedacht hast, dass es ungefährlich wäre von hier nach Nordamerika zu kommen, dann hast du dich getäuscht.“
Jan schwieg und sah dem Sturm ängstlich entgegen.
„Bist du sicher, dass der Sturm ungefährlicher ist als die Soldaten?“, fragte Lui zweifelnd.
„Nein, aber wie gesagt, wir können nicht zurück“, sagte Lee.
„Lee! Pass auf!“, rief Jan. Lee machte mit dem Flugzeug eine Schraube. Knapp schoss die Rakete an ihr vorbei.
„Jungs, schnallt euch an!“
„Sollen wir nicht nach Raketen Ausschau halten?“, fragte Jan.
„Wir erreichen gleich den Sturm. Da werden sie uns sowieso nicht mehr sehen können. Und ich bezweifle, dass sie uns folgen würden“, beantwortete Lui Jans Frage. Jan zuckte mit den Schultern, setzte sich neben Jenny auf den Sitz und schnallte sich an. Lui machte es ihm nach. Lee merkte wie tapfer sie waren.
Wieso vertrauten sie ihr? Sie vertraute sich noch nicht einmal selbst. Sie folgten ihr wahrscheinlich bis in den Tod und wenn sie ihretwegen umkamen?
Wie konnten sie nur so mutig sein?
Der Sturm war ihr Todesurteil! Aber immer noch besser als das Militär. Außerdem mussten sie den Sturm so oder so durchqueren. Ob sie je wieder lebend nach Hause kam? Schon wurden sie von der dichten Wolkenwand eingeschlossen. Der Windstoß kam unerwartet und wirbelte das Flugzeug herum. Doch Lee hatte es sofort wieder im Griff.
Du führst sie in den Tod. Du wirst es sowieso nie schaffen deinen Vater zu befreien. Dreh um!, sagte ihr eine innere Stimme.
Nein!, zischte Lee in Gedanken zurück.
Dann werden sie alle sterben!, sagte die Stimme zornig. Zum letzten Mal: Dreh um!
Nein!, rief Lee zurück. Sie war so weit gekommen. Da würde sie jetzt sicher nicht aufgeben. Nicht jetzt! Der Wind heulte zornig auf und rüttelte an dem Flugzeug, als wollte er es auseinander reißen. Heftig lenkte Lee gegen den Wind an.
Nein! Nein!
Sie würden es schaffen und keiner würde ums Leben kommen.
Plötzlich hörte sie ein wütendes Donnergrollen und dann zuckte schon der erste Blitz durch den pechschwarzen Himmel.
„Oh nein!“, flüsterte Lee. Sie schaffte es gerade noch zu rufen, dass sie sich aneinander festhalten sollten, da schlug der Blitz schon in das Flugzeug ein. Die Geräte gaben den Geist auf und überließen die Kinder ihrem Schicksal. Das Flugzeug segelte noch in der Luft und es würde auch nicht einfach so vom Himmel fallen. Sylvia neigte sich ein bisschen nach links, ein bisschen nach rechts, und würde wahrscheinlich bald von einer heftigen Windböe herumgewirbelt werden. Wenn das passierte, würde Sylvia, tatsächlich abstürzen. Sie mussten sofort raus. Sylvia verlor an Höhe, sie waren jetzt nur noch zehn Meter von dem schäumenden Wasser entfernt.
Mit einem Ruck öffnete Lee die Tür. „Raus!“, schrie sie. Einfach nur: „Raus!“
Jan gab sich einen Ruck nahm Jenny in den Arm und sprang mit ihr hinunter, dabei achtete er darauf, dass er ihr, wenn sie eintauchte, Mund und Nase zu hielt. Schließlich war er gut im Rettungsschwimmen und würde es immerhin schaffen Jenny und ihn über Wasser zu halten… Hoffentlich! Lee musste ihm einfach vertrauen. Lui sah ihnen ängstlich nach. Plötzlich bemerkte er, dass Lee noch viel mehr Angst hatte, als er selber. Mit einem ermutigenden Lächeln sah er sie an, drehte sich um und sprang mit einem doppelten Vorwärtssalto der in einem Köpper endete hinterher.
Sprachlos blickte Lee ihm nach. Wie konnte er jetzt noch irgendwelche Faxen machen?
Doch ihr blieb nicht mehr genug Zeit, in ein paar Sekunden würde Sylvia ins Meer fallen. Sofort schloss sie die Augen und sprang hinterher.
Das kalte Wasser war wie ein Schlag in die Magengrube. Als Lee wieder an die Oberfläche kam, schnappte sie wie ein Fisch an Land nach Luft. Die Wellen warfen sie wie ein Blatt hin und her und schon bald hatte sie die Orientierung verloren.
Wo sind die Anderen?
Doch sobald sie den Mund aufmachte, um nach ihnen zu rufen, floss nur noch mehr Salzwasser in ihre Lungen. Sie hustete. Die Kraft verließ sie. Eine neue Welle stürzte auf sie zu und wirbelte sie herum. Sie verlor die Orientierung und bekam keine Luft mehr. Das Mädchen spürte wie ihr der Sauerstoff aus den Lungen gepresst wurde und sie geriet in eine Welt vollkommener Schwärze und Vergessenheit.


Kapitel 13: Die Delfine und der Hai!

Jan fiel und versuchte die kleine, schmale Jenny noch fester zu halten. Plötzlich prallte er auf die Wasseroberfläche. Jennys Gewicht zog ihn nach unten, doch er strampelte dagegen an. Endlich spürte er wieder Luft in seine Lungen strömen. Schnell hielt er Jennys Kopf über die Wasseroberfläche. Die Verbände um ihren Körper fühlten sich weich und glitschig an. Gut, dass er ein relativ guter Schwimmer war, er hätte Jenny problemlos über Wasser halten können. Doch bei diesen Wellen? Jede von ihnen war mindestens so groß wie ein Hochhaus und der Himmel war erschreckend schwarz. Plötzlich sah Jan einen Gegenstand im Wasser treiben. Ein Baumstamm! Ein großer dicker Baumstamm. Wenn sie es schafften den Baumstamm zu erreichen, hatten sie mehr Überlebenschancen. An einem Baum konnte man sich festhalten und wo ein Baum war, gab es auch Land. Mit letzter Kraft schleppte Jan Jenny zum Baumstamm. Dieser hatte viele starke Äste, auf denen er Jenny niederlegte. Ihr Körper schwamm im Wasser, doch ihre Schultern und der Kopf lagen auf den Ästen, während der Verband sich löste. Doch Jan merkte davon nichts und schon bald hinterließen sie eine große rauchige Blutspur, der sich viele hungrige Raubtiere anschlossen.





Etwas stupste Lee an, doch sie spürte es nicht. Sie konnte nichts mehr spüren. Sie war in einer dunklen Welt gefangen, während sie immer tiefer sank. Dieses Etwas stupste sie wieder an, danach wieder und wieder. Sie wurde von etwas weichem, großen nach oben gestoßen und spürte wieder, wie die Luft in ihre Lungen floss. Japsend sog sie sie ein. Dann hustete sie und spuckte Salzwasser. Die Wellen waren immer noch Haushoch. Trotzdem hatte sich der Sturm ein wenig gelegt. Worauf sitze ich überhaupt?
Sie sah nur eine graue Flosse, an der sie sich festhielt, um nicht herunter zu fallen, und einen grauen Rücken. Neben dieser ragten noch weitere Flossen und Rücken heraus. Zuerst erkannte sie die Tiere nicht, aber als sie die hohen, schnatternden Geräusche hörte, wusste sie sofort um was es sich handelte. Delfine! Sie saß auf dem Rücken eines Delfins! Davon hatte sie schon immer geträumt. Aber im Moment konnte sie sich nicht darüber freuen. Sie war zu erschöpft dazu.
Danke!, sagte sie zu dem Delfin und bekam als Antwort ein fröhliches und gleichzeitig stolzes Gefühl. Erschöpft klammerte sich Lee an den Rücken des Delfins. Sie war zwar gerettet, aber waren ihre Freunde das auch?




Jan sah sich um. Wütend schleuderte der Sturm die Wellen gegen den Baumstamm.
Wo sind Lee und Lui? Sind sie in Sicherheit oder ertrinken sie gerade? Jan hoffte, dass sie sich retten konnten, doch nun musste er sich selber retten. Er hielt Jenny fest, aus Angst der Wind könne sie ihm entreißen. Auf einmal erspähte er an einem Wellenberg eine Bewegung. Misstrauisch sah er genauer hin. Eine graue Rückenflosse kam, ohne sich auch nur einmal abzuwenden, zielstrebig auf sie zu.
Ein Hai!
Panisch sah Jan sich um. Womit konnte er sich verteidigen? Er brach einen Ast ab. Das würde nicht viel helfen, aber er konnte es immerhin versuchen. Auf einmal sah er Jennys Verband im Wasser schwimmen. Das Blut hatte den Hai angelockt. Doch plötzlich merkte er, dass auch sein Verband sich langsam löste. Jetzt konnte er nichts mehr tun. Der Baum war zu schmal und hatte zu viele Äste um sich auf ihn draufsetzen zu können. Jenny lag halb liegend halb treibend an der einzigen Stelle an der man sich überhaupt hochziehen konnte. Sie hatte mehr Überlebenschancen, durch die vielen Äste war sie wenigstens ein wenig geschützt, doch Jan trieb im Wasser und war so eine leichte Beute. Jennys Platz war der einzige am Baum auf dem man sich retten konnte.
Es musste doch eine Lösung geben. Er konnte sich nicht vorstellen, dass er sterben musste.
Es gab immer eine Lösung!
Der Hai kam immer näher. Jetzt hatte er Jan erreicht. Der riesige, hässliche Kopf kam an die Oberfläche und sperrte das große Maul auf, das zwei Reihen spitzer Zähne enthielt. Jan zögerte nicht und schlug dem Hai, mit dem Stock, auf die empfindliche Nase. Vor Schmerz quietschend tauchte der Hai ab. Doch er gab noch nicht auf. Jan hatte ihn nur wütend gemacht. Ohne zu überlegen, rief er lauthals:
„Hilfe! Kann mich jemand hören? Lee! Lui! Hilfe!“ Von dem lauten Schreien floss ihm Salzwasser in den Hals und es erschöpfte ihn nur umso mehr.
Es musste einen Ausweg geben!
Der Hai hatte nun seine Taktik geändert und griff von unten an. Wenn jetzt nicht sofort jemand kam, musste er doch sterben. Jan schloss die Augen, damit es erträglicher wurde. Doch der Hai griff nicht an. Langsam öffnete Jan die Augen wieder und sah die Rückenflosse wegschwimmen. Etwas musste ihn verscheucht haben. Jan schluckte: Etwas noch Schlimmeres als den Hai? Er bemerkte dass er den Baumstamm losgelassen hatte. Schnell packte er ihn wieder, bevor er wegtreiben konnte.
„Jan!“, hörte er jemanden rufen. Dann vernahm er ein schnatterndes Geräusch.
Das waren Delfine!
„Lee!“, rief Jan freudig. Ein Blitz zuckte über den Himmel und das Donnergrollen wurde lauter. Die Delfine schwammen auf ihn zu. Jan lachte. Es gab immer eine Lösung. Er hatte es gewusst.
„Jan! Heb Jenny ins Wasser, damit die Delfine euch tragen können.“ Zwei Delfine schwammen auf sie zu und blieben vor ihnen im Wasser stehen. Jan hievte Jenny auf den Rücken des einen Delfins und kletterte auf den anderen. Misstrauisch hielt er Jennys Hand.
„Du kannst sie loslassen. Der Delfin lässt sie nicht ertrinken“, rief Lee ihm grinsend zu. Zögernd ließ Jan Jennys Hand los. Plötzlich machte der Delfin, auf dem er saß, einen Satz und tauchte unter einer Welle hindurch.





Lee lachte als Jan prustend wieder zu sehen war. Der Donner grollte immer noch.
„Lee, ist Lui bei dir?“, fragte Jan und fuhr sich durch die nassen Haare.
„Nein! Ich habe ihn nicht gesehen!“, sagte Lee und seufzte. „Hoffentlich geht es ihm gut!“
Gedankenverloren streichelte sie den nassen Rücken des Delfins auf dem sie saß.
Sie hatte den Delfinen klar gemacht, dass sie Jenny auf dem Rücken behalten mussten. Hier fand sie keine unsichtbare Barriere, die sie erst durchbrechen musste. Hier schienen die Delfine ihren Gedanken entgegen zu kommen.
Findet Lui!, sagte sie ihnen in Gedanken. Bitte, findet ihn! Sofort steuerten die Delfine eine bestimmte Richtung an. Sie bringen mich zu ihm. Wir müssen zu ihm bevor er ertrinkt, wir müssen. Ein Blitz durchzuckte den Himmel. Und wieder hörte sie diese kalte Stimme in ihrem Innern.
Nein! Du kannst ihn nicht mehr retten. Er gehört mir! Er läuft direkt in meine Falle. Und du kämest viel zu spät! Lee hörte nicht auf die Stimme. Von neuer Hoffnung angetrieben, klammerte Lee sich an die Flosse des Delfins. Der Himmel war von grauen Wolken verdeckt, sodass sie sich nicht einmal orientieren konnte. Auf einmal kam ein Stück Land in Sicht. Eine Insel! Kurz darauf hielten die Delfine an. Lee begriff, dass sie den Rest schwimmen mussten. Sie rutschte vom Rücken des Delfins und tätschelte ihm die Seite. Dann wurde sie von einer Welle mitgerissen. Bevor sie los schwamm vergewisserte sie sich, dass Jan mit Jenny hinter ihr war. Warum wollten die Delfine, dass wir auf die Insel gehen? Ob Lui auf der Insel ist? Sie schwamm schneller und brachte sich endlich erschöpft an Land. Der Sand war so schön warm und Lee versucht einfach liegen zu bleiben. Trotzdem kroch sie weiter, doch schon nach fünf Metern brach sie erschöpft zusammen und schloss die Augen.


Kapitel 14: Die Insel!

Lui spürte warmen Sand unter sich. Erschrocken setzte er sich auf. Wo bin ich? Ein Blick verriet ihm, dass er gestrandet war. War es eine Insel oder war es vielleicht schon Nordamerika? Sein Kopf brummte. Plötzlich musste er husten und spuckte Salzwasser.
„Na, wie geht es dir?“, fragte eine freundliche Stimme über ihm. Erschrocken blickte Lui in ein besorgtes Gesicht mit dunkler Haut, grünen Augen und schwarzem Haar. Der Junge versuchte sich aufzusetzen, stöhnte aber und ließ sich wieder fallen.
„Wo bin ich? Was ist passiert?“, fragte er entkräftet. Der Mann blickte ihn beruhigend an. Er hatte ein Lederband um seinen Kopf gebunden in dem ein Adler eingeritzt war.
„Du bist auf meiner Insel. Und ich habe dich vor ein paar Stunden aus dem Wasser gefischt. Es gab einen heftigen Sturm, doch jetzt ist er wieder vorbei. Ich wollte dich zu meiner Höhle bringen, aber du hast dich mit Händen und Füßen gewehrt. Da ließ ich dich hier, etwas abseits vom Meer, liegen und wartete. Du hast unglaubliches Glück gehabt, aber jetzt bist du wach und musst mir deine Geschichte erzählen.“ Fragend blickte der Mann Lui an.
„Ich kann Ihnen meine Geschichte nicht erzählen. Es ist zu kompliziert.“
Belustigt grinste der Mann. „Sehr interessant!“, sagte er „Wie wäre es damit, du warst auf einem Schiff und das ist gesunken. Ich habe dich aus dem Wasser gefischt, und jetzt…wie heißt du eigentlich?“
Lui grinste. „Ich heiße Lui und wie heißen Sie?“
Der Mann verzog das Gesicht. „Bitte duz mich, Lui! Ich komme mir sonst so alt vor!“
„Okay!“, sagte Lui verwirrt. „Wie heißt du?“
Der Mann grinste. „Ich heiße Marek!“
„Gehört dir diese Insel?“
„Nicht direkt! Ich bin ein Einsiedler, der hier lebt. Es ist eine sehr schöne Insel, aber leider auch sehr klein.“
„Wie lange lebst du denn schon hier?“
„Vier…Fünf Jahre.“ Liebvoll ließ der Mann den Blick über die Küste schweifen. Lui ließ gedankenverloren Sand durch seine Finger rieseln. „Ich stelle mir das ziemlich einsam vor.“
„Nicht für mich.“ Marek spürte Luis fragenden Blick. Er stand auf und sah Lui grinsend von oben herab an.
Dann sagte er mit kraftvoller Stimme: „Ich bin ein Schamane!“





Lui fiel wieder ein, was Lee über Schamanen gesagt hatte. Doch dieser Mann grinste ihn so freundlich an, dass er nicht glaubte, dass Marek so etwas tun würde. Es gab bestimmt noch andere Schamanen. Er konnte sich nicht vorstellen, dass es Marek sein sollte. Er war so nett und vertrauenswürdig. Lee hatte erzählt, dass die Schamanen in ein Tier wandeln könnten. Wenn Lui das auch könnte, könnte er die Anderen suchen. Die Anderen! Schlagartig hatte Lui einen Knoten im Bauch, der sich mit jeder Sekunde mehr verkrampfte.
„Wie lange bin ich schon bei dir?“, fragte er tonlos.
„Seit fünf Stunden oder so!“
„Haben sie noch mehr aus dem Wasser gefischt?“
„Keinen bis auf dich!“
„Aber meine Freunde sind noch da draußen. Sie müssen doch noch jemanden gesehen haben, wir waren doch alle in derselben Strömung.“
„Tut mir leid, mein Junge, aber hier gibt es viele verschiedene Strömungen, die nah beieinander liegen. Vielleicht sind sie in eine andere geraten. Und es wäre unwahrscheinlich, dass wir sie jetzt noch“, er zögerte. „…lebend finden.“
„Nein, sie müssen da sein! Du hast sie nur nicht gesehen. Nein!“ Panisch sprang Lui auf, doch taumelte sofort wieder. Marek fing ihn auf. Tiefe Traurigkeit umfing Luis Brust. Der Knoten zog sich zu. Ein Schluchzen kroch seine Kehle hoch und endete in einem Wutschrei. Tränen liefen ihm über die Wangen. Er musste damit rechnen, dass er seine Freunde für immer verloren hatte.





Die Sonnenstrahlen kitzelten Lee und sie schlug die Augen auf. Wo bin ich? Was ist passiert? Urplötzlich fiel ihr alles wieder ein.
Der Sturm. Die Delfine. Die Insel.
Neben ihr regte sich Jan. Der Strand, an dem sie lagen, war so hell, dass Lee kurz die Augen zusammen kneifen musste. Erschöpft setzte sie sich auf. Hinter ihr war eine Art Dschungel. Ihr Magen knurrte und von dem ganzen Wasser, das sie geschluckt hatte, tat ihr der Hals weh. Dann fiel ihr wieder Lui ein. Ob er hier auf der Insel ist?
Jans Stimme riss sie aus ihren Gedanken: „Geht’s dir gut?“
Sie nickte. „Und dir?“, fragte sie. Er zuckte mit den Achseln. „Und Jenny?“, fragte Lee weiter. Ihre Kehle fühlte sich kratzig an, wenn sie sprach und tat ihr weh.
„Sie atmet noch, aber ihr Verband hat sich gelöst“, antwortete Jan.
„Deiner auch“, erwiderte sie. Sie schwiegen eine Weile.
„Lee?“, begann Jan.
„Ja?“
„Was ist wenn…Jenny…nicht mehr aufwacht?“ Lee überlief es kalt. Dann gäbe es keine Jenny mehr. Keine beste Freundin. Keine Jenny die einem in verzwickten Situationen zur Seite stand. Keine Jenny mit der man herumalberte. Sie wäre einfach nicht mehr da. Ausradiert.
Lee zitterte. „Daran darfst du gar nicht denken.“, sagte sie schlotternd. Jan wollte sich aufsetzen, doch dann schmerzten seine Verletzungen, die ihm der Adler zugefügt hatte und er ließ es bleiben. Lee merkte, dass sie die Einzige war, die Essen und Wasser suchen konnte. Wenn es hier überhaupt etwas Essbares gab. Sie setzte sich auf und versuchte ihre Beine zu bewegen. Dann versuchte sie die Lage einmal nüchtern zu betrachten:
Sie wussten nicht wo sie waren. Lui war verschwunden oder schlimmer noch ertrunken. Das Flugzeug konnte man vergessen und ihre Vorräte auch.
Im Großen und Ganzen verlief die Reise doch super!
Sie überlegte. Das erste was sie finden musste war Trinkwasser.
Ein Mensch konnte nur zweiundneunzig Stunden ohne Wasser auskommen. Sie stand auf und streckte sich. Ihre Hand überprüfte ihre hintere Hosentasche. Zum Glück war ihr Taschenmesser noch da.
„Jan, kannst du dich bewegen?“, fragte sie.
„Seh ich so aus?“, fragte er genervt mit einem schiefen Grinsen. Er lag neben Lee im Sand und untersuchte seinen Verband, der sich immer weiter von seinen Wunden löste.
„Könntest du ein Feuer machen.“
„Vielleicht…“
„Wenn du dich anlehnen könntest?“
„Vielleicht…“, erwiderte Jan erneut.
Sofort half Lee ihm sich an einen nahe liegenden Stein zu lehnen, dann verschwand sie im Dschungel und kam nach einer Weile mit ein paar Ästen zurück. Sie warf sie Jan vor die Füße und erklärte ihm, wie man mit zwei kleinen Stöcken ein Feuer entfachte. Dann errichtete sie eine Feuerstelle und gab ihm noch zwei Feuersteine in die Hand.
Schließlich verschwand sie im Gestrüpp, um nach Wasser und etwas Essbarem zu suchen.
Es war sehr dunkel im Dschungel.
Nach langem Suchen entdeckte sie endlich einen Bananenbaum.
Nach einem kurzen, leichten Klettergang war der Strauß voller gelber, gebogener Bananen in ihrer Hand.
Doch plötzlich erstarrte sie.
Eine riesige Spinne, kletterte langsam, ein behaartes Bein vors andere setzend, ihren Arm hinauf. Lee biss sich auf die Lippe um nicht laut los zu schreien und widerstand der Versuchung wild mit der Hand herum zu fuchteln.
Schnell, aber vorsichtig, schob sie ein großes Blatt zwischen der Spinne und ihre Haut. Behutsam legte sie das Blatt auf den Boden und atmete befreit auf.
Vorsichtig lief sie weiter.
Wer weiß schon was es hier noch für Tiere gibt?
Plötzlich hörte sie Wasser rauschen. Wasser!
Schon sah sie das hellblaue Wasser, hinter einer Gruppe Büsche aufblitzen.
Sie lief darauf zu und blieb an einem kleinen Wasserfall, der in einen Teich mündete stehen.
Das Mädchen kniete sich hin um zu trinken. So ausgetrocknet und erschöpft hatte sie sich lange nicht gefühlt, nach einem Schluck Wasser würde es ihr bestimmt besser gehen.
Gerade als ihre Lippen die Wasseroberfläche berührten, sprang sie auf und stolperte zurück. Da, wo sie eben noch gekniet hatte, schnellte ein offenes Maul empor und schnappte in der Luft zu, ehe es wieder zurück ins Wasser glitt.
Ein Alligator.
Keuchend lehnte sich Lee an einen Baum. Sie kam lieber am Nachmittag noch mal vorbei mit einer geschnitzten Schüssel. Um diese Zeit dösten Alligatoren normalerweise.
Ja, normalerweise. Es war seltsam, dass der Alligator und die Spinne nicht verschwunden waren, als sie kam.
Eigentlich waren solche Tiere sehr scheu. Und Lee war extra laut durch den Dschungel gestampft. Normalerweise wären alle Tiere schon nach einer Minute im Unkreis von einigen Metern verschwunden. Ja, normalerweise schon.
Aber normalerweise dürfte es hier eigentlich überhaupt keine Alligatoren geben. Alligatoren lebten im Süden, oder am Äquator.
Wie sind die denn hierher gekommen? Sie beschloss darüber hinweg zu sehen. Die Tiere waren da, daran konnte sie schließlich nichts ändern. Also hielt sie nach weiteren Feuersteinen Ausschau.
Schon bald fand sie einen steinigen Berg. Sie untersuchte die Steine, und erblickte dann endlich einen Feuerstein, aber als sie ihn aufhob, schoss ihr ein Maul mit zwei spitzen Giftzähnen entgegen. Erschrocken ließ Lee den Stein fallen und sprang zurück.
Die Schlange schnappte nach Lees Knöcheln, doch Lee wich rechtzeitig aus.
Sie schnappte sich einen Stock und schlug nach der Schlange. Schnell verkroch sich das windende Geschöpf im Unterholz.
Lee krallte sich zwei Feuersteine und ein Stück Holz und rannte so schnell es ging zum Strand zurück. Sie hatte Angst vor diesem Urwald, wo nichts so war wie es sein sollte.
Sie konnte froh sein, dass sie überhaupt noch lebte.
Erschöpft kehrte sie an den Strand zurück. Sie war müde und das machte sie wütend und trotzig. Sie pfefferte die Bananen in den Sand und ließ die Feuersteine fallen.
Mit dem Holzstück in der Hand, setzte sie sich hin und schnitzte drauf los.
Wie kommt diese Tiere überhaupt so weit nach Nord-Westen?
Sie nahm sich vor, das Wasserloch später einmal genauer anzusehen. Jans Schnarchen beruhigte sie etwas. Warum auch immer die Tiere auf dieser Insel waren, sie würde es herausfinden.
Ihr fiel ein, dass Jan ein Feuer machen wollte, doch er schlief so friedlich, dass sie beschloss es selbst in die Hand zu nehmen.
Mit Feuersteinen hatte sie schon oft ein Feuer im Wald entfacht.
Nach einer Weile wärmte sie sich an den Flammen.
Dann blieb sie einfach so sitzen.
Irgendwann fiel ihr ein, dass sie das Wasserloch untersuchen sollte, denn es war schon später Nachmittag. Schnell aß sie eine Banane und stand auf. Nachdenklich blickte sie zu Jan und Jenny. Konnte sie die beiden hier zurück lassen?
Ja, was sollte ihnen schon passieren. Ohne zu Zögern ging sie wieder in den Dschungel hinein. Gut, dass sie sich Wege sehr schnell merken konnte. Nach ein paar Minuten stand sie wieder an dem kleinen Wasserfall.
Nichts!
Hier war rein gar nichts!
Irgendwo hier musste der Alligator doch sein, oder wenigstens Spuren, die er hinterlassen hätte.
Das konnte nicht sein. Alligatoren zogen nicht so schnell von einem Ort zum anderen. Sie beugte sich über das Wasser, um die Holzschüssel, die sie geschnitzt hatte, mit Wasser zu füllen. Hier waren noch nicht einmal Spuren.
Ich bin doch nicht verrückt! Er war hier!
Hektisch suchte sie nach irgendeinem Zeichen. Doch der Alligator war und blieb verschwunden.


Kapitel 15: Der Wandlungszauber!

Lui wachte aufgeregt in Mareks Höhle auf. Heute hatte Marek ihm versprochen, die Schamanenkunst zu lehren. Zwei Tage lebte er jetzt schon bei dem netten Schamanen und heute war er bereit. Wenn seine Freunde noch am Leben waren, würde er sie finden. Heute würde er in ein Tier wandeln. In eine Möwe.
„Die Seele einer Möwe ist nicht so Besitzergreifend wie die Seele eines Bären oder eines Seeadlers, da die Möwe nicht so viel über ihr Leben denkt. Sie denkt nur an Essen und Fortpflanzung“, hatte Marek mit einem schelmischen Grinsen gesagt.
„Denke ich dann genauso?“, hatte Lui schockiert gefragt.
Marek hatte gelacht und gesagt, dass er immer er selbst sein werde.
Lui setzte sich auf und streckte sich. Er lag auf einer selbst gewebten Decke, die, zu seiner Verwunderung, sehr bequem war. Die Höhle war relativ groß und es standen viele Gefäße herum. Ein paar Felle waren auch dabei, wahrscheinlich falls es mal kalt werden würde. Lui fühlte sich wie zu Hause.
Alles war so schön…unaufgeräumt! Wie in seinem Zimmer.
Hier musste er sich einfach wohl fühlen.
Plötzlich stand Marek vor ihm.
„Na, bist du bereit?“, fragte er grinsend. Lui nickte.
„Dann geh und hol Wasser! Ich kümmere mich um den Rest. Wir treffen uns oben auf der Klippe.“ Mit diesen Worten drehte er sich um und kletterte den steilen Weg, der zur Klippe führte, hinauf. Die Klippe war sehr steil und man musste gut klettern können, um hoch zu kommen. Mareks Höhle lag in der Klippe. Unter der Höhle wuchsen viele Sträucher und lilafarbene Blumen, von denen Marek gesagt hatte, dass er sie für seine Experimente bräuchte.
Lui schnappte sich einen Eimer, den Marek selber aus Binsen und Holz hergestellt hatte, und kletterte den Weg hinunter.
Schnell lief er zum Wasserloch mit dem kleinen Wasserfall. Er füllte den Eimer und stellte sich vor, wie es wäre durch die Luft zu sausen, als er sich umdrehen wollte, sah er über den Bäumen Rauch aufsteigen.
Wer konnte denn da ein Feuer machen? Ist noch jemand auf der Insel?
Ungestüm lief er zurück zur Klippe. Geschickt kletterte Lui mit dem vollen Eimer auf die Spitze.
„Marek!“, rief er. „Marek!“
Verwundert kam Marek auf ihn zu. „Was ist los?“
Lui deutete mit dem Finger auf die Rauchsäule. Marek nickte ernst.
„Ich habe das schon länger beobachtet“, sagte er, während sich Lui neben ihn stellte.
Doch dann stutzte der Junge. „Wie lange?“
„Zwei Tage, vielleicht.“ Lui fühlte sich, als ob er gegen einen Baum gelaufen wäre.
Zwei Tage! Aber an dem Tag hat er mich doch bei sich aufgenommen!
„Ich schau mal, wer das ist!“, sagte er entschlossen und wollte gerade wieder hinabklettern, als sich Marek ihm in den Weg stellte.
„Was soll das?“, rief Lui ärgerlich. „Es könnten meine Freunde sein! Verstehst du nicht?“
„Es sind nicht deine Freunde!“, zischte Marek hart. Lui zuckte vor so viel Hass zurück.
„Wer ist es dann?“, fragte er vorsichtig. Einen Moment sah Marek ihn nur zornig an.
„Jedenfalls nicht deine Freunde! Sonst hätte ich es dir erzählt, glaub mir!“, sagte er.
Lui sah beschämt zu Boden. „Es sind also, keine Freunde?“
„Nein, wer oder was immer das ist, er ist auf keinen Fall unser Freund!“





Lee wiegte sich vor dem Feuer hin und her.
Wo ist Lui? Ist er wirklich ertrunken? Was tue ich überhaupt hier?
Vor ihr schritt Jan wütend auf und ab. „Raus!“, äffte er Lee mit viel zu hoher Stimme nach. „Was für eine tolle Idee uns alle aus dem Flugzeug zu schmeißen!“
„Wärst du lieber ertrunken?“, zischte Lee zornig.
„Ich hätte einen anderen Weg gefunden. Einen Besseren! Einen bei dem wir alle noch leben!“
Getroffen zuckte Lee zusammen. „Willst du etwa sagen, es ist meine Schuld, dass Lui ertrunken ist?“, keifte sie wütend.
Jan schnaubte verächtlich. „Wessen denn sonst?“
„Aber es ist deine Schuld, dass Jenny immer noch nicht wach ist!“, giftete Lee.
„Nein, das ist auch ganz allein deine! Weil du unbedingt deinen verstorbenen Vater suchen musst!“
Wütend sprang Lee auf. „Mein Vater ist nicht tot! Ich weiß wo er ist!“
„Davon hat man aber noch nicht viel bemerkt!“, brüllte Jan zurück.
Sie wurden von einem leisen Stöhnen unterbrochen. Benommen schlug Jenny die Augen auf. Lees Sorge, um sie besiegte ihren Zorn und sie war sofort neben ihr und gab ihr einen kräftigen Schluck Wasser aus der Schale. Jenny schluckte und schlief sogleich wieder ein. Danach waren sie eine ganze Weile still.




„Wirklich?“, fragte Lui.
„Vielleicht, jedenfalls können wir nicht damit rechnen, dass sie freundlich gestimmt sind. Lass uns jetzt weitermachen. Du willst doch noch die Schamanenkunst lernen, oder?“
Lui nickte benommen.
„Na, dann komm!“, sagte Marek und ging zurück in die Mitte der Klippe.
Wer das wohl ist? Wer ist noch hier auf dieser Insel? Lui versprach sich nachzusehen, sobald er eine Gelegenheit dazu hatte.
„Hier sieh her!“, sagte Marek, der sich neben eine Pflanze kniete, die eine wunderschöne, große, lila Blüte hatte. Lui erkannte eine der Blumen, die unter Mareks Höhle wuchsen. Der Schamane goss das Wasser, das Lui geholt hatte, über die Blume. Die Pflanze verwelkte innerhalb von Sekunden.
„Das Wasser ist vergiftet“, erklärte Marek dem verdutzten Lui „Nur Tiere und wir beide können es trinken. So verhindere ich, dass andere Menschen auf diese Insel kommen.“
„Warum kann ich das Wasser auch trinken?“, fragte Lui.
„Es ist ein ganz normaler Zauber. Wenn du willst, dass das Wasser für dich nicht vergiftet ist, wirfst du etwas von dir ins Wasser wie einen Fingernagel oder eine Haarlocke oder etwas anderes. Dann vollführst du das Ritual, mit dem du das Wasser vergiftet hast. Du kannst das Wasser dann gefahrlos trinken, aber niemand anderes.“
Lui fasste sich mit der Hand an sein Haar. Marek grinste entschuldigend.
„Keine Sorge! Man bemerkt nicht, dass eine Strähne fehlt.“
„Und warum können Tiere das Wasser auch trinken?“, fragte Lui „Ich meine, man kann ja nicht von jedem Tier, das auf der Insel lebt, ein Stück Fell oder so hineinfallen lassen.“
„Bei den Tieren geht es anders. Es gibt sechs große Tiergruppen. Die Wirbellosen Tiere, wie die Biene oder die Wespe. Dann gibt es noch die Amphibien, wie Frösche; die Reptilien, wie zum Beispiel Eidechsen, dann noch die Säugetiere, wie Rehe oder Wölfe, und als letztes noch die Fische und Vögel. Ich nehme mir zum Beispiel eine Möwenfeder, vollführe das gleiche Ritual, das ich bei dir machte und schon können alle Vögel gefahrlos davon trinken. Aber jetzt zurück zum Grünzeug, du kannst die Pflanze auch wieder erblühen lassen.“
„Was passiert wenn ein anderer Mensch von dem Wasser trinkt?“, fragte Lui zögerlich, für den das Thema noch nicht beendet war. „Stirbt er dann?“
Marek grinste. „Oh nein, ich bin nicht bösartig, Lui. Der Mensch, der davon trinkt wird wütend und streitsüchtig. Er wird so wütend, dass er es irgendwie schafft von der Insel zu kommen. Aber lass uns weiter machen, pass auf!“, sagte Marek leise und legte beschwörerisch fünf Steine, mit je dem selben Abstand, um die verwelkte Pflanze. Er hob eine Hand voll Sandkörner und streute sie über die lila Blüte. An seinem Gürtel hingen viele kleine Ledersäckchen, von denen er nun eines herauszog.
„Dieses Säckchen enthält Meeresgischt! Meeresgischt hat einen unglaublich starken Zauber. Allerdings können nur ein paar Menschen die Schamanenkunst erlernen. Bei uns Indianern können es fast alle.“
„Du bist ein Indianer?“, fragte Lui „Und woher kannst du eigentlich meine Sprache?“ Ihm fiel erst jetzt auf, dass er fließend seine Sprache sprach, dabei gab es doch gar keine Indianer in seinem Land, oder?
„Jeder Indianer kann diese Sprache. Überhaupt kennen wir sehr viele Sprachen. Doch ich wollte alleine sein, weg von diesen ganzen Verrätern!“ Marek ballte die Fäuste. „Außerdem, ich habe ein paar Jahre in Deutschland verbracht, reiste ein bisschen herum, sah mir die Welt an. Ich fand auch eine Frau, doch…“ Mareks Stimme war so leidend und gequält, dass Lui nicht weiter nachfragen wollte.
Marek schüttete nun die Hälfte der Meeresgischt über die grünen Blätter. Die Meeresgischt schien zum Großteil aus einer weißen, schaumartigen Flüssigkeit zu bestehen und auf den großen Blättern der Pflanze sah es aus wie Schnee.
Nicht wirklich beeindruckend, stellte Lui enttäuscht fest.
Marek stand außerhalb des Kreises und hob die Hände, dann konzentrierte er sich.
„Iuf biu werzab!“, rief er und seine Stimme hallte gegen den Wind wider. Sofort erblühte die Pflanze, noch prachtvoller als zuvor. Marek ließ die Hände sinken und sah ziemlich zufrieden aus.
Lui blieb der Mund offen stehen. Das soll ich nachmachen?
Er schluckte.
„Meinst du ich schaffe das?“, fragte er Marek.
„Ehrlich gesagt, bezweifle ich das! Eigentlich können nur Indianer die Schamanenkunst erlernen, aber du kannst es gerne probieren. Hier, nimm die zweite Pflanze.“ Er deutete auf eine andere Pflanze, die mit verschlossen Blüten da stand. Lui goss das Wasser über die Pflanze, sofort begann sie zu verwelken. Dann legte er fünf Steine in je dem selben Abstand, um die Pflanze, wie er es bei Marek gesehen hatte.
Marek reichte ihm die Meeresgischt und Lui schüttete die restliche Gischt über die Pflanze. Der Junge atmete tief durch und hob die Hände, dann schloss er die Augen. „Iuf biu werzab!“ Skeptisch öffnete er die Augen wieder.
Die Blütenblätter hatten sich geöffnet. Die lila Blüte war so schön, dass Lui sie nur anstarren konnte.
Marek runzelte amüsiert die Stirn. „Sehr Interessant! Wirklich, sehr ungewöhnlich! Ich glaube du bist bereit für das Tierwandeln.“
Er trat an den Rand der Klippe. Unter ihm brauste das Meer und der Wind brachte ihnen die kreischenden Geräusche der Möwen, die die Klippe umflogen.
„Ich mache es dir vor!“, rief Marek um das Tosen der Wellen zu übertönen. Er packte eine der beiden Pflanzen und riss ihr die Blütenblätter aus. Langsam schloss er die Hand, in der die Blütenblätter waren und hob sie in die Luft. Er zerrieb die Blütenblätter zwischen den Fingern und ließ sie sanft zu Boden fallen.
Dabei rief er laut: „Iedo inshea unadi e’daj!“
Anstatt vom Wind weggetragen zu werden, umkreisten ihn die Blütenblätter in einem komplizierten Muster, bis sie schließlich vor seinen Füßen zur Ruhe kamen.
Mareks Augen waren glasig und er regte sich nicht.
Plötzlich landete eine der Möwen, vor Lui auf dem Boden.
„Marek?“, fragte Lui leise. Die Möwe kreischte laut und breitete dabei die Flügel aus. Kurz darauf regte sich Marek wieder.
Verwirrt sah die Möwe sich um. Sie drehte sich ein paar Mal im Kreis, bis sie schließlich etwas unbeholfen von der Klippe flog. Etwas verdutzt schlug sie mit den Flügeln, doch dann verschwand sie zwischen den anderen.
„Das Tier ist nach dem Wandeln noch etwas verwirrt, doch dann wird es besser“, sagte Marek, der hinter Lui getreten war.
„Du darfst dich nur auf das Tier konzentrieren. Auf nichts anderes, sonst bist du sofort wieder in deinem eigenen Körper, und zwar nicht sehr sanft. Am besten du suchst dir eine Möwe aus“, schärfte ihm Marek ein.
Lui nickte.
Marek reichte ihm die zweite lila Blume und Lui riss ihr die Blütenblätter aus. Entschlossen nahm er sie in eine Hand und hob sie gen Himmel.
Eine Möwe! Er sah in den Schwarm. Eine besonders große Möwe mit bräunlichem Gefieder stach ihm sofort ins Auge und er konzentrierte sich mit seiner ganzen Macht auf das Tier.
Er dachte, an die kräftigen Flügelschläge, an die kreischenden Geräusche.
Er zerrieb die Blütenblätter zwischen den Fingern und ließ sie fallen.
„Iedo inshea unadi e’daj!“ Die Worte gingen problemlos über seine Lippen.





Er dachte an den leckeren Fisch, daran wie er übers Meer flog und an dem Wind in seinem Gefieder.
Plötzlich stutzte er. Er fühlte tatsächlich den Wind. Unter ihm tosten die Wellen. Er hatte es geschafft.
Er war eine Möwe!
Das Fliegen fiel ihm so leicht wie das Laufen.
Er schoss durch den Himmel und spürte die Schwerelosigkeit und die völlige Freiheit.
Er war so froh wie schon lange nicht mehr.





Marek überlegte.
Der Junge wuchs ihm zu sehr ans Herz. Jetzt gerade ließ er die Blütenblätter fallen.
Marek spürte, dass er gegen seinen Willen stolz auf Lui war.
Die Blütenblätter umringten ihn und verformten sich plötzlich.
Der Indianer sog scharf die Luft ein.
Ein Wolfskopf!
Es war als ob der Junge in dem Mund eines riesigen Wolfes wäre.
Der Junge ist ein Wolfskopf!
Das konnte nicht sein. Das war einfach unmöglich!
Die Blütenblätter sanken nun sanft zu Boden. Es gab nur eine Möglichkeit.
Marek ballte die Fäuste. Noch heute Abend würde er die Runen befragen.





Lui flog durch die Luft. Er lachte vor Freude, was zu einem Kreischen wurde.
Da musste er wieder Lachen.
Er flog über den Wellen und mit dem Wind. Doch plötzlich sah er wieder diese große Rauchfahne.
Waren das wirklich Menschen, die ihm schaden könnten? Oder waren es doch seine Freunde?
Ein heftiger Stoß im Magen regte sich.
Und schon saß er wieder in seinem eigenem Körper.
„Du darfst dich nur auf die Möwe konzentrieren, auf nichts anderes!“, sagte Marek steif.
„Was ist los?“, fragte Lui verwundert.
Warum war Marek so verkrampft?
Es war als ob er Angst vor ihm hatte.
„Das hast du gut gemacht. Aber jetzt muss ich einen Moment allein sein. Lauf, sieh dir die Insel an!“, sagte Marek abwesend.
Lui hielt es für besser nicht zu widersprechen, so konnte er immerhin gefahrlos nach dem Feuer sehen.
Also lief er los, immer der Rauchsäule nach.
Er kam immer näher und hatte nun das deutliche Gefühl, dass seine Freunde ganz nah waren. Ob sie das vergiftete Wasser getrunken haben? Sind sie jetzt so streitsüchtig, dass sie vielleicht gewaltsam werden würden?
Er kam immer näher. Plötzlich durchbrach er das Dickicht und sah seine Freunde wütend am Feuer sitzen.
Jenny war immer noch ohnmächtig und Lee und Jan funkelten sich böse an.
„Ach, sieh mal, Lee! Wer sich auch einmal bequemt hat endlich zu kommen“, sagte Jan spöttisch.
„Wo warst du die ganze Zeit?“, fragte Lee wütend. Sie stand auf und stampfte mit dem Fuß auf. „Weißt du wie lange wir hier gewartet haben?“
„Was?“, fragte Lui verwirrt.
Was meint sie damit?
Sein Blick wanderte zu einer kleinen Wasserschüssel, die umgekippt war. Das Wasser versickerte nicht normal im Sand, sondern verfärbte ihn schwarz.
Eine furchtbare Vorahnung überkam ihn. Oh je! Was soll ich jetzt tun?
„Hat Jenny auch von dem Wasser getrunken?“, fragte er vorsichtig, darauf bedacht Jan und Lee nicht noch mehr zu reizen.
„Natürlich! Wir lassen sie doch nicht verdursten!“, zischte Lee giftig.
Ob der Zauber, den ich bei der Pflanze gewirkt habe, auch bei Menschen funktioniert?
Er könnte es versuchen. Zu allererst brauchte er Meeresgischt.
Aber wie fängt man Meeresgischt?
Er nahm sich vor es einfach zu probieren.
Am Strand lag die aufgeschäumte Meeresgischt und Lui sammelte sie ein und tat sie in die leere Schüssel, in der das Gift drin war.
Er lief wieder zurück und stellte die Schüssel in den Sand. Dann legte er fünf Kiesel um das Lager seiner Freunde.
„Erst taucht er auf einmal auf und dann tut er so als wäre überhaupt nichts gewesen!“, sagte Jan. Dann ließen sie einen Schwall von Beschimpfungen auf ihn ab. Lui ließ sich nicht beirren und schüttete die Gischt über sie.
„Was soll das?“, rief Lee wütend „Warum…?“
Lui hörte nicht hin und rief: „Iuf biu werzab!“
Zu seiner Verwunderung schlug Jenny die Augen auf und Lee und Jan sahen ihn an, als wären sie aus einem Traum erwacht.
Dann riefen beide gleichzeitig: „Lui!“, liefen auf ihn zu und umarmten ihn.
„Wo bin ich?“, krächzte Jenny. Und Lee und Jan liefen in die andere Richtung und umarmten lachend auch Jenny. Auch Lui kam herbei. Und eine Weile hielten sie sich fest in den Armen und konnten nur lachen.


Kapitel 16: Verräter!

Marek befragte die Runen ein weiteres Mal. Er konnte es nicht glauben! Das durfte nicht sein! Er musste den Jungen sofort finden! Auf der Stelle! Marek überlegte. In der Prophezeiung hatte zwar etwas von einem Wolfskopf gestanden, dennoch war es für ihn so unerwartet, dass er erstmal nicht wusste, wie er anfangen sollte. War der Junge dadurch gefährlicher für ihn und seine Schwester? Er atmete tief durch. Er würde das machen worauf er sich schon ein Jahr vorbereitet hatte.
Ich muss diese Kinder töten!





Lee erzählte Lui und Jenny, was passiert war und Lui erzählte was ihm widerfahren war. Am Ende lachten wieder alle ohne Grund. Sie waren so froh endlich wieder zusammen zu sein.
„Kein Wunder, dass ich und Lee uns nur gestritten haben. Es lag an dem Wasser!“, sagte Jan.
„Deswegen habe ich auch diese ganzen Tiere gesehen! Meinst du es hat etwas damit zu tun?“, fragte Lee Lui.
„Ich glaube schon! Dieses Wasser hat bei dir, als du es gerochen hast Halluzinationen hervorgerufen“, erklärte Lui.
„Das erklärt einiges!“, seufzte Lee. Plötzlich durchbrach eine scharfe Stimme dieses freundliche Wiedersehen.
„Ich zerstöre nur ungern diese liebliche Idylle, aber es muss sein.“
Die Kinder fuhren herum. Hinter ihnen stand Marek mit einem Messer in der Hand. Lee sprang sofort auf und Jan stellte sich vor Jenny um sie zu schützen, da sie noch zu schwach war um aufzustehen. Marek wollte zum Angriff ansetzen, doch urplötzlich schoss Lui dazwischen und Marek hielt für einen kurzen Moment inne, diese Zeit reichte Lui.
„Hört auf! Marek, was ist denn in dich gefahren?“
Marek blinzelte ein paar Mal verwirrt, dann schien sich sein Ausdruck plötzlich zu verhärten.
„Tut mir leid, Lui!“, sagte er ruhig. Dann stach er mit dem Messer nach ihm. Doch Lui konnte gerade noch rechtzeitig ausweichen. Er schnappte sich ein Holzstück, das im Feuer gelegen hatte und stellte sich breitbeinig vor Lee.
„Ich kann auch kämpfen!“, sagte sie trotzig und trat neben ihm.
„Sieht so aus, als würde das vergiftete Wasser doch noch wirken“, sagte Lui grinsend.
„Gar nicht wahr! Ich…“, doch Lui ließ sie nicht zu Ende reden, sondern warf sie schnell zu Boden. Ein Stein, so groß wie ein Fußball, zischte über ihre Köpfe hinweg.
„Marek! Ich flehe dich an: Hör auf!“, rief Lui am Boden liegend. Marek sah ihn mit unbewegtem Gesicht an. „Wenigstens einen von euch muss ich töten, damit die Prophezeiung nicht erfüllt wird.“
Lui rappelte sich auf. „Was für eine Prophezeiung? Wovon redest du?“
Wütend umfasste Marek sein Messer und schoss auf Lui zu. Lee reagierte sofort und raste ihm entgegen. Sie wusste nicht, was sie jetzt vorhatte. Doch sie wusste, dass irgendetwas passieren musste. Plötzlich erinnerte sie sich an Jennys und ihre Versuche einen Flickflack hinzubekommen. Irgendwann hatten sie aufgegeben. Das was Lee nun in den Kopf schoss, war viel schwieriger als ein Flickflack, doch wie gewöhnlich, dachte sie nicht über solche Dinge nach, sondern tat es einfach. „Immer mit dem Kopf durch die Wand!“, hatte ihre Mutter einmal lachend gesagt. Diese Sportstunden in denen sie endlos lange Radwende und Handstand übten, mussten ja auch mal für irgendetwas gut sein. Entschlossen vollführte sie einen Flickflack sprang allerdings auf den Händen ab, flog über Marek der sich erschrocken duckte und schlug ihm mit dem Fuß das Messer aus der Hand. Sicher kam sie wieder auf beiden Beinen auf. Erst jetzt bemerkte sie, was für einen waghalsigen Sprung sie gerade dargelegt hatte. Ihre Beine gaben nach und sie ließ sich auf den Boden fallen.
Wie...Wie habe ich das nur geschafft? Marek stolperte und war einen kurzen Moment ohne Gleichgewicht, das nutzte Jan und hob schnell das Messer auf. Mit einem Wutschrei fand Marek das Gleichgewicht wieder. Schnell rappelte Lee sich auf. Langsam begannen die Kinder Marek zu umkreisen. Wie ein gehetztes Tier sah der Schamane sich um. Plötzlich sprach Lee mit fester Stimme: „Sasuun hat dich geschickt, nicht wahr?“ Marek lachte spöttisch. „Nicht nur sie, auch ich habe mich geschickt.“
„Dann bist du kein Einsiedler?“, rief Lui aus.
„Nein!“
Lee zog die Augen zu zwei Schlitzen zusammen. Jan umfasste Mareks Messer fester. Der Schamane bleckte die Zähne, alle waren in Angriffsstellung. Nur Lui ließ langsam den glühenden Stock sinken. Er konnte den Blick nicht von Marek wenden.
„Warum hast du mich angelogen?“, fragte er mit bebender Stimme.
„Ich musste euch auseinander bringen. Hätte ich es geschafft, müsste ich euch jetzt nicht umbringen. Ich hätte es tun sollen, als ich noch die Chance gehabt hatte…“, sagte Marek zornig.
„Warum hast du es nicht getan?“, fragte Lui.
„Ich zog es in Erwägung, als ich mit dem Messer über dir stand, um dir eine Haarsträhne abzuschneiden. Ich überlegte, ob ich dir das Messer in dein kleines, unbedeutendes Herz rammen sollte. Doch…ich konnte es nicht. Mir kam eine andere Idee: Wenn ich dich eine Weile bei mir gelassen hätte, wäre mir etwas eingefallen, was es wie einen Unfall aussehen lassen würde, dann hätte ich mir einreden können, es wäre wirklich einer“, Mareks Stimme war fast zärtlich und so hoffnungslos, dass Lee eine Gänsehaut bekam. Er ist verrückt! Es gibt keine andere Möglichkeit! Er hat den Verstand verloren! Lui umfasste den Stock so fest, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten. Es war eine Weile still. Keiner bewegte sich.
„Ich will jetzt die ganze Geschichte hören!“, flüsterte er erstickt. Marek atmete einmal tief durch. Dann grinste er boshaft. „Sasuun ist meine Zwillingsschwester. Sie wollte die mächtigste Schamanin der Welt werden. Mich reizte es auch so viel Macht zu besitzen. Sie sprach von einer Prophezeiung und sagte, dass ihr uns aufhalten könntet. Ich glaubte es ihr, schließlich war er dabei“, er deutet auf Lui „Und sie“, er deutet auf Lee „die Tochter von Jack.“
Lee zog scharf die Luft ein. „Woher kennst du meinen Vater?“
„Er hat es dir nicht erzählt?“, Marek grinste spöttisch.
„Sag es mir!“, giftete Lee.
„Dein Vater war einer von uns.“
„Wie meinst du das?“, fragte Lee verwundert.
„Er gehörte zu unserem Stamm.“
„Erzähl es mir!“
„Er wollte wissen wie wir Indianer leben. Also suchte er uns auf. Damals musste er ungefähr zwanzig Jahre alt gewesen sein. Wir gaben ihm seinen Willen und schon bald trat er unserem Stamm bei. Dein Vater und ich wurden Freunde. Nur meine Schwester konnte ihn nicht leiden, weil er besser war als sie.“
„Besser in was?“, fragte Lui skeptisch.
„Besser in der Schamanenkunst. Sie zeigte mir die Prophezeiung und sagte, dass es, sollten diese Kinder scheitern, einem Schamanen helfen kann, große Macht zu erlangen. Nun kam ihr noch eine andere Idee. Dein Vater hat die größte Kraft, die sie je gesehen hatte und deswegen wollen wir ihm diese Kraft…“, er machte eine Pause „…aussaugen.“
„Was?“, schrie Lee. Marek ignorierte sie.
„Wir müssen ihn töten und mit einem kleinen Ritual werden seine Kräfte in uns übergehen und wir werden die stärksten Schamanen der Welt! Meine Aufgabe war es euch auseinander zu bringen, zur Not auszuschalten. Für alle Fälle schickte Sasuun ihren Adler. Ich glaube er ist tot, aber sie hat noch einige andere Tiere, die sie benutzen könnte, also freut euch nicht zu früh.“
„Ihr kriegt meinen Vater nicht!“, rief Lee wütend.
„Aber wir haben ihn doch schon längst.“, sagte Marek höhnisch. Plötzlich schoss Marek auf Jan zu. Er warf ihn zu Boden und wollte nach seinem Messer greifen. Schnell rannte Lee zu ihnen und versuchte Marek von Jan wegzureißen. Doch der kräftige Mann stieß Lee von sich und fing an Jan zu würgen.
„Nein!“ Lui eilte zu seinem Freund und schlug Marek mit dem glühend heißen Stock auf den Hinterkopf. Vor Schmerz aufschreiend rollte sich der Schamane von dem Jungen herunter und hielt sich reflexartig die Hände über den Kopf. Jan rappelte sich auf und stürzte sich mit dem Messer auf ihn. „Nein!“, schrie Lui erneut und griff nach Jans Hand.
„Lui! Lass mich los! Er bringt uns sonst um!“, schrie Jan.
„Das ist mir egal! Könntest du ihn töten?“, fragte Lui mit zusammengebissenen Zähnen. Lee lief zu Marek und hielt ihn fest, was ihr nicht schwer fiel, denn Marek zeigte keine Gegenwehr. Lui riss Jan das Messer aus der Hand und ging auf Marek zu.
„Stich doch zu!“, zischte Marek und sah Lui durchdringend an. „Erstech mich doch!“
Lui hob das Messer. Lee überkam eine Woge von Angst. Er würde einen Menschen töten, um seine Freunde zu retten? Die Lippe des Jungen zitterte, während er in Mareks Augen sah.
„Du willst es? Dann tu es!“, presste Marek mit zusammengekniffenen Lippen hervor. Lui ließ das Messer sinken und stolperte zurück. „Ich…Ich kann nicht!“ Er fing an zu zittern, dann atmete er tief durch und näherte sich Marek noch einmal. „Du kannst gehen!“, sagte er und ließ das Messer vor dem Schamanen auf den Boden fallen.
„Lui! Nein!“, kreischte Lee, doch Marek war schneller. Er riss sich von Lee los, hob das Messer auf und presste es an ihre Kehle. Jenny schrie auf, doch Jan und Lui waren vor Schreck wie gelähmt.
„Wenn ihr euch bewegt, stirbt sie!“, sagte Marek drohend. „So ist es gut!“ Der Mann wich langsam mit Lee immer weiter zurück. Hilflos mussten die Jungen und Jenny zusehen, wie Marek Lee wegführte. Lee zitterte und strauchelte hilflos vor Marek herum, dieser hielt ihr das Messer zwischen die Schulterblätter und sah mit einem Blick, der wie der Blick eines Verrückten war, immer wieder zurück, bis sie ganz verschwunden waren. Kaum waren sie außer Sichtweite schnappte sich Lui Mareks Messer und huschte hinterher. Jan machte Anstalten ihm zu folgen, doch Lui hielt ihn zurück.
„Jan! Ich muss das alleine schaffen! Bleib bei Jenny, bitte!“, sagte Lui und in seinem Blick lag etwas, was keinen Widerspruch duldete. Jan schüttelte verwirrt den Kopf.
„Nein…wir sind ein Team! Wir beide! Weißt du nicht mehr?“
„Aber hierbei kannst du mir nicht helfen!“
„Wie meinst du….“
„Bitte vertrau mir!“ Mit diesen Worten verschwand Lui im Dickicht und ließ Jan bei Jenny zurück.


Kapitel 17: Schamanenkraft!

Der Junge lief, wie er hoffte, geräuschlos hinter Marek und Lee her. Der Schamane schleifte Lee durchs Dickicht und sah dabei immer nach Verfolgern um sich. Wie ein Irrer ließ er das Mädchen vor sich herlaufen. Sie liefen auf einem Trampelpfad, während Lui neben dem schmalen Weg herschlich. Lee schaute verzweifelt in Richtung Strand, als ob sie jemanden sehen würde, der ihr helfen könnte. Plötzlich lachte Marek auf. Sein Lachen war hoch und hysterisch. „Ich weiß, dass du uns folgst!“, rief er „Ich habe damit kein Problem, du kannst sowieso nichts unternehmen. Aber du darfst gern zusehen, wie sie stirbt. Sie hat eine noch stärkere Kraft als ihr Vater.“ Er drückte Lee das Messer noch stärker an den Hals und sah sich wild um. Lui blieb still sitzen und hielt die Luft an. Mareks Augen waren so wirr gewesen, dass ihm ein Schauer den Rücken herunter lief. Marek lief weiter und Lui folgte ihm, obwohl er wusste, dass Marek ihn sah. Der Schamane stieß Lee auf die hohe Klippe. Er schleppte sie an den Haaren bis an den Rand. Das Mädchen schrie auf vor Schmerzen. Doch Marek achtete gar nicht auf sie und lief schnurstracks auf einen Holzstamm zu, der aufgestellt in der Mitte der Klippe stand. Vorhin war der Stamm noch nicht da gewesen, das wusste Lui ganz genau. Lee wurde an den Stamm gedrückt und an den Handgelenken um den Stamm gefesselt. Marek holte eine Schale aus einer Nische. In der Schale war eine rötliche Flüssigkeit, die sehr scharf roch. Sogar Lui konnte es bis in sein Versteck riechen. Der Mann ging mit der Schüssel auf Lee zu und blieb höhnisch grinsend vor ihr stehen. Er steckte das Messer in seinen Gürtel, tunkte die Finger in die rote Flüssigkeit und bemalte damit seine Hände und sein Gesicht in einem verschlungenen, komplizierten Muster. Dann malte er bei Lee die Selben Muster auf. Er stellte die Schüssel weg, kam bedrohlich auf sie zu und holte mit dem Messer aus. Lee trat ihn mit einem gezielten Tritt vors Schienbein. Fluchend ließ Marek das Messer fallen. Das war Luis Chance! Langsam schlich er sich mit einem festen Stock von hinten an und holte aus. In dem Moment als er den Stock auf Mareks Kopf hinunter sausen ließ, drehte dieser sich um und entriss Lui den Stock. Der Junge stolperte über seine eigenen Füße und fiel hin.
„Jetzt reicht es mir mit euch!“, brüllte Marek und stieß einen ohrenbetäubenden Pfiff aus.
„Ich wollte schonend mit euch sein, doch jetzt habe ich keine Wahl. Außerdem habe ich so, mehr Spaß!“, sagte Marek gehässig und zwischen seinen Beinen schlängelte sich bedrohlich eine Schlange auf Lui zu. Ängstlich wich der Junge zurück. Aber vergeblich, denn von allen Seiten kamen die bedrohlichen Zischgeräusche. Lui stand in einem Kreis von Schwänzen, giftigen Zähnen und bösartigen Augen. „Lebt wohl, meine kleinen Freunde!“, sagte Marek ausdruckslos.





Lee stockte der Atem. Überall waren Schlangen und schlossen den Kreis wie eine Schlaufe so eng, dass ihr die Luft wegblieb. Sie konnte rein gar nichts tun. Sie konnte nur stehen bleiben und warten. Als wäre vor ihr ein riesiger schwarzer Abgrund, dem sie nicht entkommen konnte. Sie spürte die Schlangen, die sich zwischen ihren Beinen hindurchschlängelten und zielstrebig auf Lui zu krochen. So langsam als wäre es in Zeitlupe. Eine Schlange kroch den Pfosten hoch an dem Lee gefesselt war. Sie spürte ihren schuppigen Körper, wie der Schlangenschwanz hin und her zuckte und den kühlen Atem an ihren Handgelenken.
Lui stach mit dem Messer um sich, doch was half das bei giftigen Schlangen? Sie spürte wie die Schlange hinter ihr ausholte, um ihre Giftzähne in Lees Hand zu stoßen. Sie presste die Hände so weit wie möglich vom Pfosten weg, sodass zwischen ihr und dem Pfosten noch Luft war. In dem Moment als die Schlange zustoßen wollte warf sie die Hände mit aller Kraft gegen den Pfosten. Die Schlange erwischte anstatt der Hand die Fesseln und durchtrennte sie. Lee fiel vorn über und rollte sich geschickt ab. Die Schlange landete mit einem dumpfen Schlag auf dem Boden. Nun stand Lee in demselben Kreis wie Lui. Sie merkte, dass er in eine Art Trance verfallen war, während die Schlangen sie immer enger umkreisten. Er murmelte vor sich hin und fing an um sich zu schauen und nach etwas zu suchen bis sein Blick an einer Blumen hängen blieb, der die Blüte fehlte. Mit ungeheuerlicher Kraft und Geschwindigkeit rannte er los, stieß sich vom Boden ab und sprang über die Schlangen, die sich zischend aufstellten, um nach ihm zu schnappen. Er rannte weiter und schnappte sich die merkwürdige Blume. Die Schlangen zischten wütend auf und schlängelten sich auf ihn zu. Lui schleuderte die Pflanze zu Marek. In einem Reflex fing dieser sie auf, doch ließ sie im nächsten Moment panisch wieder fallen, als er hörte was Lui murmelte. Luis Augen waren leer und er sprach in einem monotonen Singsang. In einer Sprache, die Lee noch nie zuvor gehört hatte und die ihr doch irgendwie bekannt vorkam. Doch anscheinend hatte Marek zu recht so reagiert. Die Schlangen machten kehrt und griffen Marek an. Marek wich zurück, hatte nun aber keine Möglichkeit mehr zu fliehen, denn die Schlangen kamen von allen Seiten auf ihn zu und fingen an Marek in Stücke zu reißen. Vor Schrecken konnte Lee sich nicht rühren. Mareks Schreie ließen sie zusammen fahren. Lui zog sie mit sich, während ihm die Tränen über das Gesicht rannen. Sie liefen zielstrebig auf den Strand zu. Der Junge hatte erkannt, dass Marek einen Zauber mit der Blume gemacht hatte. Am Anfang hatte er es nur vermutet, doch dann war er sicher gewesen. Ich habe ihm vertraut und jetzt habe ich ihn umgebracht.
Warum habe ich das getan? Es war ein Reflex! Ich musste Lee retten. Plötzlich bemerkte er, dass Lee ihn musterte. Er bekam das Gefühl, dass sie ihn für verrückt hielt oder sich gar vor ihm fürchtete.
„Ich wollte das nicht tun!“, sagte Lui mit Tränen in den Augen. „Aber es war unsere einzige Chance. Er war verrückt!“
„Du musstest es tun! Du hast das Richtige getan!“, sagte Lee tröstend. Lui nickte dankbar.
Ohne ein weiteres Wort gingen sie weiter. Als sie ankamen, bombardierte sie Jan mit Fragen, doch Lui hob abwehrend die Hände. Jenny schlief seelenruhig und das Meeresrauschen hatte etwas Tröstendes. Wieso war die Welt nur so ungerecht? Die Sonne ging unter. Lee ließ die Meeresbrandung an ihren Füßen lecken und schaute hinaus. Wieso gab es so viel Leid? Und wieso mussten es manche so früh erleben? Wieso sind wir auf uns gestellt? Doch einem war sich Lee sicher, sie würden es schaffen und wenn sie ans Ende der Welt reisen müssten. Wenn man Freunde hatte auf die man sich verlassen konnte, gab es kein Hindernis das zu groß wäre.
Zusammen war man nie allein. Lee lächelte. Und alles was sie brauchte hatte sie, auch wenn man so viel dafür zahlen musste. Sie sah zu Lui, der auf einer kleinen Klippe in der Nähe saß. Sie sah seine Schultern zucken. Und sie wusste, dass er den gleichen Sonnenuntergang sah wie sie. Schon als sie ihn das erste Mal gesehen hatte, hatte sie sich mit ihm verbunden gefühlt und sie wusste, dass er genauso für sie empfunden hatte. Bei Jenny war es nicht anders gewesen und Jan, hatte sie jetzt schon lieb gewonnen. Sie ging zu Lui, legte ihm einen Arm um die Schultern und setzte sich neben ihn. In diesem Moment wollte sie sich nie mehr bewegen. Sie wollte für immer hier sitzen bleiben. Und mit Lui in den Sonnenuntergang sehen. „Ich hatte ihm vertraut.“, schluchzte Lui. Lee umarmte ihn noch fester.
„Wenn du gewusst hättest, was alles passieren würde. Wärst du dann mitgekommen?“, fragte sie. Lui nickte. „Ich lass dich nicht allein, das habe ich schon einmal getan. Ich werd’s nie wieder tun!“ Lee lächelte. Sie schwiegen eine Weile. Plötzlich standen Jenny und Jan vor ihnen.
„Jenny!“, jubelte Lee. „Dir geht’s wieder gut.“ Jenny grinste und setzte sich neben sie.
Zu viert sahen sie in den Sonnenuntergang. Sich gegenseitig festhaltend, damit sich keiner verlor in den großen Weiten des Himmels.


Kapitel 18: Eine Bootsfahrt übers Meer!

Am nächsten Tag bauten sie ein Floß aus Ästen und Baumstämmen so gut es ging. Lee flocht aus Binsen ein Seil, es war relativ robust, dann pflückten sie sich so viele Bananen wie möglich und bauten einen Unterstand auf dem Floß, damit sie vor der sengenden Sonne auf hoher See geschützt waren. Am Nachmittag waren sie fertig. Und Lee dankte abermals, dass sie ihr Taschenmesser mitgenommen hatte. Die Welt ist groß, aber die Herzen von ihren Freunden waren noch größer. Sie verließen die Insel und ruderten hinaus auf das offene Meer. Traurig sah Lui der Insel nach, bis sie irgendwann am Horizont verschwand.





Wasser! Überall nur Wasser! Wie sehr vermisste Lee das Land. Von dem vielen Salzwasser taten ihr die Augen weh. Zwei Tage waren sie schon auf dem Meer. Lee sah dem Sonnenuntergang nach. Irgendwo in dieser Richtung war ihr Vater. Gefangen von Sasuun. Jenny hatte die Aufgabe immer nach Westen zu sehen, der Sonne nach. So blieben sie ungefähr immer auf dem gleichen Kurs. Lee ließ ein Ruder auf der einen Seite des Floßes herunter, das Boot drehte sich ein wenig.
„Lee!“, rief Jan. Als das Mädchen zu ihm kam half ihm Lui gerade Meerwasser in die Holzschüssel zu füllen. Dann zog Lui die Schale mit dem vergifteten Wasser hervor.
„Lee, hältst du, bitte, die Holzschüssel?“, fragte Jan. Lee gehorchte. Jan nahm die vergiftete Schale Wasser und hielt sie unter die Holzschüssel. Lui konzentrierte sich und ließ kleine, lila Blütenblätter, hineinfallen. Dann sprach er: „Fire irbu ezbui!“ Sofort stand das Wasser in Flammen. In der Holzschüssel rührten sie kräftig mit einem Stock um. Nach einer Weile hatte sich das Salz aufgelöst und die vier Kinder tranken durstig. Es dämmerte schon, als sie Lui für die ersten beiden Stunden der Nachtwache einteilten, danach würde Lee an seiner Stelle Wache halten und das Boot lenken. Der Himmel war klar, die Sterne funkelten und waren so zahlreich, wie Lee sie noch nie gesehen hatte. Eine Zeit lang starrte sie in den Himmel. Schließlich stand sie auf und ging zu Lui hinüber, der am Floßrand saß.
„Woher kannst du das?“, fragte sie ein wenig neidisch.
„Was?“
„Die Schamanenkunst. Du bist kein Indianer. Hast du das alles bei Marek gelernt?“
„Nicht alles! Das Feuer…“,er machte eine Pause. „Ich kann es dir nicht erklären. Ich weiß einfach wie es geht. Ich kann es spüren.“ Lee schwieg. So etwas hatte sie noch nie gehört.
„Ich würde es dir erzählen“, sagte Lui „wenn ich wüsste, was es ist.“
Er sah so gequält aus, dass Lee sich damit zufrieden gab. Was auch immer er meinte, sie war sowieso zu müde um darüber nachzudenken. Auf einmal sprang Lui auf. „Lee, sieh doch!“
Ein grauer Rücken kam an die Oberfläche und gab einen prustenden Laut von sich auf den eine Wasserfontäne folgte. Der nächste Walrücken kam und wieder der nächste. Lee hielt den Atem an und stellte sich neben ihn. Luis Hand umschloss die ihre und zusammen lauschten sie dem traurigen Gesang der Wale.


Kapitel 19: Frau Descuâr!

Lee wachte in einem weichen Bett auf. Schläfrig sah sie sich um. Sie sah ein einladendes Zimmer mit weißen Wänden und einem kleinen, schmalen Schrank. Erschrocken suchte sie nach ihren Freunden. Sie waren nicht bei ihr. Lee sah an sich herunter und bemerkte, dass sie frische Kleider an hatte. Ein türkises Hemd mit einer samtenen türkisen Hose. Sie stieg aus dem Bett und ging zu einem Bullauge, das ihr verriet, dass sie sich auf einem Schiff befand. Sie stieß einen kleinen Schrei aus, als die Tür geöffnet wurde und eine Frau mit einem Geschirrwagen hereinkam auf dem ein Tablett mit Essen war. Die Frau sagte etwas auf einer Sprache, die Lee noch nie zuvor gehört hatte. Als die Frau merkte, dass Lee sie nicht verstand, sprach sie auf verschiedenen Sprachen auf sie ein. Bis Lee endlich so etwas ähnliches wie Deutsch wahrnahm. Als die Frau merkte, dass Lee sie verstand erklärte sie ihr, dass alles gut werden würde, stellte das Tablett auf einen kleinen Tisch und ging wieder. Auf Lees Frage, wo die anderen seien, gab sie keine Antwort. Auf dem kleinen Tisch lagen ein Glück noch Lees Taschenmesser und ihr weiteres Gepäck. Sie hörte ihren Magen knurren und aß das Essen, das die Frau ihr gebracht hatte. Es handelte sich um noch warme Brötchen, Butter, Marmelade und warmen Kakao. Doch dann wurde sie neugierig und verließ das Zimmer, um die anderen zu suchen. Das Schiff schien nicht sehr groß zu sein, und außer den Matrosen war ihr noch niemand sonst aufgefallen. Schließlich kam einer der Matrosen auf sie zu und gab ihr ein Zeichen, ihm zu folgen. Er führte sie unter Deck durch mehrere Türen, bis sie vor einer besonders großen Tür standen. Der Mann öffnete sie und trat ein. Sie betraten einen hellen, großen Raum mit einem riesigen Fenster, das gegenüber der Tür war. Eine Gestalt, die ihnen den Rücken zugedreht hatte schaute auf das Wasser. Für einen Moment glich diese Silhouette Sasuun so sehr, dass sich Lees Nackenhaare aufstellten. Doch die Frau am Fenster hatte rote Haare und stand viel zu stramm und überlegen da, als dass es eine Indianerin hätte sein können. Die Frau sagte etwas in einer anderen Sprache ohne sich umzudrehen. Der Mann antwortete etwas noch unverständlicheres, dann ging er aus dem Zimmer. Lee drehte sich um, um ebenfalls zu gehen. „Du nicht!“, sagte die Frau schneidend. Sie drehte sich um und Lee erkannte ein spitzes Gesicht und klare blaue Augen.
„Ich habe deine Freunde schon rufen lassen“, sagte sie ohne auch nur den Hauch eines Akzents zu haben und dennoch merkte man, dass sie keine Deutsche war. Ihre Freunde die Lee beim Eintreten gar nicht bemerkt hatte, saßen an einem Tisch nicht weit entfernt von ihr. Auch sie hatten neue Kleider an. Wobei Lee bemerkte, dass die Jungen blaue Sachen anhatten, Jenny und sie allerdings Türkise. Lee ging auf den Tisch zu und setzte sich auf einen freien Stuhl. Es war gespenstisch still, wie die bedrohliche Ruhe vor einem heftigen Sturm. Sie fühlte sich wie eine Verbrecherin, die nun auf ihre gerechte Strafe wartete. Und sie bemerkte, dass es ihren Freunden nicht anders ging. Die Frau kam mit großen Schritten auf sie zu und setzte sich zu ihnen.
„Ich bin Kapitän Descuâr und wir sind auf dem Weg nach Nordamerika. Darf ich erfahren wo ihr hinwolltet?“, gefährlich senkte sie die Stimme. Die Kinder sahen sich an und tauschten Blicke aus, wer darauf antworten sollte. Der Blick blieb an Jenny hängen. Sie seufzte. Genervt rieb sich Frau Descuâr die Schläfe.
„Erzähl mir die ganze Geschichte!“, befahl sie knapp. Lee gab Jenny durch ein Zeichen zu verstehen. Dass sie so gut lügen sollte wie möglich. Jenny runzelte kurz die Stirn, dann fing sie an zu erzählen: „Lui, Lee, Jan und ich sind Klassenkameraden. Wir machten eine Klassenfahrt erst fünf Tage in Dänemark und dann zwei Wochen in Nordamerika. In Dänemark sind wir zu weit raus geschwommen und wurden von der Strömung erfasst. Wir konnten uns nur noch mit Müh und Not an ein paar Planken festhalten. Ein Glück fanden wir auf einer Insel zuflucht“, hier stockte Jenny und erzählte schließlich, dass dort ein Mann lebte, der seine Schlangen auf Lee und Lui gehetzt hatte und sie alle umbringen wollte.
„Er muss verrückt geworden sein. Plötzlich aber fraßen die Schlangen ihn.“
„Wie war der Name dieses Mannes?“, fragte die Frau mit unergründlichem Gesichtsausdruck.
„Marek!“
Kapitän Descuâr zuckte zusammen, sagte dann aber, Jenny solle fortfahren.
„Marek hatte ein Handy bei sich. Wir riefen bei unserem Klassenlehrer an. Er sagte, dass er Hilfe schicken würde und dass wir auf Rettung warten sollten. Wenn wir gefunden wurden, sollten wir nach Nordamerika gehen. Er sagte, dass er wissen würde wo wir anlegen würden und, dass er da wo wir ankämen auf uns warten würde. Irgendwann hielten wir es nicht mehr aus, bauten uns ein Floß und ruderten raus. Und jetzt sind wir hier.“ Damit beendete Jenny ihren Bericht. Lee wunderte sich, was diesem Mädchen alles einfiel. Es war zwar ein wenig unlogisch, da sie sehr weit geschwommen sein mussten, um auf die Insel zu kommen, doch das würde hoffentlich nicht auffallen. Frau Descuâr sah sie zweifelnd an, dann füllten sich ihre Augen mit Tränen. „Marek, ist…ist er wirklich…tot?“
Jenny nickte. „Kannten Sie ihn?“
Frau Descuâr blinzelte die Tränen weg. „Er war mein Mann!“ Sie fing an zu weinen. Hilflos saßen die Kinder da. Nach ein paar Minuten hatte sich die Frau wieder zusammengerissen.
„Was ist denn passiert?“, fragte Lee mitfühlend. Frau Descuâr schluckte.
„Das ist eine lange Geschichte.“
„Erzählen Sie es uns ruhig. Sie werden sehen, danach wird es Ihnen besser gehen“, sagte Lui, der Frau Descuâr ablenken und gleichzeitig Mareks Geschichte erfahren wollte.
Frau Descuâr nickte. „Wahrscheinlich habt ihr Recht.“
Erwartungsvoll sahen die Kinder sie an.
„Ich lernte ihn, in Deutschland kennen. In einem Cafe.“
„Wo haben sie denn gelebt, bevor sie nach Deutschland gegangen sind?“, fragte Jan.
„Ich komme aus Asien, jedenfalls trafen wir uns immer öfter. Schließlich verliebten wir uns. Eines Tages erzählte er mir, dass er ein Indianer sei. Ich hielt es für Schwachsinn, doch er blieb ernst. Er brachte mich zu seinen Verwandten. Zu seinem ganzen Stamm. Danach musste ich ihm versprechen, ihm immer zu glauben. Ich tat es. Eine Woche nach dem Besuch bei seinem Stamm verlobten wir uns. Zwei Monate später heirateten wir. Von seinen Verwandten kam nur seine Zwillingsschwester, Sasuun, zu unserer Hochzeit.“ Lee sog scharf die Luft ein, als sie den Namen der Indianerin hörte.
„Sie hat wie wild auf ihn eingeredet und hat versucht ihn zu irgendetwas zu überreden. Ich weiß nicht was Marek geantwortet hat. Vor einem Jahr wurde ich schwanger. Als ich das Baby gebar, starb es gleich darauf. Ich weinte tagelang. Doch Marek hatte sich schnell wieder gefasst. Schließlich berichtete er mir, was seine Schwester und er auf der Hochzeit geplant hatten. Er wollte…“ Sie machte eine Pause und fing wieder an zu Schluchzen.
„Was wollte er tun?“, fragte Lee sanft, obwohl sie die Antwort schon vermutete.
„Er sagte,…er müsse Kinder… vier Kinder….töten!“ Sie schluchzte. „Wir hatten vor kurzen unser eigenes Kind verloren und nun wollte er vier Kinder töten. Ich sagte ihm, dass ich das nie zulassen würde. Doch er ging einfach. Er verschwand und verließ mich, um seine schreckliche Tat zu vollbringen. Ich wusste, dass er auf einer Insel sein würde, das hatte er mir erzählt. Also kaufte ich mir ein Schiff und suchte ihn. Das war nicht einfach, denn die Insel ist nur eine treibende Scholle. Ich war fest entschlossen diese Kinder zu retten und ich habe es geschafft.“ Weinend umarmte sie die Kinder. Lee fiel auf wie nett Frau Descuâr auf einmal war. „So lange ich bei euch bin, wird euch nichts geschehen!“


Kapitel 20: Ankunft in Nordamerika!

„Ihr habt Marek getötet. Meinen Bruder!“ Sasuuns Augen blitzten auf. „Ich werde keine Ruhe geben bis ihr tot seid.“ Lee hätte sie so gern angeschrieen, gebissen und geschlagen, doch sie konnte ihr noch nicht einmal antworten. „Dich Lee werde ich als letztes töten, damit du zusehen musst, wie die anderen leiden.“ Bilder blitzten in Lees Erinnerung auf. Bilder von Jan, Jenny und Lui. Bilder von ihren Eltern. Sie litten, schrieen und flehten Lee an ihnen zu helfen. Schließlich lachte Sasuun auf und machte dadurch dem Spuk ein Ende. Dann löste sie sich langsam in Luft auf.





Fünf Tage waren sie auf See und Frau Descuâr behandelte sie wie Könige. Wenn sie anlegten, würde sie wahrscheinlich warten, bis sie ihr „Klassenlehrer“ abholte. Aber er würde nicht kommen. Was würde dann passieren? Weder Jenny noch Lui oder Jan konnten Lee eine Antwort darauf geben. Eine Stunde bevor sie in einem kleinen Hafen anlegten, wurden sie mit Ausrüstung ausgestattet. Feste Kleidung, warme Jacken und Proviant. Dann legten sie an und die große Frage die sie sich die ganze Zeit gestellt hatte, war mit einem Mal beantwortet.
Da stand ein dunkelhäutiger Mann mit einer Feder im Haar und ausdruckslosem Gesichtsausdruck. Er schien Anfang vierzig zu sein und er hatte Kleider aus Büffelleder an, was Lee sofort auffiel. Sie blieb wie angewurzelt auf dem Anlegeplatz stehen. Doch Frau Descuâr lief sofort auf ihn zu.
„Sie müssen der Klassenlehrer sein. Ich bin Frau Descuâr.“, sagte sie und streckte ihm die Hand hin. Oh weh, jetzt wird sie bemerken, dass das mit dem Klassenlehrer gelogen war! Sie würde bemerken, dass es ein Indianer war! Doch es kam mal wieder ganz anders.
„Sehr angenehm!“, sagte der Mann und schüttelte ihre Hand. Als er die Kinder sah, lächelte er. Verblüfft sahen die Freunde sich an. Frau Descuâr ging zu den Kindern, umarmte sie und lief mit schnellen Schritten ohne zurückzusehen zum Schiff.
„Nehmt eure Sachen, folgt mir und gebt unterwegs keinen Laut von euch!“ Mit diesen Worten drehte der Fremde sich um und lief durch das kleine Dorf in den Wald hinein. Lee schien zu begreifen und ohne ihren Freunden etwas zu erklären, lief sie mit schnellen Schritten hinter ihm her.





Der Weg war beschwerlich und lang. Mal ging es steile Klippen hinauf, dann durch dichtes Gestrüpp und über Schwindelerregende Baumstämme. Sie liefen fast einen ganzen Tag und Jan taten davon schon die Füße weh, als sie endlich auf eine große Lichtung traten, die an einem Fluss endete. In der Mitte der Lichtung standen mehrere Tipis. Die Luft war erfüllt von Kindergeschrei und Hundegebell. Lee hob die Nase und roch den Duft von Pflanzen, Feuer und Tieren. Der Indianer, von dem sie inzwischen wussten, dass er Pachu hieß, sah sie lächelnd an. „Na, gefällt es dir?“
Lee nickte. „Es ist so vertraut…so friedlich!“
Pachu nickte und auch Lees Freunde schienen sprachlos. Als sie das Dorf betraten wurden sie von allen Seiten angestarrt. Kinder die vorhin noch kreischend und lachend um die Zelte gerannt waren, wurden nun von ihren Eltern zurückgerufen. Erwachsene unterbrachen ihre Tätigkeiten und sahen ihnen hoffnungsvoll hinterher. Pachu führte sie vor ein sehr großes Tipi, das alle anderen überragte, und rief etwas Unverständliches. Jemand schlug das Fell zurück und ein Mann trat heraus. Er schien Ende fünfzig zu sein, doch seine Augen waren klar und die kleinen Grübchen in seinen Wangen gaben ihm einen freundlichen Ausdruck. Er hatte einen Federkranz auf seinem Kopf, was ihn eindeutig als Häuptling auswies. Lee beschloss, dass sie ihn mochte. Der Häuptling musterte die Kinder, dann veränderte sich sein Gesichtsausdruck und eine Mischung aus Stolz und Freude breitete sich darin aus.
„Wir haben euch erwartet“, sagte er. Seine Stimme war voll und tief. „Ich bin Häuptling Hasa. Und das ist der Wakatistamm!“


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Kapitel 21: Seelenwölfe!

„Könnt ihr alle Deutsch?“, fragte Lui, der als erster seine Sprache wieder gefunden hatte. Es war ziemlich viel auf einmal und die Kinder kamen sich sehr unreal vor.
„Die meisten von uns schon.“ Häuptling Hasa deutete auf ihren Führer. „Das hier ist Pachu. Er ist mit Navaje der Schamane dieses Stammes.“
„Er? Warum nicht Sasuun?“, fragte Lee verblüfft. Die Indianer zuckten zurück. Überall war Getuschel zu hören und Lee bemerkte, dass der Stamm sich vor dem Name fürchtete.
„Vor ein paar Monaten wurde sie verbannt. Es ist verboten über sie zu reden!“ Das Gesicht des Häuptlings hatte einen undurchdringlichen Ausdruck angenommen.
„Aber ihretwegen sind wir doch hier. Häuptling Hasa, bitte, wir müssen sie finden.“, sagte Lee flehend. Da meldete sich Pachu zu Wort: „Genau deswegen, habe ich euch hergeführt. Die Runen sagen, dass euch ein Kampf bevorsteht.“
„Wartet!“, sagte Jan beunruhigt. „Es klingt so, als ob ihr uns erwartet hättet.“
„Wir haben euch erwartet!“, bestätigte Pachu mir einem leichten Lächeln. Lee runzelte die Stirn. „Aber, wieso?“
„Ihr seid die einzigen, die uns noch helfen können!“, antwortete Häuptling Hasa. „Ihr seid die vier Kinder aus der Prophezeiung, die Sasuun aufhalten werden.“
„Prophezeiung?“, fragte Jenny mit hochgezogenen Agenbrauen.
„Woher wisst ihr, dass wir diese Kinder sind?“, fragte Jan. „Könnten es nicht genauso gut irgendwelche anderen Kinder sein?“
Pachu schüttelte den Kopf.
„Die Runen haben es mehrfach bestätigt. Es wird sehr viel Leid in diesem Kampf geben. Und wenn wir die Prophezeiung richtig deuten, wird einer von euch sterben.“
„Dann sei es so. Wir können es ja doch nicht ändern.“, sagte Lui unbeeindruckt. Schockiert sahen ihn die Kinder an. Nur Lui schien ziemlich gefasst.
„Warum sagen sie solche Sachen? Es muss doch nicht so kommen, nicht wahr?“, meinte Lee.
„Man kann der Prophezeiung nicht entkommen!“, sagte Häuptling Hasa. Er sagte es so nüchtern, dass Jan die Hände zu Fäusten ballte und Lee sich fragte, ob sie wirklich auf der richtigen Seite stand.
„Dann drehen wir um!“, sagte Lee leise. „Wir gehen wieder zurück!“
Es wurde still. Alle Blicke waren auf Lee gerichtet, die zu Boden sah und schwieg.
„Nein!“, sagte Lui sanft. „Wir sind so weit gekommen! Ich werde auf gar keinen Fall jetzt umkehren! Außerdem, die Prophezeiung wird uns so oder so einholen. Ich bin dafür, dass wenn überhaupt einer sterben muss. Er im Kampf stirbt! Ich werde deinen Vater retten, das verspreche ich dir!“
„Sehr weise“, stimmte Pachu zu. „Man kann seinem Schicksal nicht entgehen.“
„Hörst du dir eigentlich selber zu? Weißt du, wie das klingt?“, fragte Lee den Jungen fassungslos. Lui grinste sie an. Lee konnte nicht anders, sie grinste zurück.
„Du bist doof!“, fauchte sie. Es sollte wütend klingen, doch Lui hatte sie längst mit seinem Grinsen angesteckt.
Der Häuptling räusperte sich. „Kennt ihr die Prophezeiung?“ Die Kinder schwiegen.
„Marek hat etwas von einer Prophezeiung gesagt.“, murmelte Jenny nachdenklich. Wieder zuckte der Stamm zusammen. Jan sah in die Runde. „Er wurde ebenfalls verbannt, nicht wahr?“
Hasa nickte. „Wir werden kein weiteres Wort darber verlieren! Folgt uns nun zu Navaje.“
„Navaje? Wer ist das?“, fragte Jenny.
„Sie ist meine Frau“, antwortete Pachu. „Vielleicht kann sie euch helfen. In manchen Momenten weiß sie vieles.“
„In was für Momenten?“, fragte Jan.
„Wenn sie jemanden sieht, kennt sie sein Geheimnis. Sie weiß auch, was diese Person fühlt oder denkt. Das ist sehr erstaunlich.“ Sie liefen zwischen den Zelten hindurch und aus dem Lager hinaus. Pachu und Häuptling Hasa liefen vor ihnen her. Die Indianer steuerten auf den Fluss zu, an dem eine Frau mit seidigem, schwarzem Haar, am Ufer saß. Ihre Haut war ein wenig heller, als die von Pachu. In ihrem Arm hielt sie einen Wolfswelpen. Als der Welpe die Kinder kommen sah, sprang er von dem Arm der Frau und rannte in den Wald. Häuptling Hasa und Pachu blieben hinter ihr stehen und warteten.
„Er hatte sich verlaufen. Ich zeigte ihm den Weg“, sagte die Frau und drehte sich zu ihnen um. Sie lächelte. „Ihr seid die Kinder aus der Prophezeiung. In sieben Tagen werdet ihr aufbrechen, doch ihr müsst unser Gebiet durchqueren um zu ihr zu kommen.“ Navaje hatte ein nettes Gesicht und braune Augen. Sie schien Anfang dreißig zu sein. Bei ihr hatte Lee das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit.
„Darf ich vorstellen: Navaje!“, sagte Häuptling Hasa.
„Sehr erfreut!“, sagte Navaje und verbeugte sich leicht. Dann blieb ihr Blick an Jan hängen. „Auch wenn du Angst hast, bist du ahnungslos und kannst dir nicht vorstellen, dass all das ier echt ist. Doch wenn du diesen Kampf gewinnen willst, darfst du weder deine Angst noch deine Gefühle zeigen.“ Jan nickte verblüfft.
Das hatte Pachu also mit diesen Dingen, die sie in manchen Momenten weiß, gemeint, dachte Jan. Navaje sah zu Lee. „Du bist verwirrt und kommst dir hilflos und schuldig vor.“, Navajes Augen wurden glasig und doch war ihre Stimme sehr hell und klar. „Du hast Angst, dass ihnen etwas zustößt. Bedenke, dass du nie allein bist. Die Tiere sind deine Freunde, du kannst ihnen vertrauen, aber sei gewarnt nicht alle Tiere meinen es gut mit dir!“ Lee blieb der Mund offen stehen. Navaje schritt weiter zu Jenny. „Du fragst dich, wie das alles enden wird. Doch das kann dir keiner sagen, weder ich noch die Prophezeiung.“ Als sie vor Lui stand, sagte sie eine Zeit lang nichts. Lui schien unter ihrem Blick nervös zu werden. Endlich wandte sie den Blick ab und sah Häuptling Hasa anklagend an. „Er ist ein Wolfskopf!“, sagte sie.
„Was ist das?“, fragte Lui.
„Navaje, hast du wirklich keine Ahnung, was das bedeutet?“, fragte Pachu „Du bist doch ein…“
„Nur weil ich ein Bündnis mit einer Wölfin eingegangen bin, wie viele von meiner Sorte, heißt das nicht, dass ich weiß, was er ist!“, unterbrach Navaje ihn.
„Was bist du?“, fragte Lee.
„Ein Seelenwolf“, sagte Navaje.
„Was ist das?“
„Sieh ins Wasser.“
Lee bückte sich über den Fluss. Anstatt das Spiegelbild der Indianerin, sah sie einem grauen Wolf direkt in die Augen.





Erschrocken wich das Mädchen zurück. Auf einmal wurde ihr Navaje unheimlich.
„Was siehst du in meinem Spiegelbild?“, fragte Navaje.
Lee schluckte. „Einen Wolf.“
„Und weißt du, was das heißt?“, fragte Navaje leise. Lee schüttelte den Kopf.
„Mit einem Wolf verbunden zu sein. Mit ihm eins zu sein, und wenn ihr euch so nahe steht, dass ihr für einander sterben würdet, werdet ihr wirklich eins. Der Wolf verschwindet und lebt in dir weiter.“ Lee sah Navaje verwirrt an. Navaje schien es ihr lebhaft vorführen zu wollen und Lee hatte das Gefühl, dass Navaje dadurch sehr gelitten hatte.
„Aber was hat es mit diesem Wolfskopf auf sich?“, fragte Lui unnachgiebig. Pachu seufzte. „Das wissen wir nicht, doch ich werde dir erzählen, was wir wissen. Vor zehn Jahren war ein heftiger Sturm, und unser Volk konnte weder auf einer Lichtung noch im Wald Unterschlupf finden. Schließlich fanden ein paar Jäger von uns eine große, sichere Höhle. Sofort packte der Stamm seine Sachen und folgte den Jägern. Als wir die Höhle betraten, bemerkten Navaje und ich, seltsame Schriftzeichen. Während der Stamm seine Sachen auspackte, untersuchten wir mit Sasuun und Marek die Schrift.“
Lee bemerkte, wie Häuptling Hasa, bei den Namen, der Verstoßenen, tief durchatmete. Navaje schien relati gelassen zu sein. Pachu ließ sich nicht beirren. „Es war eine Schriftart, die seit tausend Jahren nicht mehr benutzt worden war, aber wir schafften es ein paar Wörter zu entziffern, da sie manchen Schriftarten, die wir kannten nicht unähnlich waren.
Tod, Gefährte, Wolfskopf und unkontrollierbar. Wir wussten nicht was es bedeutet und als wir die Runen befragten, deuteten sie uns auf die Prophezeiung hin. Als der Sturm vorüber war, hatten wir das Gefühl von diesen Schriftzeichen verfolgt zu werden. Das Volk und die Kinder bekamen Angst.“
„Aber Navaje weiß doch, dass ich einer bin. Warum weiß sie dann nicht auch…?“, fragte Lui verzweifelt. Navaje unterbrach ihn. „Ich weiß wer du bist, aber ich weiß nicht was du bist.“
„Und was bedeutet das?“, fragte Lui und sah hilfesuchend in die Runde. Er sah so hilflos aus, dass Lee ihn am liebsten in den Arm genommen hätte.
„Du bist der erste, der herausfinden wird, was du bist. Jedenfalls können wir das jetzt noch nicht herausfinden. Der Mond kommt und es wird kalt werden. Ihr seid erschöpft und müsst euch nun ausruhen.“ Mit diesen Worten drehte sich Navaje um, doch dann sah sie die Kinder noch einmal an. „Wenn du wirklich ein Wolfskopf bist, dann darfst du nicht vergessen!“
„Was…Was darf ich nicht vergessen?“, fragte Lui leise. Navaje sah in die Runde.
„Du darfst nichts vergessen, wenn du deinen Gefährten triffst. Du musst dich an alles erinnern.“ Mit zügigem Gang schritt Navaje in Richtung der Zelte. Häuptling Hasa und Pachu wechselten ein paar Worte, die Lee nicht verstand.
Dann befahl Hasa: „Kommt mit! Wir zeigen euch eure Zelte.“ Schweigend liefen die Freunde hinter ihnen her. Lee konnte das alles nicht mehr verkraften. Sie wollte schlafen und in ihrem Bett aufwachen und ihr Vater würde da sein. Doch als sie in ihrem Zelt, dass sie sich mit Jenny teilte, wieder aufwachte, war sie nicht zu Hause. Jennys Bett war leer und verwühlt. Sie schien sehr früh aufgestanden zu sein. Wie ging es wohl Jasmin? Weinte sie noch oder hatte sie sich damit abgefunden, dass Lee nicht mehr zurück kam? Das Mädchen lag ausgestreckt auf dem Boden und sah an die Zeltdecke, nach einer Weile trat sie ins Freie. Der Wakatistamm war schon lange wach. Häuptling Hasa und Pachu saßen, an einem der vielen Lagerfeuer, mit Navaje und anderen Leuten zusammen. Lee setzte sich zu ihnen. Sie wusste, dass neugierige Blicke auf ihr weilten, doch sie beachtete sie nicht. Pachu bot ihr ein Stück Fleisch an, das sie dankbar annahm. Während sie aß, erzählten sich die Leute Geschichten in ihrer Sprache. Als sie merkten, dass es auch Lee interessierte, sprachen sie Deutsch.
„Woher könnt ihr alle fließend Deutsch?“, fragte Lee schließlich. Die Indianer verstummten. Der erste, der wieder sprach war Navaje.
„Weil Marek sich in eine Deutsche verliebt hatte. Er lernte Deutsch und sprach sie schließlich an. Als sie sich verlobten, mussten wir ebenfalls ihre Sprache lernen. Das ist unser Gesetz. Denn nun gehört sie zur Familie und man muss sich unter der Familie verstehen können. Natürlich haben wir schon angefangen Deutsch zu lernen, als dein Vater bei uns war, doch er wollte viel lieber unsere Sprache erlernen. Deshalb redeten, wir damals noch nicht so gut Deutsch!“
„Habt ihr hier Schulen?“, fragte Lee.
„Nicht ganz! Bei uns ist es keine Pflicht etwas zu lernen und wir haben auch keine Zensuren oder Vorträge. Bei uns kommen die Kinder aus reinem Intresse!“
Lee seufzte. „Etwas zu lernen, ohne Zensuren, wäre mir glaube ich auch lieber. Man hat keinen Druck!“
„Wir haben hier nun einmal keinen Stress!“, sagte ein großspurig wirkender Junge, der ungefähr in ihrem Alter war. „Ich bin Menewa!“
„Lee!“, sagte Lee knapp. Doch schon bald verlor sie ihr Misstrauen. Menewa war lustig, wenn auch ein wenig angeberisch. Sie bemerkte, dass er sehr beliebt war, bei seinem Stamm und so gut wie gar keine Feinde hatte.
„Sasuun und Marek wollten euch töten, deswegen haben wir sie verbannt.“, erklärte Pachu ihr. Lee hatte gar nicht bemerkt, dass er neben ihr saß. „Aber da ihr nun gegen sie kämpfen müsst, wäre es eine gute Idee zu trainieren. Jan und Lui sind schon dabei. Sie sind bei Moki und lernen, wie man mit Messern umgeht. Mit dir werden ich Bogenschießen üben!“ Lee nickte. Sie und Pachu standen auf und verabschiedeten sich.


Kapitel 22: Bei den Indianern!

Pachu trug einen Jagdbogen, einen Köcher, mit zwölf Pfeilen darin, und eine Zielscheibe. Sie fingen mit kleinen Übungen an. Erst von zehn Schritten Entfernung mindestens zehnmal hintereinander die Mitte treffen, dann fünfzehn Schritte und immer so weiter. Es war ziemlich mühselig und jedesmal wenn Lee kurz davor war, fünf Schritte weiter nach hinten gehen zu können, verfehlte sie den letzten Pfeil. Doch ihr Stolz verbot ihr aufzugeben, und so musste Pachu sie schließlich sanft zwingen endlich eine Pause einzulegen und etwas zu essen. Lee nickte. Sie war immerhin schon bei zwanzig Schritten, das musste ihr fürs erste genügen.
„Na gut!“ Erschöpft lief sie mit Pachu zu einem von den vielen Feuern in dem Indianerdorf. Seufzend setzte sie sich auf einen der Baumstämme, die das Feuer umkreisten. Pachu bot ihr ein Stück Fleisch an und Lee nahm es dankend an. Plötzlich tippte ihr Jenny hinten auf der Schulter. Grinsend setzte sie sich neben sie. Auch sie war erschöpft, doch sie grinste Lee an.
„Erschöpft?“, fragte Lee neckisch.
„Und du?“, grinste Jenny.
„Was hast du gemacht?“, fragte Lee.
„Messerwerfen!“, antwortete ihre Freundin kauend, während sie sich ein paar Fleischstücke in den Mund schob. Messerwerfen!
„Cool!“, staunte Lee. „Bei wem lernst du?“
„Er heißt Falsim. Er sagt, ich wäre echt gut! Aber natürlich müssen wir immer üben, nicht wahr?“ Sie lachte heiser. Lee nickte.
„Und stell dir vor, wir würden nicht üben!“, hörten sie auf einmal eine Stimme hinter sich. Lee fuhr herum. Hinter ihr stand Menewa und lachte sie an. Jenny drehte sich zu dem gutaussehenden Indianerjungen um.
„Hi!“, begrüßte sie ihn strahlend. Menewa wandte sich zu ihr.
„Hallo! Mein Name ist Menewa!“ Er fuhr sich mit der Hand durch sein schwarzes, fast schulterlanges Haar.
„Ich bin Jenny!“
Während Menewa und Jenny sich immer weiter in irgendein unnötiges Gespräch rein redeten, widmete Lee sich wieder ihrem Fleisch.
„Hast du solchen Hunger?“, hörte sie plötzlich Jan fragen. Sie grinste und drehte sich zu den beiden Jungen um. Jan und Lui setzten sich je links und rechts von ihr hin.
„Was habt ihr so gemacht?“, fragte Lee und strich sich die Haare hinter die Ohren.
„Messerkampf!“, sagte Lui stolz. „Der Nahkampf mit dem Messer! Und du?“
„Bogenschießen.“
„Bogenschießen?“, fragte Lui grinsend. „Bist du gut?“
„Gut genug, um jemanden wie dich zu töten!“, sagte Lee und lächelte ihn an.
Lui grinste. „Heißt das ich bin Gefahr? Willst du mich etwa umbringen?“
Lee lachte. Sie hatte lange nicht mehr gelacht. Zu ihrer Verwunderung tat es ihr gut.
„Aber nicht so, wie du meinst! Ich lege dir vorher einen Apfel auf dem Kopf, wie bei Wilhelm Tell.“, sagte sie grinsend.
„Dann kann ich ja hoffen, dass du den Apfel triffst!“, lachte Lui.
„Wer sagt, dass ich auf den Apfel ziele?“, fragte Lee so nüchtern, wie sie eben konnte, wenn er sie anlächelte. Lui lachte. Seine Schultern bebten und seine Augen strahlten, wie damals. Er sah wieder so aus, wie sie ihn verlassen hatte. Die blonden, welligen Haare fielen ihm ins Gesicht und sein Lachen war für sie, wie immer, ansteckend. Er war so schön!
Lee hielt die Luft an. Lass das, zischte sie. Hör auf, ihn anzustarren! Er ist dein bester Freund! Nicht mehr und nicht weniger!
Jedenfalls wollte sie nicht, dass es mehr wurde. Das Verlangen in ihr, ihn zu umarmen, wie man einen Freund nie umarmen würde, wurde immer stärker. Mach es nicht kaputt!, flüsterte ihr eine innere Stimme zu. Sie stand so schlagartig auf, dass Jan, der nur auf Menewa und Jenny geachtet hatte, hintenüber vom Baumstamm fiel. Verwirrt rieb er sich seinen Hinterkopf und sah Lee verwundert an.
„Lee?“, fragte Lui zaghaft. Ich muss hier weg! Schnell drehte sie sich um und lief davon.





Der See lag ruhig und geheimnisvoll vor ihr. Das Mädchen schloss die Augen und atmete tief ein. Vogelzwitschern drang leise an ihr Ohr und wenn sie ganz genau hin hörte, vernahm sie sogar die leichten Wellen des Sees. Oder ein Platschen, wenn ein Frosch hineinsping. Plötzlich hörte sie näher kommende Schritte. Sie überlegte, ob sie sich verstecken sollte, ob sie sich umdrehen sollte, oder ob sie diesenjenigen einfach ignorieren sollte. Die Schritte kamen näher. Lee ließ die Augen geschlossen. Kurz hinter ihr blieben die Schritte stehen. Lee regte sich nicht. Jemand setzte sich neben sie ans Flussufer.
„Ich werde morgen und am Tag darauf nicht mit dir üben können!“ Pachu!
„Warum nicht?“, fragte Lee und öffnete die Augen, um ihn anzusehen. Was sie sah, ließ sie zusammenfahren. „Pachu, was ist passiert? Dein Auge.....es...es...!“
„Es ist blau! Ich weiß, ich habe einen Schlag abbekommen!“
Lee starrte ihn mitleidig an. „Was ist passiert?“
„Es war nichts wichtiges! Kurz nachdem du weggegangen bist, hat Jan eine dumme Bemerkung gemacht.“
„Eine dumme Bemerkung?“
„Ich habe nicht alles gehört.“ Pachu wich ihrem Blick aus. „Jedenfalls schien es Lui wütend gemacht zu haben, denn er stieß Jan so hart zu Boden, dass er irgendwie auch noch Menewa und Jenny mitriss.“
Lee musste sich ein Grinsen verkneifen. Sie konnte es sich bildlich vorstellen. Doch schlagartig veränderte sich ihr Gesichtsausdruck wieder.
„Was hat Jan nur gesagt, damit Lui so wütend wurde?“, fragte Lee.
„Das kannst du ihn nachher selber fragen. Jedenfalls verschwand er, um weiter zu trainieren.
Doch Menewa und Jan waren schon in einer großen Prügelei und als ich versuchen wollte sie auseinander zu bringen, bekam ich einen Schlag ab.“
Lee sah wieder auf das Wasser. Sie würde Lui fragen, was passiert war, oder Jenny, oder vielleicht sogar Jan. Sie räusperte sich.
„Du hast gesagt, dass du mich morgen nicht unterrichten könntest.“, erinnerte sie ihn.
„Ja, morgen gehen wir Männer auf die Jagd. Eine Bisonherde zieht durch unser Gebiet. Das müssen wir ausnutzen.“
Lee fuhr hoch. „Pachu?“, fragte sie aufgeregt. „Kann ich nicht mitkommen?“ Der Schamane schwieg. Er blickte auf das Wasser und wich ihrem Blick aus.
„Weißt du, Lee! Mädchen dürfen nicht mit auf eine Bisonjagd gehen!“
„Was? Warum nicht?“
„Nur Erwachsene Männer, die in den Stamm aufgenommen worden sind, dürfen mitreiten. Das ist unser Ritual! Noch nicht einmal Menewa darf mit! Er darf es erst in einem Jahr.“
„Wieso erst in einem Jahr?“
„In einem Jahr ist er vierzehn. Dann ist er erwachsen und wird in den Stamm aufgenommen. Das wird ein großer Tag für ihn!“
Lee war erschüttert. Sie hatte die Chance an einer Bisonjagd teizunehmen und durfte nicht!
„Lass den Kopf nicht hängen.“, versuchte Pachu sie aufzumuntern. „Ich verspreche dir, wenn ich wieder da bin. Gehen wir gemeinsam auf die Jagd.“
Lee lächelte ihn an. „Ich danke dir.“
Pachu nickte ihr freundlich zu. „Heute werden wir weiter Bogenschießen trainieren, aber morgen wirst du zu Falsim gehen, und am Tag darauf zu Maki.“
„In Ordnung. Was werde ich bei ihnen lernen?“
„Alles mögliche!“, meinte Pachu nur.
Lee grinste. Es ging ihr schon wieder besser. Typisch, Pachu! Bloß keine überflüssigen Informationen preis geben.
„Lass uns weiter trainieren!“, sagte Pachu und legte ihr einen Arm um die Schulter, während er mit ihr den Bogen holen ging.





„Nein! Nein! Lee, erst zielen, dann schießen!“, rief Pachu ihr zu. Sie waren bei dreißig Schritten und Lee versuchte alles, um noch weiter zu kommen. Lee nickte und holte den nächsten Pfeil aus ihrem Köcher. Sie legte ihn ein und spannte den Bogen erneut. Ihr Ellbogen war geknickt und ihr rechtes Auge, war kurz neben dem Pfeil. Sie schoss ab. Der Pfeil bohrte sich neben den roten Punkt auf die Zielscheibe.
„Versuch es nochmal! Konzentrier dich, Lee!“
Erneut legte sie einen Pfeil in den Bogen ein und spannte die Sehne. Ihr einziger Blick galt der Zielscheibe. Der rote Punkt war das einzige, was sie scharf wahrnahm. Sie lenkte den Pfeil auf den Punkt. Nun war er mitten auf die Mitte der Zielscheibe gerichtet. Wenn ihre Augen sie nicht täuschten, sollte der Pfeil in die Mitte der Zielscheibe schießen. Wieder schoss sie ab, doch sie verfehlte den roten Punkt, um ein kleines Stück.
„Ich glaub, du musst mehr nach Gefühl schießen! Konzentrieren und Gefühl! Probiers nochmal!“
Wieder legte sie einen Pfeil ein, wieder spannte sie die Sehne, schätzte kurz ab und traf diesesmal mitten in den roten Punkt.
„Ja!“, jubelte sie.
„Sehr gut!“, lobte Pachu. „Bleiben nur noch neun!“





Am Abend saßen sie zusammen am Lagerfeuer und hörten sich Geschichten an. Lee hörte nur mit halbem Ohr zu. Lui war nicht da, Jan hatte schlechte Laune und Jenny unterhielt sich die ganze Zeit mit Menewa. Schließlich stand sie auf und nahm sich vor Lui zu suchen.
Sie fand ihn am See. Er starrte aufs Wasser und hatte die Knie an sich gezogen. Langsam näherte sie sich ihm. „Lui?“, fragte sie. Der Junge fuhr herum.
„Ach, Lee! Du bist es!“ Er wandte sich wieder dem Wasser zu und Lee setzte sich neben ihn.
„Was hast du?“, fragte das Mädchen zaghaft.
„Nichts!“, sagte Lui verschlossen. Sie schwiegen eine Weile. Der Mond stand schon lange am Himmel und das Wasser schien zu glitzern.
„Was hat Jan gesagt, nachdem ich gegangen bin?“, fragte Lee weiter. Lui seufzte.
„Das ist doch egal!“, fauchte er genervt. Lee zuckte ein wenig vor seiner Feindseeligkeit zurück, doch sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er es nicht böse meinte.
„Nein, es ist nicht egal! Ich will es wissen!“, gab sie störrisch zurück.
„Das geht dich überhaupt nichts an, klar!“, zischte Lui sie böse an. Seine Augen waren nicht weit von ihren entfernt. „Es ist meine Sache! Es geht um mich und es soll auch kein anderer erfahren! Also, lass mich in Ruhe!“
„Was soll das? Denkst du, du kannst mich hier einfach abwimmeln? Ich will es so gern wissen, Lui! Es scheint dich total fertig zu machen! War es denn wirklich so schlimm?“
Er knurrte abfällig und sah erneut auf das Wasser. Lee wurde wieder sanfter. „Worum ging es denn, Lui? Was wühlt dich so auf?“ Sie legte ihre Hand auf seine Schulter, doch er stieß sie von sich und stand auf. „Du willst es unbedingt wissen, nicht wahr? Du willst alles immer unbedingt wissen! Doch ich werde es dir nicht verraten! Du bist so verdammt neugierig! Irgendwann wirst du deswegen auch noch deinen Kopf verlieren! Also, lass mich einfach in Ruhe!“
Lee sprang wütend auf. „Mach doch was du willst, du Spinner! Ich wollte dir doch nur helfen!“
„Auf deine Hilfe kann ich verzichten! Du hast doch gar keine Ahnung von mir! Du weißt gar nicht, was sich verändert hat, seitdem wir uns nicht mehr gesehen haben. Also, tu nicht so, als wüsstest du alles so genau!“ Das war ein Schlag in die Magengrube.
Er hat Recht, dachte sie. Es kann so viel passiert sein! Lui drehte sich um und ging. Lee fühlte sich elend. Warum hatte sie ihn so gedrängt? Sie wusste doch, dass er nur selten bei irgendeiner Bemerkung wütend wurde, und jetzt hatte sie ihn dazu gedrängt diese Bemerkung bei der er augerastet war zu wiederholen! Du bist echt eine tolle Freundin, nölte ihre inner Stimme. Lee stand auf es wurde kalt. Lui war in seinem Zelt verschwunden und Lee wollte sich wirklich nicht noch mehr mit ihm zanken. Erschlagen lief sie zu einem der Lagerfeuer an dem auch Pachu saß.
Morgen geht es auf die Jagd, dachte Lee bitter. Ohne mich! Sie setzte sich neben Jenny, die am Essen war und mit den Augen anscheinend nach jemandem suchte. Dann wandte sie sich zu Lee. „Geht es dir gut?“, fragte sie. Sie schüttelte den Kopf. Sosehr habe ich mich noch nie mit ihm gestritten, dachte sie. Tränen stiegen ihr in die Augen.
„Lee?“
Unbeholfen sah Jenny zu ihr. „Hey, was hast du denn?“
Lee wischte sich die Tränen weg. „Ich hab mich mit Lui gestritten“, nuschelte sie.
„Warum?“, fragte Jenny.
„Es war ja nicht absichtlich!“, sagte Lee wütend.
„Beruhig dich, war doch gar kein Vorwurf.“ Jenny hob abwehrend die Hände. Dann versuchte sie Lee zu beruhigen. „Weißt du was heute passiert ist, nachdem du plötzlich verschwunden bist?“
„Nein“, schniefte Lee. „Ich weiß es nicht!“
„Also, Jan hat voll die komische Bemerkung abgelassen.“, redete Jenny weiter. Lee horchte auf. Genau das wollte sie doch wissen. Jenny grinste sie an. „Er sagte, dass...“
„Hey, Jenny!“ Wurde sie plötzlich unterbrochen.
„Menewa!“, rief Jenny begeistert und winkte ihm zu. „Wo warst du? Ich hab dich schon gesucht!“
Der Indianerjunge kam grinsend auf sie zu. „Training!“, meinte er verschmitzt.
„Jenny!“, sagte Lee genervt. „Was hat Jan gesagt?“
„Hmm, was? Ach so!“ Jenny wandte sich ihr wieder zu und sagte: „Jan hat gesagt, dass Lui kein Händchen für Mädchen hätte!“
Lee zog die Augenbrauen hoch. „Und das, hat Lui wütend gemacht?“
Jenny zuckte mit den Schultern und wandte sich wieder Menewa zu. Lee ließ sich den Satz noch einmal durch den Kopf gehen, doch sie konnteeinfach nicht verstehen, was Lui so wütend gemacht hat.


Kapitel 23: Taijutsu!

Diese Nacht fielen sie alle müde in ihre Betten. Lee träumte, wie sie sich mit Lui gestritten hatte und dass er sie anschrie, ob sie den nicht mehr befreundet seien. Das Mädchen schlug die Augen auf und stetzte sich hin. Müde rieb sie sich den Kopf. Jenny schlief noch. Ob wir noch Freunde sind, oder nicht, würde ich auch gern wissen, Lui! Sie stand auf und ging zu einer erloschenen Feuerstelle. Der ganze Stamm war versammelt und johlte vielen Reitern, die wild geschminkt waren, zu. Lee entdeckte Menewa und rannte zu ihm. „Was ist los?“, fragte sie verschlafen.
„Wir verabschieden die Jäger und hoffen, dass sie mit großer Beute nach Hause kommen werden!“, antwortete Menewa grinsend. Lee entdeckte Pachu an der Spitze, auf einem schönen, schwarzen Mustang. „Führt Pachu sie an?“, fragte sie verwundert. Menewa nickte.
„Er ist der Schamane! Er sieht die Spuren der Büffel und führt sie deshalb an.“
Pachu sah zu Lee und lächelte ihr zu. Lee grinste zurück. Plötzlich stieß Pachu einen Jagdschrei aus und presste die Schenkel an den Bauch des Pferdes. Der schwarze Mustang stieg wiehernd und preschte davon, hinter sich, die anderen Pferde mit den johlenden Indianern. In den Gesichtern der Indianer und auch in der der Pferde, war eine solche Freude zu sehen, dass Lee lachen musste. Menewa lachte mit. Das Dorf jubelte und die Reiter preschten auf die aufgehende Sonne zu.
„Irgendwann werde ich mit ihnen reiten!“, versprach Menewa mit einem Funkeln in den Augen. „Es dauert nicht mehr lange, dann werde ich ein eigenes Pferd haben und mit ihm durch die Prärie stürmen.“
„Du freust dich wirklich sehr!“, meinte Lee. Menewa nickte. Sein Blick heftete an den Reitern, die fast nicht mehr zu sehen waren. „Es ist der einzige Wunsch den ich habe!“, sagte er und wandte den Blick von den Reitern ab. Die Dorfbewohner, waren einer nach dem anderen wieder zurück an die Arbeit gegangen.
„Da fällt mir ein“, rief Lee aus. „Weißt du wo ich Falsim finde. Pachu hat gesagt, dass ich zu ihm soll!“
Menewa nickte und bot ihr an, sie hinzubringen. Er führte sie durch das Dorf zu einem Trainigsplatz. Jedenfalls sah es aus wie ein Trainingsplatz. Ein paar Spere waren in einem hölzernen Trichter und verschiedene Stöcke lagen ordentlich auf einem Haufen. Ein Mann war mitten auf der großen Rasenfläche und schien eine Art Tekuando zu machen. Seine Knie waren angewinkelt und er vollführte verschiedene Schläge und Tritte.
Er hatte schwarze, kurze Haare und schien so Anfang zwanzig zu sein. Menewa ging auf ihn zu und Lee folgte ihm. Der Mann war recht groß und hatte zu Lees Verwunderung blaue Augen, anstatt wie der Rest des Stammes braune. Er hatte ein rotes Stirnband um seine Stirn geunden. Er hatte kurze, schwarze Haare und schien mitte zwanzig zu sein.
„Falsim!“, begrüßte Menewa den Mann, der seine Bewegungen unterbrach und sich aufrichtete.
„Menewa!“, sagte der Mann mit einer dumpfen Stimme. „Kann ich dir helfen?“
Menewa deutete auf mich. „Das ist Lee. Einer der Kinder aus der Prophezeiung. Pachu sagte, dass du sie heute unterrichtest!“
„Das stimmt!“, sagte Falsim und musterte das Mädchen. „Weißt du schon, was du bei mir lernen wirst?“
Lee schüttelte den Kopf. „Nein, das hat Pachu mir nicht gesagt!“
„So? Das passt zu ihm! Ich werde es dir erklären! Es ist eine Art, Taijutsu!“
„Tei....Was?“, fragte Lee verwirrt, während Menewa kicherte.
„Taijutsu!“, wiederholte Falsim und legte ihr einen Arm um die Schulter. Er ging mit ihr in die Mitte des riesigen Feldes, während er ihr erklärte, dass es eine spezielle Kampfsportart sei, die sich besonders auf das Chakra ausübte. Man müsse seinem Körper vertrauen können.
Es war schwieriger, als es aussah. Falsim machte verschiedene Dehnübungen vor und Lee musste diese nachmachen. Sie verrenkte sich so gut es ging, doch sie war einfach nicht zufrieden mit sich. Falsim lachte über ihren Ehrgeiz und meinte, dass sie gar nicht so schlecht sei. Nach einiger Zeit sagte er, dass sie sich nun genug aufgewärmt hatten und fragte Lee, ob sie ein Rad könne. Lee nickte und führte ihm eins vor. Falsim nickte anerkennend. Dann fragte er, ob sie einen Handstand machen könne. Wieder nickte Lee und blieb ein paar Sekunden in der Senkrechte. Falsim nickte mit gerunzelter Stirn.
„Als erstes üben wir, auf den Händen zu laufen! Dein Handstand ist ja ganz schön, aber du bist nicht im Gleichgewicht!“
Den Rest des Vormittags übten sie so lange, bis Lee vor Erschöpfung umfiel. Handstand konnte sie jetzt perfekt! Doch Falsim war anscheinend immer noch nicht ganz zufrieden. Lee musste, wenn sie im Handstand war die Beine umklappen und versuchen auf den Händen zu laufen. Am Anfang war es eine Katastrophe, doch dann schaffte sie immerhin zwei Schritte.
„Das reicht für diesen Vormittag! Wir werden jetzt essen gehen und dann weiter machen!“, sagte Falsim und ging ihr voraus. Lee, die immer noch im Gras lag, rappelte sich auf und rannte ihm nach.
„Falsim?“, fragte sie den Indianer. „Warum machen wir das? Ich dachte Taijutsu wäre eine Kampfsportart!“
„Du hast Recht!“, meinte Falsim, ohne sich zu ihr umzudrehen. „Es ist eine Kampfsportart! Doch du bist nicht bereit dafür, Tritte und Schläge zu erlernen, weil du noch nicht im Gleichgewicht bist! Im Taijutsu brauch man eine Menge Körperbeherrschung!“
„Wie meinst du das: Ich sei noch nicht bereit dafür?“, fragte Lee.
„Du hast kein Gleichgewicht, und deshalb würde es dir nichts bringen die Tritte und Schläge jetzt zu lernen.“
„Soll das etwa heißen, ich bin zu schwach!“, knurrte Lee. Wie immer, wenn sie erschöpft war, war sie trotzig und müde.
„So wollte ich es eigentlich nicht ausdrücken.“, meinte Falsim gelassen. „Doch wenn du es so sagst: ja!“
Lee seufzte. Es hatte sowieso keinen Sinn mit Falsim zu streiten.
„Doch du machst Fortschritte, und deswegen hast du einen starken Ehrgeiz. In dir steckt eine ungeahnte Kraft. Du musst sie nur entdecken!“ Mit diesen Worten verschwand er in einem Zelteingang. Lee hatte überhaupt nich bemerkt, dass sie schon im Dorf standen. Sie sah auf das Zelt in dem Falsim verschwunden war. Seine Worte hallten in ihrem Kopf.
In dir steckt eine ungeahnte Kraft. Du musst sie nur entdecken! Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Dann setzte sie sich zu einer Feuerstelle. Sie war allein. Über dem Feuer war Fleisch auf einer Art Plattform. Sie nahm sich eines, wobei es ihr vollkommen egal war, dass sie sich so die Finger verbrannte. Der Hunger siegte über die Schmerzen. Sie schlug ihre Zähne in das noch brutzelnde Fleisch und riss ein Stück ab. Das Mädchen kaute ein wenig auf dem zähen Fleisch herum.
„Lee?“, fragte eine Stimme hinter ihr. Das Mädchen verschluckte sich heftig und hustete.
„Lui?“, fragte sie und drehte sich zu dem Jungen um. Lui setzte sich neben sie.
„Es...es tut mir leid!“, stottert er. Lee sah ihn fassungslos an.
„Wofür entschuldigst du dich? Ich hab Mist gebaut! Ich müsste mich entschuldigen.“
„Dann tu es doch!“
Lee zögerte. „Es...tut mir leid!“
Lui lachte. Auch Lee fing an zu lachen.
„Wir sind doch noch Freunde, oder?“, fragte Lui. Lee nickte. „Klar!“
Lui lächelte und meinte dann, dass er wieder zum trainieren müsse. Lee nickte, auch sie sollte wieder zu Falsim zurück. Sie lief wieder zur Trainingswiese zurück. Falsim wartete schon auf sie.
„Machen wir mit der selben Übung weiter?“, fragte Lee. Falsim schüttelte sen Kopf. „Nein!“
„Nein?“, fragte Lee.
„Ich habe eine bessere Idee.“, sagte Falsim. Lee wartete gespannt. Der Mann band sein Stirnband ab und hielt es fest in der Hand. „Versuche mir das Stirnband abzunehmen! Du darfst jeden möglichen Trick anwenden und jeden Tritt und Schlag ausführen.“
Das ist gemein!, dachte Lee. Ich habe doch überhaupt keine Chance gegen ihn!
„Na, mach schon! Worauf wartest du denn?“





Wie soll ich das anstellen? Was erwartet Falsim von mir?
Lee versuchte verzweifelt sich eine gute Taktik auszudenken, doch jede war zu durchschaubar und sie verwarf sie wieder.
„Wenn du nicht kommst, komme ich!“, rief Falsim und rannte auf sie zu. Seine Hand ballte sich zu einer Faust und schnellte nach vorne. Lee sprang zur Seite. Was soll das?, Lee keuchte. Das ist kein Spiel mehr! Das war ernst!
Der nächste Angriff kam. Lee konnte nur ausweichen. Sie konnte weder Tritte noch Schläge, noch wusste sie wie man so etwas abblockte.
„Gib dir Mühe, Mädchen!“, rief Falsim. Lee war von dem Ausweichen außer Atem.
Dann hilft jetzt wohl nur noch eins! Konzentriert dachte sie an alle möglichen Filme, Bilder und sonstiges. Sie konzentrierte sich auf die Bewegungen, die die Personen im Kampf durchführten. Sie versuchte sich alles möglich abzuschauen. Das war ihre einzige Chance. Wenn sie das Band erwischte, würde Falsim aufhören...hoffentlich! Außerdem wollte sie nicht wie ein ängstliches Kaninchen abhauen! Hier war sie nunmal reingerutscht, also beendete sie es auch. Sie lief auf Falsim zu, der sie ernst ansah. Beide waren konzentriert. Lee zückte im Rennen ihr Messer. Falsims Gesicht verfinsterte sich. Lee würde sich nicht zurückhalten! Wie tief bist du gesunken, Lee, dass du mit einem Messer auf einen Menschen losgehst?, fragte ihre innere Stimme fassungslos, doch Lee ignorierte sie. Falsim würde nichts passieren, da war sie sich sicher. Er war viel zu geschickt und schlau, anstatt sich von einem Messer verletzen zu lassen. Lee täuschte einen Stich auf seine Schulter an. Wie erwartet sprang Falsim zur Seite. Sie holte mit dem Bein aus und trat zu. Falsim blockte kurz bevor ihr Bein seinen Magen erreicht hätte, mit seiner linken Hand ab. Das Mädchen schlug mit dem Knauf ihres Messers nach seiner Schläfe. Wieder blockte Falsim ab, allerdings mit der anderen Hand, da die linke immer noch ihr Bein in Schach hielt. Lee grinste. Die Hand mit der Falsim ihren Schlag auf seine Schläfe abgefangen hatte, war die Hand, die sein Stirnband hielt. Sie ließ das Messer fallen, um schnell nach dem Band greifen zu können. Ihre Fingerspitzen striffen die rote Seide des Bandes!
„Verdammt!“, zischte Falsim und stieß sie von sich. Auch Lee sprang zurück. Zwischen ihnen lagen nun ungefähr zehn Meter Abstand. Das Mädchen keuchte. Sie war vollkommen erschöpft und ließ sich auf die Knie fallen.
„Das war die Kraft, die du erst noch entdecken musstest!“, rief Falsim ihr zu. „Verstehst du jetzt, wie man sie aufruft?“
Lee schüttelte den Kopf. Sie brachte vor lauter Anstrengung immer noch kein Wort raus.
„Es geht einzig und allein um Konzentration! Du hast bewiesen, dass du das kannst!“, Falsim lächelte und kam näher. „Das war eine hervorragende Leistung, Lee!“
Lee grinste. Falsim stand vor ihr und legte ihr eine Hand auf die Schulter.
„Ich kann dir etwas beibringen, was diese Konzentration verbessert.“, sagte er hilfsbereit.
Fragend sah das Mädchen ihn an. Falsim lächelte und verschränkte seine Finger in ein seltsames Fingerzeichen, das Lee noch nie gesehen hatte.
„Mach es nach!“, befahl Falsim. Lee tat es. Es fühlte sich merkwürdig an, doch komischerweise hatte sie das Gefühl sich viel schneller wieder zu erholen. Ihr Kopf wurde klarer. Es ging ihr besser. Sie atmete zwar noch schwer, aber ihre Kraft war zurückgekehrt.
„Falsim, wofür ist Taijutsu? Warum muss ich das können?“, fragte Lee.
„Es geht um deinGleichgewicht! In deinem Innern, so wie bei deinem Körper. Du musst strategisch denken und über dich selbst hinauswachsen können!“
Lee nickte. „Es ist eine Art Meditation, oder?“
Falsim lächelte. „Ja! So kann man es nennen! Lass uns noch einmal zur Übung zurückkehren!“
Lee seufzte. „Wofür muss ich auf den Händen laufen können?“
„Es geht um die Beherrschung deines Körpers! Körperbeherrschung ist der erste Schritt zum Sieg! Denn durch Körperbeherrschung, muss man sich nicht zu doll anstrengen und hat dadurch einen klaren Kopf, um sich eine Strategie auszudenken. Es ist sehr wichtig, Lee. Du kannst dich geehrt fühlen, dass du es überhaupt lernen darfst.“
Lee grinste. Sie konzentrierte sich und ließ sich nach vorne fallen, um in den Handstand zu kommen. Schweißperlen rannen ihr Gesicht runter. Es kostete enorme Kraft gerade zu bleiben und nicht umzufallen. Unter großer Anstrengung setzte sie eine Hand vor die andere. Ein Schritt....Zwei Schritte....Drei Schritte.....Vier Schritte. Auf einmal war es viel leichter für sie. Fünf Schritte, sechs Schritte, sieben Schritte! Sie verbrauchte nicht mehr so viel Kraft. Falsim lachte. „Gut gemacht, Lee!“
Keuchend ließ sie sich ins Gras fallen. „Ich...ich habe es geschafft, oder?“
Ihr Lehrer grinste. „Ja, du hast es geschafft!“
Den Rest des Tages zeigte er ihr Tritte und Schläge, für die man sehr viel Gleichgewicht brauchte. Lee lernte sie sehr schnell und fing an ihren Körper besser zu beherrschen, auch wenn ihr selbst, das gar nicht so groß auffiel.





Heute fiel Lee müde auf ihr Bisonfell. Kurz nach ihr kam Jenny ins Zelt und ließ sich seufzend neben sie fallen, während sie langsam unter ihre Decke kroch.
„Wie war das Training bei dir?“, fragte Lee.
„Anstrengend!“, nuschelte Jenny und drehte sich zu Lee, um besser reden zu können. „Ich war den ganzen Tag bei Maki und habe Messerkampf geübt. Wie war’s bei dir?“
„Ich war bei Falsim.“
„Davon hat mir Jan erzählt. Zu dem muss ich morgen. Er macht doch so’ne Art Kung Fu, nicht wahr?“, fragte Jenny müde. Lee nickte. „Tabiju oder so....ach, keine Ahnung! Irgend so ein komplizierter Name. Sowas mit Gleichgewicht und Körperbeherrschung und sowas....“ Sie gähnte. „Ich hab überall Muskelkarter!“
„Und ich erst!“, stimmte ihr Jenny zu. Dann veränderte sich ihr Gesichtsausdruck.
„In drei Tagen zeigen sie uns die Prophezeiung!“
„Stimmt!“, sagte Lee. „Das habe ich total vergessen!“
„Ich habe Angst!“, flüsterte Jenny. „Ich hätte nie gedacht, dass wir es überaupt bis hierhin schaffen würden. Ich habe noch nicht einmal gedacht, dass es uns überhaupt gelingen würde bis in Bobs Flugzeug zu kommen! Ich...ich....“ Sie fing an zu schluchzen. Lee sah Jenny an und kuschelte sich zu ihr unter die Decke.
„Das war doch unmöglich! Wir hätten es gar nicht schaffen dürfen!“ Jenny schluchzte immer lauter. Lee wurde ebenfalls mulmig. Was ihre Mutter wohl gerade machte? Sofort bekam sie ein schlechtes Gewissen. Sie hatte kaum an ihre Mutter gedacht. Hatte Jasmin viel geweint? Hatte sie Lee aufgegeben, oder hoffte sie noch, dass sie irgendwann durch die Tür spaziert käme? Jenny beruhigte sich nach einer Weile wieder und schlief schließlich ein. Lee kroch wieder auf ihr Bisonfell und musste noch lange über Jennys Worte nachdenken.


Kapitel 24: Messerkampf!

Am nächsten Morgen fragte Lee Jenny, wo sie Maki finde.
Jenny antwortete ihr, dass er so weit sie wüsste am See wäre, an dem sie Navaje getroffen hatten. Sie hatte recht. Er war ein großer, schanker Mann und schien Ende zwanzig zu sein.
Er begrüßte Lee freundlich und erklärte ihr, dass sie hier Messerkampf lernen würde.
„Auch Messerwurf?“, hakte Lee nach.
„Ja, alles! Alles, was mit Messern zu tun hat, wirst du heute bei mir lernen.“ Er lächelte ihr aufmunternd zu. Lee lächelte zurück. Wieder ging das Trainieren weiter. Schrittfolgen, Messerstiche, Abblockübungen und so weiter. Hier schien sie sich ein wenig geschickter anzustellen, oder zumindest lernte sie es schneller. Sie übten bis zum Mittag ohne Pause. Lee war total erschöpft, als sie sich endlich an eine Feuerstelle setzen durfte. Doch die Pause war nur von kurzer Dauer. Gleich darauf scheuchte Maki sie wieder auf und es ging weiter. Lee versuchte es sich so gut wie möglich einzuprägen. Maki meinte, dass sie relativ gut sei. Am Abend entließ Maki sie und meinte, dass sie sich echt gut angestellt hätte. Lee bedankte sich und wollte zu ihrem Zelt gehen. Als sie auf einer Wiese plötzlich Jan, Menewa, Lui und Jenny bemerkte. Schnell lief sie zu ihnen hin. Jenny und Menewa unterhielten sich wie üblich. Auch Lui schien interessiert an dem Gespräch zu sein. Nur Jan schien das alles zum Hals rauszuhängen. Doch Lee hatte schon früher bemerkt, dass er Menewa nicht leiden konnte.
„Hey, Leute!“, begrüßte sie ihre Freunde.
„Hallo, Lee!“, sagte Menewa grinsend. „Na, genug trainiert?“
Lee seufzte. „Na, das will ich wohl meinen!“
Jenny nahm das Gespräch wieder auf, dass sie anscheinend die ganze Zeit geführt hatten.
„Seit wann kannst du schon so gut Bogenschießen?“
Menewa grinste. „Schon als kleiner Junge.“
„Wow. Du musst echt hart trainiert haben.“, meinte Lee anerkennend.
„Nein, ich konnte es sofort.“, grinste Menewa.
„Angeber!“, murmelte Jan. Wütend stupste Jenny ihn an.
„Du kannst es auch nicht besser, als ich.“, sagte Menewa zornig.
„Und ob.“
„Das will ich sehen.“
„Gerne!“
„Heute Nacht! Hier! Im Dunkeln ist es schwieriger.“
„Von mir aus. Ich werde da sein.“
Menewa grinste spöttisch. Jan funkelte ihn wütend an. Dann drehte sich Menewa um und ging mit Jenny davon.
„Dieser gemeine Heuchler!“, sagte Jan, als Menewa außer Hörweite war. Lee und Lui wechselten einen Blick.
„Jan, reg dich nicht so auf.“, sagte Lui.
„Ich soll mich nicht aufregen? Er hat doch, damit angefangen.“
„Also…“, warf Lee vorsichtig ein „Ehrlich gesagt, ich fande du hast ihn provoziert.“
„Stimmt doch gar nicht! Der hat euch allen wohl den Kof verdreht!“, brauste Jan auf und stapfte missmutig davon.





Jan drehte sich auf die andere Seite um besser schlafen zu können. Menewa war bei ihrem Bogenschießenwettbewerb nicht aufgetaucht. Wahrscheinlich hat er Angst! Dennoch, irgendetwas beunruhigte ihn, er wusste nicht was es war. Er nahm sich vor raus zu gehen und einwenig auf und ab zu laufen. Der Junge schlug den Schlafsack zurück und schlich auf nackten Füßen hinaus. Das Gras war warm, doch der Wind pfiff dafür umso kälter. Plötzlich wurde es ihm unheimlich und er beschloss wieder in das Zelt zu gehen. Als er sich gerade umdrehte, wurde er plötzlich von jemandem auf den Rücken geschmissen. Schon hatte er ein Messer an der Kehle. Wie dumm, dass er sein Messer im Zelt liegengelassen hatte. Er trat wie wild um sich und traf irgendetwas. Der Angreifer stöhnte auf und lockerte seinen Griff. Wie ein Wiesel befreite er sich aus dem Griff und wirbelte herum, doch da stand niemand mehr. Kampfbereit sah Jan sich um. Aber nirgendwo war auch nur eine Spur von diesem mysteriösen Angreifer. Er kam, griff ihn ohne Grund an und verschwand genauso, wie er gekommen war. Lautlos. Wie ein Schatten. Schnell rannte Jan in sein Zelt, dass er sich mit Lui teilte. Lui lag wach, auf dem Rücken und sah ihn an.
„Wo warst du?“, fragte er.
„Ich musste mal…“, antwortete Jan. Erschöpft legte sich der Junge wieder in sein Bett.
„Hast du irgendwas gehört?“, fragte er Lui. Dieser schüttelte den Kopf.
„Merkwürdig.“, murmelte Jan. Doch dann beruhigte er sich. Vielleicht habe ich es mir nur eingebildet. Nein. Er war sich doch ganz sicher gewesen, dass ihn jemand ein Messer an die Kehle gehalten hatte. Mit einem unguten Gefühl schlief er ein.





Am nächsten Morgen wurde Lee durch lautes Jubeln geweckt. Sofort schlug sie ihren Schlafsack zurück, zog sich schnell was über und rannte hinaus. Das ganze Dorf war versammelt und winkte den wiederkommenden Jägern entgegen. Pachu! Sofort schloss sich Lee ihnen an und versuchte einen Blick auf die Beute zu erhaschen. Es war ein großer Bison, der auf einem Holzstück lag, welches zwei Pferde zogen. Pachu war der vorderste Reiter und sprang vom Pferd um Navaje zu begrüßen, die ihm entgegengerannt war. Lee erinnerte sich, dass die beiden verheiratet waren. Pachu hielt mit einer Hand Navaje in den Armen und mit der anderen schwenkte er einen Speer, was zu noch gröüerem Jubel führte. Häuptling Hasa kam ihnen langsam entgegengelaufen und umarmte freundschaftlich jeden der Jäger, dann besah er sich den Büffel. Es wurde still. Keiner sagte etwas oder bewegte sich. Häuptling Hasa drehte sich langsam zum Volk um und hob beide Arme gen Himmel. Das Volk jubelte und lief den Jägern entgegen. Alle umarmten einander. Auch Lee lief auf Pachu zu. Er strubbelte ihr einmal durchs Haar.
„Heute Abend, Lee! Gibt es ein Festessen und morgen gehen wir beide jagen!“ Pachu legte einen Arm um ihre Schultern und führte sie zu den Feuern, an dem schon alles für das Fest vorbereitet wurde.
Lee schnappte sich ihren Bogen sie lief mit Jan, Jenny und Lui über eine große Wiese. Sie tollten umher rupften Gras aus und rieben sich gegenseitig damit ein. Sie lachten und rollten sich den Abhang hinunter. Immernoch kichernd blieben sie im Gras liegen und betrachteten die Wolken, die vorbeizogen. Es war ruhig. Jeder der Kinder hing seinen eigenen Gedanken nach. Es reichte ihen zu viert zu sein und nicht allein. Sie hatten einander und vertrauten sich vollkommen. Wie sollten sie je wieder ohne einen von ihnen sein können? Und übermorgen, würden sie dir Prophezeiung hören und sich auf den Weg machen. Sofort machte sich in Lee wieder ihr schlechtes Gewissen breit. Jenny rutschte näher zu ihr und legte den Kopf auf ihren Bauch. Lui lag schräg hinter Lee und schob einen Arm unter ihren Kopf. Jan legte seine Beine auf Jenny und hatte die Arme ausgestreckt wie ein Vogel. So verbunden lagen sie alle zusammen. Sie waren eins! Da gab es keinen Zweifel! Sie schloss die Augen. Der Wind fuhr durch ihr Haar und knickte sanft das Gras. Lee verlor sich in der Zeit und schien scheinbar zu spüren wie sich die Wolken bewegten. Das Gras und die Bäume schienen zu atmen. Keiner der Kinder bewegte sich. Alles war still. Auf Lees Lippen war immer noch ein Schmunzeln zu sehen.
„Hey! Leute!“, rief Menewa und kam den Hügel hinabgesprungen. „Das Fest hat schon begonnen! Na, kommt! Oder wollt ihr das verpassen?“
Lee schlug die Augen auf. Jenny rappelte sich müde auf, wobei sie Jans Beine von sich stoßen musste, obwohl der gerade am aufstehen war. Als Jenny ihm die Beine wegfegte fiel er hin und landete quer auf den Kindern, was zu lautem Lachen führte. Menewa lachte ebenfalls. Johlend rappelten sich die Kinder auf und rannten dem Indianerjungen nach zum Fest.
Es war eine prächtige Feier. Die Männer tanzten um das Feuer herum. Es wurde nur gelacht und getanzt. Lee und Jenny waren schließlich totmüde und gingen zu Bett. Morgen würde Lee auf ihre erste Jagd gehen. Grinsend lag sie auf dem Rücken und starrte an die Zeltwand. Morgen schon!





„Verdammt nochmal, Pachu! Du bist nicht ihr Vater!“, giftete Navaje.
„Ihr Vater fehlt ihr! Sie ist ein nettes, kluges Mädchen!“, antwortete Pachu. Navaje rümpfte die Nase. „Ich weiß, dass sie nett ist! Aber darum geht es nicht! Du machst ihr zu große Hoffnungen! Es kann sein, dass sie die Reise nicht überleben wird!“
„Es ist gut, dass sie so viel Selbstvertrauen in sich hat!“, verteidigte sich der Schamane.
„Es wird aber nicht gut enden! Je mehr Leute sie kennenlernt, umso gefährlicher wird es für sie! Umso verletzlicher wird sie! Sie ist doch erst zwölf, Pachu! Wenn du ihr zu große Hoffnungen machst, wird sie tiefer fallen und einen härteren Aufprall haben!“
„Es ist besser, wenn sie jemanden hat, der ihr zur Seite steht!“
„Und warum musst ausgerechnet du das sein? Sie hat ihre Freunde!“
„Du verstehst das nicht! Ihre Freunde sind genauso unsicher, wie sie selbst! Sie braucht eine Hand an der sie sich in der Not festhalten kann!“
„Sag nicht, dass ich das nicht verstehe! Ich verstehe es sehr wohl! Wenn du diese Hand für sie sein willst, stürzt du uns alle ins Unglück! Falls Sasuun überleben sollte oder nach einer Person sucht mit der sie Lee schwächen könnte...“
„Sie würde einen ihrer Freunde nehmen!“, unterbrach sie Pachu.
„Wie kannst du sowas einfach so sagen! Es sind noch Kinder! Sie haben noch nicht einmal richtig angefangen zu leben!“
Pachu seufzte und setzte sich auf einen Hocker. „Und was soll ich deiner Meinung nach tun? Die Kinder ihrem Schicksal überlassen? Sie brauchen jemanden, der ihnen zur Seite steht!“
„Aber du wirst in der Prophezeiung nicht erwähnt!“, zischte Navaje. „Du hast Recht die Kinder brauchen vor allem einen Führer, der sie durch das Gebirge und das Moor führt, aber der bist nicht du!“
„Navaje...“
„Nein, hör mir zu! Du kannst mich nicht einfach zurücklassen, nur um den Kindern zu helfen! Ich will ihnen doch auch helfen! Doch ich kann nicht mitkommen! Es können nicht beide Schamanen gehen und ich bin machtlos ohne dich! Ich...“
„Du hast Angst!“, stellte Pachu verblüfft fest. Verwirrt sah Navaje ihn an.
„Du hast Angst, wegen der Prophezeiung und unserem Stamm. Du hast Angst wegen Sasuun!“ Pachu erhob sich und kam langsam auf sie zu. Navaje senkte trotzig den Kopf.
„Hast du etwa keine Angst?“, fragte sie. Pachu lächelte.
„Gerade du hast Angst! Und ich dachte, ich wäre der einzige! Was wird passieren wenn sie es nicht schaffen?“, sagte Pachu und setzte sich wieder. „Weder ich noch du noch die Runen können es uns sagen! Es liegt ganz allein in den Händen von diesen vier Kindern!“


Kapitel 25: Die Jagd!

Der Nebel legte sich wie ein sanfter Mantel um die Bäume und auf Lees Kleidung. Die Sonne war noch nicht mal aufgegangen. Lee kauerte hinter einem kleinen Strauch. Neben ihr lag Pachu und
horchte den Boden ab. Plötzlich schrak er auf.
„Lee, von links!“, flüsterte er. Schnell spannte Lee ihren Bogen und legte einen Pfeil ein. Pachu hatte recht! Ein Reh sprang von links auf die kleine Lichtung sah sich suchend um und graste dann gemächlich. Pachu nickte Lee aufmunternd zu. Das Reh war gute fünfzig Schritt entfernt. Vorsichtig zielte Lee und - traf! Der Pfeil hatte sich in den Brustkorb gebohrt und das Herz durchstochen. Pachu stob mit eine Indianerschrei aus den Büschen und zog den Pfeil aus dem toten Tier.
„Lee! Das war großartig!“, jubelte er. „Deine erste Jagd und schon ein totes Tier.“ Stolz besah sich Lee den Kadaver. Es war kein großes Reh gewesen, doch es war immerhin ein Tier. Zusammen schleppten sie es zum Lager zurück. Lee hatte noch nie so viel Spaß daran gehabt ein Essen zuzubereiten. Zuerst musste man das Fell abziehen und dann das Fleisch über das Feuer hängen, damit sich keine Maden einnisteten, das ging nämlich schneller als man dachte.
Dann schlitzte man dem Tier den Bauch auf und entfernte die Innereien. Das war ziemlich eklig, doch Lee biss die Zähne zusammen und machte auch das. Pachu nahm ein Messer und schnitt Fleischstreifen von dem toten Tier ab, die er übers Feuer legte. Lee grinste. Jetzt musste sie nur noch warten. Als das Fleisch fertig war setzten Pachu und Lee sich hin und aßen. Es schmeckte köstlich! Danach sollte sie zu Jarko gehen. Er würde mit ihr Klettern, Rennen und ihr zeigen wie man sich wendig und schnell durch das Unterholz bewegte ohne Spuren zu hinterlassen. Den Rest des Tages verbrachte sie damit, so schnell wie möglich steile Felswände hoch zu klettern, sich durch dichtes Farngestrüpp zu winden und mit Stöcken zu kämpfen. Die Kinder hatten alles Mögliche gelernt. Messerwurf, Speerwurf, Nahkampf mit dem Messer, Bogenschießen, Stockkampf und noch weitere Sachen, die wichtig sein könnten. Sie waren bereit!


Kapitel 26: Die Blumenelfen!

Lui saß auf einem großen Stein am Fluss. Er warf einen Kiesel ins Wasser und sah zu, wie er das Wasser aufwühlte und sanfte Kreise zog. Plötzlich setzte sich Navaje zu ihm.
„Lui“, fing sie an. Er schwieg und sah auf seine Schuhspitzen. „Du weißt, was du bist.“
Leise flüsterte er. „Jetzt schon.“
„Und du weißt auch, dass wir nicht wissen was das ist.“
„Ja!“
„Ich glaube, dass dich diese Sache beschäftigt. Weißt du, am Anfang war ich auch sehr verwirrt.“
Lui sah sie irritiert an. „Verwirrt? Weswegen?“
„Ich bin ein Seelenwolf.“
„Was ist das genau?“, fragte er.
„Du bist noch nicht soweit.“, sie wich seinem Blick aus. „Ich wollte dir eigentlich jemanden vorstellen. Jemand, der dir vielleicht sagen kann, was du bist! Wer du bist.“
Lui sah auf. „Wer ist das?“
„Komm mit mir.“, sie stand auf und führte ihn vom Lager weg, in den Wald hinein. Der Waldboden war mit Moos bedeckt. Strahlend schien die Sonne durch die Blätter. Lui war froh, dass er an so einem Tag nicht trainieren musste. Wohin Navaje ihn wohl führte? Er hoffte, dass es nicht zu weit weg war. Auf einmal standen sie auf einer Lichtung, mit vielen violetten Blumen. Irgendwo habe ich diese Blumen doch schon mal gesehen! Plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Es waren die selben Blumen wie bei Marek. Die Sonne strahlte durch die Blätter und tunkte die Lichtung in warmes helles Licht. Die ganze Wiese schien von kleinen, feinen Stimmen erfüllt zu sein.
„Navaje, solche Blumen habe ich schon einmal bei Marek gesehen.“, sagte er.
Navaje nickte. „Es sind Víotras. Die Viotras haben eine erstaunliche Macht. Deswegen lassen sie sich hier nieder.“
„Sie?“ Neben seinem Ohr, vernahm Lui ein leises Wispern. Er drehte sich zu der Stimme um, doch er sah nur einen Schmetterling, der an ihm vorbei flog. Nein, kein Schmetterling! Ein kleines Wesen mit zarten Gliedern und einem violetten Kleid. Navaje sah das kleine Wesen liebevoll an und beugte sich zu Lui runter.
„Blumenelfen“, wisperte sie.
„Blumenelfen?“, flüsterte Lui.
„In unserer Sprache nennt man sie: Nothrila!“
„Nothrila.“, wiederholte Lui leise. Die Elfe, die an ihm vorbei geflogen war, kicherte.
Nun nahm Lui die anderen kleinen Gestalten war, die sich entweder auf den Blumen tummelten oder durch die Luft flogen. Navaje ging zu der kleinen Elfe, die Lui für einen Schmetterling gehalten hatte.
„Gamove, Fauna.“, sagte Navaje. Lui war sich sicher, dass es „Hallo“ hieß, denn die kleine Elfe antwortete: „Gamove, Navaje.“ Navaje sah Lui an und bedeutete ihm ebenfalls, die kleine Elfe Fauna zu begrüßen. „Gamove, Fauna!“, sagte Lui. Fauna sah ihn lächelnd an.
„Nothre tarez nuv?“, fragte die kleine Elfe. Zu seiner Verwunderung wusste Lui, was sie gesagt hatte und er wusste auch ganz genau, wie er antworten sollte. Navaje sah ihn fragend an.
„Navaje“, sagte Lui verblüfft „Ich weiß, was sie gesagt hat.“
Navaje schwieg. Dann fragte sie: „Was hat sie gesagt?“
„Sie hat mich nach meinen Namen gefragt.“,antwortete der Junge.
„Weißt du auch, was du sagen musst?“, fragte Navaje.
„Ja.“ Lui wandte sich an die kleine Elfe. „Nothre meraz shet Lui.“, sagte er.
„Freut mich, Lui. Ich bin Fauna.“, sagte die kleine Elfe. Lui wunderte sich, dass er jedes Wort der fremden Sprache verstand.
„Freut mich dich kennen zu lernen.“, sagte er. Die kleine Elfe nickte.
„Wer bist du? Bist du auch ein Seelenwolf?“, fragte sie und legte hinreißend die Kopf schief. Lui fiel erst jetzt auf, wie schön sie war. Blonde Haare, die ihr bis zu der Hüfte hingen. Zarte Schmetterlingsflügel und einen violetten Blumenkranz im Haar.
„Nein!“, sagte Lui „Ich bin ein Mensch.“ Die kleine Elfe schrie verletzt auf und schwirrte so schnell sie konnte davon, auch die anderen Elfen versteckten sich erschrocken. Überall hörte man piepsige Stimmen. Sowohl männliche als auch weibliche.
„Navaje! Du Verräterin! Du hast einen Menschen in unser Reich geführt.“ Das Gezeter wollte gar nicht mehr aufhören. Genervt sah Navaje Lui an, dann sagte sie: „Ihr könnt beruhigt sein, meine Schwestern und Brüder. Er ist kein Mensch, auch wenn er sich dessen noch nicht bewusst ist.“ Lui sah sie fragend an.
„Er ist ein Wolfskopf!“, sagte die Schamanin. Langsam, einer nach dem anderen, kamen die Elfen wieder hervor. Navaje wartete bis sich ihnen zahllose Elfenköpfe zugewandt hatten.
„Deswegen sind wir hier. Ihr wisst doch, dass der letzte Wolfskopf vor über tausend Jahren existierte, doch niemand von unserem Stamm weiß, was es damit auf sich hat. Und da er in einer Prophezeiung vorkommt, halten wir es für sinnvoll zu wissen, um was es sich handelt. Und wollen wissen, ob ihr vielleicht etwas Neues herausgefunden habt!“, sagte sie. Fauna schwebte nun wieder neben Navaje.
„Deswegen wollen wir, dass du uns zu deiner Mutter bringst.“, sagte sie zu Fauna.
„Ihr wollt zu Violetta?“ Fauna schien fast ungläubig zu sein.
„Ich bin schon hier, meine Kleine.“, ertönte jetzt eine etwas tiefere Frauenstimme, doch sanft und süß wie der Honig der Blüten. Eine, in ein prachtvolles, violettes Kleid gehüllte Elfe stand nun vor ihnen auf einer besonders großen Blume. Sie hatte eine violette Krone aus Blütenblättern an.
Navaje verbeugte sich und da Lui nicht unhöflich sein wollte, verbeugte er sich ebenfalls.
„Königin Violetta. Ich stelle dir Lui den Wolfskopf vor!“, sagte Navaje.
„Hallo Lui.“, sagte Königin Violetta lächelnd. „Meine Tochter hast du so weit ich weiß schon kennen gelernt.“ Lui nickte, während sich Prinzessin Fauna graziös auf seine Schulter setzte.
„Was dich betrifft, so können wir dir leider nicht helfen. Auch wir Blumenelfen wissen schon lange nicht mehr, was es mit dem Wolfskopf auf sich hat.“ Lui seufzte und senkte den Kopf. Doch die Königin war noch nicht fertig.
„Navaje, hast du in Erwägung gezogen, dass er…“
Navaje nickte. „Er kann unsere Sprache“, sagte sie zu der Elfe „und er kann alle Schamanensprüche, ohne sie gelernt zu haben. Dazu kommt noch, dass er ein Wolfskopf ist.“
Die Königin nickte weise. „Willst du, dass ich es ihm erzähle?“, fragte sie.
Navaje dache kurz nach, dann nickte sie. „Ich glaube es ist besser, wenn er es weiß!“, sagte sie. Die Elfe wandte sich Lui zu. „Es wird Zeit zu reden. Ich sehe schon du hast viele Fragen, aber bevor du irgendetwas sagst, lass mich dir das meiste erklären.“ Und die Königin fing an zu erzählen.





Lee wunderte sich. Lui war schon die ganze Zeit über nicht da. Sie fragte sich, wo er blieb. Auch Navaje war nicht auffindbar. Endlich sah sie ihn aus dem Wald kommen.
„Wo warst du?“, fragte sie ihn.
„Ach, nur ein wenig im Wald.“
„Im Wald?“
„Die Nothrila!“
Lee schüttelte ungläubig den Kopf. „Lui wovon redest du?“
Er sah zu Navaje die kaum merklich den Kopf schüttelte, dann ging sie zu ihnen rüber.
„Lui! Nothrila shet hosan tarez. Lee shen hosan.”, sagte sie eindringlich. Lui nickte. Er lächelte Lee entschuldigend an und ging. Das Mädchen sah ihm sprachlos nach.





Lee war aufgeregt. Lui und Jan steckten andauernd die Köpfe zusammen und sie wusste, dass es um die Prophezeiung ging, denn diesen Abend sollte es eine Besprechung geben und sie würden die Prophezeiung lesen. Und am nächsten Tag würden sie sich auf den Weg machen.


Kapitel 27: Die Prophezeiung!


Es kommt die Zeit
Da wird Liebe ersetzt durch Leid
Je mächtiger der Schamane wird
Desto mehr er die Welt führt
Doch verzaget nicht
Der Bann des Schamanen bricht
Denn wenn vier Kinder kommen
Werden sie sich das nehmen was ihnen genommen
Sie werden ihre Gefährten finden
Und sie an sich binden
Einer von euch wird zum Wolfskopf werden
Dennoch, einer der Gefährten wird sterben


Pachu sah sie der Reihe nach an. „Die Runen haben bestätigt, dass ihr diese Kinder seid.“ Häuptling Hasa sah zu Menewa. „Ihr werdet einen Führer brauchen, der euch durch die Sümpfe führt.“ Sein Blick heftete an Menewa, der hinter den Kindern stand. „Menewa, du bist unser Streicher. Warst du zu dieser Zeit schon in den Sümpfen.“ Menewa nickte. „Ich kann sie bis zum Bärenpass führen, der liegt genau hinter dem Gipfel und den Sümpfen. Ab dem Bärenpass müssen sie immer nur nach Norden wandern, irgendwann kommen sie zum Fuße des Seelenberges.“ Häuptling Hasa nickte. „So sei es. Menewa wird euch begleiten. Nun kommen wir zu der Frage, wer nicht mitgeht.“
„Wie meinen Sie das, Häuptling Hasa?“, fragte Jan unwohl. Häuptling Hasa blickte zu Navaje.
„Wir sind uns nicht sicher, ob Lui mitkommen sollte.“, sagte Navaje vorsichtig.
„Was?“, rief Lui aus. „Ich gehe mit meinen Freunden. Wieso sollte ich nicht mitkommen?“
„Du bist ein Wolfskopf. Wir wissen nicht wie gefährlich du bist. Die Worte die wir entschlüsselt haben waren: Tod, Gefährte, Wolfskopf und unkontrollierbar.“ Navaje zögerte.
„Es müssen aber vier Kinder sein und nicht nur drei.“, gab Lee zu bedenken. „In der Prophezeiung lautet es: Denn wenn vier Kinder kommen!“
„Wenn ich mitkomme sind es vier.“, meinte Menewa.
„Ich wäre trotzdem dafür, dass Lui mitkommt!“, sagte Pachu vorsichtig. Navaje warf ihm einen bösen Blick zu, den er schmunzelnd erwiderte. „Am besten wir fragen die Kinder.“
„Lui muss mitkommen.“, sagte Jan.
„Das sage ich auch.“, sagte Jenny.
„Ja, ohne ihn schaffen wir das nie.“, sagte Lee.
„Somit ist es abgemacht.“, sagte Häuptling Hasa. „Morgen früh werdet ihr aufbrechen.“
„Wohin müssen wir denn laufen? Wir wissen ja nicht wo sie ist.“, sagte Lee.
„Sie wird am Seelenberg sein. Wenn Menewa euch verlässt, lauft einfach immer weiter geradeaus. Sie wird wollen, dass ihr sie findet. Und falls es auch noch nicht gesagt wurde; ihr habt nur fünfzehn Tage.“
„Wieso nur fünfzehn Tage?“, fragte Jan.
„Die Sommersonnenwende ist in fünfzehn Tagen. Zu dieser Zeit ist die Macht der Schamanen am mächtigsten. Ihr müsst sie vor dem letzten Tag besiegt haben.“





Lee wurde schon sehr früh geweckt. Sie bekamen Reiseklamotten, einen Rucksack mit Verpflegung und Schlafsäcke, die selbst vor dem eisigstem Wetter schützten. Pachu kam mit einem Bogen auf Lee zu. „Hier. Er gehört dir.“ Lee nahm den Bogen mit Freude entgegen.
„Danke, Pachu!“
„Der Stamm wollte, dass du ihn bekommst und die hier gehören auch euch!“ Er drückte jeden von ihnen ein Messer in die Hand. Wobei Luis und Jans etwas länger waren, weil diese eher für den Nahkampf geeignet waren, während Lees und Jennys Messer für den Messerwurf gedacht waren.
„Ehe ich es vergesse“, sagte Häuptling Hasa. „Es ist euch nicht erlaubt Jäger mit einer Pfeilspitze zu töten.“
„Jäger?“, fragte Jenny.
„Tiere die andere Tiere jagen, nennen wir Jäger. Bei uns ist jeder Jäger unser Bruder. Denn wir Menschen sind auch Jäger. Tötet sie nicht grundlos.“ Die Kinder nickten.
Häuptling Hasa, Pachu und Navaje wünschten ihnen viel Glück und eine gute Reise. Der ganze Stamm war vermasselt, doch keiner sagte etwas. Alle starrten sie an. Manche Frauen hatten Tränen in den Augen und andere sahen wiederum so gefühllos drein, dass es Lee unwohl wurde. Die Kinder drehten sich um und kehrten ihnen den Rücken. Bevor sie im Wald verschwanden, drehte Menewa sich noch einmal um und hob eine Hand. Dann machten sich die fünf Kinder auf den Weg.


Kapitel 28: Die Reise zum Gipfel!

Menewa führte sie durch dichtes Gestrüpp, weite Ebene und steile Berge.
„Bleibt zusammen! Es ist sehr gefährlich hier“, schärfte er ihnen ein. Seine braunen Augen leuchteten, als er das sagte und er sah viel älter aus als dreizehn. Als es dämmerte setzte er seinen Rucksack ab und sah sich prüfend um. Dann nickte er. „Ja, hier bleiben wir!“
Die Kinder ließen sich erschöpft zu Boden fallen. Menewa hatte ihnen weder gestattet eine Pause zu machen, noch zurückzufallen. Sie standen auf einer moosbedeckten Lichtung, ein Bach an ihrer Seite, der fröhlich aus einem kleinen Felsen plätscherte. Menewa nahm sein Jagdmesser. „Wir brauchen etwas zu beißen“, sagte er mit funkelnden Augen. „Wer kommt mit mir jagen?“
„Aber wir haben doch genug Verpflegung!“, sagte Lui skeptisch.
„Na, und?“, sagte Menewa achselzuckend. „Vielleicht brauchen wir sie noch, wenn wir den Gipfel überqueren. Dort oben gibt es keine Tiere. Höchstens Bergziegen und Schneehasen! Buäh, ich hasse Bergziegen zum Essen und Hasen sind viel zu mickrig. Außerdem müssen wir in Form bleiben.“ Jenny stimmte ihm zu. „Es kann keine Nachteile haben, mehr Essen herum zu schleppen.“
„Oh doch!“, grummelte Jan. „Denn wer trägt den Beutel mit dem Essen? Ich!“
„Ach, stell dich nicht so an!“, sagte Lee grinsend. „Du musst ja nicht immer den Selben Beutel tragen. So hat immer jemand etwas zu essen und alle sind zufrieden!“
„Ich bin nicht zufrieden!“, beklagte sich Jan wütend.
„Du bist auch nie zufrieden!“, konterte Jenny. „Komm, Menewa! Ich hab einen Bärenhunger!“ Lee schnappte ihren Bogen und Lui, nahm sein Messer. Zu viert gingen sie tiefer in den Wald hinein und ließen Jan am Lagerplatz zurück. „Lui und ich gehen nach hier und wenn wir ein Tier kommen sehen, schrei ich wie ein Käuzchen!“, sagte Menewa.
„Jenny, Lee ihr bleibt hier! Hier habt ihr eine perfekte Schussbahn auf diese kleine Lichtung. Ich weiß aus Erfahrung, dass hier oft Tiere vorbei kommen. Lee, am besten wagst du den Schuss. Ich habe von Pachu gehört, dass du dich bei deiner letzten Jagd sehr geschickt angestellt hast. Viel Glück!“ Dann hob er die rechte Hand vor die Brust und sagte: „Astro di nada fen jathrin as noso shan!“ Lui vollführte die selbe Geste, fast so als hätt er es schon hundertmal getan. „Was heißt das?“, fragte Jenny.
„Möge der Geist der Jagd mit euch sein!“, grinste Menewa und holte etwas aus seinem Beutel heraus. Es waren zwei stücke Holzkohle und ein Messer. „Reibt euch euer Gesicht mit der Holzkohle ein!“, befahl Menewa und rieb die Holzkohle zwischen den Händen, dann an der Stirn und an den Wangen. Die Kinder taten es ihm nach. Jan nahm das Messer, das er herausgeholt hatte. Und schnitt sich die Haare kurz. Seine schwarzen Haare waren gerade einmal schulterlang gewesen, doch jetzt reichten sie ihm noch nicht einmal bis zum Kinn.
„Schneidet eure Haare ab. Lange Locken sind gefährlich in der Schlacht!“ Er reichte Lui das Messer. Ohne zu zögern schnitt sich Lui seine kinnlangen Haare rappelkurz. Sie waren sehr gewachsen, seit ihrem Aufbruch und er musste sie sich sowieso mal wieder die Haare schneiden. Er reichte das Messer an Lee weiter, die ihre langen, blonden Haare in einer Hand hielt. Für den Kampf!, dachte sie und kniff die Augen zu. Sie spürte den Wiederstand den ihre Haare gaben und dann die Locken auf ihrem Handgelenk. Sie hatte nun ihre ganzen Haare in der Hand. Sofort betrachtete sie das Ergebnis in einer Wasserpfütze. Ihre Harre waren jetzt nur noch kinnlang und da sie sehr dickes Haar hatte, stand es an den Seiten ein wenig ab. Doch eigentlich, fand Lee, passte die Frisur ganz gut zu ihr. Nun konnte sie sich frei bewegen und sie fühlte sich auch sehr viel geschmeidiger. Jennys braune Haare waren noch kürzer als kinnlang. Ihre lockten sich ein wenig um ihr ovales Gesicht, doch auch sie war mit dem Ergebnis ganz zufrieden. Menewa lachte, als er bemerkte wie sich die Mädchen in der Pfütze musterten. „Keine Angst, ihr seht toll aus!“, sagte er grinsend. Dankbar sahen ihn die Mädchen an. Dann hob Lee die rechte Hand vor die Brust und sagte: „Astro di nada fen jathrin as noso shan!“ Jenny hob ebenfalls die Hand, sagte jedoch nichts. Menewa und Lui hoben nun die linke Hand und erwiderten einen anderen Spruch. „Fen tura uthran!“ Dann verschwanden sie im Dickicht und die beiden Mädchen knieten sich hin und warteten.
Na toll!, dachte Lee und seufzte. Ich war gerade so stolz auf mich, dass ich den Spruch noch konnte und jetzt kommen die beiden einfach mit einer Antwort! Woher kennt Lui nur diese ganzen Sprüche? Sie musste zugeben, dass sie ein wenig neidisch war.
„Lee?“, flüsterte Jenny nach einiger Zeit. „Ich fühl mich so anders, als…als wäre ich in einer anderen Welt.“ Lee nickte. „Geht mir genau so!“
„Aber weißt du, was das komisch daran ist?“, fuhr Jenny leise fort. „In dieser Welt fühle ich mich wohl! In der anderen Welt überhaupt nicht! Aber hier, hier sind wir frei!“ Lee grinste. „Ich weiß, was du meinst!“ Plötzlich ertönte ein Käuzchenschrei. Menewa! Schon trabte ein Reh auf die Lichtung. Es war schon etwas älter, doch immer noch eine köstliche Mahlzeit. Das Reh sah sich suchend um, dann graste es gemütlich. Lee zielte und schoss ab. Der Pfeil bohrte sich in die Schulter. Das Tier fiel zu Boden, doch es lebte noch und trat um sich.
Menewa und Lui sprangen aus dem Dickicht und versuchten an das Reh zu kommen, um dem Tier das Messer ins Herz zu rammen, doch sie kamen nicht nah genug heran. Schließlich war das Tier am Ende seiner Kraft und atmete nur noch schwer. Menewa nutzte die Gelegenheit und durchstieß das Herz. Das war anstrengender als man gedacht hatte, denn um ans Herz zu gelangen, musste man zuerst durch die Rippen und wenn man das geschafft hatte, hatte man vielleicht nur die Lungen erwischt. Doch Menewa war sich seiner Schritte so sicher, wie eine Bergziege im Gebirge.
„Komm, Lui! Hilf mir es zum Lagerplatz zurück zu bringen!“, sagte Menewa und griff nach den Hinterhufen. Gemeinsam schleppten sie es zu Jan zurück, dort ritzte Menewa dem Tier den Bauch auf und legte die Gedärme bei Seite, dann legte er das leckere Fleisch übers Feuer, damit sich keine Maden dort einnisteten. Schließlich war das Fleisch fertig und sie saßen dort, aßen die leckeren Fleischrippchen, und alberten herum. Sogar Jan hatte von dem Reh gegessen, doch nun saß er etwas abseits, während die anderen kicherten und lachten.
„…und da merkte er, dass es nur Suppe war und gar kein Blut.“ Jenny lachte.
„Fürchterlich witzig.“, sagte Jan sarkastisch. Sofort schwiegen alle. Miesmacher!, dachte Lee wütend. Was ist nur los mit ihm?
„Jan, was soll das? Er hat dir doch gar nichts getan!“, sagte sie stattdessen.
„Jaja, schon klar“, murmelte Jan.
„Hast du irgendein Problem mit mir?“, fragtete Menewa wütend. Jan schien ihn echt verletzt zu haben.
„Vielleicht fragst du dich das mal selbst, du Schleimbacke“, zischte Jan.
„Willst du etwa sagen, dass ich mich einschleime.“ Menewa sprang auf.
„Als ob du das selbst nicht merken würdest!“ Auch Jan war aufgesprungen. Voller Hass funkelten sich die beiden Jungen an. „Na los, komm doch!“, fauchte Jan.
„Du kleine, dreckige Made!“, rief Menewa und stürzte sich auf Jan.
„Stopp! Hört auf!“, riefen Jenny und Lee durcheinander. Doch da war die Prügelei auch schon im vollen Gange. Jan verpasste Menewa einen Schlag in die Rippen und wich seinem Schlag aus. Der ältere Junge war zwar um einiges stärker, doch Jan war flinker. Menewa schlug Jan auf die Nase. Dieser taumelte zurück und Menewa wollte sich gerade erneut auf ihn stürzen, da schaffte Lui es Menewa zurück zu halten.
„Lasst das!“, rief Lui wütend. Einen Augenblick starrte Menewa Lui nur wütend an und Lee bekam schon Angst, dass er sich auf Lui stürzen würde, doch Menewa rief nur:„Halt dich da raus, Lui. Das ist eine Sache zwischen ihm und mir.“
„Menewa, beruhige dich. Sonst sind gleich zwei Volldeppen auf der Reise nicht mehr zu gebrauchen!“, sagte Lui ernst. Wütend setzte sich Menewa wieder. Einen Moment überlegte er, dann begann er zu lachen.
„Du hast Recht!“, kicherte er. Auch Lee und Jenny begannen zu grinsen. Nur Jan stieß einen ärgerliches Knurren aus und lief ein paar Meter ins Dickicht hinein. Nur um Menewa nicht mehr sehen zu müssen. Er würde jetzt von den anderen bemitleidigt werden und er, Jan, würde nichts machen können.





Was ist nur mit Jan los? Lui beschloss ihn zur Rede zu stellen. Schnell folgte er seiner Spur und fand ihn schließlich auf einem umgefallenen Baumstamm sitzen. Schweigend setzte er sich neben ihn. Eine Weile war es still zwischen ihnen.
„Was hast du gegen Menewa?“, fragte Lui schließlich geradeheraus.
„Er ist einfach nur blöd und ein widerlicher Schleimer.“, antwortete Jan zornig. „Hast du gesehen, wie er sich an Jenny ranmacht.“ Jetzt war für Lui alles klar.
„Du magst Jenny, nicht wahr?“
„Sie ist nicht so wie die anderen Mädchen. Sie überlegt nicht stundenlang was sie anziehen soll oder welchen Lidschatten sie benutzen soll. Lee ist ja auch so. Aber Jenny ist einfach…einmalig.“ Jan schaute so verträumt, dass Lui grinsen musste.
„ Du magst Lee doch auch.“, sagte Jan.
Lui wurde rot. „Das ist kompliziert.“, murmelte er.
„Wie meinst du das?“, fragte Jan verblüfft.
„Naja, wir waren die ganzen vier Jahre in der Grundschule beste Freunde. Aber dann war nichts mehr. Ich weiß nicht, ob…Es ist kompliziert!“ Er fand es komisch sich vorzustellen, dass Lee und er womöglich mehr als Freunde sein konnten. Andererseits wollte er für immer so nah wie möglich bei ihr sein.
„Ich kann Menewa nicht leiden, und das nicht nur wegen Jenny.“, sagte Jan. „Ich weiß nicht, warum ich ihn nicht leiden kann! Jedenfalls bin ich froh, wenn wir ihn los sind.“





Am nächsten Tag, weckte Menewa sie schon früh am Morgen auf und sagte ihnen, dass sie sich warme Sachen anziehen sollten, weil es oben auf dem Gipfel ziemlich kalt werden könnte. Sie liefen eine Weile. Plötzlich wurde es immer steiler und die Bäume immer weniger. Irgendwann waren gar keine Bäume mehr vorhanden. Sie waren in einem riesigen Gebirge gelandet in dem nichts grünes mehr wuchs.
„Warum laufen wir nicht um das Gebirge herum?“, fragte Lui erschöpft.
„Damit würden wir mehrere Wochen wenn nicht Monate brauchen! Und so viel Zeit haben wir einfach nicht. Wir haben höchstens noch dreizehn Tage!“ Sie machten eine Pause und Menewa ermahnte sie durchdringend: „Wir erreichen jetzt die Schneegrenze! Wenn ihr zu laut seid, könnte das eine Lawine auslösen, also seid still. Und gebt keinen Laut von euch! Dort oben wird es auch sehr neblig sein. Ihr dürft euren Vordermann auf keinen Fall aus den Augen verlieren, verstanden? Wir werden eine Nacht auf dem Gipfel verbringen müssen! Merkt euch meine Worte! Sie könnten euch das Leben retten.“ Die Kinder nickten und sogar Jan sagte Menewa, dass er verstanden habe. Schließlich kam der erste Schnee. Die Kinder tollten im Schnee herum und warfen Schneebälle nach einander, bis Menewa warnte, dass sie zu laut seien. Nachdem er sie zu Recht gewiesen hatte, flogen nur noch selten Schneebälle. Kurz darauf wurde der Berg flacher und es war leichter zu laufen. Plötzlich, sodass keiner so wirklich wusste, wie ihm geschah, kam Nebel auf und die Kinder bemühten sich Menewa nicht aus den Augen zu verlieren. Schließlich liefen sie hintereinander und suchten immer ihren Vordermann. Der Nebel legte sich schwer auf ihre Kleider. Er kroch in ihre Handschuhe unter ihre Mützen. Die Kinder zitterten und Menewa trieb sie zur Eile an. Jenny lief als Letzte und versuchte Jan, der vor ihr lief, durch den dichten Nebel zu erkennen. Der Nebel wurde immer dichter und man konnte kaum, noch eine Handbreit sehen. Schließlich verlor sie Jan ganz aus den Augen. Zu allem Überfluss fing es an zu schneien und die Spuren zu verwischen. Jenny rannte schneller. Immer den Spuren nach, oder rannte sie den Berg hinab? Es schien plötzlich gar nicht mehr anstrengend sein zu laufen!
„Verdammt!“, zischte sie. „Jan!“, rief sie leise und dann lauter. „Jan! Menewa!“ Doch der Nebel verschluckte alle Geräusche. Die Schneeflocken tanzten wild um sie herum und das Mdächen konnte gar nichts mehr erkennen. Menewa hatte sie noch davor gewarnt mit offenen Augen zu laufen. Sie sollten die Augen zu kneifen, damit sie nicht schneeblind wurden. Das Mädchen konnte nicht mehr weiter. Der Wind heulte und zog ihr die Mütze vom Kopf. Wie lange irrte sie jetzt schon umher und suchte ihre Freunde? Eine oder vielleicht zwei Stunden?
Das Weiß stach ihr in die Augen. Jennys Knie zitterten und gaben schließlich nach. Der Schnee war warm. So schön warm. Sie kuschelte sich tiefer in das weiße Schneebett und schloss die Augen.


Kapitel 29: Eisschlaf!

„Hier rein!“, rief Menewa und führte sie in eine kalte Steinhöhle. Erschöpft ließen sich die Kinder fallen. Draußen wirbelten die Schneeflocken nur so durcheinander. Man konnte rein gar nichts sehen.
„Schlaft nicht ein! Das könnte euren Tod bedeuten. Macht mit mir ein Feuer. Das wärmt euch auf!“, befahl Menewa in einem Ton der keinen Widerspruch duldete. Murrend halfen ihm die Kinder dabei, doch plötzlich rief Jan aus: „Wo ist Jenny?“ Menewa fuhr in die Höhe und der Stapel voll Brennholz fiel um. „Ist sie denn nicht hier herein gekommen?“, fragte er panisch. Lee zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht!“
„Sie ist nicht hier!“, sagte Lui, auch er sprang auf die Füße und der Brennholzstapel, den Lee wieder neu aufgebaut hatte, fiel erneut um. Doch nun hatte sie andere Gedanken! „Wir müssen sie finden!“, sagte sie.
„Ich muss sie finden!“ Entschlossen zog Menewa sich seine Jacke zurecht. „Ich kenne mich hier besser aus und außerdem beginnt gleich ein starker Schneesturm! Wartet hier!“
Mit diesen Worten rannte er in den Sturm hinaus und ließ die drei allein zurück.





„Ich laufe ihm nach!“, sagte Jan und wollte nach draußen rennen.
„Tu es nicht!“, sagte Lui und griff gerade noch rechtzeitig nach Jans Jackenärmel. „Du wirst erfrieren!“
„Ich werde einfach seinen Spuren folgen!“, sagte Jan trotzig und ehe Lui ihn zurückhalten konnte, riss er sich los und lief davon. Lui fluchte. „Na, klasse! Jetzt erfriert nicht nur Jenny sondern auch noch Jan und wahrscheinlich fällt Menewa in irgendeinen Gletscher und wir? Wir erfrieren!“ Noch während er geredet hatte, hatte es Lee geschafft ein Feuer zu machen und sah ihn triumphierend an. „Mach dir keine Sorgen!“, sagte Lee und massierte ihre Schläfe, um einen kühlen Kopf zu bewahren. Mit geschlossenen Augen murmelte sie. „Menewa wird Jenny finden und Jan wird in ein paar Sekunden wieder hier sein.“ Es klang als ob sie sich selbst versuchen würde damit zu überzeugen. Doch es kam keiner und nun bekam auch Lee Angst, während Lui unentwegt in die Dunkelheit starrte und auf eine Gestalt hoffte, die wieder zurückkäme.





Die Wärme kroch in Jennys kalte Schuhe und sie kuschelte sich tiefer in den Schnee. Es machte ihr dabei gar nichts aus, dass neue Schneeflocken auf sie nieder rieselten. Hier bleibe ich!, dachte sie. Hier ruhe ich mich aus. Nur für ein paar Minuten! Schließlich schlief sie ein. Sie träumte wild und spürte nicht wie ihr Körper sich mehr und mehr versteifte und ihre Füße nicht wärmer sondern kälter wurden. Schließlich meinte sie, ihre Hände würden brennen so heiß wären sie. Da streifte sie sich die Handschuhe ab und grub ihre Finger in den kühlen Schnee. „Jenny!“, sie hörte Menewas Stimme. „Jenny, gib mir ein Zeichen! Wo bist du?“
Jenny gab keine Antwort. Wollte weiter in diesem Bett aus Eis schlafen. Es war so schön dunkel und gemütlich. Oder war es gar nicht dunkel sondern hell? Plötzlich sah sie eine schwarze Silhouette und diese Silhouette holte sie wieder in die Wirklichkeit zurück. Sie keuchte und zuckte vor der Kälte zurück. Ihre Hände waren steif und sie konnte sich kaum bewegen. Sie sah auf die Silhouette und bemerkte, dass da wirklich jemand stand und es nicht nur ein Traum gewesen war. Sie konnte sich nicht mehr bewegen! Die Silhouette stand nun genau über ihr. Sie sah auf Jenny herab und bewegte sich nicht. Dann sah sie etwas in der Hand diser Gestalt aufblitzen. Es war ein Messer. Die Silhouette holte aus und ließ das Messer auf sie herabfahren!





Jan konnte Menewas Spuren nicht sehr gut erkennen, aber er wusste, dass sie da waren und folgte ihnen. Es wurde immer kälter und Jan bemerkte, dass er schon ein ganzes Stück gelaufen war. Wenn er darüber nachdachte, war er gar nicht mehr so sicher, ob die Spuren überhaupt da waren. Doch endlich entdeckte er Menewas Gestalt. Ausnahmsweise war er einmal froh ihn zu sehen. Menewa kniete auf dem Boden und hieb ein Messer in etwas. Seine Augen blitzten vor Vergnügen. Er wird doch nicht…?, dachte Jan und sprang zu ihm. Als er ihn erreicht hatte riss er ihm das Messer aus der Hand. Unter dem Schnee sah er Jennys Hand heraus ragen und ihr Gesicht war auch frei. Sie starrte ins Leere und zitterte am ganzen Körper.
„Was soll das?“, fragte Menewa wütend. „Du verzögerst ihre Befreiung!“ Jan war erstaunt und stotterte: „Dann…Dann wolltest du sie gar nicht umbringen?“
„Nein!“, schrie Menewa über den Sturm hinweg.
„Aber wofür brauchst du denn dann das Messer?“, fragte Jan skeptisch.
„Der Schnee ist fast gefroren und hart, ich muss damit den Schnee lockern, aber jetzt wo du da bist, kannst du mir auch dabei helfen.“, sagte Menewa. Jan nickte und schämte sich ein wenig. Doch das würde er natürlich niemals zugeben. Deswegen nickte er nur und gab Menewa das Messer zurück. Dann zog er sein eigenes, das fast in der Scheide eingefroren war und die beiden hackten los. Sie mussten vorsichtig sein, damit sie Jenny nicht trafen. Doch endlich hatten sie es geschafft. Menewa legte sich Jenny über die Schulter und befahl Jan die Messer zu tragen und ihm zu folgen. Nach ein paar Minuten waren sie wieder an der kleinen Höhle und wurden von einer besorgten Lee und einem wütenden Lui empfangen. Lee zog Jennys Jacke aus, damit das Feuer sie schnell wärmte. Langsam, ganz langsam taute das Mdächen auf. Ihre Hände waren ganz blau und ihre Zähne schlugen wie wild auf einander. Lee saß neben ihr und schmiegte sich an sie, damit ihr wärmer wurde. Endlich war Jenny wieder im Begriff zu sprechen. Schlotternd brachte sie ein „D-D-Danke, Men-ne-ewa!“ heraus und schlief auch gleich darauf ein. Am nächsten Morgen ging es Jenny wieder besser. Sie war noch ein wenig schwach, doch ansonsten war sie wieder wohlauf.
Sie frühstückten schnell und machten sich dann auf den Abstieg des Gipfels. Der Schneesturm hatte sich gelegt und sogar der Nebel war verschwunden. Der Schnee glitzerte wunderschön und sogar Jan und Menewa vertrugen sich, oder warfen sich zumindest keine Beleidigungen an den Kopf. Plötzlich breitete sich vor ihnen eine riesige Graslandschaft aus hinter der sich wieder ein Gebirge auftat. Menewa blieb stehen und deutete auf die Landschaft.
„Das ist der Sumpf!“, teilte er ihnen mit. Seine Hand deutete hinter den Sumpf auf das nächste Gebirge und einen besonders großen Berg. „Und das da hinten ist der Seelenberg, da müsst ihr hin.“





Sie liefen den ganzen nächsten Tag, schließlich sagte Menewa, dass sie nun den Sumpf erreichen würden. „Seid vorsichtig. Ein Fehltritt kann tödlich sein. Ich werde die Nachhut bilden, damit keiner zurückbleibt.“, sagte Menewa. Jenny versuchte so dicht wie möglich vor ihm zu laufen. Sie überlegte, ob sie diese Reise überleben würde? Und wer war eigentlich diese Gestalt gewesen, die sie fast mit einem Messer abgestochen hatte? Sie schüttelte den Kopf um wieder klar denken zu können.
Wenn Menewa in ihrer Nähe war, fühlte sie sich so geborgen wie zu Hause. Seine braunen Augen waren so tief, dass sie sich oft darin verlor und seine schwarzen kinnlangen Haare sahen immer so wild und doch gepflegt aus. Und sein Blick war so weich und sanft... plötzlich sank sie im nächsten Schritt bis zu den Knien ein. Sie schrie auf und versuchte sich zu befreien, doch sie sank nur tiefer. Menewa stand neben ihr. Jenny streckte ihm eine Hand hin, damit er ihr heraus half, doch er bewegte sich nicht.
„Menewa! Hilf mir raus!“, sagte sie flehend. Sie war schon bis zur Hüfte eingesunken. Jetzt steckte sie schon bis zur Brust drin. Die Arme hilflos in den Himmel gestreckt.
„Menewa! Bitte!“, rief sie. Doch Menewa sah kalt auf sie hinab. Seine Augen waren weiß. Und Jenny wusste, dass er keine Kontrolle über sich hatte. Augenblicklich wusste sie, dass er es gewesen war, der das Messer auf sie fast hatte niedersausen lassen, bis etwas dazwischengekommen war. Etwas oder jemand!
„Du...“, brachte sie leise hervor. „Du wolltest mich umbringen!“
Menewa wandte grinsend den Kopf zu ihr. Jenny schluckte. Ihr Herz schlug unregelmäßiger. Sie hatte Angst. Menewa griff nach seinem Messer, das an seinem Gürtel hing. Langsam zog er es heraus. Sie war unfähig sich zu bewegen. Als plötzlich etwas in ihr Bewusstsein drang.
„Wir werden für immer zusammen bleiben!“, hörte sie Lee sagen. Schlagartig wachte sie aus ihrem starren Zustand auf.
„Lee!“, rief Jenny so laut sie konnte. Von dem Schrei aufmerksam geworden, drehte Jan sich um. Er sah Jenny, sah Menewa und musste gleich darauf sein Messer ziehen, da Menewa mit erhobenem Messer auf ihn zu rannte.


Kapitel 30: Der Beschützer!

„Lui!“, rief Jan und wehrte den ersten Messerstoß ab. Lui drehte sich um und duckte sich, bevor Menewas Messer über seinen Kopf schnellte. Jenny steckte schon bis zum Hals im Schlamm. Sofort überblickte er die Lage, rannte zur Jenny und zog sie bei den Armen so gut es ging heraus. Es war sehr mühsam, doch er hatte viel trainiert und war stärker geworden. Ein heftiger Stoß traf ihn von hinten, fast wäre Lui selbst ins Moor gefallen, wenn Lee ihn nicht zurückgezogen hätte. Lee hielt Jenny so gut es ging an der Oberfläche.
„Lui! Pass auf!“, rief sie. Menewa kam mit einem Wutschrei auf ihn zugeschossen. Schnell sprang der Junge zur Seite. Das war allerdings das, was Menewa erwartet hatte. Er rannte an Lui vorbei auf Lee zu. Was soll ich tun? Lees Gedanken wirbelten durcheinander. Wenn ich Jenny jetzt loslasse, wäre es möglich, dass ich sie nicht mehr zu fassen kriege! Das wiederum heißt, dass ich mich nicht verteidigen kann!
„Nein!“ Jan warf sich auf Menewa und riss ihn zu Boden bevor er die Mädchen erreichen konnte. Lui richtete sich wieder auf. Wie ein gehetztes Tier sah Menewa von ihm zu Jan und wieder zu Lee. Dann stieß Menewa mit dem Messer nach Lui. Dieser wehrte der Spitze von Menewas Messer ab und ging zum Angriff über. Er wusste nicht was genau passiert war, doch Tatsache war, dass Menewa Lee angegriffen und ihn selbst fast ins Moor gestoßen hatte. Jan stach nach Menewas Brust, doch der Indianerjunge wehrte es geschickt ab. Lui und Jan begannen Menewa zu umkreisen. Dieser fletschte mit den Zähnen. Er stob auf Jan zu und versuchte dabei gleichzeitig Luis Hiebe abzuwehren. Schließlich gelang es Menewa Lui mit einem tiefen Schnitt in dem Arm zu verletzen. Lui torkelte rücklings und fiel hin. Sein Arm tat höllisch weh. Menewa schlug mit dem Messer auf Jan ein, doch Jan wehrte diese Angriffe ab. Wenn ich jetzt nachgebe, dachte er verzweifelt. Sind Lee und Jenny verloren! Da täuschte Menewa einen Stich auf Jans Brust vor. Aus einem Reflex wollte Jan diesen Stich abwehren, doch es gab nichts mehr zum Abwehren. Menewas Messerknauf war schon zu Jans Schläfe gewandert und verpasste ihr einen Schlag. Jan schrie auf und sackte zu Boden. Lui richtete sich, trotz seines blutenden Arms, wieder auf und lief auf Menewa zu, doch der schaffte es mit einer einzigen Bewegung Lui das Messer aus der Hand zu schlagen. Er schubste ihn zu Boden.
„Jetzt bist du tot!“, schrie er und holte aus, um sein Messer in Luis Brust zu rammen. Lee schrie auf und Lui kniff die Augen zusammen. Da schoss ein weißer Blitz hervor, stürzte sich auf Menewa und drückte ihn zu Boden. Es war ein Wolf. Ein weißer Wolf. Der Wolf biss Menewa in die Hand, worauf dieser aufschrie und das Messer fallen ließ. Menewa stieß den Wolf von sich und schnappte sich sein Messer. Knurrend stürzte sich der Wolf wieder auf ihn. Mit einem letzten, zornigen Blick auf die Kinder, drehte sich Menewa um und rannte so schnell er konnte davon. Zähnefletschend verfolgte ihn der Wolf; viel schneller, als dass man hätte davonrennen können. Menewa durchdringende Schreie waren noch eine Weile zu hören, dann war alles still.





Jan setzte sich keuchend auf. „Lui!“, rief Lee hilfesuchend. Jenny wurde immer weiter nach unten gezogen. Er rappelte sich auf und stolperte zu ihr. Doch Jan war vor ihm bei ihr. Zusammen schafften sie es die von schlammtriefende Jenny heraus zu ziehen. Keuchend lagen sie da. Nach einer Weile machten sie ein Feuer, wuschen Jennys schlammige Sachen und gaben ihr neue. Ein paar Wechselklamotten hatten sie ein Glück noch im Rucksack, auch wenn es nur eine sehr dünne Hose und eine Pullover war.
„Wohin sollen wir jetzt gehen?“, fragte Lee.
„Menewa sagte doch, dass der Seelenberg hinter dem Moor liege. Ich würde sagen, wir gehen immer geradeaus. Dem Berg entgegen.“ Lui besah sich seine Wunde und stöhnte auf, als er sie streifte.
„Das sieht nicht gut aus!“, meinte Lee und ging zu ihm.
„Es ist nichts!“, antwortete Lui und wickelte ein Fetzen seines kaputten T-Shirts um die Wunde. „Das heilt wieder!“
„Er war ein gemeiner Idiot. Ich konnte ihn von Anfang an nicht leiden“, knurrte Jan.
„Du hast ihm überhaupt keine Chance gegeben!“, keifte Jenny, die bis vorhin noch sehr still gewesen war. Sie hatte ins Leere gestarrt und Lee ignoriert, die versucht hatte sie zu trösten. Wut und Enttäuschung spiegelten sich in ihren Augen.
„Er hatte keine Chance verdient“, zischte Jan wütend. „Aber ihr Mädchen, ihr müsst euch ja immer gleich von allem täuschen lassen!“
Lee schnappte nach Luft. „Was?“ Wie konnte Jan so etwas sagen? Jetzt wo es Jenny so schlecht ging! Wie konnte er nur?
„Jan!“, sagte Lui. „Halt die Mädchen da raus. Das hätten sie nicht wissen können. Ich hätte es auch nicht für möglich gehalten!“
„Dann hätten sie mir wenigstens glauben können!“, schnaubte Jan.
„Du bist so egoistisch, Jan!“, schrie Jenny und sprang zornig auf.
„Ich bin egoistisch?“, feuerte Jan zurück. „Warum sagst du das nicht deinem tollen Freund Menewa, der dich verraten hat?“ Jenny stockte der Atem. Ihre Wut wuchs ins Unermessliche. „Ich hasse dich!“, flüsterte sie und Tränen traten ihr in die Augen. Die Stille, die darauf folgte lastete schwer auf ihnen. Jan brachte keinen Ton heraus. Jennys Augen waren so voller Leid und Hass, das Lee zurückzuckte.
„Jenny...“, flüsterte Lee erschrocken. Doch Jenny ignorierte ihre Freundin und starrte Jan weiterhin durchdringend an, dann drehte sie sich um, kniete sich auf den Boden und weinte.


Kapitel 31: Versöhnung und Verbündete!

Die Nacht war lang und still. Am nächsten Morgen liefen sie ohne ein Wort weiter. Jan schwieg immer noch und Jenny starrte vor sich hin. Endlich schafften sie es sicher aus dem Moor heraus zu kommen und hatten wieder festen Boden unter den Füßen. Eine ganze Weile liefen sie durch Wälder und Wiesen. Als es Abend wurde bauten sie sich einen Unterstand aus Ästen und legten sich zum Schlafen nieder. Mitten in der Nacht stand Jenny auf, setzte sich unter den Sternenhimmel und weinte. Warum, Menewa? Was ist passiert? Das warst doch nicht du? Bist du gar nicht auf unserer Seite? Hat Sasuun ihre Hände im Speil gehabt? Sie schluchzte und vergrub das Gesicht in den Händen. Menewa war tot. Ob er was dafür konnte oder nicht, spielte keine Rolle! Er war tot! Plötzlich legte sich eine sanfte Hand auf Jennys bebende Schultern.
„Jenny?“, fragte Jan leise. Verwirrt sah Jenny auf. Jan sah sie erschrocken an, als er ihre verquollenen Augen bemerkte.
„Jenny!“, murmelte er nur und setzte sich neben sie. Wind kam auf und fuhr durch Jennys Haare. Eine Haarsträhne blieb an ihrem tränenverschmierten Gesicht haften. Sanft strich Jan die Strähne aus ihrem Gesicht. „Es tut mir leid!“
Das Mädchen nickte zögerlich. „Mir auch!“, schluchzte sie. Erneut fing sie an in Tränen auszubrechen. „Verdammt!“, rief sie. „Warum muss so etwas immer passieren? Warum sind wir hier? Ich begreife das nicht! Es hat sich so viel verändert!“
Tröstend nahm Jan sie in den Arm.
„Ich habe das Gefühl, dass ich gar nicht existiere!“, sagte Jenny weinend. „Keiner von uns existiert! Wir sind irgendwo...an einem Ort...an dem es kein zurück mehr gibt! Ich glaube nicht, dass wir wieder kommen werden! Ich glaube nicht, dass ich meine Freunde wiedersehen werde oder meine Familie!“
„Wir sind Marionetten!“, bestätigte Jan mitleidig. „Wir können nichts tun! Wir werden einfach in diesen großen Strudel gezogen und wenn wir versuchen uns dagegen aufzulehnen, verlieren wir nur unsere Kraft! Denn es gibt kein Entkommen! Es endet immer gleich! Eigentlich können wir nur abwarten und hoffen! Doch das führt einfach zu nichts.“
Jenny bemerkte, dass auch er am liebsten weinen würde.
„Verstehst du nicht?“, lachte Jan grimmig. „Wenn wir nichts unternehmen, können wir wirklich nur abwarten und hoffen! Doch das muss nicht so sein! Du musst nicht in diesen riesigen Strudel geraten. Wenn du genug Willenskraft hast, hast du genug Stärke um dir die Strömung selbst auszusuchen! Du weißt vielleicht nicht wohin sie dich trägt, aber du weißt, dass du sie auswählen kannst! Du kannst etwas unternehmen!“ Seine Schultern bebten und Jenny war verblüfft, dass er weinte. Wieder lachte Jan. „Weißt du, wie oft ich mich schon so hilflos gefühlt habe? Weil ich der Meinung war, dass ich an allem nichts ändern kann! Und weißt du, wie lange ich mich, damit abgefunden habe, dass das tatsächlich so ist? Ich habe es erst jetzt begriffen! Es ist egal, was du machst! Sterben, musst du so oder so! Aber leben, kannst du wie du willst, da hast du freie Auswahl!“ Er schluchzte. Jenny konnte ihn nur verwundert ansehen. „Niemand hat dich gefragt ob du leben willst! Das ist schon mal der erste Beweis, dass du dein Leben nicht unter Kontrolle hast! Weißt du, ich frage mich manchmal, warum das so ist? Warum müssen wir so etwas wie dem Leben ausgesetzt werden?“
„Sag sowas nicht!“, sagte Jenny leise. „Das Leben steckt voller Überaschungen! Voll Schönheit, Freundschaft, Liebe, Vertrauen, Hoffnung...Wenn du nichts aus deinem Leben machst, kann auch nichts daraus werden! Ich verstehe, was du meinst! Ich habe genauso viel Angst wie du! Angst, was alles passieren wird! Warum wir so etwas durchmachen müssen! Ich kann es auch nicht erklären, aber...“ sie schwieg einen Moment. „ so lange wir die Wahl haben! Können wir alles machen! Keiner kann uns sagen, was wir zu tun oder zu lassen haben! Das ist unser Leben, verstehst du? Wir müssen uns nicht von anderen vorschreiben lassen, wie wir es leben sollen! Wenn du die ganze Zeit nach Regeln und Vorschriften lebst, hast du dein Leben nicht gelebt! Dann war es nämlich nicht deines! Dann war es eines, was von anderen Menschen bestimmt wird!“
„Regeln sind da um gebrochen zu werden!“, sagte Jan bitter und wischte sich die Tränen vom Gesicht. Jenny lächelte ihn an und legte den Kopf auf seine Schulter.
„Solange wir vier zusammen sind, kann nichts, aber auch gar nichts, passieren!“ Jenny lächelte. Sie schwiegen und sahen zu dem klaren Sternhimmel, der ihnen so unwirklich vorkam, wie der Rest auch. Und dennoch schien der Himmel so schön und so greifbar zu sein, dass sie ihn nur stumm und staunend betrachten konnten. Lange sahen sie noch nach oben und vergaßen jegliches Zeitgefühl. Irgendwann klappten Jenny die Augen zu und sie schlief an Jan geschmiegt ein.
Lui fand sie am nächsten Morgen. Jan lag auf dem Rücken. Die Arme hinter dem Kopf verschränkt und Jenny auf lag mit dem Kopf auf seiner Brust. Der Junge lächelte und suchte nach Holz. Zeit für ein Frühstück. Er holte die Vorräte aus dem Rucksack und legte sie übers Feuer. Alle schliefen noch. Es war so schön still, nur die Vögel und die Waldhummeln konnte er hören. Auf einmal vernahm er hinter sich ein Knacken, doch als er sich umdrehte, konnte Lui nichts erkennen. Skeptisch drehte er sich wieder zum Feuer. Plötzlich gab ihm jemand einen kurzen Stups und schrie: „Buh!“
Lui schrie erschrocken auf und drehte sich um. Lee stand hinter ihm und lachte.
„Tut mir leid!“, sagte sie immer noch lachend. „Ich konnte einfach nicht wiederstehen!“
„Na, warte!“, sagte der Junge unheilvoll. „Das wirst du noch bereuen, Leelay!“
Leelay?? So hatte Lui sie schon ewig nicht mehr genannt. So hatten sie sich früher immer genannt. Leelay und Luilu! Lee grinste ihn an.
„Dann komm doch, Luilu!“, lachte sie und rannte davon. Lui rannte ihr lachend nach. Kichernd sprang Lee über einen umgesprungenen Baum, schlug Harken und vesuchte alles um ihren Verfolger abzuschütteln. Doch sie hatte nicht damit gerechnet, wie schnell und schlau Lui war. Plötzlich stand er vor sie und fing sie ein. Lee lachte und versuchte sich zu befreien, was dazu führte, dass sie beide hinfielen und über das Moss kullerten, bis sie auf einmal in Wasser landeten. Prustend kamen sie wieder an die Oberfläche. Sie waren in einem kleinen See gelandet. Das Wasser spritzte als sie sich gegenseitig nass spritzten.
Schließlich tauchte Lee unter und Lui folgte ihr. Das Wasser war so wunderbar klar und kalt. Wie ein Fisch ließ Lee sich von der Strömung tragen. Nach einer Weile gingen sie ans Ufer und legten sich in die Sonne.
„Warum bist du mitgekommen?“, fragte Lee schließlich. Lui schwieg und sah sie an.
„Ich weiß nicht! Wenn ich gegangen wäre, wärst du dann auch mitgekommen?“
Lee sah in die Wolken und überlegte.
„Ich weiß nicht!“, antwortete sie. „Einer muss ja schließlich auf dich aufpassen!“ Sie grinste.
„Sehr witzig!“, prustete Lui. „Doch ich brauch keinen Beschützer! Apropo: Dieser weiße Wolf, der uns vor Menewa gerettet hat. Was hat es wohl mit dem auf sich?“
„Ich habe keine Ahnung!“, sagte Lee leise. Dieser Wolf hatte sie so sehr an ihren Traum erinnert, doch sie verscheuchte diese Gedanken. Das würde mir jetzt auch nicht weiter helfen!
„Wetten, dass ich schneller bin als du?“, feixte Lui. Lee grinste. „Davon träumst du wohl!“
Sofort sprangen sie auf und rannten los. Lee war immer ein kleines Stück hinter Lui. Nebeneinander rannten sie durch den Wald und lachten. Weshalb, wussten sie nicht, doch es war ein berauschendes Gefühl, jemanden neben sich zu haben, dem man vertrauen konnte.
Als sie am Lagerplatz ankamen wurden sie schon von Jan und Jenny erwartet. Sie aßen ausgiebig, doch nun kehrte der Verlust über Menewa zurück. Die Jungen versuchten gezwungen die Situation ein wenig aufzulockern, indem sie Witze rissen und lustige Geschichten erzählten. Lee lächelte gekünstelt, während Jenny mit einem Stock im Boden bohrte.
Sie liefen immer weiter bis sie auf einer Lichtung mit einem kleinen See und einem großen Felsen Rast machten. Vor ihnen tat sich ein gewaltiges Gebirge auf mit schneebedeckten Gipfeln. Lee hatte das bedrückende Gefühl diesen Ort zu kennen. In dem Moment als sie ihre Sachen packen wollten, um weiter zu laufen, hörten sie ein Knacken. Hastig fuhr sie herum. Oben auf dem großen Felsen kam eine Gestalt hervor. Auch Jenny, Jan und Lui sahen verwirrt auf. Blitzartig fiel Lee ein woher sie diesen Ort kannte. In ihrem Traum stand sie immer ganz genau da, wo sie jetzt stand, wenn der Bär ihr entgegen gerannt kam. Sie wagte nicht zu atmen, bis sie die Gestalt sah. Es war ein Wolf. Der weiße Wolf, der sie gerettet hatte. Es war nicht der Bärentraum, es war der Wolfstraum!
Urplötzlich wurde ihr alles klar! Der Wolf würde sie zu ihrem Vater führen! Majestätisch sah der Wolf sie an. Schwungvoll legte er seinen Kopf in den Nacken und ließ ein lang gezogenes Heulen ertönen. Die Kinder schiegen und wagten nicht zu atmen. Das Heulen des Wolfes war ein langgezogener Klageton, der so wunderschön war, dass es kaum auszuhalten war. Dann drehte sich das stolze Tier um und verschwand im Wald.
„Das war der Wolf, der uns gerettet hat!“, sagte Lui verblüfft. „Ich erkenne ihn wieder!“
Lee nickte. „Er ist unser Beschützer.“, stellte sie fest und rannte hinter dem Wolf her. Sie wusste, dass die anderen ihr folgten. Die Spuren waren im feuchten Schlamm gut erkennbar. Lee streifte durch das Dickicht, wie sie es gelernt hatte. Schließlich durchbrach sie den Waldrand und stand auf einer kleinen Lichtung. Der weiße Wolf stand vor einem Bau. Ein Bach sprudelte vorbei und Farnen wuchsen am Rande der kleinen Höhle. Ohne Furcht sah der Wolf die Kinder an und näherte sich ihnen langsam. Hoheitsvoll ging er zwischen den Kindern durch. Als er sich Lui näherte, lag eine seltsame Spannung in der Luft. Lui streckte die Hand aus und der Wolf senkte, fast anmutig, den Kopf. Es war wie ein elektrischer Schlag, als sie sich berührten. Die Hand des Jungen auf dem Kopf des Wolfes.
„Leyla!“, flüsterte Lui. „So nennen wir sie.“
Lee nickte. „Ein schöner Name.“ Plötzlich hörten sie ein leises Winseln. Ein schwarzer Welpe, noch schwärzer als die Nacht, steckte seinen großen Kopf mit den großen Augen aus dem Bau.
„Leyla ist Mutter!“, rief Jenny begeistert aus. Zu dem nachtschwarzen Welpen gesellten sich noch drei weitere dazu. Sie schienen sich so ähnlich zu sein und doch waren sie so unterschiedlich. Eines war blauschwarz, anders konnte Lee es nicht beschreiben. Sie war sich sicher einen Blaustich in dem Fell zu sehen. Auf der Stirn prankte dem Welpen ein weißer Fleck. Er hatte die Größe einer Mandarine oder einem Tennisball. Ein anderer Welpe schien so weiß zu sein, dass es fast blendete. Lee musste sofort an einen Sternenhimmel mitten in der Nacht denken. So hell wie die Sterne! Doch die Augen waren so hellblau, wie der Himmel, an einem schönen Tag. Ein Welpe jedoch stach Lee besonders ins Auge.
Ein Welpe, der ebenfalls weißes Fell hatte, doch dieses weiß glich eher dem weiß der Gänseblümchen, und einen schwarzen Fleck auf der Stirn. Ebenfalls so groß wie eine Mandarine. Tapsig kamen die Welpen auf sie zu. Das nachtschwarze Wolfsjunge stolperte und landete in Jans Schoß. „Hallo, mein Kleiner!“, sagte Jan liebevoll. Der Welpe wedelte mit dem Schwanz. Lee wusste nicht, was es war, aber die Welpen kamen ihr eigenartig vor. Sie runzelte die Stirn. Plötzlich wusste sie, woran es lag. An ihrem Fell.
Der weiße Welpe mit dem schwarzen Fleck auf der Stirn kam zögernd auf Lee zu. Fast so, als wolle es sich erst vergewissern, dass sie nicht weglaufen würde. Schließlich streckte der kleine Welpe seine nasse Schnauze vor und legte sie in Lees Handfläche. Überrascht streichelte Lee dem Welpen über den weichen Rücken. Der Welpe seufzte wohlig und schmiegte sich an sie.
„Seltsame Farben.“, murmelte das Mädchen. „Ich habe nur selten von weißen oder schwarzen Welpen gehört. Und erst recht nicht von vieren in einem Wurf, von dem zwei auch noch das selbe Muster haben. Normalerweise sind sie braun und die Farbe ändert sich erst später zu weiß oder so.“
Jenny zog den Welpen mit dem schneeweißen Fell auf ihren Schoß. „Das ist doch egal, dann sind es eben die ersten Welpen die so aussehen.“
„Und die letzten.“, ergänzte Jan grinsend. Der nachtschwarze Welpe knabberte verspielt an Jans Ohrläppchen. Lee strich über das Fell des Welpen, der sich an sie geschmiegt hatte.
Der letzte Welpe näherte sich nun vorsichtig Lui, der Leyla am Kopf kraulte, und stupste ihn sanft an. Lui drehte sich verwundert zu dem kleinen Welpen um und lächelte ihn an.
„Na, du?“, sagte er grinsend und nahm den Welpen auf den Arm, der ihm sofort mit seiner langen Zunge durch das ganze Gesicht fuhr. Lui lachte. Auch Lee grinste. Der kleine Körper, der neben ihr lag, atmete ein und aus. Sie konnte das kleine Herz hören und hätte schwören können, dass ihres und das des weißen Welpen mit dem schwarzen Fleck in einem Takt schlugen.


Kapitel 32: Verbindungen!

Lee spannte ihren Bogen. Vorsichtig zielte sie auf den kleinen Hasen, als plötzlich ein völlig verschmutzter schwarzer Welpe auf den Hasen zurannte, hinter ihm ein ebenso dreckiger Jan. Der Hase sprang auf und rannte davon. Seufzend ließ Lee den Bogen sinken.
„Jan! Kannst du nicht besser auf Jason aufpassen?“, rief sie wütend und kam aus ihrem Versteck heraus. Der weiße Welpe neben ihr schnaubte, als ob er ihr zustimmte.
„Ach herje!“, sagte Jan spöttisch. „Hat mein Freund, Jason, euer Frühstück verscheucht?“
Jason, wie Jan den nachtschwarzen Wolfswelpen gennant hatte, kam wild auf sie zugestürmt und fing mit Lilian eine große Rauferei an. Der weiße Welpe mit dem schwarzen Fleck auf dem Kopf hatten sie Lilian genannt.
„Ist das so schlimm?“, fragte Jan grinsend. Sein freches Grinsen war furchtbar, man musste einfach mitlachen. Lee grinste zurück.
„Sagen wir es so, dafür bist du mir was schuldig!“
„Was?“, sagte Jan und hob abwehrend die Hände. „Warum das denn?“ Wieder grinste er. „Verdammt, Lee!“
„Keine Widerrede!“, sagte das Mädchen kalt und kam immer näher.
„Da musst du mich erst kriegen! Wetten du willst, dass ich mich wasche?“
„Gut erkannt! Komm her!“, grinste Lee und rannte auf Jan zu. Doch dieser lief schnell voraus. „Jason!“, schrie er. „Schnell! Komm!“
Der schwarze Welpe rannte Jan sofort hinterher.
„Komm, Lilian!“, rief Lee. „Die schnappen wir!“ Der weiße Welpe kläffte kurz und rannte dann neben Lee her. Jan und Jason hatten zwar einen kleinen Vorspung, doch Lee und Lilian waren schnell. Jan rannte und Jason trieb ihn mit seinem Welpengekläff weiter zur Eile an.
Grinsend sah Jan über seine Schulter zurück. Hinter ihm sprang Lee lachend über einen Baumstamm, während Lilian unten durch lief. Plötzlich verlor er den Boden unter den Füßen.
Platsch! Wasser spritzte auf. Na, toll!, dachte er grimmig. Du bist mitten in den See hineingerannt, Jan! Lee wird sich totlachen! Was sie dann letzendlich auch tat, als sie den völlig verdutzten Jason und einen grimmig guckenden Jan im Wasser sah. Irgendwann wurde es Jan zu viel packte Lee an den Beinen und zog sie mit hinein. Lilian hatte zuerst geknurrt, doch dann hatte sie gemerkt, dass Lee lachte. Nach dieser Erkenntnis, wartete sie auf eine günstige Gelegenheit. Als Jason gerade nah genug war, sprang sie in den See und landete auf Jason. An der Stelle, war der See nicht sehr tief, so dass die beiden Welpen miteinander rangeln konnten. Lee und Jan lachten. Es sah einfach zu putzig aus.
„Jetzt bist du sauber!“, sagte Lee und grinste. Jan seufzte.
„Egal! Ich kann mich ja wieder dreckig machen!“
„Um dann nochmal in den See zu springen?“
„Wer sagt, dass ich nochmal in den See springen werde?“
„Das gerade war doch keine Absicht, oder?“
Jan dachte kurz nach, um nach einer passenden Antwort zu suchen.
„Natürlich, war das Absicht! Glaubst du mir passiert so etwas ausversehen? Mir – weißt du noch – MIR?“ Er schwamm mit gespielter Empörtheit zum Ufer, und stand nun nur noch bis zu den Knien im Wasser. „Wann ist mir denn schon jemals so etwas....“ PLATSCH!! Jan war wohl über irgendetwas gestolpert. Er lag mit dem Gesicht im Wasser und kam prustend wieder hoch. Lee lachte. Erst war Jan beleidigt, doch als Jason auf ihn zu kam und kläffend um ihn herum sprang, musste auch er anfangen zu lachen.
Kurz darauf gingen sie zurück zum Lager, an dem Jenny und Lui saßen. Jenny rannte grinsend auf sie zu. Neben ihr der kleine strahlendweiße Welpe.
„Wo wart ihr denn so lange.....und....oh.....“, dann fing sie an lauthals zu lachen, „...warum seid ihr so nass?“
„Lach nicht!“, sagte Jan grimmig.
„Genau, das war Absicht!“, kicherte Lee. Jan warf ihr einen wütenden Blick zu.
Jamie, der schneeweiße Welpe, sprang Lilian an und forderte sie kläffend zum Spielen auf.
„Jamie und Lilian verstehen sich richtig gut!“, sagte Lee zu Jenny. Sie nickte.
„Ja, stimmt! Hey, moment mal!“ Wütend starrte sie auf die Welpen. „Jan! Jason zerstört das schöne Spiel!“
„Ach, was!“, sagte Jan grinsend. „Guck sie dir doch an! Lilian und Jamie rennen weg und Jason hinterher! Sie spielen Fangen!“
„Das ist doch kein Fangen! Jason hat Jamie an einen Felsen abgedrängt! Sie ist voll dagegen gestoßen!“, sagte Jenny vorwurfsvoll. Jan sah sie etwas schuldbewusst an.
„Dann ist halt noch ein wenig Rugby dabei!“, murmelte er.
Lee lachte. „Das sieht man, aber jetzt machen Lilian und Jamie ihn fertig!“ Das stimmte! Jason wurde von den beiden Wolfswelpen auf den Rücken geworfen. Als plötzlich Luke, der schwarze Welpe mit dem weißen Fleck auf der Stirn, angesaust kam und sich auf Lilian stürzte.
„Ja, schnapp sie dir!“, rief Lui neben Lee.
„Lilian, ist viel schneller, als Luke!“, sagte Lee grinsend.
„Aber Luke ist stärker!“
Eine Weile sahen die Kinder den Welpen noch bei ihrem Rugby-Fangen zu, doch dann setzten sie sich ans Feuer und frühstückten. Sehr viele Lebensmittel hatten sie nicht mehr in ihren Taschen, allerdings war es ihnen schleierhaft, warum sie überhaupt welche dabei hatten und wie waren sie hier her gekommen?
Lee brummte der Kopf. Sie konnte sich nicht erinnern! Wie ein verschwommenes Erlebnis in einem Traum, an das man sich erinnern wollte. Irgendwann gab Lee es auf.
Seit zwei Tagen waren sie nun schon bei den Wolfswelpen. Ab und zu flog ein Adler über ihre Köpfe hinweg, doch wenn Leyla, die Mutter der Welpen, den Kopf hob, verschwand er wieder. Lee hatte das Gefühl irgendetwas vergessen zu haben, doch sie wusste nicht was es war. Irgendetwas war anders. Nein, alles schien so wie immer! Jenny und Jamie waren unten am Fluss, Jan und Jason tollten herum, Lui und Luke spielten irgendein Fangspiel und Lee und Lilian lagen nebeneinander im Gras. Nein, alles war wie immer!





„Wir müssen jagen gehen!“, sagte Lee und stand auf. Kläffend sprang Lilian um sie herum und fing an mit Luke auf dem Boden herum zu tollen. Jenny nickte. „Ja, wir haben nur noch wenig Proviant. Wofür brauchten wir den eigentlich?“ Lui zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung! Ich kann mich nicht daran erinnern!“ Jan grinste. „Dann scheint es ja nicht so wichtig gewesen zu sein.“ Jenny sprang auf. „Also, gehen wir!“ Sie packten ihre Messer und Lee ihren Bogen. Begleitet von den Welpen schlichen sie ins Dickicht. Nach einer Weile hielt Jan an und meinte, dass diese Lichtung eine geeignete Stelle sei. Die Kinder nickten und berieten.
„Jan und ich gehen nach dort hinten und treiben die Beute auf die Lichtung.“, sagte Lui und deutete hinter sich.
„Okay!“ Jenny nickte. Lee versuchte den Welpen klar zu machen, was sie zu tun hatten.
Treibt die Beute auf die Lichtung! Die Tiere dürfen die Lichtung nicht wieder verlassen! Umstellt sie, doch kommt nicht in meine Schussbahn! Wie immer nahm sie nur Gefühle wahr, aber immerhin Gefühle des Verstehens. Die Welpen hatten kapiert. Lee führte die rechte Hand vor die Brust.
„Astro di nada fen jathrin as noso shan!“
Lui hob die linke Hand und erwiderte: „Fen tura uthran!“ Dann verschwanden die Jungen mit ihren Welpen im Dickicht.
„Wo habe ich das noch mal gelernt?“, fragte Lee Jenny.
„Ich weiß nicht! Ich glaube das konnten wir schon immer!“ Angestrengt sah sie auf die Lichtung. Es dauerte nicht lange, da brachen drei Rehe durch die Bäume. Jan und Lui trieben sie von hinten, während die Welpen dafür sorgten, dass die Tiere nicht ausbrechen konnten. Auch Jamie und Lilian, die neben den beiden Mädchen gekauert hatten, gesellten sich nun zu Jason und Luke und kreisten die Tiere ein. Lee legte einen Pfeil in die Sehne und suchte sich ein schwaches, älteres Reh aus. Der Pfeil flog durch die Luft und bohrte sich in die Rippen. Das Tier strauchelte und fiel. Die Welpen ließen die anderen zwei Rehe entkommen und Lui stieß dem Reh mit einem gewaltigen Stoß sein Messer ins Herz.
Gemeinsam, von den Welpen umringt, schleppten sie es zurück zum Rastplatz, bei dem Leyla schon auf sie wartete. Die Kinder teilten die Beute auf. Der eine Teil blieb roh für die Wölfe und den Rest legten sie auf das Feuer und zerschnitten es in dünne Rippchen. Während sie aßen, flog ein Schmetterling um sie herum. Plötzlich, obwohl er nicht wusste, woher er ihn kannte, rief Lui einen Namen: „Fauna!“ Er hob die Hand, damit die kleine Elfe, die er für einen Schmetterling gehalten hatte, sich ausruhen konnte.
„Lui!“, keuchte die Elfe in der fremden Sprach. „Warum bist du einfach fortgegangen? Das hättest du mir sagen müssen.“ Fauna stellte sich auf seine Hand und sah Lui trotzig an. „Ich will mitkommen!“
Lui lachte.
„Lui?“, fragte Lee ihn „Wer ist das? Was hat sie dir gesagt?“ Lui übersetzte für sie und stellte sie einander vor. Auch Jan und Jenny waren verblüfft die Elfe zu sehen.
„Warum bist du hier Fauna? Du hattest doch bestimmt nicht nur Sehnsucht nach mir.“, stellte Lui grinsend fest.
„Nein, du hast Recht.“, sie kicherte „Ehrlich gesagt, wollte ich meine Freundin besuchen. Sie ist eine Farnelfe.“ Lui sah sie fragend an. „Es gibt verschiedene Gruppen von Elfen. Ich gehöre zu den Blumenelfen, doch es gibt auch Farnelfen, Teichelfen, Baumelfen…und so weiter. Aber am schlimmsten sind die Efeuelfen. Weißt du wir Blumenelfen lieben violette Blumen. Violette Blumen sind unsere ganze Kraft. Deswegen lassen wir uns da nieder, wo diese Blumen wachsen. Bei den Farnelfen ist der Farn natürlich die ganze Kraft, verstehst du?“, fragte sie. Der Junge nickte. „Ich denke schon.“
Dann hatte er wieder eine Frage im Kopf.
„Fauna, warum zeigt ihr euch keinem Menschen? Warum hasst ihr sie so sehr?“
„Sie reißen uns die Flügel aus und stecken uns in solche blöden Labore. In denen tausend Versuche mit uns gemacht werden.“, sagte Fauna nüchtern.
„Aber warum zeigst du dich dann ihnen?“, fragte Lui. Er deutete auf Lee, Jan und Jenny.
„Sie sind keine Menschen.“, sagte sie. Mehr wollte sie ihm nicht sagen, also stellte er ihr eine andere Frage.
„Wann wirst du wieder fortgehen?“, fragte er.
„Bald!“
„Kann mir nicht mal jemand sagen, was dieser kleine Schmetterling da sagt?“, fragte Jan genervt. Entrüstet richtete sich Fauna zu ihrer vollen Größe auf.
„Pass auf, kleiner Junge! Nur weil du mich nicht verstehen kannst, heißt das noch lange nicht, dass ich dich auch nicht verstehe! Ich verstehe dich sogar sehr gut!“
Lui räusperte sich. „Sie sagt, dass sie dich verstehen kann, Jan!“
Jan rollte mit den Augen. „Wie schön für sie! Aber ich will sie auch verstehen können!“
Wütend kam Fauna auf ihn ihn zugeflogen und hielt kurz vor seinem Gesicht an.
„Ihr seid doch alle gleich!“, zeterte die kleine Elfe. „Ich will, ich will, ich will! Habt ihr denn nicht schon genug? Seid ihr denn nie zufrieden?“
„L-Lui?“, fragte Jan verwirrt. „Was hat sie denn?“
„Sie ist einfach nur etwas müde von der langen Reise!“, grinste Lui.
„Ph!“ Beleidigt setzte sich die Elfe auf Luis Schulter. „Bin ich überhaupt nicht! Dieser Junge regt mich einfach auf! Aber wie gesagt, ich muss weiter!“
„Willst du uns echt schon verlassen?“, fragte Lui traurig. Die kleine Elfe hatte er schon lange lieb gewonnen.
„ Ja, keine Sorge! Wir werden uns schon wiedersehen!“ Sie kicherte. „Bis dann!“
Mit diesen Worten flog sie hoch in die Luft drehte einmal über ihren Köpfen eine runde und schoss flink zwischen den Bäumen hindurch.
Zwei weitere Tage vergingen. Die Kinder und die Welpen waren unzertrennlich geworden. Lee konnte sich nicht mehr vorstellen, ohne Lilian zu leben, ebenso wie sie sich nicht vorstellen konnte Lui ohne luke zu sehen. Es war spät in der Nacht und die Kinder schliefen mit vollen Mägen tief und fest. Das tote Reh, welches sie erschossen hatten, lag zum Teil noch da.
„Lee! Ich spüre deine Anwesenheit! Warum kommst du nicht und hilfst mir?“
Lee schreckte hoch. Ihr Vater! Ihr Vater hatte sie gerufen. Müde und verwirrt rappelte sie sich auf. Er ist gefangen und ich muss ihn befreien. Da wurde sie von Leyla nach hinten gerissen.
„Leyla! Lass das!“, grummelte sie und stand wieder auf. Doch Leyla stieß sie wieder um und stellte sich knurrend auf sie. Erschrocken blieb Lee liegen. Leyla hatte Recht es war zu gefährlich mitten in der Nacht loszulaufen. Der große weiße Wolf ließ sich wieder neben sie fallen. Lee starrte in die Dunkelheit. Wie lange sind wir schon bei den Wölfen? Schnell rechnete sie ungefähr aus. Drei oder vier Tage? Ob ihr Vater noch lebte? Sie war zu müde und ihre Augen wurden wieder schwer. Am nächsten Morgen fing Lee sofort damit an, ihre Sachen zu packen. Lui, Jan und Jenny standen um sie herum, während die Welpen selig herumtollten.
„Wohin gehst du?“, fragte Jan schließlich. Die Kinder waren ziemlich verwirrt. Das Packen ihrer Sachen, weckte Erinnerungen wach, die noch nicht ganz zum Vorschein kamen.
„Zu meinem Vater!“
Es war als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Schlagartig trieben sich alle zur Eile an und packten ihre Sachen. Nun waren es die Welpen und Leyla, die um sie herum standen und ihnen zusahen. Während sie ihre Sachen packten, erkannte Lui Navajes Worte.
„Sie hat mir extra noch gesagt: Ich darf nichts vergessen! Und ich hab mich an nichts mehr erinnert! Was meint ihr, wie viel Zeit haben wir noch?“
„Lass mal überlegen…“, Jenny dachte einen Moment nach, dann sagte sie. „Wir haben ungefähr noch fünf bis sieben Tage! Ich weiß es nicht genau!“
„Hoffentlich reicht das!“, sagte Jan, der sich einen Beutel auf den Rücken band. „Wir müssen schließlich noch zum Seelenberg wandern.“
„Sieht so aus, als ob wir jetzt los müssen!“, sagte Lee und ließ den Blick über ihre Freunde wandern. Alles war reisefertig. Lee rief Lilian zu sich und sah aus den Augenwinkeln, wie sich auch die anderen von ihren Welpen verabschiedeten. Sie konnten die Welpen nicht mitnehmen. Sie waren noch viel zu klein. Sie würden nur in Gefahr kommen!
Hör zu, Lilian!, versuchte Lee dem weißen Welpen mit dem schwarzen Fleck klar zu machen. Wir müssen uns trennen! Ich verspreche dir, dass wir uns irgendwann wieder sehen werden! Und wenn ich die ganze Welt nach dir absuchen muss! Das Mädchen drückte den Welpen fest an sich und küsste sie auf ihren schwarzen Fleck. Der Welpe schleckte ihr einmal durchs Gesicht und wedelte ermutigend mit dem Schwanz. Sie versteht mich nicht!, dachte Lee. Sie meint, dass wir gleich wieder mit den anderen Fangen spielen und alles bleibt so wie es war. Doch so ist es leider nicht! Ich kann meinen Vater nicht im Stich lassen!
Sie drückte Lilian noch mal fest, dann drehte sie sich um. Als die Kinder sich abwendeten, wollten die Welpen hinterher, doch Leyla stellte sich ihnen knurrend in den Weg. Winselnd versuchten die Welpen an Leyla vorbei zu kommen, doch es gelang ihnen einfach nicht.
Lee wusste, dass es am besten war einfach weiter zu gehen, auch wenn es ihr das Herz brach. Lee kniff die Augen zu und presste sich die Hände auf die Ohren. Dann rannte sie los! Rannte so schnell, wie sie noch nie gerannt war. Rannte, ohne zu wissen wohin. Irgendwann konnten sie das klägliche Jaulen der Welpen nicht mehr wahrnehmen, doch das war fast noch schlimmer. Ihre Freunde waren dicht hinter ihr. Keiner sagte auch nur ein Wort. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Dazu kam, dass sie zu abwesend waren, um sich auf den Weg zu konzentrieren. Auf einmal standen sie auf der Lichtung mit dem großen Felsen, andem sie Leyla das erste Mal getroffen hatten.
Jenny seufzte. „Wir sind im Kreis gelaufen! Hier haben wir Leyla getroffen.“
Lee fühlte sich furchtbar. Sie spürte einen stechenden Schmerz in ihrer Brust und sie wusste, dass es wegen Lilian war. Sie wollte ihren kleinen Körper spüren, wollte, dass sie sich noch mal an sie lehnte und wollte noch wenigstens einmal mit ihr jagen gehen oder Fangen spielen.
„Lee? Wir sind müde.“ Jenny kam auf Lee zu. Auch sie vermisste Jamie. Eher hatte Lee Hunger, als dass sie müde war.
„Ich gehe jagen! So lange könnt ihr euch ausruhen.“, sagte sie, legte ihre Sachen ab und griff nach ihrem Bogen. „Wer weiß, vielleicht fällt mir dann auch auf, welchen Weg wir gehen müssen!“
Jenny nickte und setzte sich mit den Lui und Jan ins Gras. Erschöpft lehnte sie sich an einen Stein.
Knack! Lee fuhr zusammen. Ob das Leyla gewesen war? Außer Lee schien es keiner gehört zu haben. Das Mädchen sah zum Felsen auf und betete inständig. Ihre Gebete wurden nicht erhört. Eine riesige Pranke kam hervor, dann der bullige Körper.


Kapitel 33: Der Bär!

Eine riesige Gestalt stürmte zwischen den Bäumen auf sie zu, knickte Äste um und zerstörte alles, was ihr in den Weg kam.
Lee und ihre drei Freunde jagten durch den Wald, doch das Monstrum verfolgte sie mit seinen brennenden Augen immer weiter. Schließlich sprangen sie hinter einen umgefallenen Baumstamm. Sofort rollten sie sich zusammen.
Lee presste sich an Jenny, die wie immer versuchte die Situation irgendwie in den Griff zu bekommen und ihre Stirn in Falten legte, um eine Lösung zu finden. Ihre braunen, kinnlangen Haare hingen ihr zerzaust ins Gesicht. Die sonst so hervorstechenden Sommersprossen wurden von Dreck, Matsch und Erde bedeckt. Wenn ein Wohlhabener sie im Wald getroffen hätte, er hätte Lees beste Freundin für eine kleine Landstreicherin gehalten.
Jan, der sich neben ihr zusammengekauert hatte, zog einen Dolch aus seiner Gürteltasche. Seine Kleidung war heruntergekommen und an manchen Stellen zerrissen. Seine silbergrauen Augen wurden von seinen fuchsroten Haarsträhnen umrahmt. Seit sie ihr zu Hause verlassen hatten, waren seine Haare sehr gewachsen. Doch Lee wunderte sich über den entschlossenen Ausdruck in seinem Gesicht. Er schien keine Angst zu haben.
Lui drückte sich an Lees Schulter. Sie hörte wie schwer er atmete. Seine strohblonden Haare mischten sich mit ihren dunkelblonden Strähnen.
„Verdammt!“, zischte er. „Ist es weg?“
Lee wagte es, einen Blick über den Baumstamm zu werfen. Das Ungetüm war ihnen nicht weiter gefolgt. Ein riesiger Bär, dessen einziges Ziel es war, sie alle zu töten.
„Still!“, wisperte Jenny. Lee hielt die Luft an. Bildete sie es sich nur ein oder hörte sie wirklich, wie schwere Schritte über den Waldboden stapften.
Nein! Sie hatten ihn doch nicht abgeschüttelt. Er war noch da. Lee nahm den Bogen von ihrem Rücken und griff nach einem Pfeil in ihrem Köcher.
Jenny hatte die Wurfsterne aus ihrem Jagdbeutel geholt und Lui sein Messer gezogen.
Das Schnaufen des Bären war ganz nah. Lee wagte kaum zu atmen. Er würde sie wittern. Sie durften hier nicht weiter herumsitzen, sonst würde er sie auf der Stelle töten.
Sie warf Jenny einen Blick zu. Das Mädchen nickte ihr zu und stupste Jan an.
Blicke genügten den Freundinnen.
„Jetzt!“, rief Jenny. Lee packte Lui am Handgelenk und rannte mit ihm hinter dem Baumstamm hervor. Jenny und Jan rannten in die andere Richtung.
Wütend brüllte der Bär sie an. Weißer Schaum quoll aus seinem Mund und tropfte auf sein braunes Fell.
Zusammen versuchten die vier Freunde das Ungetüm einzukreisen, um es dann besiegen zu können, doch es bot sich ihnen keine Möglichkeit, denn schon rannte der Bär auf Jan und Jenny zu. Jan stieß Jenny zur Seite und rannte mit ihr zu einem Baum.
Lui packte Lee am Arm und drückte sie gegen eine große Kiefer.
„Wenn ich dich bitte“, fragte er außer Atem „Wenn ich dich bitte, dass du versuchst zu entkommen, würdest du es tun?“
Lee funkelte ihn wütend an.
Lui seufzte leise. „Dachte ich mir!“, murmelte er.
Das Mädchen riss sich los. „Würdest du?“, giftete sie.
Der Junge schwieg.
Ein Schmerzenschrei holte sie wieder zurück in den Kampf.
„Jan!“, rief Lui aus. Er wollte zu ihm rennen, doch Lee hielt ihn zurück.
„Stopp!“, zischte sie. „Wenn wir blindlings drauf losrennen, erreichen wir gar nichts!“
„Die Bestie bringt ihn um, wenn wir nichts unternehmen!“, schrie Lui sie an.
Der Bär hatte Jan vom Baum gestoßen und stand nun über ihm. Als er dem Jungen gerade die Kehle aufreißen wollte, traf ihn ein Wurfstern von Jenny am Ohr. Brüllend ließ das Monstrum von dem Jungen ab und verfolgte Jenny, die wie ein Hase zwischen den Bäumen umhersprang.
Lee hatte das Gefühl, dass er niemals von ihnen ablassen würde, egal, was für Schmerzen sie ihn bereiten würden.
Das Mädchen legte einen Pfeil in die Sehne und schoss. Der Pfeil striff den Bären an der Schulter. Brüllend und rasend vor Wut drehte sich der Bär um und suchte mit hitzigem Blick nach dem Angreifer.
Lee trat zwischen den Bäumen hervor. „Fang mich!“, schrie sie dem Bären entgegen. Ihre Knie zitterten, doch sie war zu stolz, um ihre Angst zu zeigen. Hauptsache Jenny war in Sicherheit. Sie drehte sich um und rannte los.
Der Bär verfolgte sie, da war sie sich sicher.
Auf einmal wurde sie von einer gewaltigen Kraft vornüber geschleudert.
Der Köcher drückte ihr unangenehm ins Kreuz. Glücklicherwiese lag ihr Bogen heil neben ihr, wenn er zerbrochen wäre, wäre alles aus gewesen. Geschwind drehte sich das Mädchen auf den Rücken und sah in den offenen Rachen des Bären.
In einem letzten Reflex kniff sie die Augen zusammen.
„Nein!“, hörte sie Jan schreien. Eine warme Flüssigkeit spritzte auf Lees Gesicht. Sie riss die Augen auf.
Lui hatte sich vor sie geschmissen. Die Arme ausgebreitet und den Kopf trotzig erhoben. Die Pranke des Bären hatte ihm eine tiefe Wunde in die Brust geschlagen und ihn zur Seite geschleudert.
Lee wusste nicht, wieso oder warum...sie wusste nur, dass es war und, dass sie plötzlich ohne nachzudenken nach ihrem Bogen griff einen Pfeil einlegte und dem Bären einen Pfeil in die Schulter schoss, während Lui vor ihr auf die Knie sackte.
Auf einmal hatte sie ein Dejavù. Alles, war genau wie in ihrem Traum!
Plötzlich konnte sie wieder klar denken. Sie merkte nicht wie sich ihre Augen mit Tränen füllten und sie merkte auch nicht wie Jan Lui schnappte und ihn wegzerrte. Jenny war zu ihr gerannt und schüttelte sie, redete auf sie ein, doch Lee vernahm keines ihrer Worte.
Dann plötzlich wurde sie von Jenny zu Boden geschmissen. Ihre Freundin hatte sie zu Seite geschubst, weil der Bär auf sie zugerannt war.
Und Lee bemerkte, der Kampf war noch nicht vorbei, auch wenn der Traum hier immer geendet hatte.
Es war noch nicht vorbei!
Der Bär ließ sich auf seine vier Pfoten fallen und kam zornig brüllend auf Lee zu. Ängstlich taumelte das Mädchen zurück und stolperte. Die Pranke des Bären war über ihr.
In einem Reflex rollte sie sich weg. Der Bär rannte weiter geradeaus, auf Jan zu, der über Lui kniete und Jenny, die dazwischen stand.
Mutig das Messer erhoben.
Jeder von ihnen gab Lee ein Gefühl einen Freund zu haben, doch ein Platz war leer. Ein Platz, der sonst in der letzten Zeit immer da gewesen war und nur nach der Grundschule gefehlt hatte.
Lui! Er war tot! Lee spürte es! Sie wusste es tief in ihr drin und sie verabscheute Sasuun dafür. Sie hasste sie aus tiefstem Herzen.
„Nein!“, schluchzte sie wütend und dann so laut, dass sogar sie selbst zusammenzuckte: „Nein!“
Noch bevor ihr Schrei geendet hatte, schoss ein weißer Blitz über den Felsrand und biss sich in der Pranke des Bären fest.
„Leyla!“, rief Jan, der sich als erster wieder regen konnte. „Sie ist zurückgekommen!“
Das was darauf folgte, war ein heftiger Kampf zwischen Wolf und Bär. Leyla riss der Bestie ein Ohr aus. Der Bär schleuderte den Wolf wütend zu Boden. Schnell rappelte sich Leyla wieder auf und ging erneut zum Angriff über. Erschrocken liefen die Kinder zu dem blutenden Lui. Lee kniete sich hin und besah sich zitternd Luis Wunde, während Jan und Jenny, Seite an Seite, zwischen ihr und dem heftigem Kampf standen. Bereit sie zu verteidigen, falls es nötig wäre. Schließlich gelang es Leyla auf die Bestie zu springen und sie zu Fall zu bringen. Der Bär schleuderte Leyla im Fallen von sich. Hart landete sie auf dem Boden. Ihr weißes Fell war blutbeschmiert. Erschrocken sprang Lee auf die Beine. Der Bär richtete sich zu seiner vollen Größe auf.
Lees Pfeil traf genau das Herz.
Leblos brach der Bär zusammen.
Sein großer bulliger Körper regte sich nicht mehr.
Er war tot.
Zittrig stand Leyla auf und schleppte sich mit letzter Kraft zu Lui.
Dann ihre blutige Schnauze, die sich mit Luis klaffender Wunde traf.
Ihr Körper, der erschlaffte.
Lui, der nach Luft schnappte.
Seine Brust, die sich hob und senkte.
Sein Herz, das wieder zu schlagen anfing.
Leyla die reglos am Boden lag und ihr Herz, welches den letzten Herzschlag tat.
Dann erschlaffte sie.
Lui lebte und Leyla war tot.
Sie hatte sich für ihn geopfert, hatte ihm ihre Kraft gegeben, damit er leben konnte.
Sie hatte es für ihn getan und dafür die Welpen für immer zurückgelassen.


Kapitel 34: Zwei Tote und eine Träne mehr!

Die Welpen! Lee wusste nicht weshalb, aber sie mussten zurück! Zurück zu den Welpen! Sofort! Sie befahl den anderen sich um Lui zu kümmern und rannte los. Sie wusste, wo sie hinmusste. Sie spürte es! Sie spürte Lilians Angst. Ein jämmerliches Jaulen drang durch das Unterholz. Lee lief schneller. Sie hörte das ängstliche Winseln der Welpen und wusste, dass sie in Gefahr waren. Sie durchbrach das Dickicht und stand auf der Lichtung mit dem Wolfsbau. Jamie und Lilian hatten sich unter einem schmalen Felsvorsprung verkrochen. Jason war im Bau und Luke schmiegte sich ängstlich an einen dünnen kleinen Baum, der ihn kaum schützen würde. Oben am Himmel kreiste ein Weißkopfseeadler. Als er Lee entdeckte, stieß er kreischend hinab und fuhr seine Krallen aus. Lee warf sich flach auf den Boden. Die Klauen des Adlers streiften sie am Rücken. Lilian jaulte auf und wollte zu ihr, doch Lee knurrte sie an. Bleib wo du bist, sagte sie ihr in Gedanken. Ich komme schon klar!
Lilian winselte zwar blieb aber in ihrem Versteck. Der Adler hatte sich wieder in die Luft geschwungen. Soeben hatte er es auf Luke abgesehen, der sich unter dem Baum vor Angst zusammenkauerte. Lee lief zu ihm hin und beugte sich schützend über ihn. Die Krallen gruben sich in ihren Rücken. Wieder schnellte der Adler hoch. Sie nahm Luke auf den Arm und rannte mit ihm zu Lilian und Jamie. Der kleine Welpe zitterte vor Angst.
Wenn sie doch jetzt nur ihren Bogen hätte. Es war dumm von ihr gewesen ihn liegen zu lassen, doch jetzt musste sie sich eben, damit abfinden, dass sie nur ihr Messer hatte. Sie könnte es werfen, aber wenn sie nicht traf, hatte sie vorübergehend keine Waffe. Sie musste es versuchen. Sie würde warten müssen, bis der Adler erneut hinab stoßen würde. Schon setzte der Adler zum Sturzflug an. Lee hatte das Messer hinter dem Rücken. In dem Moment als sie es hervorziehen wollte, traf ein Pfeil den Adler und er stürzte zu Boden. Kurz vor Lee kam der Adler auf. Steif und verdreht lag er vor ihr. Lee drehte sich um. Jenny stand mit ihrem Bogen hinter ihr. Ihr Gesichtsausdruck war ernst und entschlossen.
„Versprich mir etwas!“, sagte Jenny ernst. Lee sah sie verwundert an udn nickte.
„Vergiss nie wieder deinen Bogen!“ Jenny grinste bitter. „Ein andermal kann ich dir vielleicht nicht helfen.“ Jamie und Lilian rannten zu ihnen, während Luke und Jason interessiert den toten Adler beschnüffelten.
„Wo ist Jan?“, fragte Lee.
„Er kümmert sich um Lui!“, sagte Jenny und hielt Jamie fest in den Armen. Lee drückte Lilian noch fester an sich.
„Es fühlt sich richtig an.“, sagte sie leise. „Früher fühlte ich mich immer so zerrissen. Jetzt nicht mehr! Jetzt bin ich ein ganzes Stück. Und jetzt weiß ich, wo ich hingehöre.“
Jenny lächelte. „Hierher!“, bestätigte sie. „Hier gehören wir hin.“
„Aber wenn Lui gestorben wäre…“, Lee wagte nicht den Satz weiter zu reden.
„Arme Leyla.“, flüsterte sie stattdessen. „Sie wollte ihn retten.“
„Das hat sie auch.“, sagte Jenny sanft. „Und wo auch immer sie jetzt sein mag, sie weilt unter uns.“ Einen Augenblick sahen sich die beiden Freundinnen nur an. So viel hatte sich verändert. Und schließlich lagen sie sich in den Armen und waren froh, dass sie jemanden hatten, der bei ihnen war.





Lui schlug die Augen auf. Sein Kopf pochte und seine Brust schmerzte, dort wo der Bär ihn getroffen hatte. Sofort wurde er stürmisch von Luke begrüßt.
„Luke!“, hörte er Lee gereizt rufen. Luke ging zu ihr und wedelte entschuldigend mit dem Schwanz. Sanft streichelte sie ihn.
„Lee?“, fragte Lui schwach. Sie hob den Kopf und sah ihn an.
„Das war sehr töricht von dir!“, schimpfte Lee. „Du hättest ruhig ein wenig warten können, bevor du den Helden spielst!“
„Was ist passiert?“, fragte er. Er sah auf seine Brust, die genäht worden war. Neben Lee sah er einen Verbandskasten, den sie vom Indianerstamm bekommen hatten.
„Der Bär hat dich erwischt“, sagte sie.
„Und danach?“
Lee wandte den Blick ab und starrte ins Leere. „Du warst tot!“
„Was? Ich war tot?“, fragte Lui verblüfft. „Wie kann das sein?“
Lee schwieg. Sie wusste, wie viel Lui verloren hatte und sie wusste, dass er noch mehr verlieren würde. Er wurde von Marek, dem er so sehr vertraut hatte, verraten. Und nun Leyla, die er doch fast so gern gehabt hatte, wie Luke. Sie wollte ihm diese schreckliche Botschaft nicht überbringen, doch das war der leichteste Weg.
„Leyla“, fing sie zaghaft an „hat dich gerettet.“
Lui starrte sie fragend an. Lee schluckte ihre Tränen herunter, die erneut hervorkommen wollten.
„Sie kämpfte mit dem Bären und wurde schwer verletzt. Ich erschoss ihn. Sie ging zu dir und ...holte dich zurück.“ Lees Augen füllten sich mit Tränen. „Und dafür musste sie sterben.“
„Wie meinst du das? Wo ist sie?“, fragte Lui ängstlich.
„Sie hat dich gerettet. Sie ist tot, Lui.“, sagte Lee und unterdrückte die Tränen.
„Was? Nein! Das kann nicht sein! Du lügst!“, rief Lui. Luke kam zu ihm, um ihn zu trösten.
„Hau ab!“, rief Lui und schubste den Welpen von sich. Luke fiel hin und zog winselnd den Schwanz ein. Die großen Augen vor Schreck, Verblüffung und Angst weit aufgerissen. Die Ohren angelegt. Langsam und verschreckt ging der kleine Welpe rückwärts. Ist es möglich, dass mein Rudelgefährte mir etwas antut?, fragte sich der kleine Welpe. Lee versuchte Luke zu beruhigen. Keine Sorge, sagte sie. Er meint es nicht so. Er ist verletzt, wegen deiner Mutter.
Verwirrt sah der Welpe sie an. Meiner Mutter geht es gut. Sie ist bei uns. Sie ist in uns. Lee klappte der Mund auf. Noch nie hatte ihr ein Tier geantwortet. Sie hatte immer nur gefühlt, was es wollte oder empfand. Sie musste später mehr darüber herausfinden.
„Das kann nicht sein!“, rief Lui abermals und sprang auf. Doch er schwankte und ließ sich auf die Knie fallen. Tränen rannen ihm aus den Augen. „Nein!“, schluchzte er, dann ließ er den Kopf sinken und weinte. Luke sah Lui ängstlich an.
„Verschwinde! Lass mich in Ruhe!“, schrie Lui den verblüfften Welpen an. „Los, hau ab!“
Er warf einen Stein nach dem jungen Wolf, der diesen nur knapp verfehlte. Winselnd und jaulend taumelte der Welpe rückwärts.
„Du sollst verschwinden!“, schrie Lui und warf einen zweiten Stein, der Luke an der Hüfte traf. Winselnd rannte der Welpe davon. Er mag mich nicht mehr. Er ist so wütend auf mich. Was habe ich Böses getan?, fragte sich der Welpe verletzt. Warte, rief Lee ihm nach, doch von seinen verletzten Gefühlen angetrieben, rannte Luke weiter und wurde immer schneller. Jan und Jenny sahen zu ihnen herüber. Jamie, Lilian und Jason jaulten ängstlich.
„Lui?“, sagte Lee besänftigend.
„Lasst mich in Ruhe!“, rief er. „Ihr alle! Verschwindet!“
„Du musst Luke finden, du hast ihn sehr verletzt.“, sagte Lee sanft.
„Das ist mir egal!“, sagte er. „Der kann von mir aus vom Adler gefressen werden.“
„Lui!“, sagte Lee ernst. Er musste doch verstehen, dass Luke eine leichte Beute für jedes Raubtier war. „Er kommt nicht, wenn ich ihn rufe! Du musst ihn holen“, erklärte sie ihm. Lui schluckte. Er schwieg und hielt den Blick gesenkt. Er spürte Lukes Schmerz und seine Verwirrung und er wusste, dass Lee Recht hatte. Es tat ihm furchtbar leid. Aber er hatte es nicht mehr geschafft sich zu beherrschen. Seine zurückgelassene Familie. Der Verrat von Marek. Und jetzt Leyla. Das war zu viel für ihn gewesen.
„Ich hole den Welpen zurück“, sagte er ungehalten und stand auf. Lee, Jan und Jenny schwiegen, als er dem Welpen ins Dickicht folgte. Lui lief den Spuren, des Welpen nach.
„Luke!“, rief er. Ein leises Jaulen drang bis zu ihm durch. Lui rannte schneller. „Luke!“
Vor ihm schoss ein riesiger Adler mit seiner Beute in die Höhe. Es war der Weißkopfseeadler und in seinen Fängen hielt er…den Welpen! Luke wand sich jämmerlich in den Krallen des Adlers, als er Lui sah winselte er. Hilf mir, Rudelgefährte! Verbündeter! Hilfe!
„Luke!“, rief Lui. Als der Welpe begriff, dass Lui ihm nicht helfen würde, sei es ganz gleich, ob er es vorhatte oder nicht, ergriff ihn furchtbare Angst und er verspürte eine riesige Enttäuschung. Er zappelte und jaulte. Nein! Lass mich nicht allein! Du musst mir doch helfen! Warum tust du es nicht? Lass mich nicht sterben! Bitte! Der Adler flog mit ihm immer höher. Dann geschah alles wie in Zeitlupe. Der Adler ließ Luke los, der zappelnd und winselnd auf die immer näher kommende Erde zusauste. Seine Laute gingen Lui durch Mark und Bein. Wie vom Blitz getroffen blieb Lui stehen. Erst als Luke auf die Bäume prallte und seine winselnden Laute verstummten, konnte er sich rühren. Er raste durchs Unterholz, auch wenn er wusste, dass er Luke nicht mehr retten konnte. Plötzlich lag der kleine Welpe vor ihm. Die Augen geschlossen. Das weiche, flaumige Fell fühlte sich zwischen seinen Fingern dumpf und steif an. „Luke!“, flüsterte Lui. Luke regte sich nicht. Lui vergrub sein Gesicht in Lukes noch fast warmen Körper. „Luke, es tut mir so leid! Bitte Luke! Es tut mir so leid! Bitte nicht! Luke!“, er schluchzte. Lukes große bernsteinfarbene Augen würden für immer geschlossen bleiben und nur wegen ihm war Luke jetzt tot. Erinnerungen zischten vorüber. Luke und er, wie sie miteinander rauften. Wie sie zusammen Verstecken spielten und sich so sehr freuten, wenn sie den anderen gefunden hatten. Luke und er, wie sie sich einfach nur festhielten. Er schluchzte. Unaufhaltsam rannen Tränen über sein Gesicht. Er würde sich an Sasuun rächen. Für Lee, weil sie ihr ihren Vater genommen hatte! Für Frau Descuâr, weil sie ihretwegen Marek verloren hatte! Für Leyla, weil sie ihretwegen tot war! Und für Luke! Luke würde nie wissen, was Lui wirklich für ihn empfunden hatte. Er hatte das Gefühl, dass er langsam zu Eis gefror. Dass seine Tränen sich in Eisperlen verwandelten. Das Eis hatte nun sein Herz umschlossen, wie eine große kalte Hand mit langen dünnen Fingern. Er konnte seinen Blick nicht von der kleinen, leblosen Gestalt vor ihm wenden. Er konnte nicht aufhören gleichmäßig über das kalte Fell zu streicheln. „Luke!“, flüsterte er. „Luke, bitte! Lass mich nicht allein! Bitte, Luke! Rudelgefährte! Wir sind doch eins! Wir gehören doch zusammen! Luke? Es tut mir so leid! Bitte, Luke, es tut mir so leid! Luke!“ Schluchzend vergrub er sein Gesicht in Lukes Fell. Sein ganzer Körper bebte.
Und da wusste er was er tun würde. Er nahm den Welpen ehrfürchtig auf den Arm und ging entschlossen zurück.


Kapitel 35: Veränderung!

Als Lui mit dem toten Welpen auf dem Arm wieder zu ihnen kam, stockte allen der Atem.
Jan rannte auf ihn zu und redete beruhigend auf ihn ein. Doch Lui sah an ihm vorbei. Er war zu Eis gefroren, ihm konnte niemand mehr etwas anhaben. Als Jan ihm den Welpen aus dem Arm nehmen wollte, sah der Junge Jan durchdringend an und knurrte gefährlich.
„Okay! Ist schon gut!“, stotterte Jan erschrocken und wich zurück. Lee und Jenny sahen sich ängstlich an.
„Wo ist Leyla?“, fragte Lui gefährlich leise. Er klang nicht wie er selbst. Er klang überhaupt nicht wie ein Mensch. Doch auch nicht wie ein Tier. Er klang unbeschreiblich gefährlich und entschlossen.
„Da…da hinten!“, stotterte Jenny, da Lee nicht reagierte, und deutete mit dem Finger auf den toten weißen Wolf. Fest schritt Lui zu ihr herüber. Dann legte er den Welpen behutsam neben sie. Die anderen wagten nicht sich zu bewegen. Lui kniete sich hin und wiegte sich in rhythmischen Bewegungen hin und her, während er etwas murmelte. Keiner wagte es ihn zu stören. Er verharrte bis zum Abend so, dann stand er plötzlich auf, ging zu seinem Schlafsack, legte sich hinein und schlief kurz darauf ein. Am nächsten Morgen nahm er Leyla und Luke auf den Arm und trug sie weg. Weder Jenny, Lee oder Jan wussten wohin er ging, doch sie liefen ihm nicht nach. Er kam wieder ohne ein Wort zu sagen. Und ohne Leyla und Luke. Auch die Welpen verhielten sich außergewöhnlich still. Lee machte das alles Angst. Jan hatte Lui schon oft gefragt, ob sie weitergehen könnten, doch Lui hatte nicht geantwortet. Sie hatten nur noch vier oder vielleicht sogar noch drei Tage! Am Nachmittag war Lee so unheimlich zu Mute, dass sie beschloss einen Vorwand vorzugeben, um von Lui wegzukommen.
„Ich gehe jagen.“, sagte sie und sprang auf. Lilian sprang auf die Beine und auch Jenny und Jamie standen auf. Es würde Lee auf andere Gedanken bringen, außerdem könnte sie jetzt ausprobieren, ob Lilian ihr auch antwortete.
„Ich komme mit dir!“, sagte Jenny. Jamie musste sie nicht mehr erwähnen. Es war klar, dass da wo Jenny war, auch Jamie war. Sie gehörten zusammen und würden sich nicht mehr so schnell verlieren. Lee ließ ihren Bogen am Lagerlatz liegen und tat stattdessen so, als würde sie mit ihrem Messer jagen. Dann verschwand sie mit Lilian, Jenny und Jamie im Unterholz. Als sie sicher war, dass sie außer Hörweite war, rannte sie los. Lilian hechelnd neben ihr und für einen kurzen Moment hatte sie das Gefühl endlich den furchtbaren Ereignissen entflohen zu sein. Unbeschwert rannten sie durch das Dickicht, über weite Wiesen und sprangen über kleine Sturzbäche. Lee sah zu Jenny, die hinter ihr war. Ihre beste Freundin lachte und rannte neben sie. Schnell hob sie im Laufen einen Stock auf. Auch Lee schnappte sich einen. Sie rannten und schlugen lachend die Stöcke aneinander. Jamie und Lilian tollten am Boden und rasten zwischen den Bäumen hindurch. Lachend wich Lee Jennys Schlag aus und ging zum Angriff über, indem sie einen gekonnten Schwung von links nach rechts machte. Jenny wehrte es mühelos ab. Lee und Lilian sprangen ins Dickicht und waren so für Jenny und Jamie nicht mehr sichtbar. Sie kletterten auf einen umgefallenen Baum und standen nun über Jenny, die sich grinsend umsah. Auf „jetzt“ springen wir, sagte Lee zu Lilian. Ob Lilian antwortete?
Alles klar!
Lee glaubte es nicht, doch Lilian hatte ihr in Gedanken geantwortet. Jetzt!, jauchzte Lee freudig. Es war als ob Lilian sich ebenso freuen und lachen würde, wie sie. Mit einem Kampfschrei sprang Lee von dem Baumstamm und stürzte sich auf Jenny. Lilian sprang genau vor Jamie, die ein ängstliches Winseln ausstieß, bis sie Lilian erkannte und sich kläffend auf sie stürzte. Lee und Jenny rannten lachend weiter und kamen schließlich auf eine große Wiese mit so vielen Blumen, dass Lee glaubte zu träumen. Lachend warfen Lee und Jenny die Stöcke weg und tollten über die Wiese. Bis sie sich schließlich vor Erschöpfung ins weiche Blumenmeer schmissen. Jamie und Lilian schossen noch ein paar Mal an ihnen vorbei, bis sie sich schließlich erschöpft zu ihren Füßen niederließen. Sie konnten nicht aufhören zu lachen. Es war einfach zu wundervoll. Eng kuschelte Lilian sich an sie. Auch sie schien zu lachen. Wieder standen sie auf und tollten den Abhang hinunter. Lilian rannte neben Lee und sie schienen eins zu sein. Erschöpft ließen sie sich ins Gras sinken, auch Jenny kicherte neben ihr immer noch und Jamie und Lilian leckten sich gegenseitig über ihr Fell. Doch plötzlich kamen Lee wieder andere Gedanken in den Sinn. Ihr Vater und Lui, der sich so komisch benahm und Leylas und Lukes Tod.
„Wenn ich mich nicht irre, ist in ein paar Tagen die Sommersonnenwende. Und wir haben keine Ahnung, wohin wir gehen sollen.“, sagte Lee. Sie war sich sogar sehr sicher, dass heute Sommersonnenwende war und sie sich verrechnet hatten. Sie schwiegen eine Weile.
„Er benimmt sich eigenartig!“, murmelte Lee.
„Er hat Luke und Leyla gleichzeitig verloren.“ Gab Jenny zu bedenken.
„Aber, er knurrt… und er benimmt sich nicht, wie er selbst.“
„Stell dir mal vor, du würdest Lilian verlieren.“ Sagte Jenny. Lilian sah so verletzt auf, als hätte man sie geschlagen.
„Das…das kann ich mir nicht vorstellen. Sie…sie ist ein Teil von mir.“
„Genauso hat sich Lui mit Luke gefühlt. Und nun hat er auch noch Schuldgefühle, weil der Welpe wegen ihm weggerannt ist.“
Ein Kiesel traf Jenny von hinten. Jamie sprang knurrend auf. Hinter ihnen stand Lui. Er sah furchtbar aus. Sein Oberteil war zerrissen und sein Blick und seine Haare waren wirr.
„Es ist nicht meine Schuld!“, schrie er und schleuderte noch einen Stein nach Jenny.
„Er ist weggerannt. Ich habe nichts gemacht!“, schrie er wieder. Jenny stieß einen kleinen Schrei aus, als er auf sie zu rannte. Lee versuchte ihn zurückzuhalten, doch er stieß sie von sich. Lilian sprang auf und biss sich in Luis Hosenbein fest. Doch der Junge schleuderte Lilian weg, diese wollte erneut zum Angriff ansetzen. Auch Jamie rannte mit ihr auf Lui zu. Jenny regte sich nicht. „Stopp!“, rief Lee. Doch die Welpen hörten nicht auf sie und bissen sich wieder in Luis Hose fest. Lui warf beide hart von sich. Doch die Welpen gaben nicht auf. Lilian, bitte nicht! Du weißt doch, dass er nur verwirrt ist! Lass ihn in Ruhe!
Er ist gefährlich! Er ist nicht er! War Lilians Antwort. Ohne auf Lee zu hören, wollte sie sich erneut auf Lui stürzen.
Lee sprang zwischen sie. „Stopp!“, rief sie noch einmal und endlich hielten alle inne. Die Welpen legten sich hechelnd hin, ließen Lui allerdings nicht aus den Augen. Der Junge sah zuerst ausdruckslos und dann unendlich traurig aus. Er sackte auf die Knie und sah durch Tränen auf das hinab, was er getan hatte. Jenny, die ihn total verschreckt ansah. Jamie und Lilian, die ihn anfunkelten, als wäre er ein Monster und Lee, die ihn verängstigt ansah. Doch sie versuchte weiterhin ihn in Schutz zu nehmen.
„Wir sollten uns nicht bekämpfen.“, sagte sie, dann blickte sie nur Lui an „Wir sind doch Freunde.“ Vor lauter Abscheu über sich selbst, schluchzte er auf und ließ sich vornüber ins Gras fallen. Lee und Lilian liefen zu ihm. Lee bemerkte was für eine Angst sie vor ihm gehabt hatte. Lilian hingegen presste sich an ihn und leckte ihm übers Gesicht. Lui presste sie an sich und Lee schaffte es nun endlich auch, ihn zu umarmen und zu trösten.
Ich danke dir… dass du ihn tröstest, sagte Lee zu Lilian.
Er ist ebenso mein Freund, wie deiner. Ich wollte ihm nie etwas Böses, erwiderte Lilian mit einem leichten Schwanzwedeln. Jamie und Jenny kamen vorsichtig näher.
„Ich wollte das nicht tun!“, schluchzte Lui. „Ich hatte mich nicht…Es ist wie….Als ob ein Teil von dir weg wäre! Einfach…nicht mehr da.“ Er musste es nicht aussprechen, alle wussten, dass er Luke und Leyla meinte. Er sah zu Jenny. „Es tut mir leid! Du hast Recht! Es ist alles meine Schuld. Nur wegen mir ist das passiert. In dem Zustand indem ich mich befand…war ich sogar bereit euch umzubringen.“ Jenny legte ihm eine Hand auf den Arm und Jamie rieb ihren Kopf an sein Bein.
„So weit werden wir es nicht kommen lassen.“, flüsterte Lee ihm zu. „Das verspreche ich dir!“ Sie schwiegen eine Weile. Dann brach Lui das Schweigen.
„Ich werde Sasuun alleine aufsuchen und deinen Vater zurückholen.“ Er hatte aufgehört zu weinen.
„Du kannst das nicht alleine schaffen!“, sagte Jenny ungläubig.
„Doch ich kann das alleine schaffen! Du vergisst, dass ich ein Wolfskopf bin. Zu irgendetwas wird das ja gut sein!“, rief er entschlossen.
„Lui, das ist Wahnsinn!“, sagte Lee.
„Es ist kein Wahnsinn, wenn ich dadurch keinen mehr von euch verlieren muss!“
„Aber du wirst dich selbst verlieren.“
„Besser als einen von euch!“, rief er und sah in Lees große, blaugrüne Augen. Dann sprang er auf und war im nächsten Moment verschwunden.





Als Lui wieder am Lagerplatz war, waren Jan und Jason verschwunden. Auch gut, dann musste er sich keine Ausrede einfallen lassen. Er packte seine Sachen und schnürte seinen Schlafsack auf den Rücken. Als er sich auf den Weg machte, merkte er verblüfft, dass er sich super fühlte. Wirklich super, er hätte jeden Moment los lachen können. Ein großer Vogel flog über ihn hinweg. Lui blieb ruhig und sah sich langsam um. Er war auf alles gefasst. Der Adler blickte ihn aus tiefen sandfarbenen Augen an. Es war klar, dass Sasuun ihn zu sich holen würde. Sie wollte die Prophezeiung verhindern, was ihr nun sehr leicht fallen würde, da er alleine war. Doch das war ihm egal. Der Adler flog auf und landete auf einen Ast, der weiter hinten hing. Lui bemerkte, dass der Adler ihn führen würde. Er musste ihm nur folgen. Sein Verdacht wurde bestätigt, als er auf den Adler zu ging und dieser auf den nächsten Ast flog.
„So ist es gut, verdammtes Vogelvieh!“, murmelte er. „Bring mich zu deiner Meisterin!“


Kapitel 36: Der Kampf gegen Sasuun!

„Wo ist er hin?“, fragte Jenny verblüfft. Lee war schwindlig. Jan und Jason kamen auf sie zugerannt. „Jan, hast du Lui gesehen?“, fragte Lee ängstlich.
„Nein, er war auf einmal verschwunden.“, sagte Jan verblüfft. Lee schauderte. „Jan wir müssen sofort zum Lager.“
„Was…aber…“
„Frag nicht! Beeil dich, lieber! Sasuun bringt ihn sonst um.“, rief Lee und rannte los. Jenny, Jan und die Welpen dicht hinter ihr. Doch als sie den Lagerplatz erreichten, war Lui schon längst aufgebrochen. Lee war verzweifelt. Erschöpft Jan ließ sich auf die Knie fallen. Sie hatten verloren. Lui durfte nicht sterben, sie mussten ihn finden! Plötzlich stutzte er. Neben ihm sah er etwas im Gras.





Plötzlich war der Adler verschwunden, stattdessen stand Lui auf einer Lichtung an dessen Rand ein steiler Berg in die Höhe ragte. Vor ihm war ein Tipi. Er blieb stehen und holte tief Luft. Dann zog er sein Messer und sprang mit einem Satz hinein. Es war dunkel, nur ein Mann, stand gefesselt an einem Pfosten in der Mitte, der das Tipi zu halten schien. Der Mann hob den Kopf.
„Lui!“, flüsterte er verwirrt.
„Jack!“, sagte Lui und rannte zu ihm.
„Du solltest nicht hier sein. Warum bist du gekommen?“
„Aber…In Lees Traum…da hast du doch…“, stotterte Lui.
„Du musst sofort verschwinden! Los!“, flüsterte Lees Vater panisch.
„Ich werde dich hier nicht allein lassen!“, sagte Lui und wollte die Fesseln durchschneiden.
„Nein, Lui! Du musst verschwinden!“
Doch Lui ließ sich nicht beirren.
„Ich habe dich lange nicht mehr gesehen!“, fuhr Jack fort. Lui hielt inne.
„Seit drei Jahren nicht mehr!“, sagte er. Dann beeilte er sich, die Fesseln los zu schneiden. Es war schwierig. Schließlich schaffte er es, doch die Fesseln verschnürten sich von selbst wieder. Lui wich erschrocken zurück. Jack ließ den Kopf hängen.
„Hör zu, Lui! Geh ohne mich! Sie will nicht mich, sie will Lee. Sag ihr sie soll wieder nach Hause gehen!“, sagte Lees Vater. Lui schüttelte den Kopf.
„Nein!“, sagte er. „Das geht nicht!“
„Das wäre aber schlauer.“ Sasuuns schneidende Stimme durchschnitt Luis Gedanken wie ein Messer. Er drehte sich zu ihr um. Er wusste nicht wie lange sie schon da gestanden hatte, doch sie musste schon etwas länger dabei stehen und zu gehört haben. Sie hatte braune Lederkleidung und einen Gürtel an, an dem sich viele kleine Säckchen befanden. Ihre Haare waren mit einem Lederband, auf dem ein Adler drauf war, zurückgesteckt. Nun löste sie sich träge von der Wand. „Na komm schon, Kleiner. Ich habe nicht ewig Zeit. Heute ist schließlich die Sommersonnenwende.“
Lui verkrampfte sich vor Zorn. „Du hast Luke umgebracht.“ Es war, als ob er mehr Kraft gewinnen würde und wütend war er. So wütend. „Du hast Luke umgebracht!“, schrie er. Sasuun schien das überhaupt nicht zu interessieren. Sie hob leicht den Arm und schon kam ihr Adler angeflogen und setzte sich darauf.
„Ach, wirklich?“, meinte Sasuun mit einem ironischem Grinsen im Gesicht.
„Prax“, wandte sie sich an den Adler, „hast du etwa Luke umgebracht?“ Luis Gesicht wurde knallrot vor Zorn. Er schleuderte sein Messer dem Adler entgegen. Dieser versteifte sich und fiel, mit dem Messer bis zum Heft in der Brust, von Sasuuns Arm. Gleichgültig sah Sasuun auf Prax hinab, der steif und kalt auf der Erde lag. „Nach deiner Reaktion zu Folge, würde ich sagen, dass er es getan hat!“, sagte sie gelangweilt.
„Sei still!“, zischte Lui. „Du bist an allem Schuld! Du hast Lees Vater entführt und mich beinahe umgebracht, doch dann passierte etwas, was du nicht erwartet hast, nicht wahr?“
Sasuuns Gesicht wurde ernst und sie näherte sich ihm bedrohlich. Doch Lui ließ sich nicht beirren. „Leyla hat mich gerettet. Das hat dir einen Strich durch die Rechnung gemacht, hab ich Recht?“ Sasuun schwieg.
„Als du das gemerkt hast“, sagte Lui „Wolltest du Luke umbringen. Du wolltest mich an meiner verwundbarsten Stelle treffen.“ Über Sasuuns Gesicht zischte ein boshaftes Lächeln.
„Ich gebe zu, das hast du geschafft!“, rief Lui. „Lass Jack und die anderen gehen.“
„Und was habe ich dann davon?“, fragte Sasuun gleichgültig.
„Mich.“
Sasuun lachte. „Und was soll ich mit dir?“ Einen Moment war Lui irritiert. Dann fing er sich wieder. „Ich bin ein Wolfskopf.“
Sasuun hörte auf zu Lachen. Ihr Gesichtsausdruck wurde traurig, fast als wäre es eine Schande ihn zu töten. „ Lui“, sagte sie, „du langweilst mich. Das kann gefährlich werden. Ich fürchte, ich werde dich jetzt bitten müssen zu gehen.“
„Ich gehe aber nicht!“, sagte Lui wütend.
„Lui“, sagte Jack hinter ihm, „ich flehe dich an, versuch irgendwie hier lebend wieder raus zu kommen. Du kannst mich nicht mehr retten. Aber du kannst dich und die anderen retten.“
Sasuun lachte auf. Erst jetzt bemerkte Lui, dass er keine Waffe mehr hatte. Sein Messer steckte in der steifen Brust des Adlers. „Jack, ich fürchte der Junge wird seinem Schicksal kaum entgehen können.“ Dann pfiff sie. Es war ein ohrenbetäubender Pfiff, der Lui durch Mark und Bein ging und er musste die Augen schließen, um noch gerade stehen zu können. Als er die Augen wieder öffnete, rasten fünf Wanderfalken auf ihn zu.





„Seht mal!“, rief Jan den beiden Mädchen zu. „Es ist noch frisch.“, murmelte er, als Lee und Jenny neben ihm standen.
„Was ist?“, fragte Jenny.
„Hier, ich habe seine Spuren entdeckt. Seht ihr hier hat er seine Sachen zusammen gepackt.“
„Ja, du hast recht!“, rief Lee aus. „Und hier ist er lang gelaufen.“
Gut, dass sie bei den Indianern Spuren lesen gelernt hatten.
Schnell liefen sie den Spuren nach. Plötzlich standen sie vor einem Tipi. Jenny winkte ihre Freunde hinter ein paar Sträucher. Leise krochen sie dahinter und lauschten. In dem Tipi hörte Lee Sasuun reden.
„Und was habe ich dann davon?“, fragte sie.
„Mich!“, antwortete Lui. Lui! Lee wollte ins Tipi rennen, doch Jan hielt sie zurück.
„Jan!“, flüsterte Lee „Lass mich los. Ich muss da rein.“
„Das ist zu gefährlich und außerdem ist Lui noch nicht in Gefahr!“
„Er ist in Gefahr, wenn sie bei ihm ist! Sie könnte, ihn auf der Stelle töten!“, zischte Lee, doch Jan hielt warnend den Finger an den Mund.
„Jack“, sagte Sasuun in dem Moment und Lee durchströmte ein Glücksgefühl, als ihr bewusst wurde, dass ihr Vater noch lebte, doch was Sasuun dann sagte, ließ sie erneut schaudern.
„Ich fürchte der Junge wird seinem Schicksal kaum entgehen können.“
Dann erschall ein lauter Pfiff und Lee hörte kleine Flügel rauschen.
Lilian! Du hilfst mir doch?
Ich werde bei dir sein. Bestätigte die Wölfin. Wie auf ein geheimes Zeichen erhoben sich die Kinder und rannten alle gleichzeitig ins Tipi.





Lui hielt sich die Arme schützend über sich und wartete verzweifelt auf die spitzen Schnäbel, stattdessen hörte er ein lautes Falkengekreisch und Wolfsknurren. Der Junge riss die Augen auf. Lilian hatte sich einen Falken aus der Luft geschnappt, während die anderen vier kreischend oben am Zeltdach kreisten und Jason und Jamie knurrend nach ihnen schnappten. Sasuun sah diesem Schauspiel mit ausdruckslosem Gesichtsausdruck zu. Lui zog scharf die Luft ein, als er auf einmal Jan mit einem Messer hinter Sasuun hervortreten sah. Sasuun fuhr in dem Moment herum, als Jan das Messer auf sie niedersausen lassen wollte. Sie machte eine Drehung, packte Jans Arm und drehte ihn ihm auf den Rücken. Jan schrie auf. Jason rannte zu ihm, doch Sasuun schubste Jan weg und trat Jason in die Magengrube. Jason rutschte unter lautem Winseln über den Boden. Die Falken erkannten ihre Chance und griffen an. Ein gut gezielter Messerwurf Jennys tötete den gemeinsten Falken. Die anderen stoben auseinander. Lee traf den nächsten mit einem Pfeil. Nur noch zwei Falken kreisten über ihnen.
„Lee!“, rief Jack ihr entsetzt zu. „Lee du musst sofort verschwinden.“
„Ich werde jetzt ganz sicher nicht gehen. Nur wegen dir bin ich doch hier!“, rief sie.
Plötzlich war Sasuun verschwunden. Alles war verschwunden. Sie sahen sich an: Das Mädchen und ihr Vater, für den sie all das hier gemacht hatte. So viel hatten sie aufs Spiel gesetzt und so viel hatten sie verloren.
„Du hast mich doch gerufen!“, sagte Lee tonlos.
„Nein. Ich habe euch nie gerufen!“, erwiderte ihr Vater. „Warum sollte ich meine eigene Tochter in so eine große Gefahr schicken?“
Lee schwieg. Er hat Recht! Das würde er niemals tun! Sasuun lachte. Sie stand alleine hinter Lee, alle anderen waren vorne bei Jason und den Falken.
„Ich glaube dafür bin ich verantwortlich!“, sagte die Schamanin.
„Nicht nur dafür!“, flüsterte Lee zornig. Sie fuhr herum und sah Sasuun direkt in die Augen.
„Du hast Menewa hypnotisiert. Er war unschuldig und ist wegen dir gestorben. Und du bist in den Bären gewandelt, den wir deinetwegen töten mussten. Du hast Leyla auf dem Gewissen und noch schlimmer, Luke dazu!“, schrie sie. Als Lee Lukes Namen erwähnte, verzog Lui schmerzverzerrt das Gesicht. Dann stieß er einen Wutschrei aus und wollte sich erneut auf Sasuune stürzen. Doch bevor er auf sie zu rennen konnte, packte Sasuun Lilian und hob sie hoch. Lee war vor Schreck erstarrt. Lilian jaulte und wand sich in der dünnen, kalten Hand, die sie im Nacken gepackt hatte.
Lilian!
Lee!, winselte der Welpe. Das Mädchen starrte Sasuun fassungslos an.
„Lass sie sofort los!“, rief sie wütend. Der Gesichtsausdruck der Schamanin veränderte sich. Sie wurde fast sanft.
„Lee, es muss nicht so weit kommen. Ihr müsst nicht alle sterben. Du kannst sie noch retten, wenn du mit mir gehst, dann können deine Freunde gehen.“ Lee schwieg sie sah zu Boden. „Und mein Vater und die Welpen?“
„Die auch, aber dafür musst du mit mir kommen.“ Lee sah auf den Boden. Sie hatte die Wahl ihre Freunde und ihren Vater zu retten und war zu feige? Wollte sie lieber, dass sie alle starben? Lui merkte was in ihr vorging und schüttelte den Kopf. „Nein, Lee! Tu es nicht.“
Sasuun hob Lilian noch fester in ihren Griff. Der Welpe winselte und jaulte und sah Lee flehentlich an, aber was konnte sie schon tun. Sie war ein zwölfjähriges Mädchen, das nichts konnte. Klein war sie, unbedeutend. Ihre einzige Chance war es sich zu opfern und zu hoffen, dass Sasuun ihr Wort halten würde.
„Okay, ich tue es.“
„Ausgezeichnet!“, mit diesem Wort ließ Sasuun den Welpen auf den Boden fallen, ergriff Lee, nahm ihr Messer und war im nächsten Moment mit ihr verschwunden.


Kapitel 37: Treulosigkeit und Schadenfreude!

Lui und Jan sahen sich erschrocken an. Jan rannte zu Jack und versuchte verzweifelt die Stricke zu zerschneiden. Schließlich drängte Lui ihn weg und murmelte einen Spruch.
„Efni uthraz fen!“ Die Fesseln gingen auf und fielen auf den Boden. Lees Vater sank auf die Knie.
„Lui!“, flüsterte er schwach. „ Du musst Lee finden. Schnell. Es wird schon dunkel. Um Mitternacht ist die Macht der Sommersonnenwende am stärksten.“
„Lauf ruhig!“, sagte Jenny „Wir kommen nach. Wir müssen erstmal ihrem Vater helfen, er ist sehr schwach.“
„Macht euch keine Sorgen um mich!“, antwortete Jack schwach.
„Wir bringen ihn zur Lichtung, aber einer muss Lee finden!“, sagte Jan und sah Lui an. Ohne noch mehr Zeit zu verschwenden, drehte Lui sich um und rannte los. Lilian rannte vor ihm her und schien ihm den Weg zu zeigen. So schnell er konnte, raste er ihr nach.





Im Nebel gehüllt stand Lee da. An einen Pfosten gefesselt. Allein. Traurig. Selbst Lilian war nicht bei ihr. Es war der einzige Weg, sagte sie sich immer wieder. Die zwei Falken waren Sasuun und ihr gefolgt und beobachteten sie. Sasuun rührte einen rötlichen Brei zusammen. Als sie auf Lees Haut kleine Muster damit zeichnete, merkte Lee, dass es endgültig war. Sie würde sterben.
„Eine Frage noch“, sagte Lee. „Warum ich?“
Sasuun sah sie hochmütig an. „Du hast eine starke Kraft und ihr wart so leicht zu beeinflussen. Es wäre noch besser, wenn ich die Kraft von deinem kleinen Freund auch noch haben könnte.“ Lee zuckte zusammen.
„Aber du hast…versprochen, dass sie gehen können!“, schrie sie verzweifelt.
„Ja, aber was willst du jetzt dagegen tun?“, sagte Sasuun und beugte sich hochmütig zu ihr herunter. Da merkte Lee, dass sie in eine Falle getappt war. Wütend zog sie an den Fesseln, doch sie saßen zu fest. „Nein! Du hast es versprochen.“
„Auch du meine Güte. Brich nicht gleich in Tränen aus. Sieh es doch mal positiv: Ihr werdet euch im Himmel alle wieder sehen.“
Lee schluckte ihre Tränen hinunter. Natürlich würden ihre Freunde sie suchen. Wie dumm sie gewesen war. Hatte sie echt geglaubt Sasuun würde ihre Versprechen halten?
Plötzlich tauchte ein Schmetterling neben ihr auf. Nein, kein Schmetterling! Fauna! Sofort änderte sich Lees Stimmung. Eine Woge von Hoffnung erfüllt sie, denn nun flog eine riesige Wolke auf sie Berg zu. Es waren alles Blumenelfen, die hier waren um ihr zu helfen. Keiner war darauf vorbereitet, als die große Wolke zum Angriff überging. Sasuun war überrumpelt und brüllte einen Zauberspruch nach dem anderen. Plötzlich konnte Lee zwischen den ganzen Elfen auch einen weißen Wolfswelpen mit einem schwarzen Fleck und einen Jungen mit blonden Haaren ausmachen. Auf einmal keifte Sasuun einen Zauberspruch, der alle zusammenzucken ließ. Lee hörte die Stimmen der Blumenelfen aufschreien. Eine zweite Wolke aus Elfen stieß hinzu, doch keine, die da war um ihnen zu helfen.
„Nein!“, hörte sie Lui flüstern, der plötzlich neben ihr war. „Efeuelfen.“ Die beiden Wolken lieferten sich einen erbitterten Kampf, während die Falken aufstoben und nach den Blumenelfen schnappten. Auf einmal waren Lui, Lilian und Sasuun allein unten auf der Erde. Lui richtete sein Messer auf Sasuun.
„Lui, hast du nicht vor deiner Freundin was zu sagen?“, fragte Sasuun grinsend.
„Was meint sie?“, fragte Lee.
Lui schwieg. Er hatte ihr nicht erzählt, was ihm die Königin der Blumenelfen gesagt hatte. Er wollte es selbst nicht glauben. Er wollte nicht!
„Wenn du es ihr nicht sagst, sag ich es ihr!“, sagte Sasuun höhnisch.
„Nein!“, fuhr Lui sie an.
„Lui, was ist los?“, fragte ihn Lee eindringlich. Lui konnte nicht antworten, es war zu schmerzhaft.
„Er ist mit mir innerlich verbunden!“, sagte Sasuun schadenfroh. „Wenn ich sterbe, stirbt er. Doch wenn er stirbt, bleibe ich am Leben.“
„Lui, was meint sie damit?“, fragte Lee ängstlich. Sasuun musste lügen. Das konnte nicht wahr sein.
„Früher als ich noch ein Baby war“, begann Lui, „wurde ich verschleppt, wie dein Vater. Es war ein Schamane dieses Stammes. Sein Name war Lubomir. Er spürte meine Kraft und wollte sie haben. Doch in dem Moment, als er mit einem unheilvollen Spruch beginnen wollte, kam der Stamm, um mich zu retten. Lubomir blieb nur noch Zeit für ein kurzes Ritual. Einem bei dem er mich wieder finden konnte. Er wollte sich mit mir verbinden. Doch dafür musste ich seinen Namen tragen. Er vollführte das Ritual so schnell er konnte, danach half ihm seine vierzehnjährige Tochter zu verschwinden. Ich musste seinen Namen für immer tragen, bis er mich finden und mir meine Kraft nehmen würde. Doch er starb und seine einzigen Verwandten waren seine Tochter und sein Sohn. Sasuun und Marek. Der Zauber geht auf den nächsten Verwandten über. Sasuun ist die einzige, die noch lebt. Sie hatte andauernd die Kontrolle über mich. Sie hätte euch alle durch mich töten können, doch sie tat es nicht, weil sie all eure Kräfte wollte. Besonders deine, Lee. Aber es ging nie wirklich nur um dich. Sie wollte dich und mich.“ Er machte eine Pause. „Meine Eltern hatten Angst, doch weil sie den Namen nicht ändern konnten, da sie so den Schamanen herbeigerufen hätten, dachten sie sich, dass sie den Namen abkürzen sollten.“ Er schwieg. Lee führte den Satz zu Ende. „Und so wurde aus Lubomir Lui.“ Sie schüttelte den Kopf fast, als ob sie wach werden wollte. „Wieso hast du mir das nicht gesagt?“, fragte sie erschüttert. „Du hättest uns alle töten können.“
Lubomir stand ausdruckslos da und sah Lee an. Sasuun lächelte schadenfroh. Lee schwieg. Wieso hatte er sie verraten? Sie senkte den Blick, um Lui nicht mehr sehen zu müssen. Den Jungen dem sie vertraut hatte, der ihr bester Freund geworden war, dem sie alles erzählt hatte und....den sie liebte. Eine Träne rollte ihre Wange hinunter. Lui verzog schmerzerfüllt das Gesicht. Er kniff die Augen zu und wünschte sich weg. Weg von diesem Ort und seinem furchtbaren Verbrechen. Er hätte gar nicht erst mitkommen dürfen. Navaje hatte ihm gesagt, dass er unkontrollierbar war. Er bemerkte nicht, wie viele Elfen tot zu Boden fielen.
Doch plötzlich fiel eine direkt vor seine Füße. Ihre Flügel waren ausgerissen und ihre kleiner zierlicher Körper, war ganz weiß.
„Fauna!“ Lubomir kniete sich neben die kleine Elfe. In dem Moment, als er den kleinen, zerbrechlichen, Körper der Elfe berührte, wusste er, was er zu tun hatte. Hasserfüllt sah er Sasuun an. Und wenn er dafür sterben musste! Es gab keine andere Möglichkeit.
„Mordus razor!“


Kapitel 38: Kobolde!

Der Zauber traf Sasuun und sie verschwand in einer Rauchwolke.
„Hast du echt geglaubt, du würdest mich so leicht loswerden?“, hörten sie Sasuuns Stimme.
Auf einmal und völlig unerwartet brach Lui zusammen und schrie schmerzerfüllt auf.
„Hör auf!“, schrie Lee. „Bitte! Hör doch auf!“ Lui wand sich quälend vor ihr auf dem Boden. Lee überkam Angst, während sich Lilian sofort zu ihr rettete und winselnd den Schwanz einzog.
„Lui“, fuhr Sasuuns Stimme fort „Du kannst dich immer noch entscheiden. Du kannst mit mir mächtiger werden, als alles andere. Zusammen könnten wir die Welt beherrschen.“
Lui schnappte nach Luft, als die Qualen aufhörten.
„Beherrschen?“, keuchte er und grinste rebellisch. „Du meinst wohl eher unterdrücken.“ Eine neue Welle des Schmerzes durchfuhr ihn. Sein Schrei hallte in Lees Kopf wieder. Als Lui wieder keuchend am Boden lag, vernahm Lee ein Knurren. Lilian stand neben ihr und knurrte in Richtung des Waldes.
Was ist?, fragte sie.
Etwas Böses kommt auf uns zu!
Was ist es?
Ich weiß es nicht, ich hab kein Wort für so etwas!
„Du wirst es noch bereuen, dich mir widersetzt zu haben. Ich kann dich töten, doch du mich nicht!“ Sasuuns Stimme war kalt. Ohne Gnade. Lee hörte Grunzen, Schaben und das Getrampel kleiner Füße. Lilians Knurren wurde lauter. Lui lauschte entsetzt.
„Kobolde!“, keuchte er. Woher er das wusste, war ihm schleierhaft. Doch er war es nun schon gewöhnt Sache zu wissen, die er eigentlich gar nicht wissen konnte.
Als der erste Kobold durch das Dickicht brach, stürzte sich Lilian auf ihn. Sie gingen Lee bis zu den Knien, waren pelzig und hatten kleine, spitze Zähne. Das Gesicht ähnelte einer Katze, wenn man von den großen, braunen Augen absah. Zwanzig bis dreißig Kobolde stürmten aus dem Wald. Lilian packte einen anderen und brach ihm das Genick. Zehn Kobolde stürzten sich auf sie. Lee schrie auf, als Lui wie der Blitz angerannt kam und mit einer schnellen Handbewegung zwei Kobolde von Lilian wegschleuderte, dann wandte er sich zu Lee und flüsterte schnell: „Efni uthraz fen!“ Lees Fesseln lösten sich, während Lui sich erneut vor Schmerzen krümmte. Als Lee frei kam stürzten sich von allen Seiten Kobolde auf sie. Lui lag immer noch am Boden und schrie und Lilian versuchte verzweifelt selbst frei zu kommen, um Lee zu helfen. Spitze Zähne bissen in Lees Arme, zerkratzten ihr Gesicht und kniffen in ihre Beine. Lee schrie auf und tastete nach ihrem Messer. Es war nicht bei ihr.
Lilian!, schrie sie. Lilian!
Lee!, winselte der Welpe und versuchte zu ihr zu kommen, doch die Kobolde ließen sie nicht näher kommen. Plötzlich ließen mehrere Kobolde von ihr ab. Viele bluteten oder waren schon tot. Lee bemerkte, dass Lui sich zu ihr durchkämpfte. Er schaffte es sie hinauszuziehen. Doch die Kobolde stürzten sich erneut auf sie. Plötzlich hatte einer von ihnen ein Messer im Rücken. Die Kobolde schienen inne zu halten und sahen sich nach dem neuen Angreifer um. Jenny! Lui krümmte sich erneut vor Schmerzen. Er keuchte schwer, doch Lee wagte nicht ihn zu berühren. Aus Angst es würde ihm noch mehr wehtun.
„Was macht sie nur?“, flüsterte sie leise und sah Lui ängstlich an. „Was macht sie nur mit dir?“ Sie sah sich um und versuchte die Schamanin irgendwo zu entdecken. „Sasuun! Was machst du mit ihm? Was machst du nur? Hör auf!“, schrie sie. Lees Blick fiel wieder auf Jenny.
„Jenny!“, rief Lee. Schon setzte sich das Mädchen in Bewegung und lief zu ihr. Hinter ihr tauchte Jan auf. Er nickte Lee kurz zu und hielt ihnen mit Jason, Lilian und Jamie die Kobolde vom Leib, damit sich Lee und Jenny um Lui kümmern konnten.
Kann ich mich darauf verlassen, dass du mir den Rücken frei hältst?, fragte Lee den Welpen.
Ich werde tun was ich kann!, antwortete Lilian und stürzte sich an die Front.
„Lee!“, Lui keuchte „Sie ergreift Besitz von mir. Ihr müsst sofort von hier verschwinden!“
Lee schüttelte ungläubig den Kopf.
„Lee, lauft! Ich komm schon…“, er lächelte mühsam „Ich komm schon klar.“ Als über ihnen ein Adler auftauchte, zogen sich die Kobolde kreischend zurück.
„Ich schätze das ist genug!“, hörten sie Sasuuns Stimme. „Hast du dich entschieden, Lubomir?“
„Lauft, schnell! Sonst muss ich euch töten und ihr habt gegen Sasuun und mich zu kämpfen!“, sagte Lui gepresst. Lilian lief zu Lee und wollte sie mit sich ziehen.
„Sie wird mir nichts tun, Lee! Noch nicht.“ Er sah sie bittend an. „Bitte, geh! Ich weiß, dass ich dich verraten habe, doch tue mir wenigstens diesen einen Gefallen und geh. Es ist wahrscheinlich das Letzte, was du für mich tun kannst.“ Lee sah auf den Boden. Sie wollte nicht antworten, geschweige denn von Lui Abschied nehmen, der ihr nun irgendwie ganz fremd vorkam. Die Kobolde waren verschwunden. Das Blut klebte noch an Lilians Fell, als sie sich an Lee schmiegte.
„Lee!“, sagte Jan und packte sie am Arm. „Lui hat Recht! Sie wird ihn noch nicht töten. Dein Vater ist unbeaufsichtigt.“ Schweigend stand Lee auf und lief mit Lilian ohne sich umzuschauen in den Wald hinein. Jenny und Jan, von Jamie und Jason begleitet, folgten ihr. Sie waren kaum ein paar Meter gerannt, als sie Luis Schreie erneut hörten. Doch sie waren zu schockiert um sich umzudrehen. Lees Gesicht war ausdruckslos und wenn Jan nicht ihre Tränen gesehen hätte, hätte er geglaubt, es sei ihr egal. Als sie die Lichtung erreichten, sahen sie zu ihrer großen Überraschung Navaje und Pachu, die Lees Vater in dem Moment einen bläulichen Trank gegeben hatten, mit dessen Hilfe er sofort eingeschlafen war.
„Pachu!“, rief Lee und ließ sich in seine Arme fallen. „Pachu, was macht ihr denn hier?“
Sanft streichelte ihr Pachu übers Haar. „Navaje meinte ihr bräuchtet Hilfe und da sagten wir, dass es uns egal ist was die Prophezeiung sagt. Es steht ja nirgendwo, dass wir nicht mitkommen dürfen.“ Lee lächelte, doch dann fing sie an zu schluchzen.
„Was ist passiert? Wo ist Lui?“ Pachu kniete sich vor sie auf den Boden und streichelte ihr die zerzausten Haare aus dem Gesicht. Lee erzählte ihm alles, was sie wusste.
Navaje sah sie ernst an, dann senkte sie den Blick. Im nächsten Moment war sie zwischen den Bäumen verschwunden. Pachu sah ihr nachdenklich nach.
„Wo will sie hin?“, fragte Jenny.
„Ihr müsst zurück zu Lui!“, sagte Pachu ohne auf Jennys Frage eine Antwort zu geben. „Auf der Stelle!“
Die Kinder sahen ihn verblüfft an.
„Wir können nicht gegen unseren Freund kämpfen!“, sagte Jan.
„Navaje ist euch zu Hilfe gekommen!“, sagte Pachu.
„Das kann ich nicht!“, sagte Jenny.
„Hört zu. Ich habe nicht gesagt, dass ihr gegen ihn kämpfen müsst.“
„Aber selbst, wenn wir gegen Sasuun kämpfen und sie töten, dann stirbt Lui auch!“, sagte Lee.
„Ihr müsst mir vertrauen!“, sagte Pachu „Lauft zurück! So schnell ihr könnt, ehe es zu spät ist.“ Zweifelnd nickten die Kinder, dann rannten sie so schnell sie ihre Füße trugen zurück.


Kapitel 39: Undenkbar!

Lui versuchte sich mit aller Macht, die er aufbringen konnte gegen Sasuuns Kraft zu wehren. Höllenqualen durchzuckten seinen Körper.
„Hör auf, dich zu wehren. Es ist sinnlos!“, hörte er Sasuuns Stimme. Er wusste, dass sie wieder vor ihm stand. „Du hast sie weggeschickt. Sie werden dich nicht holen kommen.“
Lui schrie. Es war, als ob er in Flammen stünde.
„Entweder du bist mir behilflich, oder ich töte dich!“, raunte Sasuun ihm ins Ohr.
„Der Tod ist mein Schicksal, wie es scheint“, keuchte Lui „und keiner kann den Tod bezwingen.“ Wütend hob Sasuun ein Messer und stieß es hinab, doch auf Luis Brust ließ sie es sanft mit der Spitze ruhen, wie einen Stift. Lui kniff die Augen zusammen.
„Du bist stark, Lui, doch ich bin stärker und auch wenn ich dich nicht dazu gebracht habe meinem Willen zu folgen, so habe ich am Ende doch gewonnen.“ Sie holte mit dem Dolch aus und wollte ihn hinunter stoßen, als ein riesiges Tier aus dem Gebüsch sprang und Sasuun zu Boden drückte. Erschrocken setzte Lui sich auf. Ein grauer Wolf, so groß wie ein Pferd.
Lui bemerkte, wie Sasuun nun mehr Besitz von ihm ergriff und ehe er noch wusste wie ihm geschah stürzte er sich auf den grauen Wolf, der ihn eben gerettet hatte. Knurrend drehte sich der Wolf zu ihm um. Lui fiel auf, dass er ebenfalls knurrte. Sasuun richtete sich wieder auf, während Lui sein Messer zog. Der graue Wolf funkelte Lui wütend an.
„So ist es gut, Lubomir. Zusammen schaffen wir das!“, sagte Sasuun lächelnd und zog ihr Messer in einer so blitzschnellen Bewegung, dass der Wolf gerade noch rechtzeitig ausweichen konnte, um dem Messerstoß zu entgehen. Lui spürte Sasuuns Kraft in seinem Kopf, die ihm befahl, den Wolf zu töten. Er konnte sich nicht dagegen wehren. Sasuun und Lui umkreisten den Wolf mit ihren Messern. Der Wolf knurrte. Plötzlich fühlte Lui eine andere Kraft, die ihm befahl wieder zu sich zu kommen. Er bemerkte, dass der Wolf ihm direkt in die Augen starrte. Die beiden Kräfte wehrten sich in seinem Körper gegeneinander. Lui wurde schwarz vor Augen, die beiden Mächte verdrängten ihn völlig. Plötzlich schleuderte Sasuun ein Messer nach dem Wolf. Sofort stand Lui wieder unter Sasuuns Kontrolle. Sasuun lachte und löste sich in eine Rauchwolke auf, bevor der Wolf auf sie zu springen konnte. Plötzlich stoben die zwei Falken vom Himmel hinab. Die beiden Elfenvölker bekämpften sich immer noch heftig. Die Falken hieben mit ihren spitzen Schnäbeln auf den Wolf ein. Ein Pfeil durchzuckte den Himmel und landete knapp neben Lui. Lui bewegte sich nicht. Er starrte vernichtend auf die Person, die den Pfeil abgeschossen hatte. Lee! Als sie den Wolf sah, der mit dem beiden Falken kämpfte, stutzte sie kurz, dann machte sie einen Bogen um den Wolf und die Falken und stand schließlich vor dem Jungen.
Lui funkelte sie an. Hinter Lee waren nun auch Jan und Jenny hervor getreten. Sie hielten sich im Hintergrund, wegen dem Wolf.
„Lui?“, fragte Lee vorsichtig. Er kniff die Augen zusammen, fast als ob er sich an etwas Schmerzhaftes erinnerte.
„Wir sind es!“, sagte Jan, der ein paar Schritte näher gekommen war. „Du kannst mit uns kommen.“
„Du kennst uns doch. Was hast du denn?“, fragte Jenny verzweifelt.
Lui versuchte sich gegen den Drang zu wehren. Gegen den Befehl, den Sasuun ihm gegeben hatte. Mit aller Macht versuchte er sie aus seinem Körper zu vertreiben. Seine Hand umfasste das Messer noch fester. Langsam näherte er sich seinen Freunden.
„Lui?“, fragte Lee ängstlich. Die Welpen jaulten auf, als er sich auf sie stürzte. Ängstlich wichen die drei Freunde den Messerstichen aus. Jan zog sein Messer und wehrte die Messerstiche ab.
„Lui!“, rief er. Lui hielt für einen Moment keuchend inne. „Lui!“, sagte Jan noch mal und ließ das Messer fallen. „Ich bin es doch. Ich werde ganz sicher niemals gegen dich kämpfen und das werde ich auch jetzt nicht tun.“
Lui keuchte, doch er schien ihm nicht zuzuhören. Auf einmal schubste er Jan bei Seite und wehrte Jason ab, der sich auf ihn gestürzt hatte. Dann stürzte er sich auf Jenny, die ihm am nächsten stand. Doch bevor er sie erreichte, schoss der riesige Wolf auf sie zu, schnappte Jenny mit den Zähnen und rannte mit ihr ein paar Meter weiter. Lee torkelte zurück. Der graue Wolf sah ihr direkt in die Augen.
Das kannst nur du schaffen!
Lee bemerkte, dass der Wolf recht hatte. Lui kam näher und hob bedrohlich das Messer.
„Lui?“, flüsterte Lee ungläubig. Plötzlich stolperte sie über eine Wurzel und fiel hin. Verletzt blieb sie auf dem Boden liegen. „Ich hatte dir vertraut.“, schluchzte sie. „Die ganze Zeit vertraute ich dir, bei meinem Leben!“
Kalt sah der Junge auf sie hinab. „Ich bitte dich, Lui. Wach auf! Hör auf damit! Bitte! Du bist nicht so wie Sasuun, oder wie ihr Vater Lubomir, und das weißt du auch. Dir darf einfach nichts geschehen.“ Ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Lui, bitte!“, sie schluchzte Lui bewegte sich noch immer nicht.
„Bedeute ich dir denn so wenig?“, flüsterte sie, während ihr die Tränen übers Gesicht liefen. Sie bemerkte wie Jan aufstehen wollte, doch von Jason zurückgeworfen wurde und ihn daran hinderte zu ihr zu kommen. Jenny sagte nichts. Der graue wolf stand ihr im Weg. Sie sah ihre Freundin einfach nur an. Ungläubig, ängstlich und ein Mischmasch aus vielen Gefühlen. Lee war auf sich allein gestellt. Sie zwang sich wieder zu Lui zu sehen, denn der graue Wolf sah sie so durchdringend an, dass sie ein ganz mulmiges Gefühl bekam. Der Junge hatte sich noch immer nicht bewegt.
„Lui, bitte! Du warst mein bester Freund. Willst du all das wegwerfen? All die Jahre? All die Sachen, die wir zusammen durchgemacht haben? Wenn du das so siehst, dann kannst du mich von mir aus umbringen.“ Sie starrte Lui durch tränenverschleirtem Blick an. Benommen schüttelte der Junge den Kopf.
„Lee?“, flüsterte er verwirrt. Er spürte wie er mehr Kraft gewann und wie er sich gegen Sasuun aufstemmen konnte. Er spürte, dass sie schwächer wurde. In Gedanken schickte er noch einen verzweifelten Zauber an sie. „Mordus razor!“
Dann wurde alles schwarz.


Kapitel 40: Anders als zuvor!

Lee sah wie Lui vor ihr zusammensackte und auf den Boden fiel. Sie rührte ihn nicht an. Sie blieb sitzen, während Jenny, Jan und Navaje auf sie zugerannt kamen. Sie fragte sich, ob er sie verstanden hatte oder ob er so sehr unter Sasuuns Kontrolle gestanden hatte, dass er nichts wahrgenommen hatte. Die Falken waren verschwunden. In der Luft grölten die Blumenelfen ihren Sieg, während die zweite Wolke flüchtete. Gelächter war in der Luft, doch es erstarb sogleich, als man die tote Prinzessin entdeckte, die Jenny in den Armen hielt. Klagelieder hallten nun über die Freudenschreie, bis das ganze tapfere Volk in das Lied mit einstimmte. Es war so schön, dass Lee die Tränen herunter liefen. Ein Elfenkrieger beugte sich über die tote Prinzessin und schluchzte so herzzerreißend, dass Lee ihr eigener Kummer gar nicht mehr auffiel. Das in einer so kleinen Gestalt so viel Kummer stecken konnte. Sasuun war nicht mehr aufzufinden. Navaje legte ihr eine Hand auf die Schulter. Lee beachtete sie nicht.
„Wo warst du?“, fragte Lee.
„Ich war die ganze Zeit bei dir!“, sagte Navaje.
„Nein. Da war nur dieser…Wolf!“, sie zögerte, dann sah sie Navaje aus großen Augen an.
„Das warst du, nicht wahr?“, fragte sie. Navaje schwieg.
„So wirst du vielleicht auch bald sein, aber noch bist du ein Mensch!“, antwortete sie mit einem Seitenblick zu Lilian, die sich an Lee schmiegte.
„Werde ich dann auch so groß wie du als Wolf?“, fragte das Mädchen.
Navaje nickte und setzte sich neben sie.
„Wo ist dein Wolf?“, fragte Lee. Navaje seufzte und wich ihrem Blick aus.
„Wenn du wirklich eins bist mit deinem Wolf, geht er in dich über und du kannst dich in ihn verwandeln nur doppelt so groß. Du bist dann so groß wie ein Pferd.“
„Und dein Wolf ist…?“, fragte Lee entsetzt.
„…in dir drin!“, sagte Navaje. Ängstlich schmiegte sich Lilian noch fester an sie. Lee drückte sie an sich.
„Wann wird das geschehen?“, fragte sie.
„Das ist bei jedem unterschiedlich.“
„Aber das ist ja furchtbar!“, hörte Lee Jan hinter sich sagen. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass Jan und Jenny zugehört hatten.
„Damit muss man leben. Man kann es nicht ändern!“, sagte Navaje achselzuckend.
„Wo ist Sasuun?“, fragte Jenny, um das Thema zu wechseln.
„Sie ist geflohen!“, knurrte die Frau. Ihre Stimmungsschwankungen waren echt enorm.
„Lui hat einen Zauber auf sie gerichtet. Sie wird ihre Kräfte sammeln und dann wiederkommen. Doch wenn es so weit ist musst du dir das, was ich dir jetzt sage genau merken.“ Lee nickte verwirrt. „Sasuun wurde von unserem Stamm ausgestoßen. Bestimmt hast du das Lederband um ihrer Stirn bemerkt. Auf dem Band ist ein Adler eingeritzt, das Zeichen einer Verstoßenen, denn der Adler steht für Einzelgänger und Vogelfrei. Lee, wenn eine Indianerin verbannt wird, kann sie ihre Magie nicht mehr im Körper festhalten, dafür trägt sie so ein Lederband. Wenn man ihr dieses Lederband während dem Kampf wegnehmen würde, wird sie schwächer sein.“
„Also soll ich das nächste mal probieren ihr das Lederband zu entreißen?“, fragte Lee mit hochgezogener Augenbraue. Navaje nickte. „Vergiss es nicht, Lee! Es könnte dir das Leben retten!“ Lee nickte und sah auf die Elfen, die sich auf den Nachhauseweg machten. Der kleine Elfenkrieger, der um Fauna geweint hatte, schritt nun tapfer zu ihnen herüber. „Gefährten, es war uns eine große Ehre mit euch zu kämpfen.“ Navaje übersetzte ihnen.
„Ganz Meinerseits, Megon.“, sagte sie. Megon nickte. Dann verschwanden er und die Elfen in der untergehenden Sonne. Lui stöhnte und stützte sich auf die Unterarme.
„So“, begann Navaje „da Lubomir nun wach ist können wir gehen!“
Sie stand auf und lief zu Lui. „Ich werde ihn tragen. Lee du gehst mit Jan und Jenny zurück zu Pachu. Er wird auf euch warten.“ Schon stand sie als Wolf vor ihnen, schob Lui mit der Schnauze auf ihren Rücken und verschwand im Wald. Das letzte was Lee von ihnen sah, waren Lubomirs Auge, die ihre festhielten. Als sie verschwunden waren, stand Lee auf und ging mit Jan und Jenny ohne ein weiteres Wort zurück zur Lichtung. Pachu erwartete sie bereits.
„Wo ist mein Vater?“, fragte Lee ihn.
„Navaje bringt deinen Vater mit Lui zum Lager!“, erwiderte Pachu. „Aber wir schaffen das auch ohne sie.“
Der Rückmarsch war quälender, doch er verlief auch schneller. Er war quälender, weil niemand von ihnen, in den drei Tagen die sie brauchten, ein einziges Wort sprach. Erst als Pachu die Tipis des Wakatistammes sah, sagte er: „Wir sind da!“





Das ganze Lager erwartete sie und jubelte ihnen zu. Doch Lee war nicht zum Jubeln zu Mute. Sie wollte lieber weinen, als sich zu freuen. Sie hatten Opfer gebracht und Leben genommen. Menewa war tot. Drei Falken waren tot. Der Bär war tot. Zwei Weißkopfseeadler waren tot. Luke war tot. Lee wagte gar nicht an all das Blut zu denken, dass sie vergossen hatten. Ihr war schwindlig und sie fand es verwirrend, dass sie dafür gefeiert wurden. Die meisten konnten nichts dafür. Sasuun hatte Menewa verhext schon von Anfang an. Die Adler und Falken waren sowohl ihre Haustiere als auch ihre wandelnden Körper. Sie konnte in den Adler wandeln und ihm so sagen, was er zu tun hatte. Und dass sie jetzt weg war, hieß nicht, dass sie gewonnen hatten. Es hieß nur, dass sie mit mehr Kraft wiederkommen würde.
Der Anfang eines furchtbaren Krieges. Lee spürte nicht, wie ihr hundert Hände auf die Schulter klopften. Schnell schüttelte sie sie ab. Lächelnd kam Häuptling Hasa auf sie zu.
„Ich beglückwünsche euch Kinder. Ihr wart sehr tapfer! Ruht euch jetzt aus, ihr habt bestimmt viel durchgemacht!“ Er wollte sich schon abwenden, da stutzte er. „Ist Menewa nicht bei euch?“
„Ist er denn immer noch nicht zurück?“, fragte Pachu besorgt. Jenny fing an zu schluchzen und erzählte, was mit Menewa geschehen war. Die Indianer waren schockiert und schickten die Kinder sofort in ihre Zelte. Nun Lee wurde endlich klar, dass ihr Vater längst angekommen sein musste. Wo die Kranken versorgt wurden, wusste sie schon. Mit Tränen in den Augen rannte sie davon. Die Stimmen die hinter ihr herriefen, wurden leiser, als sie den Zelteingang zurückschlug. Im Zelt war es dunkel, dennoch vernahm sie ganz deutlich die Atemzüge ihres Vaters. Auf einer Erhöhung, die mit Bisonfellen bedeckt war, lag er und sah sie verwirrt an.
„Papa?“ Lees Stimme klang hohl und monoton. Doch sie wollte etwas ganz anderes ausdrücken. Stöhnend setzte sich Jack im Bett auf.
„Lee!“, flüsterte er. Eine Weile sahen sie sich nur an. Der Mann und das Mädchen. Plötzlich breitete ihr Vater die Arme aus und lächelte. Lee konnte sich nicht mehr zügeln. Sie rannte auf ihn zu und versank in seiner Umarmung.
„Ich habe dich so vermisst!“, flüsterte Lee.
„Ich dich auch, mein Schatz!“, erwiderte Jack.
„Erzähl mir was passiert ist, Papi!“, sagte Lee die Tränen wegwischend.
„Das ist eine lange Geschichte!“, sagte ihr Vater.
„So lange du noch nicht wieder gesund bist, habe ich massenhaft Zeit.“
Jack lachte. „Also schön. In der Nacht bevor ich verschwand hatte ich einen seltsamen Traum.“


Kapitel 41: Jacks Geschichte!

„Jack, ich habe dir doch gesagt ich komme sie holen. Ihre Macht ist stark. Du weißt, dass ich es chaffen werde!“ Sasuuns Stimme war laut und sanft, doch sie brannte wie Feuer in den Ohren.

Schweißgebadet schreckte Jack hoch. Lee! Er schlug die Decke zurück und wollte in Lees Zimmer rennen, da hörte er Sasuun leise lachen. Er hatte gewusst, dass sie hier irgendwo war. Schnell zog er sich etwas über.
„Ich warte draußen auf dich!“, hörte er ihre Stimme in seinem Kopf. Er wollte, das jetzt ein für alle mal mit ihr klären. Sie sollte seine Tochter sofort in Ruhe lassen. Er hatte so lange nichts mehr von ihr gehört, schließlich wurden sie und Marek verbannt. Als er an Marek dachte, bekam er einen Stich. Marek und er waren befreundet gewesen! Er zog vorsichtig die Haustür hinter sich zu und ging auf die Straße.
„Was soll das werden?“, rief er leise. Wieder war nur ein Lachen zu hören. Wütend fuhr Jack herum. Hinter ihm tauchte Sasuun auf. Bedrohlich kam sie auf ihn zu.
„Was soll das werden?“, fragte Jack, während er ein paar Schritte zurück wich.
„Ich weiß, dass du mir deine Tochter nicht überlassen wirst, doch was machst du wenn du dich nicht bewegen kannst?“, fragte Sasuun kalt und ging weiter auf ihn zu.
„Nicht bewegen?“ Jack runzelte verwirrt die Stirn. Er hörte Flügelrauschen hinter sich udn fuhr gerade noch rechtzeitig herum, um den Adler zu sehen, der auf ihn hinabgesaust kam. Schnell sprang er zur Seite.
„Du kannst mir nicht entkommen!“, hörte er Sasuun lachen. Jack biss wütend die Zähne zusammen. Verdammt, er war einfach nicht mehr der Jüngste! Er hatte wirklich keine Chance gegen sie! Früher als er sie kennengelernt hatte, war er achtundzwanzig und Marek und Sasuun vierzehn gewesen. Sie hatten sich doch alle so gut verstanden! Jack hatte sie wie Freund behandelt. Erneut schoss der Adler auf ihn zu. Jack schleuderte einen Stock nach ihm, doch der Adler wich ihm kreischend aus. Jack stolperte rückwärts und lief direkt in Sasuun hinein, die ihm ein Messer an die Kehle hielt.
„Es wäre besser, wenn du dich jetzt nicht bewegst, Jack!“, zischte sie in sein Ohr.
„Du Schlange!“, fluchte Jack. Sasuun grinste, dann spürte er nur noch einen harten Schlag auf dem Hinterkopf und dann nichts mehr.




„Den Rest kennst du!“, sagte Jack und legte den Kopf in die Hände. Lee saß da wie erstarrt, dann fragte sie langsam: „Wie seid ihr hierher gekommen?“
„Mit ihrem Motorboot!“, sagte Jack grinsend. „Ihrem gestohlenen Motorboot!“
„Wo ist das Motorboot jetzt?“, fragte Lee. „Wir haben alle kein Geld, also können wir auch nicht mit einem Flugzeug fliegen oder so! Apropo Flugzeug! Ich glaube ich schulde Onkel Bob ein ganz kleinwenig Geld!“, sagte sie beschämt.
„Lee, was hast du gemacht?“, fragte ihr Vater streng.
„Na, irgendwie musste ich doch nach Nordamerika kommen!“, verteidigte sie sich. „das ist das Erste, was mir eingefallen ist!“
Jack sah sie mit offenem Mund an. „Erzähl mir alles, was passiert ist nachdme ich weg war!“, sagter er schließlich langsam. Lee nickte und fing an zu erzählen.
Als sie geendet hatte, sah ihr Vater ziemlich müde aus. Dann hielt er ihr eine kurze Standpauke, die Lee auch schweigend hinnahm. Doch dann schien Jack wieder einzufallen, dass Lee nur das gemacht hatte, was er ihr im Traum gesagt hatte, auch wenn das gar nicht er gewesen war, sondern Sasuun! Schließlich fluchte er nur noch leise vor sich hin.
„Verdammte Kindererziehung! Bestrafe ich sie jetzt, weil sie mir nachgekommen ist, oder lobe ich sie dafür, dass sie auf mein Schein-Ich von Sasuun gehört hat? Sie hat ja schließlich nur das gemacht, was ich ihr gesagt habe, also es war ja gar nicht ich, aber....“
„Papa!“, wurde er von Lee unterbrochen. „Ich bekommen Kopfweh, wenn du sowas faselst!“
Jack seufzte und schwieg eine Weile.
„Wir müssen mit Sasuuns Motorboot zurückfahren. Es geht nicht anders!“, sagte er schließlich.
„Ist es schnell?“
„Ja! Wir brauchen, schätze ich mal, drei bis vier Wochen.“
Lee stöhnte. „Wir sollten so schnell wie möglich aufbrechen.“





Lui saß in der Mitte einer Menschengruppe. Stimmen redeten auf ihn ein. Er starrte ins Leere und nahm nichts mehr wahr. Weder Navaje, die irgendetwas auf ihn einzureden schien, noch Pachu, der sich seine Wunde, die der Bär ihm vermacht hatte, besah. Plötzlich waren alle weg, nur Navaje stand vor ihm und schüttelte ihn leicht. Zerstreut sah Lui sie an. Navaje zog ihn am Arm hoch und führte ihn mit sich. Unten am Fluss setzten sie sich auf einen Stein. Der Stein war ganz warm. Die ganze Zeit hatte die Sonne auf ihn geschienen. Die ganze Zeit, in der Lui mit seinen Gedanken ganz woanders war.
Es war still. Der Junge war wieder ein wenig zu sich gekommen. Immerhin nahm er jetzt die Zeit, die verstrich wieder war. Ausdruckslos sah er auf den See.
„Namen sind etwas Wertvolles!“, fing Navaje an „Man trägt sie ein Leben lang mit sich und, wie du bemerkt hast, Lubomir, haben sie eine große Macht.“
Der Junge schwieg und sah auf das ruhige Wasser.
„Jan und Jenny. Jan und Jason. Jenny und Jamie. Lui und Lee. Lui und Luke. Lee und Lilian!“, sagte Navaje in einem Singsang und sah Lubomir fragend an. „Fällt dir da überhaupt nichts auf?“
Lui zuckte mit den Schultern.
„Die Anfangsbuchstaben, Lui. Ihr seid miteinander verbunden. Das ist ein Zeichen der Götter.“
„Ich glaube nicht an Götter, Navaje.“
„Dann denk nach, Lubomir. Lee und du ihr seid euch näher, als sonst irgendjemand. Und du und Luke ihr wart…verbunden, Lui! Das ist kein Zufall.“
Lui sah zu den Zelten. Er wollte nicht darüber reden. Luke war tot und diejenige die ihn umgebracht hatte, lief noch immer frei herum.
Navaje seufzte. „Lui, falls es dich interessiert“, sie machte eine Pause, „ich glaube, ich weiß was ein Wolfskopf ist.“
Sofort sah Lui sie an. Navaje lächelte. „Das interessiert dich, hab ich Recht? Ich glaube du weißt es selbst schon.“
Lubomir stöhnte auf. „Navaje! Ich habe Leyla verloren. Ich habe Luke verloren und ich will einfach nur wissen, was hier los ist.“
„Als Leyla dich rettete, vermischte sie euer Blut und gab dir dadurch ihre Energie. Wie sie das gemacht hat, weiß ich noch nicht, aber Wölfe waren ja schon immer sehr geheimnisvoll. Da Leyla Lukes Mutter ist, fließt ihr Blut in seinen Adern. Luke wurde getötet, dennoch ist sein Blut in dir.“
„Und was passiert jetzt mit mir?“
„Das musst du selbst herausfinden.“
Lui sah sie prüfend an. „Du weißt es nicht, nicht wahr?“
Navaje lächelte nur traurig. „Nein, das weiß ich nicht! Aber das findest du selbst heraus. Doch pass auf, du musst dich immer unter Kontrolle haben. Für mich war es schon ein großes Schock, als ich selbst herausgefunden habe, was ein Seelenwolf ist, obwohl ich wusste, was mit mir passieren würde.“
„Und du denkst mir würde es helfen, wenn ich es alleine rauskriege?“, fragte Lui gekränkt.
„Ja!“, sagte Navaje. Sie klopfte ihm tröstend auf die Schulter und stand auf. Dann drehte sie sich um und ging ohne noch ein weiteres Wort zu sagen. Verärgert sah Lui ins Wasser. Plötzlich nahm er eine kleine Gestalt im Wasser war. Ein schwarzer Wolfswelpe mit einem weißen Fleck auf der Stirn. Sofort sprang Lui auf.
„Luke! Ich komme!“ Er sprang in das kalte, klare Wasser und tauchte vergeblich nach dem kleinen Welpen. Immer wieder griff er ins Leere. Schließlich tauchte er erschöpft und schluchzend wieder auf. Luke war tot. Aber er hatte doch ganz deutlich einen schwarzen Welpen im Wasser gesehen. Einen schwarzen Welpen mit einem weißen Fleck auf der Stirn.





Die Kinder saßen mit ihren Welpen auf einer Wiese. Jeder hielt seinen fest umschlungen. Lee und Lilian. Jan und Jason. Jenny und Jamie. Nur Lui war nicht dabei.
„Navaje sagte, wir sollen die Welpen mitnehmen!“, fing Lee an.
„Das erlauben meine Eltern nie!“, warf Jan sofort ein.
„Ich habe mir schon alles überlegt!“, sagte Lee lächelnd. „Sie werden im Wald leben. Das ist ihr natürliches Zuhause und ich glaube nicht, dass sie weglaufen würden!“
„Aber was ist, wenn sie jemand findet?“, gab Jenny zu bedenken.
„Wir müssen sie nun mal verstecken!“, erwiderte Lee. „Eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Wir lieben unsere Welpen und sie lieben uns. Wir können uns nicht von ihnen trennen.“
Jan nickte, während er Jason gedankenverloren über den schwarzen Kopf strich. Der Welpe lag zusammengerollt in seinem Schoß. Während Jamie die Ohren gespitzt hatte, neben Jenny saß und sich mit wachsamen Augen umsah. Lilian hatte sich an Lee geschmiegt und atmete ruhig ein und aus. Plötzlich sahen alle Welpen in dieselbe Richtung. Die drei Freunde hörten ein Knacken. Angespannt zischten drei Hände gleichzeitig zu den Messern an ihren Gürteln.
„Ich bin’s nur!“, hörten sie eine Jungenstimme. „Navaje sagt, dass wir los müssen!“
Lui trat auf die Wiese.
„Schön dann lasst uns gehen.“, sagte Jan ein wenig bissig in Luis Richtung gewandt. Jan hatte ihm noch nicht verziehen. Und wenn Lee genau nachdachte, sie ihm auch nicht. Schweigend standen sie auf. Lui drehte sich um und ging ihnen voraus. Als sie ankamen packten sie ihre Sachen. Lilian, Jamie und Jason rannten aufgeregt umher.
Lilian winselte udn blieb immer dicht neben Lee. Wie ein Schatten!, dachte Lee.
Was hast du denn?, fragte sie schließlich den Welpen und streichelte ihn sanft. Der Welpe zog winselnd den Schwanz ein und schmiegte sich fest an Lee. Das Mädchen umarmte ihn sanft.
Du gehst!, sagte Lilian. Sie schloss schmerzhaft die Augen. Was wenn du mich hier zurücklässt?
Lee drückte Lilian noch fester an sich. Ich lass dich nicht zurück!, versprach sie. Der Welpe leckte ihr übers Gesicht.
Ich will immer bei dir sein!, jaulte er. Lee lächelte mit einem merkwürdigen Glanz in den Augen.
Ich will auch immer bei dir sein! Keine Sorge! So lange wir leben, kann uns nichts trennen! Lee streichelte Lilian einmal übers Fell und wandte sich dann wieder ihrer Tasche zu. Doch trotzdem bieb der Welpe immer neben ihr.
Der Einzige, der nicht packte war Lui.
Als Lee ihn darauf ansprach, antwortete er nur kalt: „ Ich bleibe hier!“
„Du kannst nicht hier bleiben. Denk an deine Familie!“, sagte Lee entgeistert. Eigentlich meinte: Denk doch mal an mich! Doch das sagte sie ihm nicht. Lubomir schwieg. Dann wandte er sich ab, doch später entdeckte Lee ihn, wie er seine Sachen in den Rucksack stopfte. Sie lächelte. Er würde doch mitkommen!
Am Mittag war der ganze Stamm versammelt.
„Ihr werdet wiederkommen!“, sagte Navaje. Es klang weder wie eine Frage, noch wie eine Tatsache. Die Kinder nickten.
„Jan!“, Häuptling Hasa schritt zu ihm hinüber. „Der Stamm und ich dachten, es würde dich freuen, dir das zu schenken.“ Er überreichte ihm einen länglichen Gegenstand, der in Büffelleder eingewickelt war. Jan schlug das Leder zurück und besah sich ein etwa dreißig Zentimeter langes Kampfmesser.
„Danke!“, sagte er und fuhr mit den Fingern über die scharfe Klinge. Häuptling Hasa lächelte und ging zu Jenny weiter.
„Jenny, für dich habe ich etwas ganz besonderes.“ Auch ihr überreichte er ein Bündel, welches in einem Ledertuch eingewickelt war. Doch ihres war kleiner und runder. Schnell riss sie das Tuch herunter und jauchzte auf vor Freude. „Wurfsterne!“, rief sie fröhlich. „Richtige, echte Wurfsterne.“
Sie waren schmal, bestanden aus Eisen und hatten sechs Zacken. Während Jan und Jenny ihre Geschenke noch bewunderten, schritt Häuptling Hasa zu Lui.
„Lubomir!“, sagte der Häuptling feierlich und überreichte ihm das Selbe wie Jan. Lui wusste schon, was sich unter der Lederhaut verbarg. Er wollte es nicht sehen. Dennoch sollte er das Geschenk nicht ablehnen, wenn er die Indianer seine Freunde nennen wollte.
„Das Messer Lubomirs!“, sagte Häuptling Hasa. „Er trug es fast immer bei sich.“ Lui sah weg. Dieses Messer hätte ihn fast umgebracht. Schweigend nahm er es und trat einen Schritt zurück. Warum will der Häuptling, dass ich das Messer von dem Menschen bekomme, der mich umbringen wollte?, fragte er sich. Der Indianer runzelte leicht die Stirn. Dann wandte er sich an Lee.
„Dein Geschenk, Lee. Ist der Bogen, den du vor deiner Reise von uns bekommen hast!“, sagte er. „Wir haben ihn für dich neu eingefettet und eine neue Sehne eingespannt.“ Er überreichte ihr den Bogen. Lee striff die Lederhaut ab.
„Ich dachte schon, ich hätte ihn verloren!“, sagte sie leise. Pachu, der neben Häuptling Hasa getreten war, um zu sehen, wie Lee reagierte, lachte. „Jetzt hast du ihn ja wieder. Wir wollten dir keinen Schreck einjagen.“ Lee lächelte und streichelte Lilian, die sich an sie schmiegte. Mit dem Rücken ging ihr Lilian nun bis zur Mitte ihres Schenkels. Sie war ein gutes Stück gewachsen. Als Lee die Welpen zum ersten Mal gesehen hatte, waren sie so tapsig und klein gewesen, dass man meinen konnte, sie wären gerade erst geboren worden. Ihr Vater stand hinter ihr und hatte ihr eine Hand auf die Schulter gelegt. Er hatte sich unglaublich schnell erholt. Lee wünschte sich, sie hätten noch länger in Nordamerika bleiben können.


Kapitel 42: Aufbruch!

Nach einer Weile standen sie am Hafen und sahen auf ein relativ großes Motorboot hinab. Man konnte unter Deck gehen ohne, dass man aneinander stieß. Und Segel hatte es auch. Sasuun hatte echt das teuerste Boot gestohlen. Die See war ruhig und so konnten sie ohne große Umstände so weit raus fahren, dass man das Land kaum noch erkennen konnte. Die ganze Nacht war ihr Vater auf den Beinen und fuhr das Boot. Am Tag legte er sich ein paar Stunden aufs Ohr und sagte, dass sie ihn wecken sollten, wenn etwas wäre. Während er schlief lagen sie an einem kleinen Riff vor Anker. Die Welpen kauerten, seit sie losgefahren waren, nur in einer Ecke und kamen erst hervor, als sie Hunger bekamen. Seit dem Tag waren sie öfter draußen und sahen sich alles ganz genau an. Auch wenn das Boot immer dreckiger wurde, von dem stinkigen Welpenkot, ließen sich die Kinder nicht davon abbringen es auf Vordermann zu halten. Sie hatten ja sonst nichts anderes zu tun.
„Das ich irgendwann einmal freiwillig putze, hätte ich nicht gedacht!“, sagte Jan angeekelt. Sie machten die Kothaufen weg und schrubbten was das Zeug hielt. Als Jack wieder aufwachte, war das Boot blitzblank. Auch die Welpen schienen Spaß zu haben, denn sie schlitterten bellend über den frisch geputzten Boden.





Lui drehte sich von der einen auf die andere Seite. Plötzlich hörte er in der Dunkelheit ein durchdringendes Jaulen. Ob die anderen schon schliefen? Er wusste es nicht. Er stand auf und ging an Deck. Sein Rücken schmerzte, weil er auf den harten Boden gelegen hatte. Es waren nicht genug Betten da, deshalb schliefen immer zwei auf dem Boden. Jan hatte den Mädchen großzügig das Bett überlassen und auch wenn Lui das Selbe getan hätte, war er deswegen sauer auf Jan. Weil dieser ihn überhaupt nicht gefragt hatte, ob er einverstanden war. Er stand an Deck und sah auf das dunkle Meer. Zurzeit ignorierte Jan ihn sowieso. Und leider nicht nur er, Lui kam sich ganz alleine auf der Welt vor. Die Welpen hatten ihn freudig begrüßt und er streichelte sie über ihre weichen Köpfe. Luke! Wenn er Luke, doch bloß nicht weggeschickt hätte. Dann wäre er jetzt noch da. Plötzlich spürte er eine andere Gestalt direkt neben sich. Er drehte sich zu ihr um und erkannte Jan. Er wollte nicht weiter im Streit mit ihm leben. Doch er wusste, dass Jan nicht mit einem Gespräch anfangen würde. Er musste wohl selbst anfangen.
„Jan“, begann er, „du hast doch nicht echt geglaubt, dass ich Lui heißen würde, oder?“
Jan kratzte mit den Fingernägeln über den Lack und sagte kalt: „Jeder hat das geglaubt, Lubomir!“
Lui seufzte. Das war der falsche Weg, um ein Gespräch anzufangen. „Jan, ich bin immer noch der Selbe.“
„Nein, bist du nicht, Lui. Du hast dich verändert. Erst hast du nicht mehr geredet, dann hast du angefangen uns anzugreifen und dann standest du unter Sasuuns Kontrolle.“
„Aber jetzt nicht mehr, Jan! Jetzt kann ich wieder über mich selbst bestimmen.“
Jan zog seine schmalen Augenbrauen hoch. „Sie kann doch jederzeit wieder von dir Besitz ergreifen und dann ist es vorbei mit uns.“
„Nein, ist es nicht. Ich habe mich jetzt unter Kontrolle. Sie kann meinen Körper nicht mehr kontrollieren.“
„Wie kannst du dir da so sicher sein?“, fragte Jan zweifelnd.
„Ich habe Sasuun mit einem Zauber getroffen, in dem Moment als sie die Kontrolle über mich hatte. Das heißt, dass sie in mir drin sozusagen tot ist. In mir kann sie nichts mehr ausrichten.“
Jan schwieg. Dann ließ er sich auf den Boden sinken und seufzte. Jason kam zu ihm. Luis Herz verzog sich mit einem mal. Er dachte an Luke und daran, wie sie durch die Wiesen getollt waren. Dann daran wie sein kleiner Körper zappelnd durch die Luft flog. Und dann der Aufprall. Er bemerkte, dass er gegen seinen Willen neidisch auf Jan war, doch dann seufzte er nur.
„Du hast so ein Glück, Jan!“, sagte er und sah auf den schwarzen Welpen hinab.
„Wie meinst du das?“, fragte Jan vorsichtig.
„Du weißt nicht wie es ist jemandem zu verlieren, der einem Nahe steht.“
Jan sah ihn fragend an. Erklärend stotterte Lui:„Ich meine…du…“, er seufzte, „du kannst froh sein, dass du deinen Welpen noch hast.“ Er ließ sich neben Jan auf den Boden sinken.
„Es ist einfach nur… so…so endgültig!“, sagte Lui. Jan sah ihn mitfühlend an.
„Lui, was auch immer passiert, du wirst für immer mein bester Freund sein.“ Er legte Lui eine Hand auf die Schulter und Jason leckte dem Jungen über das Gesicht. Lui lachte.
„Tja, ich bin müde!“, sagte Jan grinsend „Gute Nacht, Lui.“
„Gute Nacht.“ Lui sah zu den Sternen auf. Ob Luke ihm verzeihen würde, wo auch immer er jetzt war?


Kapitel 43: Der Orkan!

Die See war ruhig und sie kamen, zwar schleppend, doch trotzdem gut voran. Delfine tobten in den Wellen. Die Welpen jaulten sie oft an, dann sprangen die Delfine aus dem Meer und jeder Wolf bekam einen Schwall Wasser ab. Jaulend rannten sie hinter den verspielten Tieren her. Bis sie schließlich voller Stolz zu den Kindern rannten. Plötzlich stürzte sich Jason auf Jamie. Jaulend fuhr sie hoch und biss Jason spielerisch in den Hals. Balgend rollten die beiden auf dem Deck hin und her.
„Hey, sag Jason er soll Jamie loslassen!”, sagte Jenny grinsend.
„Und was tust du, wenn ich es nicht tue?“, fragte Jan feixend. Jenny sah kurz zu Jamie, die es gerade geschafft hatte sich von Jason zu befreien, und schon stürzte sich Jamie auf Jan und warf ihn knurrend zu Boden.
„Jason!“, schrie Jan lachend. Ein schwarzer Blitz sprang seitlich gegen Jamie und warf sie von Jans Brust. Jenny lachte und rief Jamie zu sich. Jason stellte sich knurrend neben Jan auf. Die beiden Kinder starrten sich grinsend an.
„Sieht so aus“, begann Jan „als ob es nur zwei von uns vieren geben kann.“
Jenny grinste. „Mal sehen wer übrig bleibt.“
„Sei da unbesorgt“, sagte Jan. „Ich und Jason werden euch so was von…“ Lilian sprang ihm in die Magengrube und stürzte sich gleich darauf auf Jason, der sie angreifen wollte.
„Der Kampf ist eröffnet!“, lachte Lee und wich grinsend Jans Schlag aus. Auf einmal verfinsterte sich der Himmel. Die Welpen jaulten auf und retteten sich zu den Kindern. Donner grollte und Blitze zuckten vom Himmel.
„Lee, Jenny!“, rief Jack „Geht mit den Welpen unter Deck. Jan und Lui, ich brauche starke Kerle, die mir helfen.“
„Dann sind wir genau die richtigen dafür.“, sagte Jan und schlug sich mit einer Faust auf die durchtrainierte Brust. Die Mädchen verschwanden mit kurzem Protest unter Deck.
„Jan, hol das Segel ein!“, rief Lees Vater.
„Aye, Aye Käpt’n!“, rief er und rannte zum Mast. Lui fragte sich, wie er nur so ruhig bleiben konnte.
„Lui, binde die Taue fest und alles was hier lose rumliegt, bringst du unter Deck!“
Lui nickte und lief wie der Blitz zu den Tauen. Er band sie um den vorgesehenen Knauf und schnappte sich zwei Stühle, die er sofort Jenny und Lee überreichte, die unter Deck auf ihn warteten. Schnell rannte Lui wieder nach oben. Die Segel fielen vor seine Füße hinab. Lui konnte gerade noch rechtzeitig ausweichen. Eine heftige Welle ließ das Boot erschüttern. Gut, dass sich keine weiteren Sachen auf dem Deck befanden. Eine Welle schwappte auf das Boot und riss die Jungs mit sich.
„Haltet euch fest!“, schrie Lees Vater. Schnell rannten die Jungs auf dem nassen Boden zum Mast. Lui krallte sich mit beiden Händen so fest er konnte, daran. Seine Fingernägel gruben sich in das Holz. Und Splitter stachen ihm in die Hände. Die nächste Welle traf sie völlig unvorbereitet. Sie war so groß, dass den Jungs vor Staunender Mund aufklappte. Die Welle brach über den Jungs zusammen und spülte Jan über Bord, während sich Lui mit einer Hand am Bug festhalten und sich hochziehen konnte.
„Jan!“, brüllte er. „Mann über Bord!“ Jack wandte den Kopf.
„Der Rettungsreifen! Lui, über der Kombüsentür!“, rief Lees Vater. So schnell der Junge konnte, rannte er auf die Kombüsentür zu. Plötzlich sprang die Tür auf und Jason brach ins Freie. Ohne langsamer zu werden, rannte er auf die Stelle zu, bei der Jan verschwunden war und stürzte sich ebenfalls in die Wellen. „Jason!“, rief Lui. Er sah den kleinen Welpen zappelnd in der aufwühlenden Flut schwimmen. Plötzlich grapschte eine Hand nach dem Welpen und Lui erkannte Jan. Ohne noch mehr Zeit zu verlieren, riss er den Rettungsring von der Kombüsentür und rannte zurück. Der Junge holte mit all seiner Kraft aus und schleuderte den Reifen zu dem Jungen. Jan sah ihn kraftlos an.
„Nimm den Reifen, Jan! Hol ihn dir!“, rief Lui. Jan musste nur ein paar Züge schwimmen. Das würde er schaffen!
„Jan! Jetzt mach schon!“, schrie Lui verzweifelt. Jan lächelte traurig umschlang den Welpen mit einem Arm und ging im nächsten Moment unter. „Jan!“, rief Lui. Lee und Jenny kamen an Deck gelaufen. „Haltet das!“, sagte Lui und reichte ihnen die Schnur des Rettungsringes, dann stürzte er sich in die Fluten und kraulte zu der Stelle, an der Jan und Jason eben noch geschwommen waren. Als er an der Stelle angekommen war, tauchte er so tief er konnte. Das Salzwasser brannte in den Augen und die Wellen warfen ihn hin und her, bis er die Orientierung verloren hatte. Plötzlich bekam er eine Hand zu fassen und spürte wie er nach unten gedrückt wurde, oder war es oben? Er ließ sich einfach treiben und hatte das Gefühl noch weiter zu sinken. Er spürte den schlaffen Körper in seinem Arm und Jasons nasses Fell. So viel hatte er verloren. Er wollte nicht auch noch Jan und Jason verlieren. Nein, er wollte sterben, dann sah er Luke vielleicht wieder und Leyla, Jan und Jason vielleicht auch. Er musste sich einfach nur in die Tiefe ziehen lassen und nie wieder hochkommen. Er spürte wie er immer weiter sank und hörte auf zu kämpfen. Irgendwann würde er auf dem Meeresboden aufkommen. Plötzlich durchbrach er die Wasseroberfläche und schnappte nach Luft. Verwirrt sah er sich um. Er hatte Jan und Jason, doch wo war das Schiff? Alles war schwarz. Plötzlich hörte er ein lautes Rufen. Seinen Namen. Das Rufen schien von überall zu kommen. Eine neue Welle schwappte über sie und presste sie unter Wasser. Auf einmal nahm er eine leichte Silhouette war. Das Boot! Es fuhr auf ihn zu. Er konnte nicht mehr kämpfen. Er hatte keine Kraft mehr in seinem Körper. Er spürte wie er sich an den Rettungsring krallte und dann wurde alles schwarz.





Jan schlug die Augen auf. Jason lag neben ihm an ihn geschmiegt. War er im Himmel? Alles war so weiß. So ruhig. Langsam nahm der Raum Farbe an. Er lag in der Kombüse auf dem Bett, neben ihm nahm er einen blonden Jungen wahr, der mindestens genauso trainiert hatte, wie er selber auch. Es dauerte einen Moment bis er Lui erkannte. Vorsichtig setzte Jan sich auf, sofort war Jason wach. Verschlafen und mit verklärtem Blick sah der Welpe ihn an.
„Jason!“ Jan schluchzte auf. Seine Kehle kratzte, wenn er auch nur einen Ton herausbrachte. Als er gesehen hatte, dass der Welpe ins Wasser gesprungen war, hatte den Jungen furchtbare Angst ergriffen. Der Welpe war ins Wasser gesprungen, um ihn zu retten. Jan presste ihn an sich, winselnd schmiegte sich der Welpe zitternd und mit eingeklemmtem Schwanz an ihn.
„Oh, Jason. Mein kleiner, süßer Jason. Uns kann wohl überhaupt nichts auseinander bringen.“ Kläffend wedelte der Welpe mit dem Schwanz. Jan lachte. Plötzlich flog die Tür auf und Jenny, Lee und die Welpen kamen ins Zimmer gestürmt. Lilian und Jamie sprangen auf das Bett und leckten Jason sauber, während Jenny Jan um den Hals flog. Schließlich schlug Lui die Augen auf. Benommen setzte er sich auf. Lee umarmte ihn, während ihr die Tränen kamen. Sie konnte sich nicht mehr vorstellen normal zu leben. Die Vorstellung von Lui, als sie noch kleiner waren, half ihr sich an die richtige Welt zu erinnern. Lui umschloss sie mit seinen Armen und drückte sie an sich. Lee kniff die Augen zu und vergas alles um sich herum. Jan nahm Jennys Kopf in seine Hände und sah sie lange an. Dann beugte er sich vor und küsste sie. Die Welpen liefen kläffend um sie herum und Jason sprang zwischen die beiden und schleckte ihnen durch das Gesicht. Lee und Lui lachten, während sich Jan und Jenny angeekelt mit der Hand durch das Gesicht fuhren. Dann kicherten sie und schließlich lachten auch sie.
„Du hast mir einen ganz schönen Schreck eingejagt.“ Jenny schmiegte sich glücklich an Jan.
„Tut mir leid!“, sagte Jan und lachte.
„Ihr habt ausgesehen, als ob ihr tot wärt!“, stimmt Lee Jenny zu. Sie schwiegen. Lilian kam zu ihr und kratzte mit der Pfote an ihrem Bein.
„Sind wir aber nicht!“, sagte Lui tonlos.
„Aber ihr wart kurz davor!“, erwiderte Jenny.
„Immerhin ist jetzt alles wieder vorbei“ Lee streichelte Lilian sanft übers Fell. Sie standen auf und gingen an Deck. Die Sonne ging gerade unter. Das Meer war in viele verschiedene Orangefarben getönt. Ein Wind kam auf. Ein sanfter, ruhiger Wind, der ihnen sagte, dass bald Land kommen würde.
„Wie lange haben wir geschlafen?“, fragte Lui und rieb sich den Kopf.
„Ein paar Tage!“, sagte Jenny. Jans Magen knurrte. „Mann, hab ich Kohldampf. Komm Lui wir holen uns was, aus der Küche.“ Lui nickte und die beiden Jungen verschwanden unter Deck. Lee und Jenny blieben noch stehen und sahen den Sonnenuntergang an. Plötzlich hörte Lee ihren Vater rufen. „Ja?“, rief sie fragend.
„Du musst den Tank auffüllen, Lee!“, rief er ihr zu.
„Okay.“, sagte sie und ging unter Deck. Jenny stand immer noch da und sah sich den Himmel an. Der Wind zauste ihr braunes Haar. Früher war sie sehr frech gewesen, nun war sie eher still und zurückhaltend. Ob so eine Reise einen Menschen verändern könnte? Ihre augen wanderten umher. Das Meer. Die Wolken. Alles war so schön. Und was noch viel besser war: Jan hatte sie geküsst.





Am nächsten Morgen sahen sie Land. Sofort suchten sie nach einem Hafen und fanden bald darauf einen kleinen Ankerplatz. Sie legten an und stiegen aus. Die Wölfe waren froh endlich aus dem Boot klettern zu können und tollten übermütig herum. Jan nahm Jennys Hand und sogar Jamie und Jason schienen sich zu verstehen. Sie waren in einem kleinen Dorf und merkten bald, dass sie in Dänemark waren. Jack schaffte es ihnen ein Taxi zu bestellen, das drei „Hunde“ aufnahm. Der Taxifahrer schaute zwar ein wenig komisch, sagte jedoch nichts. Wahrscheinlich sah er nicht sehr oft vier Kinder und einen Mann in Indianerkleidung mit Bogen, Messern und Wurfsternen und dazu noch drei kleine Welpen, weiß, schwarz und weiß mit einem schwarzen Fleck auf der Stirn. Doch er verkniff sich eine Bemerkung und brachte sie zu der gewünschten Adresse. Lees Adresse. Die Fahrt war lang, aber nichts im Vergleich dazu, wie lange sie in Nordamerika gelaufen waren. Als sie endlich ankamen war es schon spät am Abend. Ihr Vater schloss die Tür auf und holte das Geld, dass er dem Taxifahrer schuldetet und gab es ihm. Die Kinder standen in Flur. Es war ungewohnt in einem Haus zu stehen, wo alles so vertraut war und doch so fremd. Jasmin hatte noch nichts bemerkt. Lee fragte sich, wo sie war.
„Mama?“, rief sie. Die Küchentür flog auf und ihre Mutter stand vor ihnen. Verwirrt sah sie auf Lee, Jan, Jenny, Lui, die Wölfe und Jack, der gerade wieder zur Tür gekommen war.
„Ich glaub es nicht. Ich fantasiere schon wieder. Vielleicht sollte ich doch auf den Arzt hören und wegziehen!“, murmelte Jasmin.
„Nein, Mama. Wir sind echt!“, sagte Lee und ging auf ihre Mutter zu. Jasmin hob die Hand und griff nach Lees Fingern, als sie bemerkte, dass Lee wirklich vor ihr stand, schloss sie sie in ihre Arme und fing an zu weinen. „Lee! Verdammt noch mal, Lee! Wo warst du?“, schluchzte sie.
„Ich hab Papa geholt!“, sagte Lee und deutete auf Jack.
„Jack?“, Lees Mutter schlug die Hand vor den Mund. „Bist du es wirklich? Oh, Jack.“ Sie rannte zu ihm und fiel in seine Arme. Jasmin rannen die Tränen über die Wangen. Lee gab ihren Freunden ein Zeichen, dass sie die beiden nun allein lassen sollten.
„Es wird Zeit, dass wir die Welpen in den Wald lassen. Wir müssen ihnen immer irgendwo etwas zu essen hinstellen. Sie können noch nicht jagen und einer von uns muss es ihnen beibringen!“, sagte Lee. Alle schwiegen.
„Woher sollen wir wissen, wie das geht?“, fragte Jenny. Lee zuckte die Schultern.
„Wir warten einfach mal ab, bis uns was einfällt!“, sagte Jan.
„Das heißt, wir bringen sie jetzt in den Wald?“, fragte Lui.
Lee nickte. „Wir müssen eine Stelle finden, an der sie sicher sind, nicht entdeckt werden und trotzdem frei rumlaufen können.“
„Kennst du so eine Stelle?“, fragte Jan. Lee überlegte kurz. „Ich glaube ich wüsste wo. Kommt mit!“
Zusammen liefen sie in den Wald hinein. Sie liefen ziemlich lange und abseits der Wege. Es war schon ziemlich dunkel, doch den Kindern machte das nichts. Sie hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt. Schließlich kamen sie auf eine Stelle an der eine paar Felsen waren und der ganze Boden voll Moos war. Hinter einem besonders großen Stein sprudelte ein kleiner Bach. Die Welpen waren total aus dem Häuschen. Sie rannten herum und jagten sich gegenseitig. Schließlich riefen die Kinder sie zu sich.
„Habt ihr das Gefühl mit euren Wölfen reden zu können?“, fragte Lee interessiert.
„Ja!“, sagte Jenny. „Irgendwie habe ich das Gefühl ich könne mit ihr in meinem Kopf reden.“
„Bei mir ist das auch so!“, sagte Jan.
„Gut“, erwiderte Lee. „Dann erklärt ihnen, dass sie hier bleiben müssen und dass sie vormittags alleine sind.“ Sie beugte sich zu Lilian runter.
Lilian, hör zu. Ihr müsst hier bleiben. Ich geh euch jeden Tag besuchen und bring euch etwas zu essen mit. Ihr könnt auch ein wenig durch die Gegend laufen, aber bleibt immer in der Nähe.
In Ordnung, sagte Lilian und schleckte ihr einmal übers Gesicht. Die Welpen setzten sich hin und sahen sie an. Sie schienen alles verstanden zu haben. Schließlich verschwanden die Kinder zwischen den Bäumen.


2. Teil


Kapitel 44: Jans Wiedersehen!

„Jan!“, schluchzte seine Mutter „Verdammt noch mal, wo warst du?“ Er hörte ein lautes Grölen und eine strenge Stimme rief bedrohlich: „Bring den Jungen zu mir!“ Jan schlurfte zu seinem Vater ins Wohnzimmer. Schon von weitem roch er den Alkohol. Sein Vater hatte wieder mit dem Trinken angefangen. Er war schon oft gewalttätig geworden, doch wenn er nüchtern war, hatte er so ein schlechtes Gewissen gezeigt, dass Jans Mutter ihn immer wieder alles verziehen hatte. Sein Vater saß in seinem Sessel. In seiner Hand hielt er eine Bierflasche und um ihn auf dem Boden und auf dem Couchtisch stapelten sich noch weitere. Sein Vater musterte ihn. Jan hielt den Kopf gesenkt, wenn sein Vater je wieder wagte ihn oder seine Mutter zu schlagen, würde er sich wehren können. Er verabscheute ihn aus tiefstem Herzen. Der Mann beugte sich in seinem Sessel vor und hauchte ihm seinen Alkoholatem ins Gesicht.
„Wo warst du?“, fragte er dröhnend. Trotzig hob Jan das Kinn und sah seinem Vater wütend in die Augen. Der ekelhafte Geruch biss ihn in die Nase, doch er ließ sich nichts anmerken. Die Hand seines Vaters schnellte vor und verpasste ihm eine schallende Ohrfeige. Jan taumelte zurück, richtete sich jedoch sogleich wieder auf. Seine Mutter verbarg das Gesicht im Türrahmen. Wie oft hatte er sie geschlagen, als er nicht da war? Das würde jetzt vorbei sein.
„Wo warst du?“, fragte sein Vater drohend.
„Ich musste hier raus!“, knurrte Jan. „Ich halt das einfach nicht mehr aus.“ Kleine Schritte waren auf der Treppe zu hören.
„Was ist los?“, fragte eine verschlafene Stimme.
„Kate, geh wieder in dein Zimmer!“, sagte Jans Mutter abweisend. Die Schritte blieben stehen.
„Ich dachte, ich hätte Jans Stimme gehört.“
„Ich bin hier, Kate!“, hörte Jan sich sagen. Müde trippelte seine kleine Schwester die Treppe herunter und streckte vorsichtig den Kopf durch den Türrahmen.
„Jan!“, rief sie und rannte jauchzend auf ihn zu. Jan schloss sie in die Arme. Sie war erst sechs. Sie kapierte noch nicht was hier ablief. Wenn Jan doch nur schon älter wäre, so alt wie George, sein großer Bruder. Dann würde er Kate nehmen und mit ihr zusammen in einer Wohnung leben. Doch George hatte eine Freundin und wollte sich nicht mit seiner kleinen Schwester belasten. Und auch wenn er schon einundzwanzig war, verstand er nicht was hier ablief. Und wenn Jan ihn darauf ansprach, sagte er nur: „Brüderchen, Diskussionen sind ganz normal bei Erwachsenen. Und das mit dem Schlagen, das hast du bestimmt nur geträumt.“
Und seine Freundin Tiffany nickte nur mitfühlend und gab ihrem Freund Recht.
„Kate, geh in dein Zimmer!“, sagte Jans Vater sanft. Unsicher sah Kate Jan an.
„Geh ruhig.“, sagte er beruhigend. Als Kates Schritte auf der Treppe wieder verklungen waren, wandte sich Jans Vater wieder ihm zu. „Wo warst du?“, fragte er erneut wütend. Die Sanftheit in seiner stimme, war mit Kates Schritten verschwunden.
„Ich war im Wald. Ich musste raus hier. Verstehst du das nicht? Das alles hier ist so ätzend.“ Seine Stimme wurde lauter. „Du bist so ätzend. Ständig trinkst du und streitest dich mit Mom. Du denkst wohl, dass ich das nicht mitkriege, aber da irrst du dich.“ Der nächste Schlag war so stark, dass Jan nach hinten stolperte und gegen das Sofa prallte. Seine Mutter wimmerte leise. Sein Vater erhob sich und kam torkelnd auf ihn zu.
„Junge“, sagte er bedrohlich „Mach jetzt keine Dummheiten.“
„Du machst die Dummheiten!“, giftete Jan. Dieses mal war er auf den nächsten Schlag gefasst und wusste, dass er sich nun wehren würde. Sein Vater holte mit der Faust nach hinten aus und wollte sie niedersausen lassen. Doch Jans Mutter sprang schluchzend vor und hielt seine Faust fest. Knurrend stieß sie der bullige Mann beiseite. Mit einem dumpfen Aufprall schlug sie sich den Kopf am Couchtisch. Eine Porzellanvase auf dem Tisch geriet ins Wanken und fiel auf Jans Mutter. Ein Klirren und die Glasscherben zerbarsten an ihrem Kopf. Die Scherben sprangen in alle Richtungen. Jan ging hinter der Couch in Deckung. Wie konnte das Ding nur so explodieren? Die Hände seiner Mutter waren blutverschmiert. Doch das war nichts gegen ihren Hinterkopf eine tiefe, klaffende Wunde, aus der unerschütterlich Blut hervorquoll. Sein Vater stand mit blutigen Armen vor ihm, da ihn mehrere Scherben erwischt hatten. Wütend sah er auf ihn herab.
„Sieh nur, was du angerichtet hast!“, schrie er. Sein Gesicht war hasserfüllt verzogen.
„Ich…ich hab doch gar nichts…“, stotterte Jan. War es wirklich seine Schuld, dass die Vase heruntergefallen war? Jans Vater lief auf ihn zu und packte ihn an der Gurgel. Er bekam keine Luft mehr, doch jetzt würde er sich wehren. Er trat seinen Vater zwischen die Beine. Der Mann schrie auf und ließ Jan los. Diese Gelegenheit nutzte Jan, um seinem Vater den Ellbogen in den Bauch zu rammen, dann nahm er eine Bierflasche, die gerade in seiner Nähe stand, und schlug seinem Vater damit auf den Kopf. Der Mann fiel bewusstlos zu Boden. Jan hielt einen Moment geschockt inne. Was hatte er getan? Es war ein Reflex! Die Schrittfolgen, die er andauernd bei den Indianern geübt hatte, hatte er aus einem Reflex angewendet! Erschrocken taumelte er zurück und rutschte in einer Blutlache aus. Seine Mutter! Er musste sie sofort ins Krankenhaus bringen. Zu allem Überfluss kam Kate noch einmal die Treppe hinunter, um zu fragen, was passiert sei, doch angesichts des Blutes und den beiden Eltern, die reglos am Boden lagen, fing sie an in ein hysterisches Schreien zu verfallen. Schnell rannte Jan zu ihr und nahm sie auf den Arm.
„Kate, hör zu. Ich bring dich jetzt zu Shelly, in Ordnung?“, fragte er, als sie sich ein wenig beruhigt hatte. Sie nickte tapfer, vergrub jedoch ihr Gesicht in Jans Schulter. Shelly war Kates beste Freundin und ein Glück auch ihre Nachbarin. Schnell rannte Jan mit der wimmernden Kate auf den Arm zu seinen Nachbarn.
„Jessica!“, rief er und hämmerte mit den Fäusten gegen die Tür. Bestimmt schliefen sie schon längst. Endlich ging ein Licht an. Verschlafen öffnete Jessica, Shellys Mutter, die Tür.
„Jan? Was ist denn los?“, fragte sie. Hinter ihr tauchte ihr Mann Fred auf.
„Wir müssen sofort einen Krankenwagen rufen!“, platzte es aus Jan heraus. „Ich dachte, Jessica, dass du auf Kate aufpassen könntest, während ich und Fred den Krankenwagen holen.“
„Was?“, fragte Jessica verwirrt.
„Ich mach das schon, Schatz!“, sagte Fred, während Jan ihr Kate in den Arm drückte. Verblüfft sah Jessica ihnen hinterher, als sie zu Jans Haus rannten.


Kapitel 45: Jennys Wiedersehen!

„Jenny!“, rief ihre Mutter mit Tränen in den Augen. „Wie konntest du nur? Einfach wegrennen und nur einen bescheuerten Brief hinterlassen.“
„Mama!“, rief Jenny und warf sich ihr schluchzend in die Arme.
„Oh Kind!“, schluchzte ihre Mutter. Ihr Vater streichelte ihr über den Kopf.
„Komm rein, Jenny!“, sagte er mit monotonen Stimme. „Morgen kannst du uns alles erklären.“ Jenny nickte dankbar und ging ohne noch ein Wort zu sagen in ihr Zimmer. Als sie den Geruch ihres Zimmers einatmete, bemerkte sie, dass sie furchtbar stank. Nach Wolfshaaren, Wolfsspucke und Dreck. Doch sie roch auch nach Gischt, die sich in ihren Haaren verfangen hatte. Und ihre Kleider rochen nach Waldboden. Schnell zog sie ihren Schlafanzug an und schlüpfte in ihr Bett. Zum Duschen war sie eindeutig zu müde! Ihr großer Bruder kam ins Zimmer.
„Jenny!“, rief er, rannte zu ihr und schloss sie in seine Arme.
„Tommy!“, rief sie erfreut.
„Jenny, wo warst du?“, fragte er und musterte sie von oben bis unten.
„Ich…äh…ich war im Wald.“
„Im Wald?“
„Ja, mit Freunden. Ich musste hier irgendwie mal raus. Ich weiß auch nicht warum. Vielleicht wollte ich einfach mal gucken, was passiert.“
Tommy sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an, dann kicherte er.
„Du? Im Wald?“ Er gluckste so lange vor sich hin, bis Jenny ihm ein Kissen ins Gesicht stopfte. Auch wenn ihr Bruder schon sechzehn und um einiges stärker war, fing sie an mit ihm zu rangeln. Sie hatte sogar eine Chance, denn sie war flinker und geschmeidiger geworden und konnte den spielerischen Schlägen ihres Bruders gut ausweichen.
„Was ist denn mit dir passiert?“, fragte er grinsend. „Du hast dich verändert. Ich weiß nur nicht, was anders ist…“, er tat so, als ob er schwer grübeln würde, dann schnippte er mit den Fingern. „Jetzt weiß ich’s!“ Sein Gesicht nahm einen ernsten Ausdruck an. Jenny hielt den Atem an, wenn er bemerkte, dass sie trainiert hatte, würde er mehr Fragen stellen und das konnte sie jetzt wirklich nicht gebrauchen.
„Du hast…“, begann er. Jenny schlug das Herz bis zum Hals. „…furchtbaren Gestank an dir haften!“, sagte er und grinste, während er sich die Nase zuhielt. „Puh, dieser Gestank!“
Lachend rauften sie sich weiter. Schließlich ließ Tommy sie in Ruhe und verschwand in seinem Zimmer. Jenny lag in ihrem Bett und starrte die Decke an. Irgendwann schlief sie erschöpft ein


Kapitel 46: Luis Wiedersehen!

Lui klingelte. Sofort wurde die Tür von seinem Vater geöffnet. Plötzlich lagen sie sich in den Armen.
„Schatz!“, rief Luis Vater seiner Frau zu. „Sieh mal, wer wieder da ist!“
Er drückte Lui noch mehr. Seine Mutter kam und weinte und lachte gleichzeitig.
„Lui? Wo bist du nur gewesen?“, fragte ihn seine Mutter unter Tränen. „Wo bist du nur gewesen?“
„Wir haben alles nach dir abgesucht, mein Junge!“, sagte sein Vater. Luis Glücksgefühl erstarb.
„Ihr wisst, wo ich war!“, stellte er nüchtern fest. Warum versuchen sie immernoch mir etwas vorzuspielen?, dachte er wütend. Udn warum haben sie überhaupt, damit angefangen? Seine Eltern senkten die Köpfe.
„Nein, wir haben nur eine Vermutung!“, sagte sein Vater schließlich.
„Ich weiß davon! Ihr müsst euch nicht länger darum kümmern, dass ich nichts mitbekomme!“, sagte Lui tonlos.
„Lui“, fing seine Mutter an „Wir taten es nur zu deinem Schutz.“
„Zu meinem Schutz? Was soll das denn für ein Schutz sein. Lubomirs Kinder hätten mich beinahe umgebracht!“, rief Lui.
„Lui, komm ins Haus!“, flehte seine Mutter. Als ob sie Angst hätte, dass er wieder wegrennen könnte. Lui schwieg. Er bewegte sich nicht. Stocksteif stand er da und sah die zwei Menschen an, die ihm sein ganzes Leben lang etwas vorgemacht hatten.
„Warum habt ihr es mir nie gesagt?“, fragte er leise. Seine Eltern schwiegen.
„Du bist noch so jung!“, sagte sein Vater schließlich. „Wir…hätten es dir gesagt, wenn du älter wärst.“
„Noch älter? Ihr wusstet doch, dass er mich holen würde!“, rief der Junge zornig.
„Lui, bitte komm rein!“, flehte seine Mutter erneut. Er atmete tief durch und betrat das erste mal seit langem wieder sein eigenes Haus. Seine große Schwester Lise kam um die Ecke.
„Lui!“, rief sie und schlang die Arme um ihn. „Wo warst du?“
„Lise, nicht jetzt!“, sagte sein Vater „Lui ist müde. Er wird dir morgen alles erzählen.“
Sprachlos ließ Lise ihn vorbei und lief hinter ihm die Treppe hinauf. Lui wusste, dass sie ihn gleich ausfragen würde, doch bevor sie dazu kam, knallte er seine Zimmertür zu und ließ sie draußen stehen, bis sie sich abwandte und ging.


Kapitel 47: Alles so wie früher?

Der nächste Tag in der Schule war furchtbar. Alles war so wie immer. Jan und Lui hatten rein gar nichts mit Lee und Jenny zu tun. Es wurden viele Fragen gestellt, wo sie denn waren und was passiert war. Lee und Jenny hielten es durch, keine einzige Information preis zu geben, von wo sie die Narben hatten und warum sie so lange weg waren. Jan war nicht ganz so stark, als ihn eines Tages Selina so sehr durchlöcherte, sagte er: „Okay, hör zu. Lui, Lee, Jenny und ich wir sind nach Nordamerika geflogen, haben dort Wölfe und einen Indianerstamm kennen gelernt und Lees Vater gerettet, der bei einer Verrückten namens Sasuun in Gefangenschaft war. Sie hat Kobolde auf uns gehetzt und Adler, die mich und Jenny beinahe umgebracht haben. Und jetzt lass mich in Ruhe!“
Mit diesen Worten drehte er sich um.
„Sehr witzig, Jan. sag mir das nächste Mal einfach, dass ich nerve!“, sagte sie und rauschte ab. Hab ich dir mindestens fünfmal gesagt, du dumme Kuh!, dachte er, verschwieg es sich aber. In der Pause kam Jenny niedergeschmettert zu Lee gelaufen. Sie setzte sich neben sie und seufzte.
„Meinst du Jan hat mich vergessen?“, fragte sie traurig. Verwirrt sah Lee sie an.
„Wie meinst du das?“
„Er hat mich doch geküsst und jetzt tut er so, als ob nichts gewesen wäre.“
„Jenny, er will nicht vor aller Welt zugeben, dass er dich liebt.“
„Aber so machen es doch alle!“, sagte Jenny und deutete auf Prince und Susy, die Hand in Hand in einer Ecke standen.
„Denkst du echt Prince mag Susy wegen ihres Charakters?“, fragte Lee schmunzelnd.
„Weswegen denn dann?“
„Naja, also ich glaube, Jungs wie Prince sehen nur auf das eine!“, grinste Lee. Jenny nickte.
„Du hast Recht!“, sagte sie. „Aber Susy ist ja auch das coolste Mädchen der ganzen Klassenstufe, und…du weißt, dass wir nicht gerade die Supercoolen sind. Nur weil wir nicht andauernd über Schminke oder so was reden wollen. Das ist doch tot langweilig.“
Lee stieß sie mit den Ellbogen. „Oder, weil du Brad verprügelt hast, weißt du noch?“
„Wie könnte ich das vergessen!“, sagte Jenny und rieb sich die Hände.
Lee grinste. „Ich hätte ja noch eine Chance cool zu sein, doch bei dir kommt jede Hilfe zu spät.“
Jenny schubste sie und Lee konnte sich gerade noch rechtzeitig unter ihrem nächsten Schlag hinwegducken. „Aber ehrlich gesagt“, fing Lee an „wer will schon cool sein. Die Jungs sind einfach nur blö…äh ich meine, blind. Sie schauen nur auf die coolen Mädchen. Ich meine, willst du so einen Jungen wie Prince, als Freund haben?“ Jenny verzog angewidert das Gesicht. Gemächlich quatschend liefen sie durch die Schulgänge.
„Der ist ja noch blö…äh blinder, als der Rest.“, antwortete Jenny. Sie lachten.
„Weißt du was“, sagte Jenny schließlich „Ich will mich überhaupt nicht anpassen. Warum sollte ich mich ändern? Ich bin wer ich bin. Und dieses Ich reicht für einen kleinen, schnuckeligen Wolfswelpen. Was will ich mehr?“
„Endlich hast du es kapiert!“, grinste Lee. Plötzlich stieß sie mit jemandem zusammen.
„Oh, tut mir leid…ich wollte nicht….ich…Lui?“, stotterte Lee.
Lui nickte. „Hört zu, Jan und ich treffen euch nach der Schule unten im Fahrradkeller. Dann können wir alle zusammen zu den Welpen gehen.“
Lee grinste. „In Ordnung!“
Es war eben doch nicht alles so wie früher!





Stillschweigend warteten die Jungen nach der Schule bei den Fahrrädern. Lee fiel sofort auf, wie sehr sie sich von den anderen Jungen unterschieden. Ihre Gesichtsausdrücke waren ernst und verschlossen und ihre Körper waren viel muskulöser, während die meisten Jungen so groß und dünn wie Bohnenstangen waren. Das Mädchen überlegte. Irgendwie fände ich es besser, wenn sie wieder wie früher wären. Aber das können sie nicht. Nicht nach alldem was passiert ist. Jan und Lui waren sehr beliebt und Lee wusste, dass mindestens die Hälfte aller Mädchen auf ihrer Klassenstufe einmal in Jan oder Lui verknallt gewesen war. Dass sie nun so verschlossen waren, fanden die Mädchen wahrscheinlich umso interessanter. Gegen ihren Willen war sie eifersüchtig, als sie bemerkte wie schmachtend die Mädchen die beiden anstarrten. Auch Jenny schien es nicht zu gefallen.
„Sieh mal, wie die kranken Hühner gucken“, flüsterte sie Lee ins Ohr. „Das ist ja peinlich!“ Lee nickte zustimmend. Als sie zu Lui und Jan kamen, waren alle Blicke auf sie gerichtet und Lee wusste, dass sie beneidet wurde. Ohne weiter auf die gaffenden Mädchen zu achten fuhren die Kinder mit ihren Fahrrädern los. Lee liebte es schnell den Berg herunter zu rasen. Im Übermut breitete sie die Arme aus und fuhr freihändig den Hügel hinab. Nach dieser Abfahrt waren sie alle etwas lockerer und die Welt sah nicht mehr ganz so grausam aus. Lachend und scherzend kamen sie an Lees Haus an und stibitzten aus dem Kühlschrank rohes Fleisch. Sie konnten es kaum abwarten, zu dem Platz an dem die Welpen waren zu kommen und wurden ebenfalls mit freudigem Gekläff empfangen. Sofort machten sich die Welpen über das Steak her. Den ganzen Nachmittag blieben die Kinder bei den Welpen spielten mit ihnen und strichen ihnen über das Fell. Aber vor allem redeten sie mit ihnen. Es war eine besondere Gabe, die alle beherrschten, bis auf einen: Lui! Mit wem hätte er reden können? Er fühlte sich ohnehin ausgeschlossen. Manchmal setzte er sich zu ihnen und streichelte einem Welpen über den Rücken, doch es war nicht dasselbe, wie bei Luke.
Ob ich ihm irgendwie helfen kann?, fragte sich Lee. Lilian die ihre Gedanken aufgefangen hatte antwortete ihr ohne zu zögern.
Ruf ihn zu uns! Lee gehorchte und als der Junge sich neben sie setzte, schmiegte sich Lilian an ihn. Plötzlich hatte Lee so ein komisches Gefühl. Erstens war es für sie ungewohnt, denn sie hatte das Gefühl sich ebenfalls an Lui zu schmiegen und seine Hand auf ihrem Rücken zu spüren. Zweitens spürte sie plötzlich ein angenehmes Kribbeln in der Bauchgegend, dass sie noch nie zuvor gespürt hatte. Die Sonne schien durch das Laub und fiel auf den Jungen. Auf sein Gesicht, seine blonden Haare und seinen Körper. Lui blickte lächelnd zu ihr auf und als ihre Blicke sich trafen, änderte sich sein Gesichtsausdruck. Er wurde wieder ernst und verschlossen und sah Lee einfach nur an. Wie gebannt starrte sie in seine braunen Augen. Hatte sie so etwas schon einmal bei jemandem gespürt? Nein, noch nie! Sie konnte den Blick nicht von ihm wenden. Schließlich schluckte Lee und brach den Blickkontakt ab, indem sie auf den Boden sah und ihren Blick über das weiche Moos bis hin zum kleinen plätschernden Bach wandern ließ. Was war das eben gewesen? Wie soll ich dieses Gefühl deuten? Dieses Gefühl blieb bis zum Abend und es verstärkte sich, wenn sie Lui ansah oder in seiner Nähe stand. Schließlich, als die Dämmerung über den Wald hereinbrach und die Umgebung in orangefarbene Töne tunkte, trennten sie sich von den Welpen und gingen nach Hause. Als Lee ihr Haus betrat, erwarteten ihre Eltern sie schon.
„Lee? Wo warst du?“, fragte ihre Mutter.
„Im Wald.“
Jack grinste, während ihre Mutter nur den Kopf schüttelte.
„Hast du Hunger?“, fragte sie schließlich. Lee bemerkte erst jetzt, wie ihr Magen knurrte und nickte.
Jasmin zog sie in die Küche. „Na komm, wir essen gerade.“ Gierig griff Lee nach einer Brotscheibe und einem Stück Wurst. Ohne zu überlegen, fing sie an es in sich hinein zu stopfen, wie sie es auf der Reise auch gemacht hatte. Jasmin sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an, sagte jedoch nichts. Schließlich lehnte sich Lee in ihren Stuhl zurück. Ihr Vater räusperte sich.
„Lee, Onkel Bob hat angerufen!“, sagte er und sah sie scharf an. Lee schluckte. An den hatte sie überhaupt nicht mehr gedacht.
„Er hat sich natürlich sehr darüber gefreut, dass ich wieder da bin, doch er ist vollends am Boden zerstört, wegen seinem Flugzeug!“, redete ihr Vater weiter. „Lee…Sein Flugzeug ist zerstört irgenwo im Meer versunken!“
„Ich weiß!“, murmelte Lee betreten.
„Weißt du eigentlich, wie viel es ihm bedeutet hat?“, fragte ihr Vater. Lee nickte.
„Du kannst froh sein, dass sich Onkel Bob so sehr freut, dass wir wieder da sind, dass wir noch nicht einmal seinen Schaden bezahlen müssen!“, fuhr ihr Vater fort. Lee atmete auf.
„Er dankt dir sogar!“, sagte ihr Vater schmunzelnd. Lee grinste und seufzte wohlig.
„So satt war ich schon lange nicht mehr!“, sagte sie zufrieden.
„Ich auch nicht!“, sagte ihr Vater und half ihnen beim Abdecken des Tisches. Darauf verschwand Lee in ihrem Zimmer. Irgendetwas bedrückte sie. Sasuun würde wiederkommen. Doch dann war Lee bereit. Dennoch, sie konnte ihre Mutter nicht noch einmal im Stich lassen. Wenn Sasuun sie wollte, musste sie herkommen. Der Gedanke machte Lee Angst. Plötzlich machte ihr alles Angst. Sie legte sich in ihr Bett und geriet in eine Welt zwischen Traum und Wirklichkeit.


Kapitel 48: Luis Verschwinden!

„Es…Es tut mir leid, Meister.“ Zittrig kniete Sasuun in einem Zelt und sah ängstlich zu der dunklen Ecke des Tipis hinüber. Dort saß jemand auf Büffelfellen und hatte ihr den Rücken zugedreht.
„Du hast mich schwer enttäuscht, meine Schülerin. Lässt dich von einem Jungen vertreiben.“ Die Stimme war tief und rau, und doch so gebieterisch, dass man nicht wagte ihr zu widersprechen.
„Meister…er war zu stark. Ich war nicht darauf vorbereitet!“, stotterte Sasuun.
„Ich gab dir eine Chance und du vermasselst sie. Dein Auftrag war es das Mädchen und den Jungen zu mir zu bringen. Und was habe ich bekommen? Nichts!“ Die Stimme wurde zornig.
„Bitte Meister vergebt mir!“, stammelte Sasuun unterwürfig. Der Mann seufzte ärgerlich. Doch dann hielt er inne und sagte ein wenig sanfter: „Na gut, mein Kind. Ich gebe dir noch eine Chance, doch solltest du versagen ist es aus mit dir.“
„Danke Meister!“, sagte Sasuun und erhob sich. „Ich werde mein Bestes geben.“
„Sasuun, bedenke, dass noch ein Fehltritt deinen Tod bedeutet. Also bring die beiden Kinder zu mir und von mir aus auch ihre Freunde.“
Sasuun verbeugte sich mit einem gehässigen Grinsen im Gesicht und ging aus dem Zelt.





Lee schritt neben Jenny die Treppen, des Schulhauses hinauf. Ihren Traum hatte sie schon lange wieder vergessen. Ein keuchender Jan rannte ihnen entgegen.
„Lui ist verschwunden.“, rief er schon von weitem. „Sie glauben er ist abgehauen.“
„Was?“, fragte Lee fassungslos.
„Er ist weg. Einfach nicht mehr da. In einem Monat wird die Polizei ihn für tot erklären.“
„Nein!“, rief Jenny aus.
„Warum das?“, fragte Lee.
„Ich weiß es nicht!“, keuchte Jan. „Ich weiß nur, dass es so ist!“
„Wir müssen ihn finden!“, rief Lee.
„Aber wo kann er sein?“, fragte Jenny.
„Wir treffen uns nach der Schule am Fahrradkeller!“, sagte Lee.
„Okay. Er muss irgendwo sein!“, sagte Jan. Gut, dass der Nachmittagsunterricht ausfällt, dachte er und rannte flugs in die Klasse zurück, als er seinen Deutschlehrer kommen sah.
Die Schule schien endlos zu dauern. Die Lehrer laberten sie voll und sprachen immer nur das gleiche an.
„Nein, Kinder, so geht das nicht. Hört zu, ihr müsst euch mehr anstrengen, wenn ihr euch in den anderen Fächern auch so zurücklehnt, will ich wenigstens sehen, dass ihr euch hier Mühe gebt.“ Oder: „Das ist echt unmöglich, wie kann man nur so unaufmerksam sein. Mathe braucht ihr überall. Es ist nicht mein Problem, wenn ihr in den anderen Fächern schlechte Noten schreibt, aber so strengt euch doch wenigstens in Mathe an.“ Und immer so weiter. Als es endlich zum Schulschluss gongte, sprang Jan so schnell er konnte auf und raste zum Fahrradkeller. Jenny und Lee trafen kurz nach ihm ein.
„Wo sollen wir suchen?“, fragte Jan.
„Überall!“, keuchte Lee. Sie schien hektisch zu sein.
Die drei suchten die ganze Stadt ab, doch nirgendwo fanden sie Lui und niemand hatte ihn gesehen. Er war wie vom Erdboden verschluckt. Auch Lubomirs Eltern gaben nur ein paar Auskünfte. Sie schienen selbst nicht sehr guter Stimmung zu sein. Das einzige was sie wussten, war dass er nach dem Abendessen in sein Zimmer gegangen war und am Morgen verschwunden war.
„Wir könnten doch mit den Welpen seine Spur aufnehmen!“, sagte Jan schließlich stirnrunzelnd.
„Ja, das können wir probieren!“, stimmte Jenny zu.
„Wir könnten ihnen auch gleich etwas Fleisch mitbringen!“, meinte Lee. Die Kinder nickten sich zustimmend zu und um keine Zeit zu verlieren, rannten sie los. Lee spürte neue Kraft in ihren Beinen. Sie spürte, dass sie schneller war als sonst. Auch den anderen schien es so zu gehen. Lee spürte ihre Freude an der gewonnen Schnelligkeit und startete ohne es zu wissen ein Wettrennen zwischen ihr und ihren Freunden. Als sie vor Lees Haus standen, waren sie noch nicht einmal außer Atem. Lee raste in die Küche und holte ein Steak, das ihr Vater heute für die Welpen gekauft hatte. Dann rasten sie weiter. Lee drückte sich mit neuer Kraft ab und war schneller denn je. Sie machte größere Schritte und merkte, dass sie sich stärker vom Boden abdrückte. Ebenso war sie geschmeidiger und die Welt um sie herum schien zu verschwimmen. Plötzlich standen sie vor den Welpen. Sofort sprang Lilian Lee an und wedelte jaulend mit dem Schwanz. Lachend warf Lee den Welpen das Steak vor die Füße. Genüsslich knabberten die Wölfe daran und rissen knurrend Fettstücke ab.
„Wow, so schnell und so weit bin ich noch nie gerannt!“, sagte Jenny. „Und ich bin noch nicht einmal außer Atem.“
„Tja, du warst aber trotzdem nicht schnell genug!“, spottete Jan „Ich hab dich um Längen geschlagen.“
„Ist gar nicht wahr. Ich kam vor dir an!“, erwiderte Jenny.
„Hey, keinen Streit. Außerdem ist ja wohl klar, dass ich als Erste hier war!“, grinste Lee.
„Das schreit nach Revanche!“, sagte Jan schelmisch.
„Auf dem Rückweg!“, erwiderte Jenny „Jetzt müssen wir erst einmal Lui finden.“
Jan und Lee nickten. Plötzlich zischten die Welpen davon. Hey, Lilian! Was ist los? Lee war verwirrt was hatten sie nur.
Folgt uns! Schnell!, hörte sie Lilians Stimme. Sie schien panisch zu sein. Gab es hier irgendeine Gefahr?
Lilian! Doch es brachte nichts. Lilian hatte den Kontakt abgebrochen.
Die Kinder sahen sich an. Dann rasten sie los. Wieder spürte Lee, wie schnell sie war, und auch wenn dieses Gefühl so überwältigend war, dass man einfach glücklich sein musste, hatte sie auch ein wenig Angst vor diesem Gefühl. Plötzlich bremste Jan vor ihr so abrupt, dass Lee gegen ihn prallte.
„Pass doch auf!“, knurrte er grinsend, während sich Jenny vor Lachen am Boden wälzte. „Das bedeutet, dass ich gewonnen habe, weil du in mich hineingerannt bist, musst du hinter mir gewesen sein.“ Auch Lee grinste.
„Ich habe nicht aufgepasst!“, sagte sie lächelnd, doch als sie die Wölfe bemerkten, wurden sie wieder ernst. Die Welpen standen aneinander geschmiegt da und zitterten am ganzen Leib.
„Was haben sie denn?“, fragte Lee und ging langsam auf die Welpen zu. Sie kniete sich vor Lilian und der kleine Welpe sprang in ihre Arme. Lilian wusste, dass sie dieser schrecklichen Macht, die schon gestern da war, nur knapp entkommen waren. Doch sie wusste nicht, ob diese Macht sie vielleicht finden würde. Gestern waren sie gerade noch rechtzeitig geflohen, mit der Hoffnung, dass ihre Verbündeten nicht in dem Moment zurückkehren würden. Als ihre Nasen wieder frei waren, kamen sie zurück und kurz darauf trafen ihre Verbündeten ein. Lilian legte die Ohren an und sog tief den Duft ihrer Rudelgefährtin ein. Sie waren eins. Lilian wusste, dass ihre Verbündete ihre Angst spürte, doch sie konnte es ihr nicht erklären. Sie hatte kein Wort für so etwas. Doch sie würde es noch herausfinden.
„Ich verstehe nicht, was sie hat!“, sagte Lee und runzelte die Stirn. „Ihre Gedanken sind so undeutlich.“
„Bei Jamie ist das genauso!“, sagte Jenny und versuchte den weißen Welpen zu beruhigen. Plötzlich hörten sie ein lautes Knurren. Sofort fuhr Lee herum. Nichts.
„Habt ihr das auch gehört?“, fragte sie ihre Freunde. Die beiden nickten mit entschlossener Miene. „Lasst uns die Welpen zurückbringen!“, sagte Jan. Er kniete sich hin und nahm Jason auf den Arm. Schnell sprang Jamie zu Jenny und rannte neben ihr und den anderen zurück.
„Was war das?“, fragte Jenny, als sie auf dem Rückweg nach Hause waren.
„Ich weiß es nicht!“, sagte Lee. „Aber mich interessiert viel mehr wo Lui ist.“
„Mich auch!“, sagte Jan. „Aber ich bin total alle. Ich gehe nach Hause. Wiedersehen, Leute.“
Zurzeit lebte er bei seinen Nachbarn, weil sein Vater abgehauen war und seine Mutter im Krankenhaus lag. Jenny fand, dass er sich dafür ziemlich gut verhielt. Schnell verabschiedete sie sich von Lee, weil sie in die Selbe Richtung wie Jan musste und nicht alleine fahren wollte. Mit einem unguten Gefühl in der Magengegend ging Lee in ihr Zimmer. Wo ist Lui nur? Ob Sasuun ihre Hände im Spiel hat? Der nächste Tag verging. Lui war immer noch nicht da. Es wurde alles immer merkwürdiger. Er war und blieb verschwunden. Er hinterließ keine Zeichen. Er war einfach weg. Der Wind pfiff immer kälter um Lees Herz. Es wurde Herbst. Die Blätter fielen und ein Monat war lange vorbei. Lui! Sie konnte es sich nicht vorstellen. Es durfte einfach nicht sein. Er musste noch leben. Irgendwo da draußen! In der Schule wurde für die Schüler, die Lui gemocht hatten ein Beglaubigungsraum eingerichtet. Fotos standen im Raum. Die Kinder saßen auf Stühlen und der Pfarrer erzählte über Lubomirs Wesen. Lui wurde für tot erklärt! Während der Pfarrer sprach starrte Lee in den Raum, manche weinten. Viele waren gekommen. Susy beugte sich zu ihr vor und raunte ihr zu: „Das selbe war bei euch. Bei dir, Jenny, Jan und auch bei Lui. Was glaubst du, was für Sorgen ich mir gemacht habe?“ Heuchlerin! Dann machte sie eben gute Miene zum bösen Spiel.
„Ich weiß, es tut mir leid!“, flüsterte sie nur, und weil der Pfarrer schon in ihre Richtung sah, verkniff sich Susy noch ein weiteres Kommentar. Lee konnte den Worten, des Pfarrers nicht folgen. Schließlich blieb sie als einzige im Raum zurück. Sie starrte Lubomirs Fotos an. Es konnte nicht sein. Wie kann so ein Lächeln nur einfach verschwinden? Er ist nicht tot! Das konnte sie einfach nicht glauben. Ob er zu den Indianern zurückkehren wollte? Er wäre doch gerne bei ihnen geblieben, oder etwa nicht? Plötzlich fühlte sie eine schwere Hand auf ihrer Schulter.
„Musst du nicht zum Unterricht, mein Kind?“, fragte der Pfarrer und sah sie scharf an. Er trug eine schwarze Robe, hatte pausbäckige Backen und kleine grüne Augen. Seine schwarzen Haare waren dünn und kurz. Und die Brille auf seiner Nase verlieh ihm einen seltsamen Ausdruck.
„Ja, da haben Sie wohl Recht!“, murmelte Lee und wendete widerstrebend den Blick von Luis Bild.
„Dann komm!“, sagte der Pfarrer und deutete mit dem Arm auf die Tür. Langsam trottete Lee hinaus.


Kapitel 49: Ein Etwas zwischen Mensch und Tier!

Lui rannte. Stieß sich ab. Rannte weiter. Nicht anhalten. Bloß nicht stehen bleiben. Sonst würden all die Ereignisse zurückkehren und er müsste sich die vielen Fragen stellen. Weiterlaufen. Immer nur weiterlaufen. Mit einem gekonnten Sprung sprang er über einen großen Bach und landete auf der anderen Seite in dichtem Farn. Er sprang auf einen Felsen und hetzte weiter. Bloß nicht umgucken. Bloß nicht erinnern. Einfach rennen. An das Hier und Jetzt denken. An den Wind. An die Kraft in seinen Gelenken. An jedes kleinste Geräusch. An die Hasen, die vor ihm Reißaus nahmen. Auch wenn sie viel zu langsam wären. Viel zu klein. Viel zu langsam. Im Gegensatz zu ihm. Was war nur passiert? Warum bin ich das geworden? Und warum ist es so schwer meinen Körper zu kontrollieren? Auch wenn es besser wurde, als am Anfang. Am Anfang hatte er gar nichts mehr mit seinem Körper anfangen können. Jetzt wurde es leichter, aber es war noch nicht geschafft. Mit einem lauten Knurren rannte er noch schneller. Nicht daran denken. Nicht erinnern. Unter seinen Ballen spürte er den Schlamm. Als Mensch wäre er ausgerutscht, doch er war kein Mensch.





Zwei Monate waren vergangen. Nichts. So langsam beschlich Lee das Gefühl, dass sie vielleicht doch Recht hatten. Alle! Alle, die meinten, Lui sei tot! Sie sah aus ihrem Fenster. Schwarz. Es war tiefste Nacht. Warum war sie aufgewacht? Wie spät war es überhaupt? Plötzlich hörte sie ein leises Knacken. Sasuun! Lee bekam eine Gänsehaut. Lee war sich sicher, dass sie kam, um sie zu holen. Weil Lui nicht mehr lebte, wollte sie nun Lee. Sie bekam große Angst. Sie wollte die Schamanin nicht wieder sehen! Etwas kratzte an ihrem Fenster. Lees Herz schlug schneller. Wieder gab es ein kratzendes Geräusch. Es war ein Stein, der an das Fenster geworfen wurde. Ob Sasuun mit Steinen werfen würde? Das musste jemand anderes sein, aber wer? Ob sie den Mut hatte das Fenster zu öffnen? Was wenn es doch Sasuun war?
Wenn ich nicht schaue, finde ich es nie heraus, sagte sie sich, schlug ihre Decke zurück und ging zum Fenster, dann öffnete sie es mit einem Ruck. Vor ihr war ein Gesicht und starrte sie an. Zuerst stieß Lee einen leisen Schreckenslaut aus, dann ein Jauchzen und dann kletterte sie zu der Gestalt nach draußen und fiel ihr in die Arme. Es war doch praktisch ihr Zimmer im untersten Stock zu haben!
„Ich wusste, dass du nicht tot bist!“, sagte sie leise. Lui schlang die Arme um sie und drückte sie fest an sich. Es tat Lee gut. Seine Arme, sein Geruch und das Gefühl, dass sich wieder in ihrer Magengegend regte und dass, als Lui verschwunden war, durch ein Loch ersetzt worden war. Schließlich ließ er sie los.
„Wo warst du?“, fragte Lee mit Tränen in den Augen. Lui schwieg.
„Komm mit!“, sagte er tonlos.
„Wohin?“
Was soll das? Er kommt ohne irgendetwas zu sagen. Ohne eine Erklärung und sagt, ich solle mitkommen!?
„Folge mir!“, sagte Lui. Lee bekam Angst. Was war nur mit ihm? Schnell kletterte sie in ihr Zimmer zurück und zog eine Hose und einen Pullover über den Schlafanzug. Dann stieg sie wieder aus dem Fenster. Die Nacht war kalt. Schweigend lief sie hinter ihm her. Er führte sie in den Wald. Es war dunkel und Lee sah sich verblüfft um. Warum führte er sie hierher? Was sollte sie hier?
„Lui?“, fragte sie leise. Alles war still. „Lui!“, rief sie panisch. Er war verschwunden. Das wurde Lee zu viel. Wo ist er denn jetzt hin? Was soll das alles? Plötzlich knackte es neben ihr. Lee fuhr herum. Etwas großes Dunkles kam auf sie zu. Plötzlich trat es ins Mondlicht und knurrte leise. Lee schrie auf und wollte davon rennen, als sich ihr der riesige Wolf in den Weg stellte. Er war schwarz. Nur auf der Stirn hatte er einen weißen Fleck. Er war das genaue Ebenbild von Luke. Doch Luke war tot und lange nicht so groß. Schnell versuchte sie in die Gedanken des Tieres einzudringen.
Ich bin ein Freund. Ich werde dir nichts tun, beruhigte sie das Tier.
Lee, ich bin es. Hab keine Angst. Ich würde dir niemals, niemals wehtun!
Einen Moment lang war Lee verwirrt.
„Lui?“, fragte sie. Der Wolf setzte sich vor sie auf den Weg.
Ja!, antwortete er.
Lee starrte ihn fassungslos an. Er war so groß wie ein Pferd. Vorsichtig ging Lee auf ihn zu und hob eine Hand. Lui senkte den Kopf. Lees Hand berührte den weißen Fleck des Wolfes. Unter ihrer Berührung verwandelte sich der Junge zurück. Es ging schnell. Es dauerte höchstens eine Sekunde. Schon stand sie Lui wieder gegenüber. Die Hand immer noch auf seiner Stirn. Jetzt nahm sie sie langsam zurück.
„Was? Was ist mit dir passiert?“, fragte sie sprachlos.
„Lee“, begann Lui „Ich bin ein Wolfskopf! Das ist wie ein Seelenwolf, nur dass ich schneller und stärker bin, als ihr.“
„Wir?“, fragte Lee. Lui sah sie fragend an.
„Du weißt es doch, Lee!“, sagte er „Ihr seid Seelenwölfe. Noch seid ihr zwar Menschen, aber wenn ihr mit den Welpen eins werdet seid ihr Seelenwölfe. “
Lee starrte ihn sprachlos an. Sie hatte es ja schon die ganze Zeit vermutete, aber es jetzt zu hören, war für sie ein kleiner Schock.
„Ich habe zwei Monate trainiert, um meinen Körper unter Kontrolle zu haben. Es wäre sonst zu gefährlich gewesen, zurück zu kommen.“
„Wann ist es passiert?“
„Als ich mich mit meinen Eltern gestritten habe!“, knurrte Lui. „Sie versuchten mir einzureden, dass es richtig sei, was sie getan hätten. Können Erwachsene nicht einfach mal zugeben, dass es falsch war?“ Plötzlich huschte ein Grinsen über sein Gesicht, als wäre ihm gerade etwas Wichtiges eingefallen. „Ich will dir was zeigen! Gleich geht die Sonne auf!“ Mit diesen Worten verwandelte er sich wieder in den riesigen Wolf und legte sich flach vor Lee auf den Bauch. Er nickte kurz mit dem Kopf auf seinen Rücken. Steig auf!
Bin ich nicht zu schwer für dich?, fragte Lee unsicher. Lui schnaubte verächtlich.
Du unterschätzt mich, Lee.
Vorsichtig stieg Lee auf den schwarzen Wolfsrücken. Das Fell war weich und samtig. Sie krallte sich mit ihren Fingern hinein. Zu ihrer Verwunderung fand sie guten Halt. Plötzlich machte Lui einen Satz nach vorn und preschte davon. Die Schnelligkeit mit der er rannte, war atemberaubend. Er war so schnell wie ein Motorrad. Nein, noch schneller! Lee lachte und schmiegte sich an seinen Rücken. Sie rannten weiter bis er schließlich stehen blieb. Sie standen auf einem großen Felsen und sahen auf ein Tal hinab. Auf Wiesen und Bäume und auf einen See in dem sich die aufgehende Sonne spiegelte. Lee rutschte von Luis Rücken und sah auf dieses wundervolle Schauspiel, während sie Luis Schnauze kraulte, die er ihr in den Schoß gelegt hatte.


Kapitel 50: Der Kampf gegen den Dachs!

In der Schule wurde Jenny von Lee zur Seite genommen. „Jenny, er ist wieder da!“
„Was?“, fragte sie verwirrt. „Wovon redest du? Wer ist wieder da?“
„Lui!“, flüsterte Lee aufgeregt.
„Wirklich? Wo ist er?“, fragte Jenny und sah sich um. Lee schwieg für einen Moment, dann sagte sie: „Er ist nicht hier!“ Jenny stutze. „Aber wo ist er dann?“
„Im Wald!“, erwiderte Lee und erzählte ihr alles, was sie gestern erlebt hatte. Jenny war sprachlos. „Wir müssen sofort Jan bescheid sagen“, sagte sie schließlich und runzelte die Stirn. Den ganzen Tag konnte Lee nur an den schwarzen Wolf denken. Die Stunden schienen endlos zu dauern. Eigentlich hätte Lee schon mindestens fünfzig Ermahnungen gehabt, weil sie die ganze Zeit träumte. Doch die Lehrer waren nachsichtig mit ihr. Sie meinen, dass mir so viel Schlimmes passiert sei und ich deswegen in Ruhe gelassen werden sollte!, dachte Lee grimmig. Sie meinen ich hätte erst meinen Vater und dann meinen Freund verloren! Ich wette sie haben Angst, dass ich mich wieder aus dem Staub machen könnte!
Endlich trafen sie sich mit Jan am Fahrradkeller.
„Gehen wir zu den Welpen?“, fragte er Lee.
„Ja, dort treffen wir Lui!“, antwortete das Mädchen und das beschwingende Gefühl im Magen stellte sich wieder ein, als sie seinen Namen aussprach. Jan ging in Startstellung.
„Wie wär’s mit einer Revanche?“, fragte er mit einem schelmischen Grinsen im Gesicht.
„Die kannst du haben!“, sagte Jenny herausfordernd. Schon flitzten die beiden los, doch Lee hielt mühelos mit ihnen mit. Als sie an Lees Haus ankamen, um noch ein Steak zu holen, diskutierten Jenny und Jan, wer von ihnen als erster da gewesen war. Schließlich verlangten sie eine zweite Runde. So schnell sie konnten rannten sie zu den Welpen.
Doch als sie ankamen blieben sie erschrocken stehen.
Die Welpen saßen mit blutverschmierten Schnauzen vor einem toten Reh. Lui saß vor ihnen und sah in Lees Richtung. Die Welpen kamen stürmisch auf sie zu, um sie zu begrüßen. Lee streichelte Lilian und wandte sich zu ihrem Freund.
„Lui“, hörte Lee sich sagen „Was soll das?“
„Ich habe ihnen ein Reh gebracht!“, sagte Lui tonlos.
„Der Förster hätte dich erwischen können“, sagte Lee.
„Nein, hätte er nicht“, sagte Lui in seiner tonlosen Stimme. Alles an ihm irritierte Lee. Lui kam zu ihnen hinüber und grinste siegesgewiss. „Ich bin zu schnell für ihn. Außerdem müssen die Welpen lernen, wie man jagt. Dann werden sie sowieso Rehe fressen. Lee, nur ich kann ihnen beibringen, wie man jagt!“
„Du bist zu groß für einen Wolf. Weißt du was das bedeutet, wenn dich jemand sieht?“, fragte Jenny. Lui schwieg.
„Sie werden dich fangen, Lui!“, stimmte Jan ebenfalls zu. „Dich einsperren und in ein Labor schleppen.“
„Sie werden mich aber nicht kriegen!“, sagte Lui. Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Von allen Seiten wurde er angegriffen! Keiner hielt zu ihm! Plötzlich durchfuhr ihn ein bedrohliches Knurren. Die Welpen winselten und rannten zu ihren Rudelgefährten.
„Stellt euch hinter mich!“, sagte der Junge beherrscht.
Lilian, komm her, befahl Lee, doch das wäre gar nicht nötig gewesen, da Lilian schon längst neben ihr stand.
„Hinter mich!“, knurrte Lui und wandte sich nach rechts. Langsam taten die Kinder es, doch sie ließen den Blick nicht von der Stelle, zu der Lui sah. Kaum standen alle hinter ihm verwandelte der Junge sich in den Wolf. Er grub seine Pfoten in den Boden und knurrte gefährlich. In dem Gestrüpp raschelte es. Lee schluckte. Was war das? Sie vernahm Pfoten, die schnell näher kamen.
Plötzlich schoss ein Ungetüm aus dem Gebüsch geschossen und biss sich in Luis Hals fest. Jenny und Lee schrieen erschrocken auf. Es war ein riesiger Dachs. Der größte den Lee je gesehen hatte. Wie ein Bündel rollten Lui dun der Dachs knurrend herum. Ein Wirrwarr aus Zähnen und Krallen. Lui war stark und flink, doch der Dachs war kleiner und aggressiver und verpasste Lui eine Wunde an der Wange. Lubomir schnappte nach der Kehle des Dachses. Dieser zischte unter seinen Beinen hindurch. Lee fing seinen Blick auf und versuchte ihn zur Umkehr zu zwingen, doch der Dachs sprang geifernd auf sie zu. Lilian sprang vor Lee und knurrte laut. Sie klang überhaupt nicht mehr wie ein Welpe.
Lilian, nicht!, rief Lee ihr zu, doch da hatte der Dachs den Welpen schon weggestoßen. Winselnd prallte der Welpe gegen einen Baum. Lee taumelte zurück. Der Dachs sprang. Sein Maul war weit aufgerissen, um Lees Kehle durch zu beißen, als Lui ihn im Sprung im Genick packte und ihm mit einem ekelhaften Geräusch das Genick brach.
Keiner der Kinder hatte auch nur einen Finger rühren können, schon lag der Dachs tot am Boden und Lui stand in seiner Wolfsgestalt zitternd vor ihnen und starrte fassungslos auf den leblosen Dachs.
„Lilian!“, rief Lee. Kraftlos rappelte sich der Welpe auf und rannte zu ihr. Lee schloss sie in ihre Arme. „Oh, meine Lilian!“
Lee!, jaulte der Welpe. Bebend verwandelte Lui sich in den Jungen zurück. Er hatte eine klaffende Wunde am Arm. Wankend drehte er sich zu ihnen um und sah sie gequält an, dann sank er erschöpft auf die Knie.
Schnell rannte Jenny zu ihm. Sie war die erste, die sich wieder einigermaßen unter Kontrolle hatte. Lee und Jan liefen mit den Welpen hinter ihr her. Lee schlang einen Arm um Luis Schultern und drückte ihn beruhigend.
„Sasuun“, flüsterte Lui atemlos und krallte sich in das Moos unter ihm. Jan sah ihn fassungslos an. Keiner wagte es auch nur ein Wort zusagen, aus Angst es könnte das falsche sein. Schließlich schritt Lee auf den Dachs zu und kniete neben ihm nieder.
„Mögen deine Seelen einen sicheren Weg in die Ruhestätte deiner Vorfahren finden!“ Dabei streichelte sie dem Dachs sanft übers Fell. Den Spruch hatte ihr Pachu beigebracht, bevor sie das erste Mal jagen gegangen war.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte Jenny an Lui gewandt. Der Junge nickte tapfer. Die Welpen kamen zu ihnen und rieben ihre Köpfe an seinen.
„Sasuun, wird nicht aufgeben.“ Er wischte sich mit der Hand den Mund ab. „Sie wird noch etwas schicken. Irgendein…anderes Tier.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich werde bei den Welpen bleiben und ihnen beibringen wie man jagt. Ich werde auf sie aufpassen!“, versicherte er ihnen und sah Lee ernst in die Augen. Das Mädchen nickte sprachlos.
„Das…das ist eine gute Idee!“, sagte sie gefasst. Lui lächelte schwach. Dann rollte er sich in das weiche Moos und schlief tief und fest ein.


Kapitel 51: Das Wildschwein!

Die Tage verflogen, wie im Flug. Lee kam sich vor wie in einem Traum. Alles zog an ihr vorbei. Sie verlor ihr Zeitgefühl. Jeder Tag war der Selbe. Bis zu dem einen Tag in Mathe. Der Unterricht dauert ja ewig!, dachte Lee und seufzte. Plötzlich durchfuhr Lee etwas wie ein Blitz. Auch Jenny neben ihr zuckte zusammen. Erschrocken wandte sie den Kopf zu Lee. Ihre und Lees Lippen formten das Selbe Wort: „Die Welpen!“ Sie waren in Gefahr. Lee spürte es genau. Wie kamen sie jetzt nur aus dem Unterricht raus? Besonders bei Frau Haselmann. Lee tat so, als ob sie furchtbares Bauchweh hatte.
„Frau Haselmann“, sagte sie und verzog dabei leidend das Gesicht. „Mir geht’s ganz furchtbar.“ Frau Haselmann sah sie schnippisch durch ihre Brille an.
„Willst du ins Sekretariat?“, fragte sie spitz.
„Nein, ich…ich würde gern nach Hause“, stotterte das Mädchen. Der Unterton in Frau Haselmanns Stimme verwunderte sie.
„Soso“, erwiderte Frau Haselmann „Aber das du mir nicht noch mal abhaust. Du wirst zu Hause in deinem Bett liegen. Versprochen?“ Lee nickte verblüfft, verkreuzte allerdings die Finger hinter ihrem Rücken. Sie packte ihre Sachen und ging aus dem Klassenzimmer. Es stimmte! Lee war nach dem Tag in Frau Haselmanns Unterricht abgehauen, ob ihre Lehrerin deswegen Probleme bekommen hatte? Schon schnippte Jennys Finger in die Höhe.
„Frau Haselmann, ich habe vergessen, dass ich noch einen wichtigen Arzttermin habe!“, sagte sie. Frau Haselmann seufzte ergeben. „Dann ab mit dir.“
Schnell verließen Jenny und Lee das Schulgebäude. Plötzlich schoss Jan aus der Schule und holte die beiden Mädchen ein.
„Habt ihr das auch gespürt?“, fragte er „Die Welpen sind in Gefahr.“
„Ja. Ich frage mich nur warum? Also, warum wir es spüren?“, sagte Jenny.
„Hat Lui nicht gesagt, dass wir Seelenwölfe wären? Vielleicht haben wir eine bestimmte Verbindung zu ihnen!“, sagte Jan.
„Stimmt. Wir können ja auch mit ihnen reden. Das konnte ich zwar schon vorher mit anderen Tieren, aber das ist jetzt egal. Wir sollten los!“, sagte Lee und rannte davon. Kaum waren sie am Bach hörten sie Lubomirs Knurren. Dann brachen sie durch das Dickicht. Der schwarze Wolf und ein riesige Keiler umkreisten sich knurrend. Beide hatten schon viele Wunden. So ein großes Wildschwein hatte Lee noch nie gesehen. Es war mit dem Rücken fast so groß wie ein Reh. Der Keiler rannte auf Lui zu und rammte seine Hauer in den Bauch des Jungen. Winselnd stürzte Lui zu Boden. Die Hufe des Keilers trampelten auf Lui zu. Dieser versuchte mit all seiner Kraft, die er aufbringen konnte, sich aufzurichten. Kurz bevor der Keiler Lui erreichte, schoss Lilian wie ein weißer Blitz auf das Ungetüm zu und biss sich fest. Sie erinnerte so sehr an Leyla, doch ihre Attacke nützte nichts. Der Keiler schüttelte sie ab wie eine lästige Fliege. Winselnd prallte Lilian auf den Boden. Schnell rannten die Kinder an einem Platz auf der Lichtung an dem sie ihre Waffen versteckt hatten. Jenny zog ihre Wurfsterne hervor. Breitbeinig stellte sie sich vor den Keiler.
„Hey!“, schrie sie. Das Wildschwein sah sie wütend an. Jenny ging in Verteidigungsstellung und bereitete sich darauf vor die Wurfsterne zu schleudern. Brüllend schüttelte der Keiler den Kopf und jagte auf Jenny zu. Jamie stellte sich knurrend neben sie.
Jamie, bleib zurück, befahl Jenny.
Ich bleibe bei dir! Ich kann nicht mit ansehen wie meine Rudelgefährtin verletzt wird.
Das waren tapfere Worte für die kleine Jamie und Jenny wusste sie sehr zu schätzen. Ehe der Keiler sie erreichte wich sie nach links und Jamie nach rechts aus. Jenny rollte sich ab und warf einen Wurfstern. Der Stern grub sich in die dicke Hornhaut des Keilers. Quiekend schrie er auf und sah wüst um sich. Wie Jenny vermutet hatte, waren seine Augen weiß. Jan umfasste sein Messer fester und schleuderte dem Keiler einen Stein an den Kopf, damit der Keiler auf ihn aufmerksam wurde. Es funktionierte. Rasend vor Wut sah der Keiler um sich.
„He, Hackfresse!“, schrie Jan ihm zu. „Hier drüben!“ Brüllend rannte der Keiler auf ihn zu.
Jason!, befahl Jan. Der kleine Welpe schnellte vor und rannte unter dem Keiler durch, während Jan sich an einem tief hängenden Ast hochzog. Der Keiler war irritiert, als der kleine Jason unter ihm vorbei zischte. Als er wieder auf den Jungen sah, war dieser verschwunden.
Verwirrt schnaubend sah der Keiler sich um.
„Hier oben!“, rief Jan und ließ sich auf das große Wildschwein fallen. Jan stieß das Messer in den Nacken des Keilers, dieser brüllte auf und schmiss Jan von seinem Rücken. Jan lag vor den trampelnden Hufen des Keilers und zog schützend die Arme über seinen Kopf. Schnell sprang Jason herbei, doch Lubomir war schneller. Mit einem Knurren rammte er den Keiler. Dieser fiel auf die Seite. Schwer atmend stellte sich Lui vor die Kinder.
„Lass sie in Ruhe!“, knurrte Lui das Wildschwein bedrohlich an. Es schien als ob der Keiler lachte. Auf einmal stürzte er sich wieder auf den Wolf und die beiden rangelten sich auf dem Boden. Lui packte den Keiler im Nacken und biss ihm in den Hals. Doch er bekam das Genick nicht rechtzeitig zu packen. Schon rammte ihn der Keiler seine Hauer in den Bauch. Jaulend taumelte der Wolf zurück, doch dann stürzte er sich mit letzter Kraft auf den Keiler, bekam das Genick zu fassen und brachte diese Schandtat zu Ende. Der Keiler fiel leblos zu Boden. Ein dumpfer Aufschlag und alles war zu Nichte. Lui spürte förmlich wie alle Lebensgeister das Tier verließen. Das Tier, das eigentlich gar nicht angreifen wollte. Das arme Tier, dessen Geist so verwirrt gewesen war, das Sasuun ohne Probleme in es eindringen konnte und ihm einen Auftrag geben konnte. Ihm wurde schwindlig. Mit einem dumpfen Aufprall fiel der schwarze Wolf zu Boden. Er spürte wie das Blut langsam seinen Körper verließ, wegen der Wunde, die der Keiler ihm zugefügt hatte.
Lui verabscheute sich dafür, dass er jedem Tier das Leben nehmen musste. Er war kein Mörder, doch jetzt kam er sich vor wie einer. Er nahm jemandem das Leben ohne ihn zu essen oder ihn wieder zu verwenden. Zwar um sich zu verteidigen, doch das reichte nicht aus. Diese Tiere waren unschuldig.
„Lui!“ Lee lief zu ihm. Lui hob seine Schnauze und sah sie dort stehen. Sie hatte Angst. Angst vor ihm! Er verzog schmerzverzerrt das Gesicht und blinzelte ein paar Mal, weil seine Augen furchtbar brannten. Sie bettete seinen Kopf in ihren Schoß. Lilian sah ihn flehend an.
Leb weiter! Gib nicht auf! Nicht jetzt!, sagte sie ihm. Lui verwandelte sich zurück und fühlte sich furchtbar zerbrechlich. Der Keiler hatte die Narbe des Bären aufgerissen.
„Jan! Jenny!“, rief Lee panisch. „Ich brauche Weißmoos! Beeilt euch!“
Jan und Jenny nickten und verschwanden mit Jamie und Jason im Dickicht. Lee blieb bei Lui und sah ihn an. Eine ganze Weile sahen sie sich nur an. Als Jan und Jenny wieder kamen legte sie dem Jungen das Weißmoos auf die Wunde.
„Wer weiß noch“, fragte Lui stöhnend „dass ich hier bin?“
„Niemand. Außer uns!“, sagte Lee tonlos. Lui überlegte. Dann seufzte er.
„Ich weiß nicht, ob ich zu meiner Familie zurückkehren sollte. Ich weiß nicht, ob ich mich im Griff habe.“
„Tu es, Lui!“, sagte Lee und Lilian bellte, Geh zurück zu deiner Familie.
Urplötzlich wurde Lui klar, was Navaje ihm über Namen sagen wollte. Sie waren alle verbunden. Sie waren durch ihre Namen verbunden. Namen waren Schicksal. Lee und Lui. Jan und Jenny. Die Anfangsbuchstaben. Es war Schicksal. Die Namen waren mehr, als der Charakter. Er konnte es nicht genau erklären, er konnte nur sagen, dass sie durch ihre Namen zusammengehörten. Lui nickte. „Du hast Recht. Aber ich werde ihnen nichts über den Wolfskopf sagen.“ Er überlegte einen Moment und runzelte die Stirn. „Aber was ist, wenn Sasuun wieder so ein Tier schickt, dass die Welpen umbringen will?“
„Du musst zu deinen Eltern, sie machen sich bestimmt große Sorgen!“, sagte Jenny.
„Wir spüren, wenn sie in Gefahr sind. Wir können rechtzeitig zu ihnen kommen!“, sagte Jan.
„Und was, wenn ihr nicht rechtzeitig zu ihnen kommt?“, fragte Lui. Sie schwiegen eine Weile.
„Das wird nicht passieren“, sagte Lee schließlich.
„Und wenn doch?“, fragte Lui.
„Du musst zu deinen Eltern, wir müssen es riskieren. Ich werde sofort da sein, wenn etwas nicht stimmt.“, versprach Lee „Und wenn ich einfach aus dem Klassenzimmer stürze.“
Lui lächelte, dann nickte er.
„Na schön. Ich gehe zu meinen Eltern zurück.“
Lee sah ihn erleichtert an.


Kapitel 52: Zerrissen!

„Hilfe! Hilfe!“ Eine dunkelhäutige Frau stürzte in das Polizeibüro. „Bitte! Sie müssen unbedingt helfen.“ Die Frau lief auf einen verwirrten Polizisten zu und schüttelte ihn leicht.
„So beruhigen Sie sich doch!“, sagte der Polizist und hielt die Frau an beiden Händen fest. Er war ziemlich groß und stark. Seine Augen waren klein und sahen prüfend auf die Frau hinab. Er schob seine Mütze zurecht und sah die Frau an.
„Was ist das Problem?“, fragte er fachmännisch und bot der Frau einen Stuhl an. Dankbar setzte sich die Frau, dann schluchzte sie.
„Ich ging gerade mit meinem Fiffi durch den Wald, als auf einmal Wölfe, kleine Welpen, ihn packten und verschleppten.“ Die Frau fing an zu weinen. Der Polizist rieb sich die Schläfe.
„Und Fiffi ist Ihr Hund?“, fragte er grübelnd. Die Frau nickte. „Ja, ein reinrassiger Jack Russel Terrier.“
„Und Sie sind sich sicher, dass es Wölfe waren?“, fragte der Polizist.
„Todsicher!“, erwiderte die Frau „Und ich verlange, dass diese Tiere erschossen werden. Sie sind eine Gefahr für uns.“ Der Polizist musterte die Kleidung der Frau. Sie trug eine rosa Bluse und einen rosa Rock und stand auf lila Pumps, dazu hatte sie eine rosa Tasche. Alles schlammverschmiert. Es sah geradezu lächerlich aus.
„Hören Sie, wir können nur die Jäger verständigen, dass sie das Versteck dieser Tiere finden sollen. Wir geben natürlich unser Bestes, aber Wölfe sind gefährdete Tiere, da macht der Tierschutz nicht mit. Wir könnten sie in einen Zoo stecken, doch auch das wird den Tierschutz nicht freuen. Sie wissen doch, die Neubesiedlung der Wölfe und so“, sagte er und legte eine Pause ein.
„Aber diese Wölfe sind eine Gefahr für die Gesellschaft. Ich verlange, dass man dagegen etwas tut!“, brauste die Frau auf und sah sich schnippisch im Raum um.
„Wir werden unser Bestes geben, gnädige Frau. Würden Sie mir, bitte, ihren Namen nennen.“
„Frau Satan“, sagte sie „Gabi Satan.“
Der Polizist notierte sich ein paar Stichpunkte auf einem Zettel.
„Sagen Sie, Frau…Satan, wie alt ist denn Ihr Fiffi?“, fragte der Polizist und beugte sich zu ihr vor.
„Er ist sechs Jahre alt“, sagte die Frau mit einem verklärten Blick in den Augen. „Er hat bestimmt furchtbare Angst. Bitte versprechen Sie, dass Sie ihn schnell finden werden.“
„Ja, wir werden sofort mit der Suche beginnen.“





Lee blickte von ihrem Buch auf. Es war Dienstagnachmittag. Die Welpen! Irgendetwas stimmte nicht. Schnell zog sie sich die Jacke über und rannte in den Wald.
Als sie das Zuhause der Welpen betrat, blieb sie schockiert stehen. Die Welpen liefen winselnd herum und wurden von ein paar Männern gejagt, die Gewehre auf den Rücken hatten. Es waren fünf, zählte Lee. Fünf Jäger. Jamie sprang auf einen Felsen und wollte auf der anderen Seite hinunter springen und davon rasen, als hinter dem Felsen jemand hervortrat, sie im Sprung packte und in einen Sack stopfte. Dann schnürte der Mann den Sack zu und warf den Welpen gegen einen Baum, damit er aufhörte zu zappeln. Lee sprang auf die Lichtung.
„Halt!“, rief sie „Hört auf!“
Zwei Männer rannten zu ihr und packten sie.
„Bringt das Kind hier weg!“, rief ihnen ein anderer zu.
„Nein!“, schrie Lee und trat um sich. Sie wand sich so gut sie konnte, doch die beiden Männer hatten sie fest im Griff. „Lilian!“, schrie sie so laut sie konnte. Lilian, die schon auf sie zu gerannt kam, raste auf einen Jäger zu und biss ihm in die Hand. Der Mann schrie auf. Lee riss sich los. Lilian sprang ihr in die Arme.
„Lilian!“, flüsterte Lee und presste sie an sich.
„Los, nehmt ihr den Welpen weg, aber gebt Acht, er ist gefährlich!“, rief ein Jäger. Schon liefen drei Männer auf sie zu. Darunter auch der, den Lilian gebissen hatte.
Lee, hilf mir! Ich…ich habe Angst!, wimmerte der Welpe und presste sich an Lee.
Keine Angst, ich bin bei dir. Dir wird nichts passieren!, beruhigte das Mädchen sie. Eine Hand griff nach ihr, doch Lee schüttelte sie wimmernd ab.
„Nein!“, schrie Lee. „Sie ist nicht gefährlich! Haut ab! Verschwindet!“ Schluchzend presste sie Lilian an sich. Einer der Jäger beugte sich zu Lee herunter. Lilian drehte sich in ihrer Umarmung um und winselte, vermischte aber tapfer noch ein paar Knurrlaute darunter.
„Hör mal zu, Kleine. Das ist ein wildes Tier und es könnte uns alle schwer verletzen“, sagte der Jäger und deutete auf Lilian.
„Sie wird niemanden verletzen, wenn ihr sie in Ruhe lassen würdet. Es ist mir egal, was ihr sagt. Verschwindet endlich! Ihr könnt uns nicht trennen!“, schrie Lee die Jäger an. Hinter ihr hörte sie ein Knacken.
„Lasst die Wölfe in Ruhe!“, rief Jan. Jenny trat neben ihn.
Jamie?, versuchte sie verzweifelt Kontakt aufzunehmen. Jamie! Sie wurde panisch und lief mit Jan auf die Männer zu.
„Kinder, verschwindet hier! Diese Wölfe gefährden die Gemeinde! Joe, bring die Sache endlich zu Ende.“ Drei Männer rannten auf sie zu. Der eine versuchte Lee Lilian aus den Armen zu reißen, während die beiden anderen versuchten Jan und Jenny im Polizeigriff zu packen und fest zu halten. Jan tauchte unter dem ersten Arm, des Mannes durch, doch er wurde vom zweiten Mann festgehalten. Jenny lief auf einen Jäger zu, der einen Sack auf dem Rücken trug. Von dort aus schien eine gewisse Anziehungskraft auszugehen, als sie bemerkte, dass Jamie in dem Sack sein musste, schrie sie auf. Für einen Moment war sie unaufmerksam und wurde von einem Mann gepackt und in den Polizeigriff gezwängt.
„Lasst es! Hört auf!“, schrie Lee. Der Mann riss ihr die knurrende Lilian aus dem Arm. Ein Anderer kam herbei und packte Lee.
„Nein! Nein! Lilian!“, schrie sie. Der einzige Wolf, den sie nicht zu fassen bekommen hatten war Jason, er rannte wie ein Blitz hin und her und ließ sich nicht fangen. Ein Mann nahm ein Gewehr vom Rücken und wechselte die Patronen aus. Dann zielte er und schoss. Es gab keinen Knall. Jason fiel lautlos zu Boden. Jan schrie auf und wand sich.
„Ihr verdammten Mistkerle! Lasst mich los! Jason!“, schrie er außer sich vor Wut. Der kleine Wolf bewegte sich nicht. Nun wurde Jason wie Lilian und Jamie in einen Sack gesteckt.
„Bringt die Kinder hier weg! Verdammt noch mal, Joe! Schaff sie hier raus!“ Die Jäger schleiften die Kinder in Richtung Stadt. Sie schrieen und bissen, doch die Jäger ließen sie nicht los. Ein Knurren erschallte und ein riesiger, schwarzer Wolf brach durchs Dickicht.
Erschrocken wichen die Jäger zurück. Lubomir knurrte bedrohlich, warf den Kopf in den Nacken und heulte. Als er die drei verschnürten Säcke sah und die drei Kinder, die von den Jägern gefangen gehalten wurden. Plötzlich rannte er auf die übrigen zwei Jäger zu. Der eine fummelte wie wild an seinem Gewehr rum.
„Schieß endlich, du Volltrottel!“, schrie ihn der andere an. Er riss ihm das Gewehr aus der Hand und zielte.
„Nein!“, schrie Lee. Ihr Schrei war noch nicht beendet, als Lui auf den Jäger zu sprang, und dieser abdrückte. Ein lauter Knall, der einen in den Ohren dröhnte und widerhallte erschallte. Der Wolf fiel zu Boden. Blutend lag er an der Erde.
„Nein! Nein! Lasst mich endlich los! Ihr wisst nicht, was ihr da gerade getan habt! Glaubt mir, wenn ihr wüsstet, was ihr da gemacht habt, dann würdet ihr euch wünschen, dass ihr dieses Blut nicht an euren Händen tragen würdet. Er hatte nie vor jemanden umzubringen!“, schrie Lee. Sie trat und biss und tat alles Mögliche, doch der eiserne Griff blieb hart. Schließlich schluchzte sie nur noch. Jenny flossen die Tränen übers Gesicht und sah wütend auf die Jäger. Jan schwieg und sah mit entsetztem Blick zu Lui hinüber, während die Jäger sie zur Stadt zurückbrachten und die Welpen in die andere Richtung mitnahmen. Die Jäger führten sie durch die Straßen. Von allen Seiten wurden sie angegafft. Und überall vernahm man die Worte.
„Wolfswelpen“ und „Die Besitzer der Wölfe“ Und „Die, die zu dem Wolfsrudel gehören!“ Oder „Wolfskinder!“ Das war der häufigste Begriff.
Ja, ich bin ein Wolfskind, zischte Lee. Und ich bin stolz darauf!
Jenny stolperte und bekam eine schallende Ohrfeige. Von überall ertönten Ausrufe, doch keiner kam, um zu helfen. Nur Jan schrie, wie wild, dass sie sie endlich freilassen sollten. Sie alle. Und das am Besten jeder einzelne von ihnen so schnell wegrennen sollte, wie er nur konnte. Auf einmal rief eine ältere Dame: „Das sind doch noch Kinder! Lassen Sie sie los!“
Andere Stimmen gaben ihr Recht. Der Jäger, der Lee festhielt, blieb stehen und sah in die Menge von Schaulustigen. Es wurde still.
„Diese Kinder“, begann er und schüttelte Lee, die mit gesenktem Kopf dastand und durch ihren Tränenschleier nichts mehr wahrnahm. „Diese Kinder sind gefährlich! Sie wollten uns vernichten! Ihre Wölfe bissen mich in die Hand und versuchten uns umzubringen. Hier ist der Beweis!“, rief er und hielt seine blutende Hand hoch. „Sie sind brutal und werden soviel Blut schmecken, wie sie nur können. Sie werden sich an euren Kindern vergreifen! An euren Katzen und Hunden! Wenn ich dürfte, würde ich diese Kinder auf der Stelle umbringen!“
Lee sah erschrocken zu dem Mann auf. Was sollte diese Anrede? Der Mann sah verabscheuend auf sie hinab. „Aber da es keine Todesstrafe mehr gibt“, sagte er fast angewiedert „ist das natürlich nicht erlaubt! Doch was macht man sonst mit solchen Kindern. In den Jugendknast? Ha! Die Wölfe werden sich befreien und den Jugendknast stürmen.“
Allgemeines aufschreien und viele verlangten, dass man sie wenigstens bewusstlos schlagen sollte. Die Blicke, die den Kindern nun zugeworfen wurden, waren verabscheuend und besonders ängstlich. Die Mütter zogen ihre Kinder ins Haus und schlossen die Tür.
„Aber, aber, ich bitte euch, das war noch lange nicht genug. Ihre Wölfe sind drei Welpen. Ja, Welpen! Doch diese Welpen haben einen Verbündeten.“ Wieder wurde es still. „Es ist ein riesiger Wolf, so groß wie ein Pferd. Er könnte das ganze Dorf hier niederwalzen! Mein Kollege erschoss ihn, aber was wenn es noch mehr gibt? Wisst ihr was, ich pfeif drauf, was die Regierung sagt! Ich werde diese Wölfe töten!“, schrie er. Zustimmendes Gegröle war zu vernehmen. Lee sah den Mann erschrocken an. Was wollte er? Hatte er nicht schon genug angerichtet? Sie spürte wie ihr heiße Tränen die Wangen herunter liefen. Nur die ältere Dame schüttelte traurig den Kopf und ging in ihr Haus zurück. Von einer Menschenmasse wurden sie bis zum Polizeibüro begleitet. Erst als sie die Tür des Polizeibüros hinter sich geschlossen hatten, löste sich die Menge auf und verschwand. Die Jäger schuckten sie unsanft in einen Raum mit weißen Wänden und einem Schreibtisch. Hart drückten sie sie auf drei Stühle.
„Lasst uns hier raus! Wir haben nichts getan!“, schrie Jan.
„Wo sind unsere Wölfe?“, wimmerte Jenny.
„Es sind nicht eure Wölfe!“, sagte eine Stimme. Ein Mann setzte sich vor ihnen auf einen Stuhl an einem Schreibtisch.
„Sie hören auf uns“, sagte Jenny. „Wir können sie in Schach halten.“
„Anscheinend nicht!“, sagte der Polizist und sah die Kinder misstrauisch an.
„Was meinen Sie damit?“, fragte Jan. „Sie sind doch nur ausgerastet, weil diese…diese“ er deutete auf die Männer „diese…Bastarde sie angegriffen haben!“
„Diese Wölfe haben einen Hund und anscheinend auch einen Jäger angefallen“, sagte der Polizist ernst, während er Jans Einwand vollkommen ignorierte.
„Diese Jäger haben sie behandelt wie Dreck!“, sagte Lee und schluckte ihre Tränen runter. „Ihr könnt nicht einfach irgendwelche Tieren weh tun und euch wundern, wenn sie sich wehren!“ Diese Menschen machten sie wütend. So wütend! Eine Weile war es still.
„Und der Hund?“, fragte der Mann, der ihnen gegenüber saß gereizt.
„Jamie, Lilian und Jason würden nie jemanden so etwas antun. Da muss es schon einen triftigen Grund geben!“, sagte Jenny.
„Oh toll, jetzt haben die Viecher auch noch Namen!“, seufzte der Polizist. „Hört zu, eure kleinen lieben Freunde werden in einen Zoo geschickt. Echt außergewöhnliche Exemplare…“
„Sie meinen, sie leben?“, fragte Jan hoffnungsvoll.
„Ja, natürlich. Es ist gegen das Gesetz Wölfe zu erschießen!“
Lee warf einen bösen Blick auf den Jäger, der vorhin vor der Menge gesprochen hatte. Er erwiederte ihren Blick kalt.
„Aber…die haben doch mit Gewehren auf Jason geschossen“, stotterte Jan.
„Das waren nur Betäubungspfeile“, verteidigte sich einer der Jäger. „Damit wir die Wölfe auch fangen konnten.“
Jan atmete erleichtert auf. Auch Lee und Jenny entspannten sich ein wenig. Die Vorstellung der kleine, freche Jason hätte tot sein können, hatte nicht nur Jan erschreckt.
„Und was ist mit Lubomir?“, fragte Lee plötzlich. „Ich habe das Blut in seiner Brust gesehen! Erzählt mir also nicht, dass es nur Betäubungspfeile waren!“
Fragend blickte der Polizist die Jäger an, die unwohl mit den Füßen scharrten.
„Ihr habt einen Wolf getötet?“, fragte er streng.
„Es war Notwehr“, murmelte einer von ihnen leise.
„Lüge!“, schrie Jenny. „Sie haben ihn nicht aus Notwehr erschossen! Hätten sie nicht die Welpen gejagt, hätte er auch nicht angegriffen!“ Auf einmal wurde Lee zornig. Wütend wischte sie ihre Tränen weg und ehe sie wusste was sie tat, sprang sie auf und hastete zur Tür. Ich muss zu Lui! Doch bevor sie zu Tür kam, hielten sie starke Hände fest. Das Mädchen verspürte einen stärkeren Drang zu Lui zu kommen und wehrte sich umso mehr.
„Lasst mich los!“, schrie sie. „Ich muss zu ihm! Ihr versteht das nicht! Lasst mich los!“
Einer der Jäger wollte sie wieder in einen Polizeigriff zwängen, doch darauf fiel Lee nicht noch einmal herein. Sobald der Jäger ihren Arm packte, drehte sie sich zu ihm um und trat ihm in den Bauch. Der verwirrte Jäger lockerte seinen Griff und das Mädchen huschte hinaus. Ins Freie. Es war dunkel. Die Gassen waren leer und kaum noch zu sehen. Es war die Zeit für zwielichtige Gestalten. Deswegen hasste Lee die Stadt. Wenn einem im Wald etwas passierte, konnte man sagen, dass es ihre Schuld sei, wenn sie zum Beispiel ausgeraubt wurde. Dann war es ihre Schuld, dass sie in den Wald gegangen war, weil man dort nicht auf Hilfe hoffen konnte. Doch wenn man in der Stadt ausgeraubt wurde und man schreit nach Hilfe kommt trotzdem keiner. Wenn Lee die Wahl gehabt hätte, wo sie sich gerne ausrauben lassen würde, würde sie den Wald nehmen. Im Wald hatte sie immerhin das Gefühl sie könne sich selbst helfen. Doch in der Stadt verließ sie dieses Gefühl. Hier war sie machtlos. Hier gab es keine Bäume hinter denen man sich verstecken konnte. Keine Sträucher und Blätter zwischen denen man davonhuschen konnte. In der Stadt verlor sie die Orientierung. Verzweifelt versuchte sie mit Lilian Kontakt aufzunehmen, doch sie bekam keine Antwort. Diese Gassen waren unheimlich. Auf einmal packten sie mehrere Hände und zogen sie in eine schmale Gasse. Lee schrie und zappelte. Aber wie sie schon befürchtet hatte, kam ihr keiner zu Hilfe.
„Na, meine kleine Schnecke“, hörte sie eine raue Stimme an ihrem Ohr. Sie wurde an jemanden gepresst und bekam fast keine Luft mehr. Dann wurde sie weggestoßen und fiel auf das kalte Pflaster. Sie hörte Männerstimmen lachen. Lee bemerkte, dass sie besoffen waren, während sie sich mühsam aufrappeln wollte. Doch kaum stand sie, wurde sie wieder gepackt.
„Na, komm! Hast du nicht Lust was mit uns zu unternehmen?“, fragte einer und schubste sie gegen einen anderen Mann, der sie festhielt und ihr einen widerlichen Kuss auf die Wange drückte. Verzweifelt versuchte Lee sich aus seiner Umarmung zu befreien.
„Ist die Kleine nicht süß?“, fragte er.
„Lass mich los!“, zischte Lee.
„Habt ihr das gehört? Ist sie nicht niedlich?“, rief der Mann der sie immer noch festhielt. „Am Besten wir fangen gleich an etwas mit ihr zu unternehmen.“ Die Männer lachten höhnisch. Plötzlich durchfuhr ein Knurren die Dunkelheit, das Lee durch Mark und Bein ging. Wenn sie nicht gewusst hätte von wem dieses Knurren stammte, hätte sie sich am Boden bibbernd zusammengrollt in der Hoffnung nicht gesehen zu werden. Die Männer schubsten Lee ängstlich von sich und rannten fluchend davon. Der schwarze Wolf war in der Gasse kaum zu erkennen. Nur der weiße Fleck auf der Stirn funkelte so leuchtend wie die Augen. Lee rannte zu ihm und verbarg das Gesicht in seinem Fell. Die ängstlichen Ausrufe der Männer wurden von ihren rennenden Schritten übertönt. Lui starrte weiter in die Gasse. Lee hörte ein schauriges Tropfen. Sie sah neben sich und starrte mit offenem Mund auf Luis Wunde. Das Blut tropfte auf das kalte Pflaster. Der Wolf hielt den Kopf auf die Gasse gerichtet. Ohne einen bestimmten Gesichtsausdruck. Schließlich drehte er sich um. Sprachlos sah Lee, wie er zum Ende der Gasse ging, sich noch ein letztes Mal umsah und dann in die Dunkelheit hastete. Seine Pfoten schlugen sanft auf den Straßen auf. Dann war Stille. Lee hatte das ungute Gefühl, dass sie Lui zum letzten Mal gesehen hatte. Seine Wunde hatte furchtbar ausgesehen. Wo will er hin? Eins wusste Lee: Er wollte weg! Aber warum? Der Wind fuhr durch ihre Klamotten und traf auf ihre Haut. Sie schauderte. Verängstigt starrte sie das Blut auf den vereisten Pflastersteinen an. Es war ihr, als ob die Pfütze größer werden würde. Als ob sie sich ausbreitete. Plötzlich packten sie erneut Hände. Lee schrie auf.
„Lee! Lee! Ist alles in Ordnung?“ Jenny drehte sie zu sich um und sah sie an. Lee schüttelte langsam den Kopf. Jenny sah das Blut und schluckte. Weit weg hörten sie Jan rufen. Doch seine Rufe waren dumpf und unklar.
„Stammt das von dir?“, fragte Jenny tonlos. Lee schüttelte den Kopf.
„Von wem dann?“, fragte Jenny eindringlich. Lee hustete. Sie spürte noch einen harten Schlag auf dem Kopf, dann wurde alles schwarz.


Kapitel 53: Die Suche!

I thought I lost you
When you ran away to try to find me

Von diesen Versen des Liedes wurde Lee geweckt. Sie kannte dieses Lied. Es war ihr Lieblingslied von Miley Cyrus und John Travolta. Wenn sie es hörte fühlte sie sich wohl. Doch nicht heute. Dieses Lied erinnerte sie daran, dass das hier eine ganz normale Welt war. In der es keine Elfen, keine Kobolde, keine Seelenwölfe, keine Wolfsköpfe und erst recht keine schrecklichen Schamanen geben sollte. Das konnte einfach nicht sein. Wie sollte so etwas funktionieren? Hatte sie geträumt? Nein, ihre Narben, die die Kobolde höflicherweise hinterlassen hatten, übersäten ihre Beine und Arme. Was ist nur passiert? Das einzige was sie wusste war, dass sie in ihrem Zimmer war. Ihr Vater stand neben ihr und hatte den Finger auf den Off-Knopf des Kassettenrekorders. Das Lied brach so abrupt ab, wie es für Lee angefangen hatte. Ihr Vater zuckte mit den Schultern.
„Ich dachte, es würde dir gut tun deine CD über Nacht zu hören. Ich weiß, dass du es oft machst, wenn es dir schlecht geht.“ Er ging mit großen Schritten zu ihrem Bett und setzte sich auf die Kante. „Hat es dir geholfen?“
Lee nickte, auch wenn dieses Lied genau das Gegenteil ausgelöst hatte.
„Was ist passiert?“, fragte sie dumpf. Ihr Vater runzelte die Stirn. „Die Polizei hat dich bei uns abgesetzt. Lee, was habt ihr nur wieder angestellt? Warum greifen die Welpen Jäger an?“
„Lilian wollte mich doch nur beschützen“, sagte Lee verzweifelt. „Und jetzt haben sie sie mir weggenommen. Und Lui ist auch verschwunden.“
Jack nickte. „Ich weiß.“
„Was? Woher? Es ist doch erst gestern Abend passiert“, sagte Lee erstaunt. Ihr Vater zog eine Augenbraue hoch. „Lee, du hast drei Tage geschlafen!“
„Was?“, rief Lee und schwang sich aus dem Bett. Sofort wurde ihr schwarz vor Augen und sie musste sich wieder setzen. Erst jetzt bemerkte sie, was für einen Hunger sie hatte.
„Iss etwas, dann wird es dir besser gehen.“, sagte ihr Vater. Lee nickte. Zittrig stand sie auf und ging in die Küche, in der ihre Mutter stand und ihr eine Scheibe Toast gab.
„Hier Liebling, iss!“, sagte sie liebevoll.
Nachdem Lee gegessen hatte, ging sie in den Wald. Alles schien so unglücklich vertraut. Der Platz der Welpen war leer. Hier und da waren noch ein paar Kampfspuren zu sehen und der Platz, an dem Lui gelegen hatte, war noch kälter als der Rest. Das Mädchen stand auf einem großen Stein und sah auf das Moos und den Bach. Wo sind sie jetzt? Wo ist Lilian? Hat sie Angst? Seufzend drehte sie sich um und ging auf die große Wiese. Über ihr kreiste ein Falke. Er stieß auf die Wiese hinab und kreiste auf Brusthöhe um sie herum. Finn. Lee streckte den Arm aus. Finn kam mit sanften Flügelschlägen zu ihr herüber gesegelt und starrte sie mit seinen goldenen Augen an. Lee streichelte ihn. Es tat gut jemanden zu haben, der bei ihr war. Wo sie doch alle anderen verlassen hatten. Finn flog von ihrer Hand auf einen Ast weiter rechts von ihr. Lee lief ihm nach, doch bevor sie ihn erreicht hatte, schwebte der Falke zum nächsten Ast und sah sie abwartend an. Misstrauisch lief sie wieder auf ihn zu. Der Falke schwebte zum nächsten Ast. Er führt mich, wurde Lee klar. Wohin bringt er mich? Schweigend folgte sie dem Falken. Vielleicht zu den Welpen oder zu Lui? Weitere Stunden vergingen, in denen sie dem Falken folgte. Irgendwann wurde es spät und die Sonne verschwand hinter den Bergen. Finn flog in eine Höhle und kreischte kurz. Lee lief ihm hinterher. Man konnte es nicht als Höhle bezeichnen. Es war eher ein Felsvorsprung unter dem man sich verkriechen konnte. Sie rollte sich in ihren Sachen zusammen und schlief sofort, erschöpft von dem langen Weg, ein. Finn hatte es sich auf einer herausragenden Wurzel bequem gemacht und suchte den Wald ab. Ob er über mich wacht?
Die Sonnenstrahlen kitzelten Lee wach. Schlaftrunken setzte sie sich auf. Sie musste weiter. Finn wartete schon an einem Baum auf sie. Am Fuße des Baumes lag ein Fisch. Das Mädchen nahm den Fisch und grillte ihn über dem Feuer, das sie aus zwei Feuersteinen zum Brennen gebracht hatte. Als sie satt war, ließ sie die Gräten auf den Waldboden fallen und folgte dem Falken erneut. Die Tage vergingen. Finn brachte ihr zu essen und Lee baute sich und ihm einen Unterschlupf. Schließlich erreichten sie ein Dorf. Die Leute liefen geschäftig hin und her. Was soll ich hier? Sie wollte gerade Finn auf ihre Hand lassen, als sie bemerkte, dass er gar nicht mehr da war.
„Finn!“, rief sie. Kein vertrautes Kreischen. Kein Flügelschlagen. Nichts. Sie konnte auch keinen innerlichen Kontakt mit dem Vogel aufnehmen.
„Wo bist du?“, fragte sie und suchte den Himmel ab. Doch ihre Augen fanden nichts als blau.
Sie musste ihr Ziel erreicht haben. Zweifelnd ging sie in das kleine Dorf.
Es war Markttag. Die Leute priesen ihre Äpfel, Birnen und sonstiges Obst an. Einen Moment überlegte Lee, ob sie vielleicht um eine Spende betteln sollte, doch dann ließ sie es bleiben. Der Geruch frischgebackener Brezeln und frischen Äpfeln war einfach überwältigend, jedenfalls nach ein paar Tagen kaltem Fisch und Wasser. Eine Weile lief sie über den Marktplatz und hoffte, dass jemand etwas fallen lassen würde, damit sie es sich schnappen konnte. Doch das Glück war nicht mit ihr. Und als sie schon überlegte, ob sie sich vielleicht nur eine ganz kleine Brezel stehlen könnte, um diesem furchtbaren Hunger zu entkommen, schrieen einige Leute plötzlich auf und deuteten auf ein Hausdach. Eine schattenhafte Gestalt stand in einem schwarzen Umhang eingewickelt da und sah vernichtend auf die Leute hinab.
„Der Wolfsbandit!“, schrie eine Frau neben ihr und das ganze Dorf geriet in Chaos. Alle rannten in eine andere Richtung. Leute wurden umgeschubst und Schreie gellten, während der Wolfsbandit auf dem Dach stand und das Spektakel beobachtete. Er hatte eine schwarze Maske auf, die sein Gesicht verdeckte. Viel älter als Lee konnte er nicht sein. Sirenen erschallten, als schon die ersten Polizeiautos auf den Marktplatz bogen. Plötzlich bemerkte Lee, dass sie die einzige war, die noch auf dem Marktplatz stand.
Polizisten mit Pistolen sprangen aus den Autos und richteten sie auf den Wolfsbanditen. Dieser bewegte sich noch immer nicht. Lee und er standen sich fast genau gegenüber. Wenn man davon absah, dass er zwei Meter über ihr war.
„Mädchen, komm her!“, rief einer der Polizisten. Lee gehorchte und rannte zu ihm. Der Bandit knurrte laut und dröhnend. Es war ein Knurren, das Lee durch Mark und Bein ging.
„Hände hoch!“, rief ein anderer. Der Polizist legte eine Hand auf Lees Schulter und stellte sich schützend vor sie.
„Deine Schandtaten sind vorbei!“, rief ein anderer. „Es ist aus mit dem Rauben und Zerstören. Du wirst jetzt herkommen!“ Der Wolfsbandit, der Lees Blick begegnet war, riss sich widerstrebend von ihr los und sah den Polizisten an.
„Komm runter!“, rief der Polizist noch mal, doch seine Stimme schwankte. Lee bemerkte, dass er Angst hatte. Der Junge beugte sich vor und sprang. Lee schrie auf. Während dem Sprung verwandelte der Junge sich in einen riesigen schwarzen Wolf, den Lee überall erkennen würde.


Kapitel 54: Der Gott des Waldes und der Tiere!

„Lubomir!“, schrie sie. Der Wolf kam auf den Boden auf und stieß die Polizisten zur Seite, während sie auf ihn schossen.
„Hört auf! Bitte! Bitte, hört auf!“, schrie sie und wollte sich losreißen, doch der Polizist hielt sie fest. Lui wich den Kugeln aus. Er war schnell. Er war sehr schnell. Der Wolf stieß den nächsten Polizisten zur Seite und schnappte sich im Rennen ein paar Äpfel und Brezeln. Er stieß den Beamten, der Lee festhielt, aus dem Weg und stand nun knurrend vor ihr. Erschrocken taumelte Lee zurück.
„Erkennst du mich nicht?“, fragte sie zitternd. „Ich bin es! Lee!“ Der Wolf sah sie mit ausdrucksloser Miene an, legte sich vor ihr aber flach auf den Boden.
Steig auf!, hörte sie seine Stimme in ihrem Kopf. Die Polizisten standen erneut auf und suchten schlotternd ihre Pistolen. Lee schwang ein Bein über seinen Rücken und krallte sich in sein Fell. Lui schoss los. Lee hörte Schüsse hinter sich. Der Wolf machte einen Sprung nach links und der Schuss ging neben ihnen in den Boden. Erst als er ein paar Kilometer gerannt war, wurde er langsamer. Sie kamen zu einem Ort, an dem ein großer Wasserfall war und eine mit Moos bewachsene Höhle. Lee rutschte von Luis Rücken. Dieser ließ die Äpfel und Brezeln fallen und verwandelte sich zurück. Sie standen sich gegenüber. Eine ganze Weile. Dann nahm Lui das Essen und verschwand am Fluss, in dem der Wasserfall mündete. Lee folgte ihm. Lubomir nahm die Maske ab und wusch die Äpfel. Wortlos drückte er Lee einen in die Hand und reichte ihr zwei Brezeln, dann verschwand er in der Höhle. Gedankenverloren sah sie auf das Essen. Lui schien seine Stimme verloren zu haben.
„Lui?“, rief Lee und ging in die Höhle. Er saß an der Wand und blickte zu ihr. Sie setzte sich neben ihm. „Was ist los? Wieso bist du wieder weggerannt?“ Er senkte den Kopf und starrte auf den Boden.
„Ich hasse die Menschen!“, flüsterte er.
„Was?“, fragte Lee sprachlos.
„Ich hasse alle Menschen! Alle, hast du gehört?“, sagte er wütend. „Sie zerstören alles. Sie zerstören uns. Sie zerstören den Wald.“
Lee schüttelte fassungslos den Kopf.
„Ich wusste es, seit mich die Kugel des Jägers traf. Sie gab mir zu Verstehen, dass all dies Unheil von den Menschen stammt. Ich würde dir gern mehr erklären, doch auch du bist nur ein Mensch.“
Er stand auf und verließ die Höhle. Lee folgte ihm zornig. „Warum hast du mich dann in der Stadt gerettet? Warum hast du mich nicht einfach…von diesen Männern in der Gasse umbringen lassen? Oder warum hast du mich dann mit hierher genommen?“
Lui sah sie ausdruckslos an, dann setzte er sich verletzt an den See und sah hinein. Lee stellte sich hinter ihn und sah auf sein Spiegelbild. Ein schwarze Wolf blickte ihr direkt in die Augen. Lee zuckte kurz zusammen. Er sieht aus wie Luke!
Lui seufzte. „Wenn Karu kommt wird sich alles klären.“
Lee schüttelte verständnislos den Kopf. „Wer ist Karu?“
„Sie ist ein Gott“, sagte Lui.
„Ein Gott?“
„Der Gott des Waldes und der Tiere“, sagte er „In der Gestalt eines riesigen Wolfes. Noch größer als Navaje oder ich und noch weißer als Jamie.“ Lee konnte sich kein strahlenderes Weiß vorstellen, als Jamies helles Fell. Es knackte. Lee fuhr herum.
Majestätisch betrat ein riesiger Wolf die Lichtung. Größer als irgendein Pferd auf der Welt. Sein Fell war so weiß, dass es im Licht der Sonne in verschiedenen Farben strahlte. Als der Wolf Lee bemerkte, stürzte er sich auf sie und warf sie zu Boden. Knurrend stellte er sich über sie und öffnete sein Maul, um dem Mädchen den Kopf abzubeißen.
„Nein!“, schrie Lui und stieß den Wolf mit einem lauten Knurren, in seiner Wolfsgestalt, zur Seite. Der weiße Wolf schien sichtlich verblüfft. Schützend stellte sich der junge Wolf vor Lee.
Lubomir!, sagte der weiße Wolf fassungslos. Du rettest einem Menschen das Leben? Warum? Die Augen des Wolfes verengten sich zu kleinen Schlitzen. Seine Stimme war rau und tief und doch weiblich. Lubomir verwandelte sich wieder in den Jungen zurück. Lee spürte seinen Schmerz. Er senkte den Kopf und trat einen Schritt zur Seite. Es war einfach für Lee Kontakt mit den beiden Wölfen aufzunehmen. Es gefiel ihr, dass sie sich nicht vor ihr schützten und eine Mauer um ihre Gedanken schlossen. Doch nun würde sie lieber nichts von dem Gespräch mitbekommen. Aber es war schwieriger als sie dachte, die Worte schienen sich in ihren Kopf zu hämmern.
Warum brachtest du sie her?, fragte Karu erzürnt. Der Junge schwieg und wandte sich ab. Lee war ein wenig erstaunt. Er konnte Karu sogar in seiner menschlichen Gestalt verstehen.
Warum bist du hier?, wandte sich der Wolf knurrend an Lee. Die Stimme war so laut, dass Lee zusammenzuckte.
I-Ich habe nur meinen Freund gesucht, stotterte sie.
Er braucht dich nicht. Er ist damit beschäftigt euch Menschen zu zeigen, was für ein Unheil sie anrichten, sagte Karu nüchtern.
Indem er Sachen zerstört?, fragte Lee ungläubig. Plötzlich rief sie es laut aus. „Die Leute haben Angst vor ihm!“
Karu brach in ein tiefes, grollendes Lachen aus. Das sollten sie auch. Vielleicht verlassen sie dann endlich ihr vermaledeites Dorf und lassen den Wald in Frieden leben.
Was haben die Menschen euch je getan?, fragte Lee verzweifelt.
Sag mir, mein Kind, antwortete der Wolf gehst du mit geschlossenen Augen durch die Welt? Ich habe genug schreckliche Dinge miterlebt und ich bin alt. Ich war schon da, als die menschliche Rasse noch gar nicht existierte. Ich weiß, wie sie sind. Rechthaberisch und egoistisch. Ich versuche den Wald zu schützen. Bis jetzt habe ich es immer auf die sanfte Tour probiert und jetzt bleib mir nur noch eine einzige Chance, um euch die Augen zu öffnen.
Lee verstand. Du willst die Menschen vertreiben.
Ja, nickte der Wolf. Du scheinst anders zu sein, als die meisten Menschen. Ich bin Karu. Darf ich deinen Namen erfahren, Menschenkind?
Lee!
Der Wolf schloss die Augen.
Du kannst eine Weile bleiben, Lee. Doch erwarte nicht von uns, dass wir dir die Speisen bringen und dich füttern, wie ein neugeborener Welpe.
Der Wolf schritt in die Höhle und ließ sich auf den Moosbedeckten Boden fallen. Lee nickte. Plötzlich fiel ihr wieder ein, was mit den Welpen passiert war.
„Lui, hast du die Welpen gesehen?“, fragte sie hoffnungsvoll.
„Nein!“, knurrte er. „Das ist nicht mein Problem!“
Erschrocken zuckte Lee zurück. „Aber du hast dich doch immer um sie gesorgt. Warum jetzt nicht?“
„Du bist ein Mensch! Du solltest nicht hier sein! So langsam frage ich mich auch, warum ich dich eigentlich mitgebracht habe.“ Mit diesen Worten ging er in die Höhle und legte sich in seiner Wolfsgestalt neben Karu.
Die Menschen werden versuchen den Wald zu vernichten! Ich spüre es!, sagte der weiße Wolf nur für seine Ohren hörbar. Sie werden mit Waffen kommen und alles was hier lebt zerstören, um mehr Land zu gewinnen. Dabei ist es ihnen egal wie viele Tiere das das Leben kosten würde. Wir müssen uns verteidigen. Alle Tiere des Waldes sind dieser Meinung. Kämpfst du mit uns?
Lui hob den Kopf und sah sie an. Ich werde an deiner Seite sein.
Karu lächelte zufrieden und legte ihr edles Haupt auf die Vorderpfoten.
Hole deine Freundin herein. Zurzeit sind die Tiere den Menschen nicht freundlich gestimmt.
Sie ist nicht meine Freundin, knurrte Lui.
Fragend sah Karu ihn an. Lui senkte den Blick, doch er entschuldige sich nicht für seine harte Geste.
Du magst sie!, sagte Karu sanft.
Lui wandte den Blick ab. Nein! Sie ist ein Mensch! Ich darf keinem Menschen vertrauen! Das hast du mir selbst gesagt.
Karu nickte. Weißt du Lubomir, ich kann dir nur helfen deinen Weg zu finden, deine Schritte musst du selber gehen. Fragend sah der schwarze Wolf sie an.
Ich kann dir nur ein paar Vorschriften geben, ob du dich daran hältst ist deine Entscheidung, erklärte ihm Karu. Lubomir sah sie mit seinen bernsteinfarbenen Augen an. Ich werde mich daran halten!
Karu schloss zufrieden die Augen. Folge deinem Herzen nicht meinen Worten. Jetzt hol sie rein!
Seufzend stellte Lui sich auf seine Pfoten und verwandelte sich wieder in seine menschliche Gestalt. Er schritt hinaus in das Mondlicht. Lee hatte sich ins Gras gelegt und sah zu den Sternen hinauf. Lui bemerkte, dass sie traurig war. Verwirrt sah sie zu ihm auf.
„Komm mit!“, befahl der Junge steif. Lee stand auf und folgte ihm in die Höhle. Lui wandelte wieder in seine Wolfsgestalt und schmiegte sich an Karu. Lee überlegte, wo sie schlafen sollte. An Lui geschmiegt? Nein!
Sie entschloss sich für die Höhlenwand und rollte sich neben ihr zusammen. Der Stein, auf dem sie lag, war ziemlich kalt. Lui hörte sie zittern. Er schlug die Augen auf und sah zu ihr herüber. Bibbernd lag sie da. Sie öffnete die Augen und sah zu ihm. Lui nickte mit dem Kopf neben ihn.
Komm her! Hier bei mir ist es schön warm! Sie sah ihn einen Moment an, dann kam sie zögernd näher. Vorsichtig schmiegte sie sich an ihn. Lui rollte sich um sie zusammen und legte seine Schnauze in ihren Schoß. Wie gern würde er sie lieben oder wenigstens gern haben. Doch er verbot es sich selbst. Es war eine Schwäche, die Menschen gern zu haben. Bei alldem was sie getan hatten, konnte er keinem von ihnen verzeihen.
Es war furchtbar für ihn mit anzusehen, wie verletzt Lee aussah. Sein Herz zog sich zusammen.
Es tut mir leid, Lee!
Doch das Mädchen war schon eingeschlafen.
Kapitel 55: Der Entschluss zum Kampf!

„Hören Sie, Sie wollen sich doch nicht von diesem Wolfsbanditen an der Nase herumführen lassen.“ Die Diskussion wurde immer lauter.
„Verstehen Sie doch“, meldete sich der Vorsprechende des Naturschutzes zu Wort. „Wenn Sie jetzt Bäume fällen, wird der Wolfsbandit noch mehr unter uns wüten. Er ist der Beschützer des Waldes. Er kam immer dann, wenn Sie mal wieder Bäume ausgerissen haben.“
„Das ist doch lächerlich! Sie haben wohl zu viel getrunken!“, rief der Immobilienmakler, der ein etwas dickerer Herr mit braunen, zurück gekämmten Haaren war. Er schien dem Vorsprecher des Naturschutzes auf den ersten Blick unsympathisch zu sein und er hatte Recht behalten.
„Ich trinke nicht!“, sagte er beleidigt.
„Achja?“, fragte der Immobilienmakler. „Dann haben Sie wohl zu viel geraucht.“
„Frechheit!“, schimpfte der Vorsprecher des Naturschutzes.
„Beruhigen Sie sich doch bitte wieder!“, versuchte der Bürgermeister die Lage zu entschärfen. Doch der Immobilienmakler ignorierte ihn.
„Der Wolfsbandit ist ein pubertierendes Gör, das uns mit Rauschgift vorgaukelt, es könne sich in einen Wolf verwandeln.“, rief er in die Runde.
„Mein Herr“, rief der Vorsprechende des Naturschutzes. „Wenn sie weiter Bäume fällen, erklären sie dem Wald den Krieg! Ich weiß, dass er sich irgendwann wehren wird.“
„Sie haben ja doch etwas geraucht, mein Herr“, sagte der Immobilienmakler sarkastisch.
„So, jetzt reicht es mir!“, sagte der Vorsprecher des Naturschutzes und sprang auf.
„Schluss jetzt!“, rief der Bürgermeister. Endlich wurde es still. „Dankeschön!“, sagte der Bürgermeister genervt. „Die Sache ist doch die, dass wir das Grundstück schon an die Firma vergeben haben! Wir können nicht einfach an irgendeiner Theorie festhalten! Wir brauchen Beweise! Ich habe mich entschieden! Das Land gehört nunmal der Firma und die darf damit machen, was sie will. Es ist beschlossene Sache! Und jetzt alle raus hier!“
Unter lauten Protest wurden alle aus der Tür geschoben, die sich noch im Raum befanden. Als alle Leute aus dem Zimmer waren, betupfte sich der Bürgermeister die Stirn mit einem Tuch. Dann setzte er sich seufzend auf und ging zum Fenster.
„Wir werden ja sehen, was passieren wird!“, murmelte er entschlossen, doch Besorgnis war in seinem Gesicht zu sehen. Was auch immer es mit diesem Wolfsbanditen auf sich hat, wir werden es herausfinden!





Lee wurde von Karus weicher Nase geweckt. Wir müssen aufbrechen, Menschenkind. Wohin…?, fragte Lee schläfrig. Wohin gehen wir?
Zu einer Unterredung. Der Wolf beugte sich mit dem Kopf zu Lubomir vor, der in seiner Wolfsgestalt neben ihr stand.
Lubomir, wandle in deinen Menschenkörper. Ihr zwei werdet auf mir reiten.
Warum, fragte Lui in der Wolfssprache fassungslos. Ich bin genauso schnell wie du! Das weißt du.
Ja, ich weiß, wie schnell du laufen kannst, sagte Karu zu ihm. Es geht um die Tiere des Waldes. Wir müssen sie davon überzeugen, dass du kein Mensch bist und weil einige Lee wahrscheinlich schon gesehen haben, nehmen wir sie mit. Wenn ihr zwei in Menschengestalt nebeneinander steht und du dich verwandelst, meinen sie vielleicht Lee wäre auch ein Wolfskopf. Lubomir, sie folgen keinem Menschen.
Lui seufzte und wandelte in seinen normalen Körper zurück.
Steigt auf, befahl Karu und legte sich vor ihnen auf den Boden. Dennoch war es schwer auf ihren Rücken zu steigen. Lui saß vor Lee und hielt sich im Nackenfell fest.
Halt dich an Lubomir fest, Mädchen, und lass ja nicht los!
Schon schoss der Wolf los und Lee hielt die Arme mit alle Macht um Lui geschlungen um nicht herunter zu fallen. Schließlich fand sie den Rhythmus des Wolfes und konnte sich leichter halten, obwohl alles verschwommen an ihnen vorbeifegte. Sie hätte ewig so reiten können. Doch viel zu schnell kamen sie an ihrem Ziel an. Lui fiel ein, dass er die Sprache der Tiere in Menschengestalt nicht verstehen konnte.
Nur Karus Gedanken konnte er wahrnehmen. Doch da erklärte ihm Karu schon, dass sie ihm übersetzen würde. Sie würde ihm alles mitteilen.





Als sie ankamen, wurden sie bereits erwartet. Ein riesiger Hirsch empfing sie. Er war so groß wie Lui in seiner Wolfsgestalt und sein Geweih hatte mindestens achtzehn Enden.
Guten Morgen, Shakul, begrüßte Karu ihn.
Guten Morgen, Karu, erwiderte der Hirsch. Alle Tiere waren versammelt. Wildschweine, Rehe, Hasen, Füchse und auch Bären. Als die Tiere die Kinder erblickten, stimmten sie in ein ohrenbetäubendes Brüllen ein. Alle riefen durcheinander. So sehr, dass Lee fast der Kopf platzte und auch Shakul trippelte nervös hin und her.
Menschenkinder!, schallte es von überall. Warum führst du Menschenkinder mit dir, Karu? Was wollen sie hier? Wir sollten sie umbringen! Die Dachse schrieen am lautesten.
Der Junge ist mein Sohn Lubomir und das ist seine Freundin Lee, begann Karu Und glaubt mir, sie sind keine Menschen.
Wenn sie keine Menschen sind, was sind sie dann? Beweise es uns, Karu, damit wir wissen, dass wir dir vertrauen können, rief einer der Dachse.
Lubomir, sagte Karu. Zeig es ihnen! Der Junge nickte und ging auf die Tiere zu. Er schloss die Augen und hob den Kopf zum Himmel empor. Langsam verwandelte er sich. Ganz langsam. Erst wuchs ihm überall Fell, dann verwandelten sich seine Hände und Füße in Pfoten. Er beugte sich vor und stand auf allen vieren. Seine Gelenke wurden länger und sein Gesicht war zu einer schelmischen Wolfsmaske geworden.
Hört mich an!, rief er und lief vor den Tieren auf und ab. Ich und meine Freundin sind Wolfsköpfe. Wir können uns in riesige Wölfe verwandeln und wir werden diese Schlacht zusammen mit Karu und Shakul anführen. Wir brauchen nun eure Unterstützung. Also, sagt uns, Kinder des Waldes, kämpft ihr mit uns?
Die Tiere, die ihn nur fasziniert angestarrt hatten, brachen nun in Gejubel aus. Luis kurze Rede hatte die Tiere umschwanken lassen. Lee schüttelte belustigt den Kopf.
Wieso waren Tiere nur so leicht zu beeinflussen?
Unsere Anführer. Wir werden mit euch kämpfen, bis zum Tod!, sagte ein Rehbock. Karu nickte, während Lui sich neben Karu setzte und seinen Wolfsschwanz elegant um seine Pfoten schwang.
Oh ihr Götter, wir sind auf eurer Seite!, rief ein Fuchs. Karu nickte erneut. Ein Tiervolk nach dem anderen schloss sich ihnen an. Schließlich ruhte Karus Blick auf den Dachsen.
Wir werden kämpfen, mit wem ist egal. Gegen wen ist entscheidend. Wir werden angreifen und selbst wenn nur noch einer von uns steht, wird er versuchen diese Schlacht zu gewinnen! Karu stieß in ein Kampsgeheul aus. Die Tiere stimmten ein mit kläffenden, röhrenden und brummenden Geräuschen. Erst als Shakul und Lui in ihr Geheul einfielen, klangen sie wie eine Armee, die bereit war ihr Leben zu opfern, um den Wald zu retten. Shakul erhielt das letzte Wort.
Morgen bei Sonnenaufgang werden sie kommen. Ihre Maschinen stehen schon bereit. Wir werden diese Schlacht gewinnen und wenn nicht, dann werden wir es noch einmal versuchen. Denn Götter kann man nicht so leicht besiegen.
Unter lautem Jubel verabschiedeten sich Karu und die Kinder von Shakul und gingen.
Lubomir, wandele wieder in deine wahre Gestalt. Wir laufen nach Hause. Übrigens, ich bin sehr stolz auf dich, mein Sohn!, sagte Karu.
Danke, Mutter!, erwiderte Lui, dann verwandelte er sich in den Jungen zurück. Sie stiegen erneut hintereinander auf. Wieder klammerte sich Lee an ihm fest. Das Mädchen beunruhigte eine Frage, die sie nun laut aussprach.
„Lui, wieso wurdest du zum Wolfsbanditen? Und Wann?“, fragte sie. Sie liebte es sich so nah an ihn zu schmiegen. Lui schwieg, dann erwiderte er: „Ich habe mich erneut mit meinen Eltern gestritten. Schließlich bin ich abgehauen. Ich wollte zu den Welpen, aber da herrschte, wie du weißt, das absolute Chaos. Als der Jäger den Schuss auf mich abgab, spürte ich dass ich diese Menschen verabscheute.“ Er verkrampfte sich und Lee fühlte seine Anspannung.
„Ich lag blutend auf der Erde und verabscheute einfach alles. Doch…Ich weiß auch nicht. Ich fühlte, dass du mich brauchst, nur deswegen habe ich mich aufgerappelt und bin deinem Geruch gefolgt. Sonst wäre ich jetzt wahrscheinlich tot. Als ich dich vor diesen…Menschen gerettet hatte, ging ich in den Wald und wollte sterben. Die Wunde tat zu sehr weh. Es war wie ein Feuer, als ob es mich verbrennen würde, weißt du? Karu rettete mich. Sie pflegte mich und heilte mit einem Zauber meine Wunde. Dann erzählte sie mir von den Menschen, die ihren Wald zerstörten und so schlug sie mir vor, mich ebenfalls bei den Menschen zu rächen.“
„Sie hätten dich schnappen können“, meinte Lee.
„Nein, ich bin zu schnell. Außerdem hat es mir Spaß gemacht.“
„Es hat dir Spaß gemacht?“, fragte das Mädchen skeptisch.
„Ja, so komisch das klingt.“ Plötzlich lachte er und lehnte sich an sie. Das Mädchen spürte wie seine Schultern bebten. „Es tut mir leid, dass du auch einer bist.“
Lee rang sich zu einen Lächeln ab.
„Ich vermisse Lilian so!“, sagte sie schließlich. Lui schwieg.
„Hiermit verspreche ich dir etwas“, sagte er leise. „Ich werde nicht nur für mich in den Kampf ziehen. Auch für Lilian, Jamie und Jason. Diese Jäger sollen sich noch wünschen, dass sie die Finger von den Welpen gelassen hätten.“
Lee legte den Kopf auf seine Schulter. „Ich danke dir.“
Sanft berührte Lui ihre Wange. Ein heftiger Sprung Karus brachte die beiden wieder auseinander. Wütend sah Lui sie an. Der Blick den Karu ihm zuwarf, war weder vorwerfend noch wütend, es war ein Pass-auf-was-du-machst-Blick. Lui erinnerte sich an sein Versprechen, die Menschen zu hassen und bekam ein schlechtes Gewissen.
Ich lass mich da zu sehr auf was ein, dachte Lui. Karu hat Recht. Sie ist ein Mensch. Es würde nie etwas Gutes bringen. Erst, wenn sie keiner mehr ist. Es schmerzte in seiner Seele so etwas einzusehen. Ein Gefühl, dass sich durch seinen Magen zu erkennen gab, wenn er bei Lee war, war ihm nicht vertraut. Es war ein schönes Gefühl und manchmal fühlte es sich so an als würde er für immer bei ihr bleiben können. Er hatte verschiedene Gefühle damit verglichen. Hass, war es nicht, weder sonst noch eins von den negativen Gefühlen. Freundschaft? Da war er sich nicht sicher. Es musste eine sehr starke Freundschaft sein. Plötzlich kam ihm ein anderer Begriff in den Sinn. Liebe? Der Begriff, dass man Schmetterlinge im Bauch fühlte, beschrieb sein Gefühl relativ gut. Liebe? Nein. Das…das konnte er sich nicht vorstellen, oder etwa doch? War er in Lee verliebt?


Kapitel 56: Ein Ausflug nach Wolfsart!

Als sie an ihren Platz mit dem Wasserfall kamen, wurden sie bereits von einer Blaumeise erwartet.
Karu, begrüßte die Blaumeise sie.
Hallo Twitch, sagte der Wolf sichtlich erfreut. Geschmeichelt schüttelte die Blaumeise ihr Gefieder.
Du wolltest mich sprechen?
Ja! Danke, dass du so schnell kommen konntest.
Kein Problem, antwortete die Blaumeise und beäugte neugierig die zwei Kinder, die von Karus Rücken rutschten.
Willst du uns nicht erstmal vorstellen?, fragte die Meise.
Doch, du hast Recht, gab Karu zu. Lui verwandelte sich in den Wolf und reckte sich von dem langen Ritt.
Wer ist das?, fragte er Karu.
Das ist Twitch!, antwortete Karu. Meine treue Botschafterin und Ratgeberin.
Freut mich dich kennen zu lernen, sagte Lui. Mein Name ist Lubomir.
Freut mich ebenso, zwitscherte Twitch. Ihr Blick blieb auf Lee haften.
Kann sie uns verstehen?, fragte die Meise an Karu gewandt.
Ja, das kann ich, gab Lee zurück und ging grinsend auf den Vogel zu. Twitch flatterte verwirrt mit den Flügeln.
Wie ist das möglich?, fragte sie verwundert.
Das weiß ich auch nicht, gab Karu zu. Ihr Name ist Lee.
Freut mich, Lee!, zwitscherte die Blaumeise.
Lee nickte ihr lächelnd zu. Mich auch.
Die Meise wandte sich wieder Karu zu.
Warum hast du mich gerufen?, fragte sie aufmerksam. Ich habe einen ziemlich langen Weg hinter mir.
Das tut mir leid, aber ich hätte dich in diesem Kampf gerne an meiner Seite. Außerdem brauche ich noch jemanden, der darauf achtet, wann die Menschen kommen. Jemandem dem ich vertrauen kann, sagte Karu und sah die Blaumeise abwartend an.
Na schön!, zwitscherte Twitch. Ich mache das. Aber jetzt muss ich mich ausruhen.
Schlaf gut, Twitch!, sagte Karu und lächelte der kleinen Blaumeise nach.
Soll ich dir bei noch irgendetwas helfen, Karu?, fragte Lui.
Nein, ich gebe dir den Rest des Tages frei, antwortete sie. Lasst mich allein. Ich muss mir einen Plan überlegen.
Lui nickte. Lee griff nach ihrem Messer. Warum hatte sie ihren Bogen nicht mitgenommen? Dann hätte sie jetzt jagen gehen können. Sie seufzte. Ihr Magen grummelte. Hungrig ließ sie sich ins Gras sinken. Sie hätte sowieso keines dieser Tiere erlegen können, die ihnen in der Schlacht doch zur Seite standen. Lubomir musterte sie.
Woher kannst du eigentlich unsere Sprache?, fragte er schließlich und setzte sich neben sie, den Schwanz um seine Beine geschlungen.
Ich weiß es nicht. Ich konnte das schon immer. Für mich ist das normal.
Hast du schon einmal probiert Lilian so zu finden?, fragte der schwarze Wolf nachdenklich und legte sich auf den Boden. Lee schüttelte den Kopf.
Sie ist zu weit weg. Ich kann keinen Kontakt mit ihr aufnehmen.
Der Wolf gähnte, dann erhob er sich. Er sah das Mädchen mit eifrigen Augen an und wedelte aufgeregt mit dem Schwanz.
Hast du Hunger?, fragte er. Das Mädchen nickte verwirrt.
Komm mit, sagte Lui und trottete in ein kleines, dichtes Wäldchen. Er zog eine Maske und einen weißen Wolfsfellumhang heraus.
Zieh das an, befahl er.
Warum? Wofür brauch ich das?, fragte Lee verständnislos und betrachtete die Maske. Es war ein schwarzer Stoff in dem ein länglicher Schlitz war, sodass die Augen frei blieben. Lee hatte so eine Maske bisher nur in Filmen gesehen, wie Zorro oder bei irgendwelchen Banditen.
So holen wir uns was zu essen, antwortete Lui und grinste, was bei ihm ziemlich komisch aussah. Lee lachte.
Wo habt ihr die her?, fragte sie weiter.
Shakul hat sie besorgt. Woher weiß ich nicht. Sie ist für dich, sagte Lui und schob die Kleidung mit seiner Nase zu ihr herüber.
Wird das jetzt deine feste Gestalt?, fragte Lee neckisch. Lui überlegte kurz dann nickte er.
Ja. Sie ist viel praktischer als diese zerbrechliche Menschengestalt.
Lee runzelte die Stirn, dann nahm sie den weißen Wolfsumhang, der nur aus Wolfsfell bestand, und streifte ihn sich über. Zögernd betrachtete sie die Maske.
Zieh sie an! Er hat sie extra für dich geholt. Damit man dich nicht erkennt, wenn du dir was zu Essen stiehlst, sagte Lui und stupste sie aufmunternd an. Offenbar konnte er es kaum abwarten endlich los zu zischen. Das Mädchen atmete tief ein und zog sich die Maske über. Lui hechelte aufgeregt. Seine Ohren stellten sich auf und er fing an herum zu toben und Lee zum Spielen aufzufordern. Lee lachte und einen Moment tollten sie auf dem Boden herum.
Spring auf!, befahl Lui lachend. Lee sprang lachend auf seinen Rücken, ihr Messer in der Hand. Lubomir verfiel in einen sprunghaften Galopp und Lee fühlte sich so frei und unbeschwert wie noch nie. Wenn Lui kein Wolf gewesen wäre, hätten sie jetzt ganz normale Kinder sein können. Doch sie waren nun mal nicht normal. Der Wolf vollführte ein paar Sprünge und schoss so plötzlich los, dass es Lee fast von seinem Rücken fegte. Die Bäume schossen verschwommen an ihnen vorbei, während Lee laut lachte und sich an Lubomirs Fell festkrallte. Plötzlich wurde Lui langsamer und blieb schließlich stehen. Angestrengt spähte er durch die Bäume. Sie hatten die Stadt erreicht. Schnell rutschte Lee von seinem Rücken und schob die Zweige ein wenig zur Seite. Die Bürger schrieen laut durcheinander und stritten wütend mit ein paar Männern. Lee zog die Maske aus, um besser sehen zu können.
Was ist da los?, fragte sie.
Sie streiten sich darum, ob sie den Wald abholzen oder nicht. Für den Bürgermeister ist es beschlossen, aber die Dorfbewohner sind dagegen. Doch auch das nur, weil sie Angst vor mir haben, knurrte Lui. Lee streichelte ihm beruhigend über die Seite.
Es wird Zeit, dass wir ihnen diese Entscheidung abnehmen, sagte er leise. Steig auf!
Lee schwang sich auf seinen Rücken und streifte sich die Maske über.
Los geht’s!, sagte sie und atmete tief durch. Kaum hatte sie das gesagt, schoss Lui knurrend aus dem Dickicht und kam zwischen den Leuten zum Stehen. Alle schrieen los und liefen wild durcheinander. Stände wurden umgeworfen, Kinder wurden in die Häuser gezogen, Fenster und Türen wurden verriegelt. Trotzdem herrschte ein Chaos und es waren noch genug Leute auf dem Marktplatz, um ein noch größeres Chaos anzurichten. Auf einmal vernahm Lee näher kommende Sirenen. Lui stieß in ein wildes Geheul los und rannte auf die Stände zu. Schreie gellten, während eine handvoll von Polizeiautos an ihnen vorbei fuhren und hielten. Der schwarze Wolf rannte an ihnen vorüber, doch als er an den Autos vorbei sauste und die Polizisten schon mit ihren Pistolen auf ihn zielten, ließ sich Lee von dem Wolfsrücken fallen und kam mit wilden Messerstichen auf die Polizisten zu. Erschrocken taumelten die Männer zurück. Das Mädchen lief, mit einem weiteren Messerstich verbunden, rückwärts und sprang hoch in die Luft. Lui kam angeschossen und die Gestalt, die die Polizisten kaum erkennen konnten, landete sicher auf seinem Rücken. Sie bemerkte, dass sie Lui vertraute. Nach alldem was passiert war. Selbst nachdem er sie verraten hatte. Sie mussten sich vertrauen, sonst würde so etwas nie funktionieren. Sie brauchten keine Worte, um sich abzusprechen. Sie hatten das Selbe Ziel und das reichte. Feixend sah Lui sie an und Lee konnte nicht anders: Sie lachte. Der Wolf machte einen Satz zur Seite, um einer Pistolenkugel auszuweichen.
Die Polizisten schossen auf sie, doch Lui wich den Kugeln mühelos aus. Er jagte zu einem Backwarenstand und Lee schnappte sich von seinem Rücken ein paar Brezeln. Lubomir hetzte weiter zum Metzger, der völlig verdutzt hinter seiner Theke stand und sie ängstlich ansah. Lee durchschoss es wie ein Blitz und ihr Lächeln erstarb. Sie haben Angst vor uns. Sie meinen, dass wir sie töten könnten.
Na, und?, kam es von Lui. Es sind Menschen, Lee. Menschen!
Aber…, begann Lee leise. Sie sah verletzt auf ihre Hände. Ich bin auch ein Mensch. Nur ein Mensch.
Lui schnaubte wütend. Nein!, fuhr er sie an. Du bist kein Mensch. Du bist ein Seelenwolf.
Es war der Satz, den er sich die ganze Zeit eingeredet hatte. Sie war kein Mensch! Er durfte sie gern haben!
Nur mit Lilian, murmelte Lee leise. Ein Knall und Luis ersticktes Jaulen, rissen sie wieder aus ihrem Gespräch. Lui blutete am linken Vorderlauf. Erstickt versuchte Lee die Blutung zu stoppen. Doch er knurrte sie an und rannte weiter. Kümmere dich nicht um mich. Ich schaffe das. Hol dir lieber das Fleisch. Lee nickte und streichelte Lui sanft über das schwarze Fell. Der dicke Metzger hatte sich unter seinem Stand verkrochen und wimmerte. Lee musste nur ihre Hand ausstrecken und das Fleisch schnappen, während Lui an dem Strand vorbei zischte. Schon waren sie wieder im Dickicht verschwunden. Lui lief langsamer und fing an zu humpeln und zu stolpern. Schnell rutschte Lee von seinem Rücken und besah sich die Wunde. Oh, was kann ich nur tun?, fragte sie tatenlos und diese verdammte Hilflosigkeit trieb ihr die Tränen in die Augen. Sie musste schon einmal tatenlos zusehen, wie Lui gequält wurde, oder Sasuun mit ihrem Vater in einem ihrer Träume sprach. Schnell packte Lee die Lebensmittel in einen Beutel, der an dem Wolfsmantel hing und den sie erst jetzt bemerkt hatte. Es passte perfekt hinein. Wieder konzentrierte sie sich auf Luis Wunde. Lubomir sah sie an und öffnete hechelnd sein Maul. Er stand auf drei Pfoten und versuchte seine Pfote sauber zu lecken, doch schließlich gab er auf.
Bring Karu hierher. Ich…Ich kann nicht weiter, mit diesen Worten ließ sich der Wolf mit einem dumpfen Aufschlag auf den Boden fallen.
Lui, nein!, bettelte Lee. Bitte, du darfst noch nicht aufgeben. Bitte, halt durch!
Ohne dass sie es wollte liefen ihr die Tränen die Wangen hinunter. Schluchzend verbarg sie ihr Gesicht in seinem weichen Fell. Die Wunde war nicht, wie sie bis vor kurzem angenommen hatte in den Vorderlauf geschossen, sondern tief in die Schulter. Das schwarze Fell war blutverklebt und Lubomirs Augen leuchteten kaum noch.
Oh, Lui. Es tut mir so leid. Ich wollte dich nicht ablenken. Es…Es…, schluchzte Lee und griff fester in Luis Fell.
Sei unbesorgt, beruhigte er sie schwach. Hol Karu! Sie weiß Rat.
Lee nickte und hob ihren Kopf. Dann ließ sie sein Fell aus ihren Fingern gleiten und rannte los.
Bitte, halt durch!, betete sie innerlich. Geschwind rannte sie in die Richtung in der sich Karus Platz befand. Tief über dem Boden gebeugt, sodass ihre Hände beinahe den Boden streiften, sprang sie über Baumstämme und huschte durch den Wald. Ein lautes Jaulen drang aus ihrer Kehle und dann noch eins. Wenn Karu den Ruf nicht vernommen hatte, war es für Lui zu spät. Sie jaulte noch einmal, kräftiger als zuvor.
Karu! Karu! Ich brauche dich!, rief Lee in Gedanken. Karu! Karu! Karu! Bitte! Lui braucht dich! Ich brauche dich! Bitte, er wird sterben! Lee fing erneut an zu weinen. Unter ihren Schluchzern vernahm sie ein tieferes Heulen. Es kam näher! Karu! Lee spürte wie ihr leichter ums Herz wurde.
Ich komme, Menschenkind!, hörte sie Karus Stimme. Lee stellte sich breitbeinig hin und ging in die Knie. Der weiße Wolf zischte an ihr vorbei und Lee sprang gerade noch rechtzeitig hoch. Karu packte sie mit den Zähnen und warf sie sanft auf ihren Rücken. All dies geschah in einer einzigen Sekunde. Karus Bewegungen waren flüssig und Lee passte sich ihnen automatisch an. Schnell hastete der große Wolf weiter. Die Bäume zischten an ihnen vorbei und verschwammen vor Lees Augen. Karu hielt neben Lui so abrupt an, dass Lee über ihren Kopf fiel und sich gerade noch auf Händen und Füßen abfangen konnte. Sie machte eine Drehung und hastete zu Karu und Lui. Der schwarze Wolf hatte die Augen geschlossen und atmete schwach.
Tu was!, flehte Lee verzweifelt. Ich bitte dich: Tu was!
Karu hatte ebenfalls die Augen geschlossen. Sanft legte sie ihre Schnauze an Luis Wunde. Es erinnerte Lee so sehr an Leyla, die doch genau das Selbe gemacht hatte, um Lui zu retten und danach gestorben war. Ob Karu sich auch für Lui opfern wollte? Nein, oder etwa doch? Lee wagte nicht zu atmen. Die blutende Wunde verschloss sich unter Karus Schnauze. Der weiße Wolf hob seinen Kopf und öffnete die Augen. Schwach öffnete Lui ebenfalls seine Augen und hob seinen schwarzen Kopf mit dem weißen Fleck auf der Stirn. Lee ging zu ihm und streichelte ihm über die Stelle an der die Wunde gewesen war. Lubomir legte seine Schnauze in ihre Handfläche und Lee fiel ihm um den Hals. Der Wolf spürte, dass Karu erzürnt war, doch sie ließ sich nichts anmerken.
Du musst vorsichtiger sein!, war ihr einziges Kommentar, bevor sie ihnen voraus ins Dickicht trottete. Bedächtig stand Lui auf, schüttelte sich und trabte Karu hinterher. Hastig rannte Lee ihm nach. Ihre Hand griff nach dem schwarzen Fell. Es tat gut jemandem zu haben, an dem man sich festhalten konnte. Wie geht es dir?, fragte sie vorsichtig.
Keine Angst, entgegnete Lui. Nach Karus Heilung, bin ich ganz der Alte. Steig ruhig auf, Karu will etwas schneller laufen.
Unsicher lächelte sie ihn an, schwang sich jedoch nicht auf seinen Rücken, aus Angst er wäre noch zu schwach, um sie zu tragen.
Komm schon, ermutigte er sich und trippelte ein paar mal ungeduldig. Er lachte. Ich schaffe das!
Lee grinste, doch sie setzte sich immer noch nicht auf seinen Rücken. Schließlich seufzte Lui schmunzelnd und schob sie mit der Schnauze hinauf. Sie protestierte zwar, doch er raste sofort los, sodass ihr das Wort in der Kehle stecken blieb und sich stattdessen ein Lachen breit machte.


Kapitel 57: Hilfe, die Eichhörnchen greifen an!

Als sie auf ihrem Rastplatz ankamen, warteten Twitch und Shakul bereits auf sie.
Karu, begrüßte der Hirsch die Göttin und senkte sein Haupt. Twitch und ich wollten mit dir über den Schlachtplan reden.
Karu nickte müde. Ja, Shakul. Fangen wir an. Lubomir, lasst uns allein!
Lubomir nickte und zog sich ehrfürchtig mit Lee zurück.
Sie werden uns bald rufen, sagte er zu Lee, als sie sich an einem kleinen Fluss hingelegt hatten. Lee bemerkte, dass Lui seine Wolfsgestalt wahrscheinlich wirklich nicht mehr ablegen wollte. Ihr Kopf lag an seinem Bauch, Lui hatte die Ohren aufgestellt und gab ein zufriedenes Grummeln von sich. Lee überlegte. Vielleicht war es ganz gut so. Wenn er kein Wolf wäre, würde sie sich nicht so an ihn schmiegen. Plötzlich spannten sich Lubomirs Muskeln an und er knurrte bedrohlich. Eine Eichel fiel auf Lees Kopf. „Au!“, rief sie erschrocken aus.
Wer war das?, fragte sie verdutzt. Eine weitere Eichel fiel zu Boden, doch dieses Mal war Lee vorbereitet und wich geschickt aus.
Eichhörnchen!, knurrte Lui. Diese Biester! Sie erlauben sich wirklich alles!
Von oben kam ein keckerndes Geräusch und ein kleiner, brauner Eichhörnchenkopf schaute sie schelmisch an. Weitere Eicheln flogen durch die Luft. Mindestens zehn Eichhörnchen kletterten in den Bäumen herum und bewarfen sie mit Nüssen. Lui jaulte erschrocken auf, als ihn eine der Eicheln am Hinterlauf traf.
Armes Wölfchen,
bist wohl zu langsam für uns!
Armes, kleines Wölfchen!, keckerten die Eichhörnchen lachend. Auch Lee fing an zu Lachen, wich den Nüssen aus und warf sie zurück. Doch die Eichhörnchen waren zu schnell und wichen ihren Würfen aus.
Dummes Menschenkind,
du musst besser zielen, wenn du einen von uns treffen willst!
Dummes, kleines Menschlein!, neckten die Eichhörnchen sie. Lee fing an zu kichern und als sie Lubomirs verblüfftes und verwirrtes Gesicht sah, fing sie erst recht an zu lachen. Auch Lui fiel nach einem kurzen Moment ein.
Hilfe!, rief Lee grinsend. Die Eichhörnchen greifen an! Dann lachten sie und versuchten den Nüssen auszuweichen. Lui sprang hoch und versuchte eines der Eichhörnchen zu schnappen. Keckernd und verhöhnend wichen die Eichhörnchen ihm aus. Obwohl er so schnell und geschmeidig war, schaffte Lui es weder ein Eichhörnchen zu fangen, noch allen Nüssen gleichzeitig auszuweichen. Doch schließlich konzentrierten sich Lee und Lui nur noch auf das Ausweichen und schafften es nach einiger Zeit, von gar keiner Nuss mehr getroffen zu werden. Irgendwann, als Lee und Lubomir überhaupt nicht mehr getroffen wurden, verging den Eichhörnchen die Lust. Lui hechelte und rannte immer langsamer. Auch die Nüsse wurden weniger, doch die Eichhörnchen ließen keine Chance aus, um sie zu ärgern.
Na, Wölfchen?
Wohl müde von dem kleinen Spiel, hä?
Armes, kleines Wölflein!, lachten die Eichhörnchen und nachdem Lui einmal laut geknurrt hatte, verschwanden sie laut keckernd und lachend in den Bäumen. Außer Atem ließen sich Lee und Lubomir ins Gras fallen. Als sie eine Weile so lagen, fingen sie an zu lachen.
Das war gutes Training!, meinte Lee und lachte immer noch.
Stimmt. Es war richtig lustig!, jauchzte Lui. Plötzlich wurde sein Gesicht wieder ernst.
Karu ruft uns!, sagte er monoton. Wir sollen zu ihr kommen!


Kapitel 58: Der Schlachtplan!

Als sie wieder auf die Lichtung kamen, waren Twitch und Shakul nicht mehr da. Karu sah sie an und fing schließlich an zu sprechen.
Die Menschen werden morgen früh kommen und zwölf Hektar des Waldes roden. Alle Tiere stellen sich am Waldrand der Lichtung, bei der die Menschen anfangen werden. Sollten die Menschen uns nicht bemerken, werden wir knurren, grunzen, brüllen oder uns sonst irgendwie bemerkbar machen. Wenn das immer noch nicht reicht, springen Lubomir und ich aus dem Dickicht heraus, in dem wir uns versteckt haben. Sollte das immer noch nicht genügen, greifen wir an und versuchen die Menschen mit Gewalt zu verjagen. Doch dies wäre unsere letzte Entscheidung. Übrigens, Lee, Twitch hat eure Welpen gefunden!
Lee fuhr hoch. Wo sind sie? Geht es ihnen gut?
Ja, sie sind nicht verletzt. Ich gebe dir die Aufgabe mit Shakul diese Welpen zu befreien. Wir können ein paar Wölfe mehr gut gebrauchen.
Lee jauchzte auf und fiel Karu um den Hals.
Ich bin noch nicht fertig, mein Kind!, sagte Karu sanft. Es sind noch andere Waldtiere dort gefangen. Ich will, dass du alle befreist!
Lee nickte. Das werde ich! Wann brechen wir auf?
Wenn du bereit bist, antwortete Karu.
Das bin ich!
Karu lachte. Das habe ich mir gedacht. Shakul wird jeden Moment hier ankommen.
Lui sah sich um und beobachtete einen Schmetterling, der munter umher flog und sich schließlich auf einer Blüte niederließ. Wo ist eigentlich Twitch?, fragte er plötzlich.
Sie sagt allen Tieren, was wir uns ausgedacht haben. Nicht das irgendein Tier sofort angreift. Das würde in einem Chaos enden. Deswegen bringt auch Shakul Lee zu den Welpen und nicht Twitch. Mit diesen Worten legte sich der Wolf nieder und legte den Kopf auf die Pfoten.
Ich bin müde, mein Sohn. Bitte, wache über mich. Ich muss ausgeschlafen sein, gähnte Karu und schloss die Augen.
Sei unbesorgt, Mutter. Ich werde da sein!, sagte Lui und legte sich neben sie. Lee setzte sich vor ihn und sah ihn an.
Warum nennst du sie Mutter und sie dich Sohn? Ihr seid doch nicht miteinander verwandt, fragte sie.
Das ist schwer zu erklären. Sie ist die Mutter von allem was lebt und wir sind ihre Kinder. Das ist eigentlich nur eine Redewendung. Ich kann es nicht erklären. Sie steht uns so nah. Wir empfinden sie als Mutter. Lui überlegte. Schließlich seufzte er. Ich kann es dir nicht besser erklären. Lee zuckte mit den Schultern. War ja nur so eine Frage! Dann gähnte sie, stand auf und reckte sich. Ich kann es immer noch nicht fassen!, jauchzte sie. Sie haben die Welpen gefunden! Sie haben die Welpen gefunden, Lui! Lubomir lachte. Beruhig dich!
Ich kann mich nicht beruhigen!, freute sich Lee. Als sie bemerkte, dass sie die Maske immer noch aufhatte, zog sie sie schnell ab.
Magst du die Maske nicht?, fragte Lui grinsend. Lee lachte.
Ehrlich gesagt: Nein! Ich komme mir dann immer so wie ein Verbrecher vor. Sie nahm den Beutel, der an ihrer Seite hing, griff nach einer Brezel und warf Lui ein Stück Fleisch zu, der es im Flug auffing. Plötzlich trat Shakul auf die Lichtung.
Na, amüsiert ihr euch, Kinder?
Shakul!, rief Lee freudig und rannte auf ihn zu. Lass uns gleich losgehen! Bitte! Ja?
Shakul lachte. Bist du denn bereit? Hast du alles was du brauchst? Lee nickte und nach kurzem Überlegen streifte sie sich die Maske über. So kann mich keiner erkennen!
Shakul nickte. Dann lass uns losgehen! Kannst du dich auch in einen Wolf verwandeln oder soll ich dich tragen? Bei der Versammlung sagte Lui, ihr wäret beide Wolfsköpfe.
Lee schluckte. Lui sprach für sie.
Nein, Shakul! Das mussten wir sagen, damit sie mit uns kämpfen. Lee ist zwar ein Seelenwolf, aber immer noch ein Mensch.
Das Mädchen sah Lui an, was wenn sie Shakul nun nicht mehr zu Lilian bringen wollte? Doch Lubomir schien ziemlich ruhig zu sein. Shakul lächelte sie an.
Das habe ich mir gedacht! Keine Angst, Lee, ich verrate euch nicht!
Dankbar lächelte das Mädchen.
Steig auf!, befahl Shakul.
Sicher?, fragte Lee und sah skeptisch auf dem schmalen Hirschrücken. Der starke Wolfsrücken sah so viel Vertrauungswürdier aus.
Keine Sorge! Ich bin der Hüter des Waldes! Ich kann einiges tragen!, sagte Shakul lächelnd. Er neigte seinen edlen Kopf zur Seite, damit Lee sein Geweih zu fassen bekam. Zögernd griff sie danach und wurde von seinem starken Kopf auf seinen Rücken geworfen.
Bis bald!, bellte Lui ihr zu.
Bis bald!, antwortete Lee, während der Hirsch los trabte. Kaum hatte er die Lichtung verlassen, rannte er los. Er war schnell. Nicht so schnell wie Lui, doch dafür war er geschmeidiger als die Wölfe. Eine Weile rannten sie durch den Wald. Plötzlich kamen ein paar Häuser in Sicht.
Wir werden neben der Stadt im Wald laufen, so kann man uns nicht sehen!, sagte Shakul und lief eine kurze Kurve. Eine Weile beobachtete Lee die Häuser die vorbeisausten, bis Shakul neben einem großen Gitterzaun stehen blieb.
Hier sind die Tiere gefangen, sagte Shakul.
Es ist ein Zoo, flüsterte Lee. Shakul nickte. Du wirst hineingehen und alle Waldtiere befreien. Ich werde mit allen Tieren reden bevor du sie überhaupt befreien kannst.
Lee rutschte von Shakuls Rücken. Dann wünsche ich dir viel Glück, Shakul!
Ich dir auch, Lee!, antwortete der Hirsch. Er senkte seine Schnauze und Lee hielt ihm die Hand entgegen. Sanft legte Shakul sein samtenes Maul in Lees Handfläche, dann wandte sich der Hirsch ab und rannte los. Lee sah zu dem hohen Zaun, schätzte die Höhe ab, holte ein paar Schritte Anlauf, rannte los und sprang. Ihre Hände umgriffen zwei Zaunstäbe. Schnell stemmte sie ihre Füße gegen zwei weitere Zaunstäbe und stieß sich ab. Sie bekam das obere Gelände vom Zaun zu fassen und zog sich hoch, nur um auf der anderen Seite wieder hinunter zu springen. Bevor sie jemand entdeckte, rannte sie zu einem Mardergehege, zog ihr Messer heraus, stach auf das kleine Schloss ein, welches sofort zerbrach, und stieß die Tür auf. Die Marder eilten ins Freie. Lee hastete weiter zum Bärengehege. Erneut zerbrach das Schloss und Lee stieß erneut die Tür auf. Mit einem lauten Brummen stürmten zwei Bären ins Freie. Jetzt war die ganze Aufmerksamkeit auf die Bären gerichtet. Schnell jagte Lee weiter zum Dammwildgehege. Das Schloss zerbrach, die Tür glitt auf und das Dammwild brach heraus. Die Besucher schrieen auf und sprangen zur Seite. Lee raste weiter zu den Dachsen. Den Füchsen. Den Adlern. Den Falken. Als sie plötzlich jemand packte und zu sich zog.





Ihr Tiere, Ihr Tiere
Hört mich an
Verbündet euch mit uns

Danach stieß Shakul einen Klagelaut aus, der seine schlimme Lage schilderte.
Ich hoffe du hast einen triftigen Grund, den „Eid der Verbündeten“ zu sprechen!, beschwerte sich der große Leitkeiler. Er war ein wenig verärgert, weil man ihn aus seinem Mittagsschlag geweckt hatte. Die Wildschweine kamen so nah wie möglich an den Zaun, um alles hören zu können.
Meine Geschwister, der Wald ist in Gefahr! Karu ist zu uns gekommen!, Shakul hielt einen Moment inne, weil die Wildschweine anfingen aufgeregt miteinander zu tuscheln. Der Leitkeiler stellte seine Ohren auf und kam noch ein Stück näher. Als es wieder still war, fuhr Shakul fort.
Die Menschen roden zu viel, deswegen brauchen wir jede Hilfe, die wir bekommen können. Jeden Moment kommt die Wolfsprinzessin und befreit euch, wenn dies geschehen ist, erwarten Karu, ich und der ganze Wald, dass ihr an unserer Seite kämpft.
Es war still. Nur ein kleiner Frischling flüsterte leise. Die Wolfsprinzessin?
Sagt bloß, ihr habt noch nichts von der Wolfsprinzessin gehört?
Der große Keiler schüttelte den Kopf. Hier dringt nichts zu uns durch! Ab und zu hören wir von den Vögeln ein paar Botschaften, doch mehr nicht.
Shakul seufzte. Es waren die letzten Tiere bei denen er war. Er hatte noch Zeit um es ihnen zu erklären, bevor sie einen Fehler begingen.
Karu, hat einen jungen Wolfskopf gefunden. Er heißt Lubomir!
Ein Raunen ging durch die Wildschweine. Geduldig wartete der Hirsch bis es wieder ruhig wurde.
Lubomir hat eine Freundin, die ihm nicht von der Seite weicht und er weicht ihr nicht von der Seite. Zusammen sind sie ein unschlagbares Gespann. Und dieses Mädchen nennen sie die Wolfsprinzessin. Doch nun muss ich wissen, ob ihr an unserer Seite kämpft. Können wir auf die Gruppe der Wildschweine zählen?
Der Leitkeiler versammelte alle mit einem lauten Grunzen um sich und sie berieten sich eine Weile, dann wandte sich der Keiler wieder dem Hirsch zu.
Wir sind einverstanden! Die Wildschweine kämpfen an eurer Seite!
Shakul bedankte sich und sprang davon, um nach Lee zu sehen.





„Lee!“, rief Jan und drückte sie an sich. In einem Reflex stieß Lee Jan von sich und ritzte ein paar Messerstiche in die Luft, doch dann bemerkte sie ihren Fehler.
„Jan?“, fragte sie hoffnungsvoll. Es war komisch wieder den Mund zu bewegen, um Worte zu formen. Sie hatte sich so sehr an die Tiersprache gewöhnt. Grinsend trat Jan ein paar Schritte zurück und breitete die Arme aus. „Ja, ich bin es, Wolfsprinzessin!“
Lee jauchzte auf und umarmte ihn stürmisch. Eine Weile lachten sie nur und lagen sich in den Armen.
„Was machst du nur für Sachen?“, fragte Jan schließlich.
„Wieso? Ich habe Lui gefunden und Karu getroffen und überhaupt…“, sie stockte „Wieso nennst du mich Wolfsprinzessin?“
„Alle Welt spricht von der Wolfsprinzessin und dem Wolfsbanditen! Die Presse, die Schüler und sogar die Lehrer. Ich wusste, dass nur ihr das sein könnt!“, grinste Jan.
„Wo ist Jenny?“, fragte Lee weiter. Jans Gesicht verfinsterte sich.
„Sie wird heute wegziehen!“, sagte er leise. Es war Lee als hätte ihr jemand in den Magen geschlagen.
„Wohin?“, fragte sie leise.
„Weit weg!“, antwortete Jan müde. „Irgendwo hoch. In den Norden!“
„Nein!“, rief Lee aus.
„Wir können es nicht ändern, Lee! Ihre Eltern sind nicht umzustimmen!“
„Das kann nicht sein! Wie lange war ich denn weg?“, fragte Lee fassungslos.
„Vielleicht ein paar Monate?“, schätzte Jan.
„Was?“, rief Lee aus. „Das kann doch nicht sein! Ich fühle mich als wäre ich erst seit zwei Tagen bei Karu! Verdammt! Und ich kann hier nicht weg! Jan, versprich mir, dass du es verhinderst, wenn ich die Welpen befreit habe! Bitte!“, flehte Lee.
„Was?“
„Versprich es mir!“
„Okay! Ich verspreche es dir!“, sagte Jan schnell. „Du willst die Welpen befreien?“
Schnell erzählte Lee ihm, was sie alles erlebt hatte. Als sie fertig war, sah Jan sie ernst an.
„Verstehe! Die Welpen sind da hinten!“, er deutete hinter sich.
„Woher weißt du, wo sie sind?“, jauchzte Lee, die sofort los sausen wollte. Sie spürte Lilians Anwesenheit mehr als sonst. Und freute sich, endlich wieder mit ihr vereint zu werden.
„Der Polizist hat es uns gesagt. Ich war schon oft hier, allerdings erlauben Jennys Eltern ihr nicht hierher zu kommen“, sagte Jan wütend. „Beeil dich, Lee! Ich warte bei den Welpen auf dich!“ Lee stieß einen Freudenschrei aus und rannte weiter zu den Wildschweinen. Das Schloss zerbarst und die Wildschweine stürmten ins Freie. Der Zoo war außer Kontrolle und die Tierpfleger hatten alle Hände voll zu tun, um die Tiere einzufangen. Doch Lee kümmerte sich nicht um das Durcheinander. Sie rannte der Anziehungskraft nach, von der sie wusste, dass sie sie zu Lilian führen würde. Immer schneller trieb sie ihre Beine an, als plötzlich ein Schuss ertönte.
„Verdammt!“, entfuhr es ihr. Schnell lief sie weiter und versteckte sich hinter ein paar Bäumen. Vorsichtig lugte sie zwischen den Stämmen hindurch. Fünf Polizisten sahen sich suchend um. Sie hatten Pistolen dabei und schienen Angst zu haben. Angst vor ihr! Nach kurzen, abgehackten Gesprächen liefen die Polizisten zum Ausgang. Lee atmete auf. Schnell rannte sie weiter.
Lee!, hörte sie Lilians Stimme. Lee, ich wusste, dass du kommen würdest.
Lilian!, rief Lee. Ich rette euch!


Kapitel 59: Die Rettung der Welpen!

Lilian stürmte als erste durch die Tür und warf das Mädchen auf den Boden. Zärtlich leckte sie sie ab und schmiegte sich an sie. Jason lief zu Jan und sprang ihm in die Arme. Jamie sah sich ein wenig hilflos um, doch dann raste sie auf einmal los und verschwand schließlich aus ihrem Blickwinkel. Jan warf Lee einen Blick zu und lief hinter Jamie her. Lee lächelte. Jan wusste, dass Jamie zu Jenny laufen würde und folgte ihr, um den Umzug zu verhindern. Wie er es versprochen hatte! Zärtlich strich sie über Lilians Fell. Schon kamen die ersten Tierpfleger und Polizisten angerannt.
Komm!, rief Lee Lilian zu. Schnell rappelten sie sich auf und rannten los. Lilian an Lees Seite. Eigentlich war sie kaum noch ein Welpe, sie war eher ein junger Jungwolf. Ihre Läufe waren länger und kräftiger geworden und ihr Gesicht hatte den Welpenhaften Ausdruck fast verloren. Lilian wich einem Tierpfleger aus und Lee vertrieb ein paar von ihnen mit Messerstichen. Eine Kugel schoss an ihrem Ohr vorbei.
Schneller Lilian!, rief Lee und hastete los. Vorne am Eingang fingen die Tierpfleger an das große Eisentor zu schließen. Die meisten Tiere waren schon draußen und die letzten huschten noch durch den schmalen Schlitz. Immerhin hatten die Polizisten aufgehört zu schießen, da die Tierpfleger in ihrer Schussbahn standen.
Lilian, halt die Tierpfleger auf! Das Tor darf sich nicht schließen, bevor nicht alle Tiere aus dem Zoo draußen sind, befahl Lee. Lilian lief näher an sie heran und Lee streifte kurz den schwarzen Fleck auf der Stirn, bevor der kleine Wolf davon stob.





Lilian hetzte weiter. Geschwind schlängelte sie sich durch die Tierpfleger, die ihr den Weg versperrten. Ein Polizist kam auf sie zu und stürzte sich auf sie. Lilian machte einen großen Satz und sprang über den Polizisten, der nun im Matsch landete. Sie hatte die Tierpfleger, die das Tor zu schoben, erreicht und schoss ihnen durch die Beine. Dann lief sie auf einen zu und sprang über ihn drüber. Innerlich musste sie grinsen, als sie merkte, was für Angst diese dummen Menschen hatten. Sie ließ ein lautes Knurren ertönen. Die letzten Tiere schossen ins Freie und rannten hinter Shakul in den Wald hinein. Lilian bemerkte ihr Mädchen, das sich zwischen ein paar Polizisten durchkämpfte. Schnell schloss sich der Wolf ihr an und rannte mit ihrem Mensch ins Freie. Das Tor klackte kurz hinter ihnen zu. Sofort wurde es wieder geöffnet, doch bis sich der erste Polizist durchquetschen konnte, waren Lee und Lilian schon längst im Wald verschwunden.





Gut gemacht, meine Tochter!, lobte Karu sie und stupste sie sanft mit der Schnauze an. Lee fühlte sich geehrt. Karu hatte sie noch nie Tochter genannt. Dankbar schmiegte sich Lee in ihre Halsbeuge. Dann setzte sie sich zu Lilian und drückte sie an sich. Lilian leckte ihr übers Gesicht und kläffte kurz auf. Lui setzte sich zu Lee. Komischerweise in seiner Menschengestalt. „Wo ist denn der schwarze Wolf geblieben?“, neckte Lee ihn. Lui lachte.
„Ich weiß auch nicht. Ich dachte, wir könnten zusammen trainieren, falls es zum Kampf kommt.“ Lee schluckte, dann reckte sie sich.
„Okay, ich muss sowieso mal wieder etwas mehr üben.“ Während sie mit Lui Messerkampf trainierte, bauten sie Lilian mit ein. Lee merkte, dass sie Lilian bis auf den Tod vertraute. Immer wenn Lui zwei besonders komplizierte Schläge hintereinander ausführte, schoss Lilian hervor und griff Lui an, sodass Lee Zeit hatte sich von seinen Schlägen ein wenig zu erholen. Nach einer Weile hörten sie auf und legten sich ins Gras. Lubomir verwandelte sich wie üblich in den großen Wolf und legte sich hechelnd neben sie. Lilian lag in Lees Schoß und schmiegte sich an sie. Sie war genauso froh wieder bei ihr zu sein, wie Lee.
Eins verspreche ich dir, begann Lilian und sah sie dabei schräg an. Uns wird keiner mehr trennen können!





Ihre Koffer waren gepackt. Jenny stützte den Kopf in die Hände. Lee und Lubomir haben mich im Stich gelassen. Was wohl mit Jamie passieren wird?
„Jenny, gib mir deinen Koffer!“ Ihr Vater stand vor ihr und streckte eine Hand nach ihrem Gepäck aus. Das Mädchen wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. All das Jammern und Betteln hatte nichts gebracht. Sie würde umziehen, damit sie nicht mehr mit ihren Freunden abhauen konnte. Weg von Jamie. Weg von Jan. Weg von Lui. Und weg von Lee. Ergeben überreichte sie ihrem Vater das Gepäckstück.
„Setz dich ins Auto!“, befahl er barsch. Schleppend schlurfte Jenny ihrem Vater hinterher. Als sie das Auto erreichte, blieb sie vor der Tür stehen. Ihr Vater schlug die Kofferraumtür mit einem lauten Knall zu.
„Steig ein!“, raunte ihr großer Bruder ihr durch das offene Fenster zu. Mit tränenverschleiertem Blick schüttelte sie den Kopf. „Ich kann nicht!“
„Jenny! Du steigst jetzt sofort ins Auto!“, rief ihr Vater ärgerlich.
„Ich will nicht!“, wimmerte Jenny und taumelte ein paar Schritte zurück. Wütend packte ihr Vater sie an der Schulter und zerrte sie zurück zum Wagen.
„Du wirst jetzt einsteigen!“, rief er wütend. Jenny schluckte. Sie hatte sich noch nie gegen ihren Vater aufgelehnt und wenn doch, dann hatte sie Schläge bekommen, doch jetzt war es ihr egal, ob sie Schläge bekam oder nicht. Herausfordernd sah sie ihn an.
„Nein!“, sagte sie tapfer. Es reichte ihr! Es war genug! Sie war innerhalb ihrer Familie immer ein kleines Mauerblümchen gewesen, doch damit war jetzt Schluss! In der Schule, war sie ein Wirbelwind. Eine von der die kleinen Jungen Angst hatten!
„Nein!“, sagte sie noch mal. Ein Schmerz fuhr durch ihre Wange. Erschrocken taumelte Jenny zurück. Ihre Wange brannte, doch Jenny wollte ihrem Vater nicht die Genugtuung geben, dass sie sie berührte. Schwer atmend hob sie den Kopf erneut und sah ihren Vater an. Eine weitere Ohrfeige schallte. Jenny taumelte und fiel hin. Ihre Mutter schrie auf, blieb jedoch im Auto sitzen und Tommy wandte den Blick ab. Sie waren zu feige! Zu feige sich zu wehren, wenn ihr Vater sie schlug. Zugegeben er schlug nicht hart zu, doch immerhin so sehr, dass ihre Wange manchmal geschwollen war, wenn sie etwas Unwichtiges nicht erledigt hatte oder etwas Ähnliches passiert war.
Bleib liegen!, hörte sie Jamies Stimme in ihrem Kopf und hätte beinahe gelacht. Jamie! Jamie war da! Der weiße Wolf schoss über ihren Kopf und sprang ihren Vater an. Der Mann lief ein paar Schritte rückwärts. Verblüfft sah er auf den jungen Wolf hinab, der wütend knurrte.
Jamie!, rief sie den Wolf zu sich. Jamie wandte sich zu ihr um und sprang in Jennys geöffnete Arme. Jamie! Jamie! Jamie! Jamie! Jamie… Jenny hatte das Gefühl, dass sie eins waren. Sie gehörten zusammen. Nie wieder würde irgendjemand es schaffen sie erneut zu trennen. Plötzlich jaulte Jamie auf. Jennys Vater hatte den Wolf im Nacken gepackt und von Jenny weggezerrt. Jenny sprang auf.
„Lass sie los! Lass sie sofort los!“, schrie sie. „Sofort!“, rief Jenny und trat wütend gegen das Auto. Inzwischen hatte der Welpe es geschafft, sich soweit zu drehen, dass er ihrem Vater in die Hand beißen konnte. Fluchend ließ der Mann den Wolf fallen. Strafend sah er Jenny an, während sich der Wolf in ihre Arme rettete. „Du…“, rief er und näherte sich ihr bedrohlich.
„Lass sie in Ruhe!“, rief eine Jungenstimme. Ein schwarzer Jungwolf, so schwarz wie die Nacht, sprang knurrend auf das Autodach. Tommy und Jennys Mutter schrieen auf und stürzten aus dem Auto. Jan tauchte neben dem Wagen auf und lief auf Jennys Vater zu. Jason sprang vom Auto und stellte sich knurrend neben ihn. „Lass sie in Ruhe!“, rief Jan noch mal.
„Halt mir dieses Tier vom Hals!“, rief der Mann und starrte auf Jason, der neben Jan hergelaufen war. Sein schwarzes Nackenfell war gestellt und seine Augen wütend auf Jennys Vater gerichtet. Der Junge und der Wolf wechselten einen Blick, dann setzte sich der Wolf hin, doch seine Ohren waren wachsam aufgestellt.
„Du bist bestimmt einer der Jungen mit denen meine Tochter abgehauen ist“, knurrte Jennys Vater. „Anscheinend hast du deinen Wolf aus dem Zoo befreit. Ich habe alles von der Polizei erfahren! Also, wer bist du?“
„Mein Name ist Jan!“ Der Mann lachte. „Ich wusste doch, dass ich dein Gesicht irgendwoher kenne! Du bist genauso ein Feigling wie deine Mutter! Traust dich wohl nur in Begleitung von Wölfen hierher!“
„Meine Mutter ist kein Feigling!“, schrie Jan. Von ihm aus konnte dieser Mann sagen was er wollte, doch auf seine Mutter ließ er nichts kommen! „Sie ist eine ehrenvolle Frau!“
Jennys Vater lachte wieder. „Ein Junge wie du versteht nichts von solchen Dingen!“
Jan ballte die Hände zu Fäusten. Jason stand knurrend auf.
„Jenny, komm! Lee und Lui brauchen uns! Nimm dein Messer mit!“, sagte Jan, doch er wandte den Blick nicht von Jennys Vater ab.
„Wenn du dich meiner Tochter noch einmal nährst, Bürschchen…“, grollte Jennys Vater, doch Jenny ging mit ihrem Messer, dass sie in ihrem Gürtel getragen hatte zu Jan und stellte sich mit Jamie neben ihm.
„Wenn du jetzt gehst! Gehörst du nicht mehr zu dieser Familie!“, schrie Jennys Vater. Das Mädchen zögerte. Ihre Mutter schlug die Hände vor den Mund und Tommy sah Jenny flehend an.
„Ich muss gehen!“, sagte Jenny leise. „Ihr könnt das nicht verstehen!“
„Jenny, nein!“, rief Tommy und rannte zu ihr.
„Bleib hier!“, rief Jennys Vater wütend, doch Tommy hörte nicht auf ihn. Auch Jennys Mutter kam zu ihr. Sie schloss ihr Kind in die Arme. „Jenny, wenn du gehen musst, dann komm bitte wieder! Komm wieder! Bitte, komm nach! Irgendwie!“, schluchzte ihre Mutter.
„Ja, Mama!“, sagte Jenny leise und umarmte sie. Tommy stand vor ihr. „Wenn ich mich darauf verlassen kann, dass du zurückkommst?“
„Kannst du!“ Jenny fiel ihrem Bruder um den Hals. „Ich verspreche es!“
Jennys Vater war sprachlos. Jan und sie drehten sich um und rannten mit ihren Wölfen davon.


Kapitel 60: Wieder vereint!

Die Kinder konnten es kaum fassen! Jason und Jamie hatten Jan und Jenny direkt zu Lui und Lee geführt, die auf der Lichtung auf Karu warteten, die die Zootiere aufklärte. Endlich waren sie wieder zusammen! Jenny und Lee fielen einander um den Hals und jeder erzählte, was ihm wiederfahren war. Die Welpen begrüßten sich ebenfalls stürmisch, als ob sie genauso lang getrennt gewesen wären, wie die Kinder. Alles schien perfekt bis Karu auf der Lichtung erschien.
Knurrend ging sie auf die Kinder zu und sah Lubomir und Lee strafend an.
Was soll das?, fragte sie wütend. Lubomir wandelte in seine Wolfsgestalt und versuchte sich so klein wie möglich zu machen, während er Karu entschuldigend die Schnauze leckte.
Es sind Seelenwölfe, Mutter!, antwortete Lee. Sie werden mit uns kämpfen! Ich hatte den Auftrag die Welpen zu befreien, doch da wo die Welpen sind, sind auch ihre Menschen!
Karu funkelte Lee wütend an. Lee schluckte und fragte sich, ob sie mit dem Wort Mutter nicht ein wenig zu weit gegangen war. Doch dann legte sich Karus Nackenfell und sie verlor ihren aggressiven Ausdruck.
Tretet vor, Menschenkinder!, befahl sie. Jan fasste sich an den Kopf, als hätte er starke Kopfschmerzen. Karu versuchte mit ihnen Kontakt aufzunehmen. Jenny blinzelte ein paar Mal verwirrt. Karu verstärkte ihre Konzentration.
Tretet vor, Menschenkinder!
„Sie spricht mit euch!“, wisperte Lee ihnen zu. „Konzentriert euch! Sie ist in eurem Kopf.“
„Ich kann sie hören!“, flüsterte Jenny.
„Ich auch!“, sagte Jan und kniff die Augen zusammen.
Tretet vor, Menschenkinder!, wiederholte Karu langsam und geduldig.
Gleichzeitig traten Jan und Jenny vor, während Jason und Jamie stehen blieben.
Ich grüße euch, sagte Karu.
„Wir grüßen dich ebenfalls!“, sagte Jan laut, wenn auch etwas verwirrt.
Sagt mir eure Namen!, befahl Karu. Und die eurer Wölfe! Jason und Jamie gesellten sich zu Jan und Jenny und setzten sich neben sie.
Mein Name ist Jenny und der meiner Verbündeten ist Jamie, antwortete Jenny.
Ich bin Jan und mein Gefährte heißt Jason, sagte der Junge und lächelte entschuldigend, fast als hätte er etwas Falsches gesagt.
Sagt mir Jan und Jenny, sprecht ihr für eure Rudelgefährten?, fragte Karu. Die Kinder wechselten ein paar Gedanken mit ihren Wölfen.
Ja, das tun wir!, sagte Jan schließlich.
Dann sagt mir, Menschenkinder, sagte Karu und ihr Tonfall wurde schärfer. Kämpft ihr an unserer Seite?
Jan holte tief Luft und Jenny sah ihn abwartend an, dann nickte das Mädchen.
Ja, wir kämpfen mit euch!
Jan nickte ebenfalls. Wir werden an eurer Seite sein!
Karu nickte und lächelte. Ihr dürft bleiben, Seelenwölfe! Mit diesen Worten drehte sie sich um und ging in ihre Höhle, um sich auszuruhen. Lubomir wandelte wieder in den Jungen.
„Wir sollten auch schlafen gehen!“, sagte er und sah auf die untergehende Sonne.
„Ja, stimmt!“, pflichtete Lee ihm bei. Lui verwandelte sich wieder in den Wolf und legte sich unter einen großen Baum. Lee lachte.
Was ist denn?, fragte Lui sie verwundert.
„Du warst in deiner Menschengestalt, um uns das zu sagen? Was für ein Aufwand!“, sagte sie sarkastisch. Lui sah sie verwirrt an, dann grinste er. Die Kinder schmiegten sich an ihn und die Welpen schmiegten sich an die Kinder. Jeder war mit jedem verbunden.
„Morgen haben Lui und ich Geburtstag!“, sagte Jan leise.
„Ihr habt am selben Tag Geburtstag?“, fragte Lee. Lui schnaubte bestätigend.
„Wir werden dreizehn!“, sagte Jan.
„Morgen wird bestimmt ein toller Tag, um Geburtstag zu feiern!“, sagte Jenny bitter. Eine Weile war es still. Und es dauerte nicht lange, da waren sie eingeschlafen.


Kapitel 61: Die Schlacht!

Lubomir lag angriffslustig in seiner Wolfsgestalt, zusammengekauert unter einem Strauch. In seinem tiefen Innern spürte er, dass es zu einem Kampf kommen würde. Angespannt warteten die Tiere auf die Ankunft der Menschen. Lee saß neben ihm und kraulte Lilian, die nervös mit ihren Ohren spielte. Das Mädchen hatte das weiße Wolfsfell übergezogen und sich die Maske um die Stirn gebunden, damit ihr die Haare nicht ins Gesicht fielen. Jan und Jenny waren am anderen Ende der Lichtung. Sowohl Jenny als auch Jan hatten sich Bänder um gebunden, damit sie wie Lee eine bessere Sicht hatten. Die Kinder und Karu würden sich zuletzt zeigen. Der große, weiße Wolf lief leise an den Tieren vorbei und kontrollierte was passierte. Schließlich legte er sich neben ihn auf den Boden.
Mein Sohn, begann Karu. Lubomir bemerkte, dass Lee sie nicht hörte oder jedenfalls ließ sie es sich nicht anmerken. Er konnte also ganz ungestört mit ihr reden.
Mein Sohn, wiederholte Karu. Ich weiß, du hast vor mit mir zu kommen, wenn ich diesen Wald verlasse und wieder zu meinem Stammplatz gehe. Du hast vor mir zu helfen, allerdings denkst du dabei nicht an dich selbst. Du denkst dabei an deine Rache an den Menschen, doch du darfst deine Bedürfnisse nicht vernachlässigen.
Lui atmete tief durch und betrachtete seine Pfoten.
Was willst du mir eigentlich sagen?, fragte er und sah Karu direkt in die Augen, doch schon bald musste er den Blick abwenden, da ihre Augen zurückstarrten.
Ich will dir nur sagen, was du alles verlieren könntest und dich wissen lassen, dass du ein Leben an der Seite des jungen Mädchens haben kannst.
Der schwarze Wolf warf einen Blick zu Lee, die angestrengt auf die Lichtung starrte. Ihm wurde ganz elend. Er wollte nicht darüber nachdenken und dass Karu ihn darauf ansprach, half ihm nicht bei dieser Entscheidung. Schließlich knurrte er nur kurz und sagte, dass was er sich immer eingeredet hatte.
Nein. Sie ist immer noch ein Mensch! Und ich verabscheue Menschen! Karu lächelte zwar, sprach dieses Thema jedoch nicht noch einmal an. Plötzlich wurde der Boden von einem lauten Brummen erschüttert. Die Jungwölfe knurrten und Lee sah wütend auf die Bagger und Walzen, die auf die Lichtung fuhren.
Sie sind da!, flüsterte Twitch. Lilian und Lui ließen gleichzeitig ein tiefes Grollen ertönen, als ein etwas dickerer Mann mit braunen zurückgekämmten Haaren aus einem Auto stieg und sich verächtlich umsah.
Geduld, meine Kinder!, mahnte Karu. Zieht ja keine voreiligen Schlüsse!





„Boss?“, fragte der Mann, der in der Walzmaschine saß, als er die Tiere entdeckte. „Was machen wir jetzt?“ Der Immobilienmakler besah sich mit einem kurzen Blick die Tiere und sagte geringschätzig: „Ignoriert die Tiere und fangt endlich an!“ Die Arbeiter wechselten unbehagliche Blicke, doch dann befolgten sie seinen Befehl. Ein Mann setzte sich Ohrenschützer auf und ließ eine Kettensäge aufheulen, die einem mit ihrem Gekreisch durch Mark und Bein ging. Ein Knurren, Grunzen und Fauchen ertönte. Die Tiere stampften mit den Füßen udn schüttelten angriffslustig die Köpfe. Unsicher sah der Mann mit der Kettensäge auf die Tiere.
„Machen Sie schon!“, schrie der Immobilienmakler wütend. „Wofür bezahle ich Sie eigentlich?“ Der Mann schluckte und ließ die Kettensäge in das Fleisch des Baumes gleiten.





Luis Muskeln waren zum Zerreißen angespannt! Er würde diesem Mann den Kopf abreißen und.....Was dachte er da? Das war doch nicht er!
Beruhig dich, Lubomir!, sagte Karu ernst. Noch nicht!
Lui merkte, dass er seine Pfoten in den feuchten Waldboden grub. Dieser Mann mit den zurückgekämmten Haaren, machte ihn so wütend. Er knurrte wütend.
Die Schreie der Kettensäge machten ihn so wütend und besonders das Ächzen udn Stöhnen des Baumes.
Nein!, knurrte er wütend und sprang auf die Lichtung.
Lui, nicht!, hörte er Lee noch rufen, doch da stand er schon knurrend vor den Arbeitern. Hitzig funkelte er die Arbeiter an. Der Mann mit der Kettensäge wich ein paar Schritte zurück und schaltete erschrocken die Kettensäge aus.
Karu sprang zornig neben Lui. Dummer Bengel!, knurrte sie ihn an.
Lui beachtete sie nicht. Hinter ihnen standen die Tiere bereit zum Kampf. Nur die Kinder hielten sich mit ihren Welpen noch versteckt.
„Sägen sie weiter!“, befahl der Immobilienmakler erzürnt.
„Sind Sie verrückt!“, schrie der Mann mit der Kettensäge, um das Knurren der beiden Wölfe zu übertönen. „Die zerreißen mich doch!“
„Diese Wölfe sind nicht real. Wahrscheinlich sind es Hologramme von diesem Tierschützer!“ Der Immobilienmakler lachte gezwungen. Ängstlich ließ der Mann die Kettensäge erneut aufheulen. Langsam schritt er zum Baum zurück. Lui knurrte drohend.
Das war die letzte Chance, um umzukehren! Der Mann schluckte und schnitt mit der Kettensäge erneut in die Rinde des Baumes hinein. Karu heulte auf und die Tiere gingen zum Angriff über. Die Kinder stürzten aus dem Dickicht und rannten mit gezückten Messer auf die Arbeiter zu. Dennoch waren die Dachse als erste bei dem Mann mit der Kettensäge. Schreiend taumelte der Mann zurück und schwenkte die immer noch laufende Kettensäge durch die Luft. Ein Dachs fiel mit einem dumpfen Aufprall zu Boden. Von der Säge aufgeschlitzt.
„Nur Hologramme?“, schrie der Mann den Immobilienmakler an. Kreidebleich sah dieser auf das tote Tier, dann glitt sein Blick zu den riesigen Wölfen. Plötzlich jagte er zum Auto und fuhr mit schlitternden Reifen davon. Fluchend schaltete der Mann die Kettensäge ab und rannte zu dem Bagger. Auch die Arbeiter waren kreidebleich geworden und fuhren nun so schnell sie konnten davon. Die Tiere hielten inne. Die Maschinen hatten eine riesige Staubwolke aufgewirbelt, schließlich fiel Karu in ein jaulendes Siegesgeheul ein.
Shakul machte mit seinen röhrenden Geräuschen mit und jedes Tier hob seinen Kopf zum Himmel, um einzustimmen. Doch plötzlich fing Lui wieder an zu knurren und Jan rief laut: „Es ist noch nicht vorbei!“ Die Tiere verstummten und sahen in die Rauchwolke. Die Füchse fingen als erster an zu knurren, doch dann rochen sie sie alle. Karus Blick wurde vernichtend und sie fletschte wütend die Zähne. Eine Gestalt trat aus der Staubwolke hinaus. Hinter ihr hoben sich viele Schatten. Die Tiere knurrten bedrohlich und auch Lee fletschte mit den Zähnen. Die Gestalt ließ ein unheilvolles Lachen ertönen.
Sasuun!, knurrte Karu. Zwischen den Knurrgeräuschen mischten sich winselnde Laute. Die Schamanin ging bedrohlich auf sie zu. Sie hatte ihre Haare mit einem Lederband, in dem ein Adler geritzt war, nach hinten gesteckt und sah die Tiere abfällig an. Lee durchzuckte eine Erinnerung. Auf dem Band ist ein Adler eingeritzt, das Zeichen einer Verstoßenen, denn der Adler steht für Einzelgänger und Vogelfrei. Wer hatte ihr das noch mal gesagt? Was bedeutete es? Es war etwas wichtiges, aber es schien ihr wie in einem vergessenen Traum. Sie konnte sich nicht daran erinnern.
Lee, wenn eine Indianerin verbannt wird, kann sie ihre Magie nicht mehr im Körper festhalten, dafür trägt sie so ein Lederband. Navaje! Das hatte Navaje ihr gesagt! Nachdem ersten Kampf mit Sasuun. Karu knurrte.
Woher kennst du sie?, fragte Lui.
Sie ist eine Verstoßene!, sagte Karu wütend. Ich habe einst einen Wald vor ihr gerettet, den sie aus Wut abbrennen wollte.
Grinsend blieb Sasuun vor ihnen stehen. Die Schatten traten geduckt aus der Staubwolke. Es waren merkwürdige Gestalten. Sie waren schwarz und braun. Äste schienen ihren Körper zusammen zu halten; verkohlte, verdorrte Äste. Auf dem Kopf trugen sie schleimige Gräser, die wahrscheinlich eine Art Haar bilden sollten. Ihre Augen waren gelb und hatten die Form von menschlichen Augen, doch ihre Pupillen waren so klein wie ein Sandkorn. Die Wesen liefen schleppend und doch hatte Lui das Gefühl, dass sie mit ihren krummen Beinen unfassbar schnell werden konnten. An ihren Gürtel trugen sie scharfe Breitschwerter, Dolche, Messer oder Keulen. Sie hatten kleine, spitze Zähne, die beim Zähnefletschen besonders zur Geltung kamen. Dennoch, diese Ungeheuer waren so groß wie Menschen.
„So sieht man sich wieder!“, sagte Sasuun mit einem Blick auf die Kinder, die ihre Messer gezogen hatten. Abfällig musterte sie Lui in seiner Wolfsgestalt.
„Ich weiß, dass du das bist, Lubomir! Nun bist du also ein Wolfskopf!“ Sie sah Lui spöttisch an. „Scheint nichts Besonderes zu sein!“ Der schwarze Wolf knurrte bedrohlich.
„Nimm deine menschliche Gestalt an, du Feigling!“, fauchte Sasuun. Schon stand Lui als Junge vor ihr und zog sein Messer.
„Was willst du hier?“, fragte er wütend. Sasuun ignorierte seine Frage.
„Du hast dich aber rausgeputzt“, spottete sie. „Wie alt bist du?“
„Dreizehn!“, sagte er. Heute war sein Geburtstag und wahrscheinlich gleichzeitig sein Todestag. Denn wenn Sasuun starb, starb auch er und sie musste sterben! Sasuun lachte.
„So jung!“, rief sie aus.
„Alt genug, um jemanden wie dich zu töten!“, zischte Lui.
„Wirklich?“, fragte Sasuun. „Du bist jung und unerfahren, deshalb mache ich dir einen Vorschlag: Schließ dich mir an oder stirb!“ Lui schwieg. „Weißt du wer meine Gefolgsleute sind?“, fragte die Schamanin nach einer Weile. Lui schüttelte verwirrt den Kopf.
„Das sind die Met’c.“, erwiderte sie. „Sie bestehen aus Schlamm, Ästen, Gras und sind ihrer Gebieterin treu ergeben. Es sind gute Kämpfer! Leider nicht unsterblich.“ Sie machte eine Pause, dann fragte sie scharf: „Schließt du dich mir an, oder nicht?“ Lui sah sich um. Alle Blicke waren auf ihn gerichtet. Die Kinder sahen Sasuun wütend an und Karu sah auf die Met’c und versuchte sie einzuschätzen. Sie vertrauen mir!, bemerkte Lui verblüfft. Sie sind sich sicher, dass ich ablehne! Aber genau das würde er doch auch tun, oder? Wütend funkelte er Sasuun an. „Niemals würde ich mich dir anschließen!“, sagte Lui und verwandelte sich in den großen Wolf. Er stand genau vor ihr und knurrte sie bedrohlich an. Sasuun war nicht einmal zurückgewichen, stattdessen sah sie ihn gleichgültig an.
„Dann soll es Krieg geben!“, sagte sie ruhig. Und ehe Lui wusste was geschah, griffen die Met’c an.





Mit Schwertern, Äxten und Beilen stürzten sich die Met’c auf die Tiere. Verbissen wehrten sich die Waldtiere mit Krallen und Zähnen. In dem Durcheinander verlor Lui Sasuun aus den Augen. Ein besonders großer Met’c hatte es auf ihn abgesehen. Mit einem Breitschwert versuchte er ihm die Pfoten abzuhacken. Knurrend stürzte er den Met’c zu Boden und riss ihm die Kehle auf. Verzweifelt suchte er nach Sasuun. Ein weiterer Met’c sprang auf seinen Rücken. Lui machte ein paar Bocksprünge und der Met’c fiel zu Boden, dann beugte sich Lui über ihn und riss ihm den Kopf ab. Nun suchte er nach Lee. Gerade eben kämpfte sie doch noch neben mir! Was wenn ihr was passiert ist? Ist sie vielleicht schon tot? Ein weiterer Met’c zielte mit seinem Breitschwert auf Lubomirs Hals. Gerade noch rechtzeitig fuhr der Wolf herum und stieß den Met’c von sich. Shakul gab dem Ungeheuer einen kräftigen Tritt und es sank in sich zusammen, während Karu ihm den Kopf abbiss.
Wir halten dir den Rücken frei, solange du nach deiner Freundin suchst!, rief Shakul ihm zu. Lui bemerkte wie er rot geworden wäre, wäre er nicht in seiner Wolfsgestalt. Dann hatten sie gemerkt, dass er Lee suchte. Dann wussten sie, dass sie ihm mehr bedeutete als sonst jemand. Doch damit musste er sich jetzt abfinden. Jetzt konnte er immerhin ungestört nach Lee suchen. Ein weiterer Met’c lief auf ihn zu und hätte beinahe eins seiner Ohren erwischt. Sofort sprang Karu nach vorne und brach dem Met’c das Genick. Lui schüttelte sich. Er musste sich mehr konzentrieren. Ich darf nicht immer nur an sie denken!, fuhr er sich an. Und das tat er. Das tat er viel zu oft. Zurzeit war sein Kopf immer voll von ihr, was er auch tat überall sah er ihr Gesicht. War nicht gerade Lilian ins Dickicht gehuscht? Er kämpfte sich zu der Stelle durch, bei der er meinte Lilian gesehen zu haben.
Ihr braucht mir nicht mehr den Rücken frei zu halten! Ich danke euch!, sagte Lui und drehte sich zu Shakul und Karu um, die mitten in einem Kampf waren. Doch Karu warf ihm einen kurzen, einverstandenen Blick zu. Schnell sprang Lui zwischen die Bäume. Lilians Spuren sprangen ihm regelrecht entgegen. So deutlich waren sie. Sie wird wissen müssen, dass ich sie suche!, dachte Lui und setzte ihr mit großen Sprüngen nach.





„Wie süß! Wie ich sehe hast du deinem Geliebten wieder verziehen“, höhnte Sasuun.
„Er ist nicht mein Geliebter!“, rief Lee wütend. Knurrend stand Lilian neben ihr. Sasuun lachte. Entschlossen hob Lee ihr Messer.
„Bist du sicher, dass du das tun willst?“, fragte Sasuun heiter.
„Warum sollte ich nicht?“, entgegnete Lee bissig.
„Wenn ich sterbe, stirbt auch dein kleiner Geliebter. Das würdest du doch nicht wollen. Dafür hast du ihn viel zu lieb!“ Sasuun kam bedrohlich näher. Lee schluckte. „Doch er dich nicht!“, hörte sie Sasuuns leise Stimme.
„Woher willst du das wissen?“
Sasuun lachte spöttisch. „Ich spüre es! Er hasst dich! Er will nur, dass du verschwindest und nie wieder kommst. Du hast ihm das schließlich alles eingebrockt!“
„Du lügst!“, schrie Lee, doch ihre Stimme zitterte.
„Ach, wirklich? Denk mal darüber nach, Lee! Wenn du ihn zurück geschickt hättest, hätte er Marek, Leyla, Luke und Fauna nie kennen gelernt und müsste jetzt nicht um sie trauern. Deswegen hasst er dich so sehr!“
Lee bemerkte erst, dass sie weinte, als ihr die Tränen in Strömen übers Gesicht liefen. Die vielen Toten! Und was sie am traurigsten machte, war dass Sasuun auch noch Recht hatte! Lee hörte ein Flattern und hob den tränenverschleierten Blick. Sie erkannte den kleinen Falken sofort.
„Finn!“, rief sie aus. Wo war er nur die ganze Zeit gewesen? Sie hob den Arm, damit Finn zu ihr kommen konnte, doch der Falke steuerte auf Sasuun zu, die ebenfalls den Arm erhoben hatte. Die Krallen schlossen sich um Sasuuns Arm.
„Finn?“, fragte Lee verwirrt.
Sasuun lachte. „Das hier ist mein kleiner Freund. Er hat mir immer erzählt, was du gemacht hast und jetzt hat er dich hierher gelockt. Ich muss schon sagen, du hörst wirklich aufs Wort, mein Guter!“ Ihr Lachen verklang und sie wurde ernst. „Töte sie!“
Lee fühlte sich fast so schlimm verraten wie von Lui. Der Falke flog auf sie zu und versuchte sich auf sie zu stürzen, doch Lee duckte sich rechtzeitig. Lilian sprang hoch und wollte den Falken fangen, um Lee zu retten. Doch das Mädchen hatte ihr Messer schon gepackt und als der Falke erneut niederstieß, warf sie ihr Messer. Kalt und steif landete der Falke auf dem Rücken. Das Messer bis zum Heft in der Brust. Lee lief zu Finn und fing an zu weinen, während sie das Messer aus der Brust des Falken zog.
„Ach du meine Güte! Wie schrecklich!“, höhnte Sasuun.
„Ich hasse dich!“, schrie Lee sie an.
„Genauso wie Lui dich hasst?“, fragte Sasuun giftig. Lee biss sich auf die Lippe. Die Schamanin grinste zufrieden. Ein dumpfer Aufschlag ertönte hinter Sasuuns Rücken und Lui erhob sich langsam, komischerweise war er in seiner Menschengestalt.
„Du hast keine Ahnung!“, zischte er wütend. „Lass die Hände von ihr und wende dich an jemanden, der dir gewachsen ist!“
Sasuun lachte. „Warum bist, du Feigling, nicht wie immer in deiner Wolfsgestalt?“
„Weil ich will, dass du durch mein Messer stirbst!“
„Dir ist bewusst, dass du dann ebenfalls sterben wirst?“
„Ja!“, sagte Lui entschlossen. Lee schüttelte fassungslos den Kopf, wobei die Tränen nach allen Seiten flogen.
„Nein, Lui! Wir müssen einen anderen Weg finden! Bitte! Es gibt bestimmte eine andere Lösung!“, rief sie und stellte sich vor ihn.
„Es gibt keinen anderen Weg!“, sagte Lui sanft und schob sie zur Seite. „Sasuun, ich wette du warst es, die die Polizei auf die Welpen gehetzt hat!“
„Ja, ich war es!“, gab Sasuun grinsend zu. Lees Trauer verrauchte und ging in brennende Wut über.
„Deinetwegen musste ich mich von Lilian trennen, sie wurden in einen Zoo gesteckt und auf Lui wurde sogar geschossen!“ Sie merkte wie sehr sie die Indianerin verabscheute! Sasuun grinste sie nur boshaftig an.
„Weißt du eigentlich, wie sehr ich dich hasse?“, fragte Lee wütend.
„Zeig es mir!“, befahl Sasuun und ging feixend in Kampfstellung. Wütend wollte sich Lee auf sie stürzen, doch Lui hielt sie zurück.
„Nicht, Lee! Tu es nicht! Bitte!“ Er bekam sie um die Taille zu fassen und hielt sie fest. Sasuun lachte spöttisch.
„Sie bedeutet dir doch etwas, doch du willst deine Gefühle vor ihr verbergen! Das ändert die Lage! Efni uthraz binod!“ Strickfesseln schlossen sich um Lees Hand- und Fußgelenke. Das Mädchen war nicht darauf vorbereitet und fiel zu Boden. Lilian sprang zu ihr und versuchte die Fesseln durchzubeißen, doch die Fesseln waren zu stark. Fast augenblicklich danach kniete Lui neben ihr und versuchte die Fesseln mit seinem Messer durchzuschneiden, als es nichts half schrie er verzweifelt: „Efni uthraz fen!“ Doch auch der Zauber zeigte keine Wirkung.
„Was hast du gemacht?“, wandte der Junge sich wütend an Sasuun. Sasuuns Augen waren auf Lee gerichtet, die sich hingesetzt hatte und versuchte die Fesseln abzustreifen. Die Augen der Schamanin wurden glasig und der Adler auf ihrem Lederband leuchtete blau auf, als Sasuun anfing zu sprechen: „Lova del thrin!“ Die Worte hallten im Wald wieder und alles schien den Atem an zu halten. Plötzlich keuchte Lee. „Was ist?“, fragte Lui sie besorgt. „Was hast du?“
„Ich…Ich bekomm…keine…Luft…mehr!“, keuchte das Mädchen. Ihre Augen wurden riesengroß vor Angst. Machtlos presste sich Lilian an sie, versuchte sie zu trösten.
„Was hast du mit ihr gemacht?“, rief Lui panisch.
„Es ist nur ein einfacher Zauber“, antwortete Sasuun unschuldig. „Nichts oder Niemand vermag es die Fesseln aufzubekommen und wegen des anderen Zaubers, wird sie in ein paar Minuten ersticken!“
„Mach es wieder rückgängig!“, schrie Lui sie wütend an.
„Das kann ich nicht! Selbst wenn ich es wollte. Es gibt nur eine einzige Möglichkeit: Du musst mich töten!“ Lui ballte die Hände zu Fäusten und umgriff sein Messer fester. Langsam stand er auf und drehte sich zu Sasuun um. „Dann werde ich das tun!“
Sasuun lachte. „Du bist herzlich eingeladen das zu versuchen, Wolfskopf!“
Bedrohlich ging Lui auf sie zu, während Sasuun grinsend ihr Messer zog. Sie fingen an sich wie zwei Tiger zu umkreisen.
„Deine Augen funkeln nur so vor Wut!“, stellte Sasuun gut gelaunt fest. „Das war was ich bezwecken wollte. Du sollst wie ein Wolfskopf kämpfen und wie einst mein Vater Lubomir. Mit Wut und Hass in deinem Herzen!“ Wütend lief Lui auf sie zu, doch sie parierte mühelos seinen kräftigen Messerstoß. Verabscheuend funkelten sie sich an, während ihre Messer immer wieder aufeinander prallten. Lui machte eine schnelle Drehung und duckte sich dabei unter einem ihrer Schläge weg, während er versuchte Sasuun das Messer in den Bauch zu rammen. Die Schamanin wehrte den Schlag ab und stach nach seiner Brust. Lachend wich Lui aus. Sasuun knurrte wütend und griff erneut an, doch Lui täuschte einen Stich von der Seite an, ließ das Messer jedoch im letzten Moment herumschnellen und traf Sasuun an der Schulter. Die Frau schrie auf und stolperte zurück. Wütend funkelte sie Lui an, während sie eine Hand auf ihre Wunde legte. „Ich habe dich wohl unterschätzt!“, sagte sie bedrohlich. „aber jetzt werde ich mich nicht mehr zurückhalten!“ Mit diesen Worten stob sie nach vorne und hieb in einem Hagel aus Messerstichen auf ihn ein. Überfordert versuchte Lui alle Messerstiche abzuwehren. Schließlich ließ Sasuun ihr Messer nach oben fahren, um es dann in einem Schlenker in Lubomirs Arm zu stechen. Blut quoll aus der Wunde. Stöhnend ließ Lui sein Messer fallen und sackte auf die Knie. Sasuun stand mit gezücktem Messer über ihm.
„Stell dir vor, wie furchtbar es ist, langsam zu ersticken. Wenn sie dir wirklich etwas bedeutet, dann sag mir jetzt, wie du sie retten willst!“, flüsterte Sasuun. Wütend sprang Lui auf und stach in wilden Messerstichen nach der Schamanin. Auf einmal sprang er hoch in die Luft, landete auf einem Ast und ließ sich von oben wieder herunterfallen. Sasuun sprang ein paar Schritte zur Seite und Lui landete auf der Stelle, an der sie eben gestanden hatte. Wieder stürzten sie sich aufeinander, um dann wieder auseinander zu gehen und sich mit Blicken zu messen. Lee schien es als würden ihre Lungen langsam immer kleiner und schwächer werden. Der Schweiß trat ihr auf die Stirn. Lilian leckte ihr übers Gesicht.
Sag mir was ich tun kann, Lee! Rudelgefährte! Bitte, ich muss doch irgendetwas für dich tun können!, winselte sie. Lee erinnerte sich an das Lederband, das nun wieder blau aufleuchtete. Doch Lui lachte und rief: „Dieser Zauber hat auf mich keine Wirkung mehr! Du kannst mich nicht mehr kontrollieren!“ Zähneknirschend griff Sasuun erneut an. Natürlich, das Lederband!
Lilian, reiß Sasuun das Band vom Kopf! Schnell!, befahl sie ihr. Dankbar leckte Lilian ihr übers Gesicht, froh etwas tun zu können. Schnell hastete sie in einem Kreis um die Kämpfenden herum und sprang auf einen kleinen Felsen, an dem Lui und Sasuun kämpften. Mit ihren kräftigen Pfoten sprang sie auf den Felsen und drückte sich ab. Sie sprang auf Kopfhöhe zwischen die beiden Kämpfenden und bekam Sasuuns Lederband zu packen. Schnell zischte Lilian damit davon. Das Band leuchtete kurz auf, doch dann erstarb das Leuchten sofort wieder. Verwirrt sah Sasuun auf ihr Lederband, das in Lilians Maul baumelte. Ihre schwarzen Haare wurden ihr ins Gesicht geweht und verdeckten ihr für einen kurzen Moment die Sicht. Diesen Moment nutzte Lui und stieß ihr ohne nachzudenken, dass Messer ins Herz. Sasuun taumelte und sah Lui entsetzt an. Lui zog das Messer aus ihrer Brust, während Sasuun erschlaffte und zu Boden fiel. Mit einem Mal konnte Lee wieder atmen. Luft durchströmte ihre Lungen. Die Fesseln lösten sich von ihren Handgelenken. Schwer atmend sah Lee zu Lubomir, der zu ihr blickte und erschöpft lächelte.
Dann brach er zusammen.
„Nein!“, schrie Lee heiser und rappelte sich auf. Hastete zu ihm. Zu der regungslosen Gestalt. Zu ihrem toten Freund. Er lag im Gras. Hatte die Augen geschlossen. Fast als würde er schlafen. Doch er lag mit einem Lächeln auf den Lippen da. Das Mädchen schluchzte. Tränen fielen auf Lubomirs blasse Haut. Lilian berührte sie sanft am Handgelenk.
„Nein!“, schluchzte Lee. Sie wischte sich die Tränen nicht weg. Dieses eine mal gefiel es ihr, wie sie die Wangen hinunterliefen. Dieses eine mal gefiel es ihr zu weinen. Sie vergrub ihren Kopf an seiner Brust, während sie weiter schluchzte und Lilian in ein Klagegeheul einfiel. Lee vernahm ihr eigenes Herzklopfen doppelt so laut. So laut war es noch nie gewesen, doch in diesem Augenblick war es ihr egal. Plötzlich verstarb Lilians Geheul und endete in einem verblüfften Kläffen. Und dann merkte Lee warum. Eine Hand legte sich sanft auf ihren Kopf und streichelte ihr über ihr verfilztes Haar. Es war wieder ein wenig nachgewachsen und reichte Lee etwas übers Kinn. Erschrocken fuhr das Mädchen hoch und sah auf den Jungen, der sich aufgesetzt hatte und sie in den Arm genommen hatte. Lui redete beruhigend auf sie ein, wobei immer dieselben Sätze darin vorkamen: „Keine Angst! Ich lebe noch! Es wird alles gut! Alles wird gut!“ Lee schluchzte, doch endlich beruhigte sie sich und ließ sich einfach nur von ihm in den Armen wiegen. Dann setzte sie sich auf und sah ihm in die Augen. Seine Augen, die nun nicht mehr dieses schöne braun hatten, sondern bernsteinfarben. Bernsteinfarben wie Lukes Augen gewesen waren. Sie hatte diese bernsteinfarbenen Augen in seinem Gesicht nie gemocht, doch jetzt liebte sie sie. Sie liebte die kleinen Punkte in ihnen, die ein mysteriöses Muster ergaben. Sie liebte es, dass diese Augen genau den selben Schalk verdeutlichen konnten, wie seine braunen. Und ganz besonders liebte sie diese Augen, weil sie wieder Leben ausstrahlten, weil sie zeigten, dass Lui noch lebte und Lee somit bewiesen, dass das Leben auch schön sein konnte.
„Ich bin so froh, dass du noch lebst!“, schluchzte Lee und umarmte ihn. Lui lachte, und sein Lachen klang so gesund und fröhlich, dass es Lee das Herz erwärmte.
„Aber wie kann das sein?“, fragte sie schließlich und sah ihm wieder in die Augen.
„Ich weiß es auch nicht“, gab Lui zu. „Aber ich habe einen Verdacht!“ Lee sah ihn abwartend an. „Vielleicht ist Sasuun gar nicht die Einzige ihrer Familie, die noch lebt. Was wenn Lubomir gar nicht tot ist?“
Lee überlegte. „Stimmt, doch dann wirst du sterben, wenn Lubomir stirbt!“
„Das hilft uns auch nicht weiter!“, pflichtete Lui ihr bei. „Wie geht es dir eigentlich?“
„Gut!“, sagte Lee gepresst. Sie sah ihm direkt in die Augen. „Ich dachte ich ersticke…aber du hast es geschafft…Danke!“ Lui grinste. „Gern geschehen!“ Nach einer Weile stand er auf. „Wir sollten zu den anderen gehen! Noch sind die Met’c nicht besiegt!“


Kapitel 62: Sieg und Abschied!

Jans Messer schnitt einem Met’c die Kehle durch. Schwarzes Blut sickerte aus der Wunde.
Spring!, hörte er Jasons Stimme. Sofort sprang Jan mit beiden Beinen so hoch er konnte. Unter ihm schoss Jason hindurch und sprang einem Met’c an die Kehle. Demselben Ungetüm rammte Jan das Messer ins Herz. Es fiel tot zu Boden. Jason stellte sich hinter Jan und hielt ihm den Rücken frei. Sie waren ein gutes Team. Immer da, wenn der andere einen brauchte. Jan wehrte einen Messerstoß ab, der auf seine Kehle gerichtet war. Er nahm eine Bewegung zu seiner Rechten war und spürte auf einmal einen stechenden Schmerz, der durch sein Handgelenk fuhr. Sein rechtes Handgelenk blutete. Nicht stark, aber es tat stark genug weh, um nicht damit kämpfen zu können. Schnell nahm er das Messer in die linke Hand und sah sich nach dem Angreifer um, der ihm ins Handgelenk geschnitten hatte. Vor ihm stand ein gewaltiger Met’c. Er trug ein Breitschwert und grinste Jan höhnisch an. Schon musste Jan den ersten Angriff abwehren. Er spürte sofort den Unterschied. Seine linke Hand war so viel schwächer. Der Met’c täuschte einen Stich auf Jans Brust an, ließ dann das Schwert jedoch herumschnellen und grub es in Jans Oberschenkel. Jan schrie auf vor Schmerz und sackte auf die Knie. „Jan!“, hörte er Jenny schreien. Er wusste, dass sie sich zu ihm durchkämpfen würde. Drohend holte der Met’c mit dem Breitschwert über den Kopf aus und ließ es hinab sausen. Dann ging alles ganz schnell.
Nein! Rudelgefährte!, rief Jason und dann leiser. Vergib mir! Er sprang zu Jan und ehe die Klinge Jan berühren konnte, sprang der kleine Jungwolf hoch und schloss die Augen.
„Jason! Nein!“ Sein Schrei hallte ihm in den Ohren wieder. Von dort wo Jasons Kopf und die Klinge sich trafen, ging ein greller Blitz aus. Jan konnte Jason nicht mehr sehen, doch er wusste, dass der Met’c den schwarzen Welpen getötet hatte. Vor lauter Wut riss er dem Ungeheuer den Kopf ab. Verdutzt bemerkte er, dass seine Wunde verschwunden war, dann jaulte er auf, weil er die nachtschwarzen Pfoten bemerkte, die eigentlich seine Hände sein sollten. Wo ist Jason? Was ist mit mir passiert? Plötzlich schossen ihm Worte durch den Kopf, die Navaje gesagt hatte, als sie ihnen erklärte was Seelenwölfe waren:
„Mit einem Wolf verbunden zu sein. Mit ihm eins zu sein, und wenn man ihm dann so nahe kommt, dass es fast unmöglich ist, werdet ihr wirklich eins. Der Wolf verschwindet und lebt in dir weiter.“
Nein!, knurrte Jan leise und sah an sich runter. Er hatte Jasons Fell und Körperbau. Jason! Oh, nein! Plötzlich bemerkte er, dass er in keiner menschlichen Sprache gesprochen hatte. Lui trat in seiner Wolfsgestalt neben ihn.
Sasuun ist tot!, teilte der Wolf ihm mit.
Jason ist weg!, jaulte Jan traurig. Lui ließ ein kehliges Geräusch ertönen, von dem Jan merkte, dass er lachte.
Du bist Jason!
Nein! Jason hat sich in Luft aufgelöst!, heulte Jan und riss wütend einem fliehenden Met’c den Kopf ab.
Sie haben Angst und keine Ordnung mehr, seit Sasuun tot ist, sagte Karu, die das Fliehen der Met’c beobachtete.
Was ist wenn ein Mensch sie sieht?, fragte Lui. Karu ging zu ihnen und setzte sich neben sie. Jan suchte verzweifelt nach Jasons Leichnam.
Er muss hier doch irgendwo sein! Irgendwo!
Die Met’c sind böse, aber nicht dumm. Sie wissen, dass kein Mensch sie sehen darf!, sagte Karu und setzte sich majestätisch hin.
Jan fing an zu winseln. Er konnte Jason einfach nicht finden.
Du kannst aufgeben, kleiner Wolf!, sagte Karu und stupste Jan sanft an. Dein kleiner Welpe ist nicht mehr hier!
Aber wo, wo ist er dann?, fragte Jan winselnd.
Er ist in dir drin! Wenn du dich in deine Wolfsgestalt verwandelst, bist du Jason!, erklärte ihm Karu.
Das verstehe ich nicht!, heulte Jan und fing an sich vor Traurigkeit in seine menschliche Gestalt zurück zu verwandeln. Als er wieder ein Junge war, fing er an zu weinen. Jenny kam zu ihm und Jamie leckte ihm durchs Gesicht. Auch Lee ging zu ihm. Doch es war Jan gleich, wie viel Trost er bekam. Jason war fort! Und er würde nie wieder kommen.





Die Kinder lagen auf der Wiese und ließen sich von Karu ihre Wunden behandeln. Auch Lui war in seiner Menschengestalt und man sah deutlich die Narben, die er von Sasuun bekommen hatte. Jan lag da und starrte ins Leere. Die anderen redeten dafür umso mehr.
„Ich kann es immer noch nicht fassen, dass Sasuun tot ist!“, juchzte Jenny.
„Und das Lubomir noch lebt!“, nickte Lee. Schließlich seufzte sie und sagte zögernd: „Ich werde bald nach Hause zurückkehren.“
„Was?“ Drei entsetzte Augenpaare starrten sie an.
„Ihr alle habt Streit mit euren Eltern! Ich nicht, und ich würde euch trotzdem raten, auch nach Hause zu gehen!“, erklärte Lee. Jan, Jenny und Lui sahen sich an.
„Ein Besuch kann ja nicht schaden“, meinte Lui leise.
„Bei mir schon!“, rief Jenny aus. „Aber ich glaube, ich gehe trotzdem zu ihnen. Allerdings nicht für lange. Lui könntest du mich dann dort abholen?“
„Klar, wenn du mir sagst, wann und wo?“, antwortete Lui. Jenny nickte eifrig.
„Ich werde auch gehen, aber nur zu meiner Mutter und meiner Schwester! Mein Vater kann mir gestohlen bleiben.“, sagte Jan wütend. Die Kinder sahen sich besorgt an. Das war das erste was Jan, seit er wieder in menschlicher Gestalt war, gesagt hatte. Lui wandelte in seine Wolfsgestalt, da er spürte, dass Karu Kontakt mit ihm aufnehmen wollte.
Morgen gehe ich, Lubomir! Und ich will, dass du dir alles noch mal überlegst!
Ich bin in meinem Innern sehr uneinig mit dieser Entscheidung, gab Lui zögernd zu.
Karu nickte. Schlaf mein, Sohn, schlaf! Morgen können wir alles besprechen!





Am nächsten Morgen verabschiedete Karu sich von ihnen. Beim Abschied sah sie Lui noch einmal fest an. Ich bin mir sicher, du hast die richtige Entscheidung getroffen, mein Sohn!
Das glaube ich auch!, antwortete Lui und sah auf Lee, die neben ihm stand und Karu grinsend hinterher winkte. Als Karu nicht mehr zu sehen war, ertönte auf einmal ein sehr lautes Knurren. Jan war wieder in seiner Wolfsgestalt. Offenbar hatte er keine Ahnung, wie er seine Verwandlungen unter Kontrolle kriegen sollte.
„Das kommt mit der Zeit!“, hatte Lui lachend gesagt. Jetzt lief Jan wie wild umher.
Jason, verdammt noch mal, Jason! Warum hast du dich für mich geopfert!
Lee und Jenny versuchten ihn zu beruhigen, doch Jan hörte nicht auf sie und schimpfte immer weiter. Schließlich ließen die Mädchen ihn in Ruhe und wandten sich an Shakul und Twitch, die ebenfalls aufbrechen wollten.
Leb wohl, Shakul!, sagte Lee und umarmte den Hirsch. Und danke!
Ich muss dir danken, Lee! Ich hoffe wir sehen uns irgendwann mal wieder!
Das hoffe ich auch.
Auch die anderen, bis auf Jan, der immer noch mit seiner Schimpfparade beschäftigt war, verabschiedeten sich von Shakul.
Aber Twitch sagte nur: Keine großen Abschiedstränen, so etwas kann ich nicht ertragen! Ich gehe jetzt! Ich hoffe wirklich, dass wir uns mal wieder sehen! Lebt wohl, Menschenkinder! Und mit diesen Worten flog sie davon. Auch Shakul sprang ins Dickicht hinein. Die Kinder sahen den beiden nach, bis sie verschwunden waren. Schließlich seufzten sie.
„Jan, Lui! Bringt ihr mich und Lee nach Hause?“, fragte Jenny. Lui nickte und Lee schwang sich sofort auf seinen Rücken. Jan hatte davon noch gar nichts mitbekommen und schimpfte immer noch über Jason, da packte Jenny sein Fell und zog sich hoch. Jan war zwar erst etwas verwirrt, aber als Lui lossprintete, jagte er ihm sofort hinterher.


Kapitel 63: Wieder zu Hause!

„Ich muss zurück!“, bettelte Lee. Sie war schon seit einiger Zeit wieder zu Hause und hatte sogar wieder mit der Schule angefangen. Der Wolfsbandit und die Wolfsprinzessin waren schon lange nicht mehr erwähnt worden, Lui hatte sich mit seinen Eltern, wieder ein wenig vertragen, Jan lebte immer noch bei seinen Nachbarn, Jennys Familie war, nachdem sie davon gerannt war, sogar zu Hause geblieben und ihr Vater hatte noch nicht einmal gemeckert. Eigentlich war alles perfekt bis auf Lees innere Gefühle.
„Du wirst hier bleiben!“, rief Jack wütend.
„Papa, du verschweigst mir was!“, keifte Lee. „Du hast einen bestimmten Grund, warum ich nicht nach Nordamerika zurück darf.“
Ihr Vater zögerte, dann seufzte er und seine Stimme wurde ein wenig sanfter.
„Ja, den gibt es!“
Lees Tonfall hatte sich nicht geändert. „Ich habe ein Recht darauf zu erfahren, was los ist!“ Ihr Vater holte tief Luft. „Ich wusste von der Prophezeiung!“ Das überraschte Lee. „Und ich weiß“, fuhr ihr Vater fort. „Dass es noch eine gibt! Es wird gefährlich, Lee! Irgendwann holt dich die Prophezeiung ein, aber noch nicht jetzt!“
„Doch jetzt!“, sagte Lee. „Du weißt, dass ich einer Prophezeiung nicht entgehen kann, aber du weißt nicht, wie sie mich zu sich holt. Es wäre leichter, wenn ich jetzt gehe!“
Jack seufzte. „Du bist noch so jung!“ Lee sah ihm tief in die Augen.
„Dad, ich gehöre nicht hierher! Ich habe nie hier hergehört! Das hier ist nicht meine Welt!“
„Ich weiß!“, sagte ihr Vater gepresst. „Ich hätte nur nicht gedacht, dass es so früh geschehen würde.“ Er zog Lee an sich und umarmte sie. „Ich buche dir ein Ticket für den Flug, dort holst du dir ein Taxi und fährst zu Sherryharbour.“ Ihr Vater ließ sie los und ging ohne ein weiteres Wort davon. Lee lächelte ihm dankbar nach.





Wie geht es dir?, fragte Lee den kleinen Welpen.
Na ja! Der Käfig ist ziemlich klein und sie haben mir eine komische Spritze gegeben. Ich kann kaum klar denken und bin furchtbar müde!
Schlaf ruhig, meine Kleine!
Ich bin froh, dass du da bist!
Schon war der Kontakt abgebrochen. Lee sah aus dem Flugzeugfenster. Drei Personen passten noch neben sie. Sie seufzte. Jan, Jenny und Lui gingen ihr nicht mehr aus dem Kopf. Lee hatte ein schlechtes Gewissen, denn sie hatte ihre Freunde zurückgelassen, um alleine nach Nordamerika zum Wakatistamm zurück zu gehen. Plötzlich ließ sich jemand neben ihr auf den Sitz plumpsen.
„Na, du hast vielleicht Nerven!“, hörte sie Jenny schimpfen. Lees Kopf fuhr herum und sah auf das Mädchen, dass sich neben sie gesetzte hatte. „Du wolltest uns einfach hier zurücklassen!“, murrte sie.
„Jenny!“ Lee fiel ihr um den Hals.
„So langsam solltest du doch mal wissen, dass du damit nicht weit kommst!“, sagte Jan und setzte sich neben Jenny.
„Und du solltest wissen, dass man uns vier nicht mehr trennen kann!“, grinste Lui und ließ sich neben Jan nieder.
„Ihr seid die besten Freunde auf der ganzen Welt!“, lachte Lee.
„Jamie, schläft tief und fest!“, sagte Jenny und seufzte. „Meine Güte, das war vielleicht ein Stress“ Sie lachte. „Du ahnst gar nicht wie teuer solche Tickets für uns und den“, sie zwinkerte Lee zu, „Hund sind und dann mussten wir noch genau in dieses Flugzeug. Die Plätze haben wir vorher mit den Leuten getauscht, die eigentlich neben dir sitzen sollten.“
„Woher wusstet ihr eigentlich, dass ich gehe?“, fragte Lee.
„Lui hatte so eine komische Vorahnung und dann haben wir deinen Vater weich geklopft!“, grinste Jan.
„Und wie habt ihr das euren Eltern beigebracht?“, fragte Lee skeptisch.
„Gar nicht!“, sagte Lui ausdruckslos.
Lee seufzte. Der Flug dauerte lange und als sie endlich landeten, war es schon mitten in der Nacht. Der Taxifahrer war sehr müde, doch er fuhr sie und die Welpen ohne große Umschweife und Kommentare nach Sherryharbour. Als sie ausstiegen erkannte Lee den kleinen Hafen wieder, bei dem Frau Descuâr angelegt hatte. Pachu erwartete sie bereits. Stürmisch begrüßten ihn die Welpen, während die Kinder ihn nur müde grüßten. Sie hatten sich daran gewöhnt, dass Pachu wusste, wann sie ankamen und sie erwartete. Die Reise zu dem Rastplatz des Wakatistamms war noch anstrengender als alles zusammen. Endlich erreichten sie den Stamm und bekamen ein großes Zelt zugewiesen, in dem sie sich sofort schlafen legten.





„Ich bin froh, dass ihr wieder da seid.“, begrüßte Navaje sie am nächsten Tag. Die Kinder hatten von den Indianern Kleider bekommen und eng anliegende Schuhe, die man wie eine Schlangenhaut abstreifen konnte.
„Lubomir, ich hörte, du hast Karu getroffen und hast dich als Wolfskopf unter Kontrolle“, sagte Navaje anerkennend. „Und dann habe ich noch gehört, dass ihr Sasuun getötet habt. Die Tiere erzählen zwar so einiges, doch ich würde die ganze Geschichte gern noch mal von euch hören.“ Schnell erzählten die Kinder ihr, was sich zugetragen hatte. Nachdem sie zu Ende erzählt hatten, wandte sich Navaje zu Jan.
„Kommst du gut mit deinen Seelenwolfkräften zurecht?“, fragte sie.
„Ich finde der Begriff Werwolf passt besser.“, murmelte Jan.
„Sag so etwas nicht!“, fuhr ihn Navaje wütend an. „Werwölfe und Seelenwölfe sind unterschiedlich. Werwölfe werden von dem Bösen verleitet und haben keine Kontrolle über sich. Im Gegensatz zu uns laufen sie auf zwei Beinen. Wir hingegen haben unseren Verstand und sind schneller und wendiger als sie. Uns gefällt der Begriff Werwolf nicht, also achte darauf, dass du ihn nicht noch mal verwendest.“
Jan nickte überrascht, dann seufzte er. „Ich vermisse Jason so sehr!“
„Es musste so kommen“, sagte Navaje sanfter. „Auch ich war verwirrt, als sie in mich überging.“
„Wie hieß sie?“, fragte Jenny, die Jamie zärtlich streichelte.
„Nathrae!“, sagte Navaje verträumt.
„Was hast du gemacht, als sie in dich übergegangen ist?“, fragte Jan.
„Ich habe viel darüber nachgedacht“, erklärte Navaje, „und als ich es geschafft hatte, meine Verwandlung unter Kontrolle zu bringen, habe ich gemerkt, dass ich als Wolf ihren Körper, ihre Gangarten und manchmal sogar ihre Denkweise hatte. Mit anderen Worten; ich merkte, dass ich sie war, wenn ich mich verwandelte.“
„Das habe ich auch bemerkt!“, sagte Lui interessiert. „Aber es ist schwer es einzusehen!“
Jan lächelte traurig.
„Lubomir“, begann Navaje von neuem. „wir hatten noch keine Möglichkeit einen Wolfskopf zu untersuchen. Würdest du dich zur Verfügung stellen?“
Lui nickte.
„Dann folge mir!“, sagte die Schamanin. Sie führte die Kinder zu einer großen Wiese mit umgefallen Baumstämmen und einer großen Rasenfläche. Es wirkte wie ein Hindernis Parcour. Jan, Jenny und Lee blieben etwas abseits stehen und besahen sich die Übungen. Navaje machte verschiedene Test mit Lui durch. Zuerst sollte er sich verwandeln. Wolf, Junge, Wolf und wieder Junge. Schließlich ließ sie ihn über die Rasenfläche rennen, über Baumstämme springen und am Ende geschmeidig durchs Unterholz schleichen. Sie schien mit allen Ergebnissen sehr zufrieden zu sein. „Du bist erstaunlich stark und schnell“, sagte sie bewundernd. Das stimmte. Er war so schnell, dass man meinen könnte, er wäre ein Auto auf der Autobahn. „Du hast dich sehr gut unter Kontrolle und einen starken Willen. Das hast du gut gemacht.“
„Als ich mich das erste Mal verwandelt habe, wollte ich mich auf das nächst beste Reh stürzen. Ich musste viel üben“, erwiderte Lui beschämt.
„Gut, wirklich!“, lobte Navaje ihn. „Jan, jetzt du!“
Mit Jan war es schwieriger. Das Verwandeln machte ihm Probleme und wenn er es schaffte, stolperte er meist über seine vier Pfoten. Doch schließlich schaffte er es zu rennen, er war fast so schnell wie Lui. Doch dann wurde er geschmeidiger und sprang über die umgefallenen Bäume. Es war noch nicht perfekt, doch zu guter Letzt hatte er sich im Griff. Lee grinste, wie sehr sie Jans Bewegungen an den tapsigen Jason erinnerten.
„Ich bin sehr zufrieden mit euch!“, sagte Navaje lächelnd. „Ihr fragt euch bestimmt wieso Lubomir nicht gestorben ist, als Sasuun starb?“
Die Kinder sahen sie abwartend an.
„Sasuuns Vater, Lubomir, lebt noch! Er ist nach Mirgat geflohen!“
„Hab ich es mir doch gedacht!“, sagte Lui, der in seine menschliche Gestalt zurück gewandelt war. Auch Jan stand wieder als Junge neben ihnen.
„Wo liegt denn dieses Mirgat?“, fragte Lee.
„Es ist eine Region in Vardell!“, erwiderte Navaje geheimnisvoll. Fragend sahen sich die Kinder an.
„Morgen werden wir nach Ellema aufbrechen, aber erst werdet ihr alle trainieren.“
„Wo liegt Ellema? Auch in Vardell?“, fragte Jan.
„Ja, und wo Vardell liegt, verrate ich euch morgen.“, sagte Navaje. Mehr war nicht aus ihr herauszubekommen, also vertrieben sich die Kinder die Zeit, indem sie trainierten. Messerkampf, Bogenschießen und sogar Schwertkampf. Jan und Lui übten auch einen Kampf in ihren Wolfsgestalten. Es sah gefährlich aus, wie sie knurrten und mit den Zähnen fletschten. Doch die Jungen trugen keine Verletzungen davon und es schien ihnen sogar Spaß zu machen. Schließlich fielen sie alle müde in ihre Betten.


Kapitel 64: Vardell!

Am nächsten Morgen bekamen die Kinder Reiseklamotten, Bogen, Messer und Verpflegung mit. Navaje war ebenfalls reisefertig und während sie die Kinder durch den Wald führte, erzählte sie: „Alle Fabelwesen, auch die Seelenwölfe und sogar die Indianer, kommen aus dem wundersamen Land Vardell. Man gelangt nur durch einen Zauber in diese Welt. Früher konnten alle Indianer zaubern, doch es wurde Brauch, dass es nur ein oder zwei durften, diese nennen wir Schamanen. Es gibt aber auch viele Fabelwesen, die man nur in Vardell findet, zum Beispiel: Drachen, Elben, Hippogreife, das Adlervolk oder der Basilisk. Doch einige mussten in diese Welt übersiedeln, und das nur wegen Lubomir. Er wollte der Herrscher über ganz Vardell sein. Doch er verlor gegen die Völker, die sich gegen ihn erhoben. Vor Wut zerstörte er mit einem gewaltigen Zauber viele Regionen des Landes. Die Völker geben alles, um sie wieder auf zu bauen. Doch Lubomir hat immer noch vor Herrscher über Vardell zu sein. Er kam in diese Welt, in der Hoffnung irgendetwas zu finden, was ihn zu großer Macht verhelfen würde. Er fand Lees Vater und beschloss ihm die Kraft abzusaugen. Ebenso fand er eine Frau mit der er sich vermählte, doch sie starb bei der Geburt der Zwillinge: Sasuun und Marek. Vierzehn Jahre später wurde ein Junge geboren, dessen Kraft außergewöhnlich war. Lubomir band ihn an sich und sie mussten denselben Namen tragen. Fast danach kam Lee und den Rest kennt ihr. Nun ist Lubomir in seine alten Festung in Mirgat geflohen. Die Elben erwarten von euch, dass ihr ihn stürzt. Es gibt eine weitere Prophezeiung, aber die werden euch die Elben erzählen.“ Eine Weile liefen sie durch den Wald, als sie plötzlich von Blumenelfen umringt wurden. Königin Violetta trat vor sie. Sie sah sehr müde aus, doch sie hielt sich gerade und ließ sich nicht anmerken.
„Gamove, Navaje!“, begrüßte sie die Königin.
„Gamove, Kinoga Violetta!“, begrüßte Navaje sie.
„Wathru drola de noithan?“, fragte die Königin.
„Vos thris mathro Landri Vardell!”, antwortete Navaje.
Die Blumenkönigin nickte einmal kurz und auf ein Zeichen von ihr zogen sich die Blumenelfen zurück.
„Sie sind sehr traurig“, sagte Navaje, „wegen dem Tod ihrer Prinzessin.“
„Fauna!“, flüsterte Lui.
Navaje nickte. „Sie singen immer noch Klagelieder bis spät in die Nacht. Hört!“
Zarte Stimmen erklangen. Es war ein so trauriger Gesang, dass er den Kindern im Herzen wehtat. Sie liefen weiter und schließlich wurde der Gesang so leise, dass sie ihn nicht mehr hören konnten.
„Wir sind da!“, sagte Navaje. Sie standen auf einer kleinen Lichtung.
„Aber hier ist doch gar nichts!“, sagte Jan.
„Abwarten!“, wies Navaje ihn zurecht. Sie sprach einen komplizierten Spruch und vor ihnen in der Luft tat sich ein blaues, rundes Fenster vor ihnen auf. In dem Fenster, sah man Bäume, Sträucher und Berge. Es schien nicht sehr anders zu sein, als beim Wakatistamm.
„Schreitet hindurch!“, sagte Navaje und verschwand in dem Portal. Die Kinder nahmen all ihren Mut zusammen und folgten ihr.


Ende vom ersten Band!


Namenaussprache:

Bob – Bobb
Descuâr – Desskwar
Fauna – FAU-na
Hasa – HA-sa
Jamie – Dsch – äimi
Jack – Dschäg
Jan – Ja-N
Jasmin – Dschäs-minn
Jason – Dschei-sen
Jenny – DSCH-enn-i
Karu – KA-ruh
Lee – Lih
Leyla – Leei-la
Lilian – Lill-iehn
Lubomir – LU-bo-mihr
Lui – L-U-i
Luke – L-UH-k
Menewa – Men-ne-WAH
Navaje – NA-va-JE
Pachu – Pa-tschu
Sasuun – Sa-SUHN
Shakul – Scha-kuhl
Sylvia – Sill-wiah
Twitch – Twitsch
Violetta – Vai-jo-letta


Zaubersprüche Aussprache ( th wird im Englischen ausgesprochen):
Efni uthraz binod! – Effni usrass bihnodd!
Efni uthraz fen! – Effni usrass fenn!
Fire irbu ezbui! – Fihrä irrbuh essbuih!
Iedo inshea unadi e’daj! – Ijedo inschea uhnadih e’ dai!
Iuf biu werzab! – Ijuff bijuh wersab!
Lova del thrin! – Lowah dell srihn!
Mordus razor! – Morduss rasohr!


Zaubersprüche Übersetzung
Efni uthraz binod! – Fesseln, bindet euch nie mehr los!
Efni uthraz fen! – Fesseln, löst euch!
Fire irbu ezbui! – Das Gift wird brennen!
Iuf biu werzab! – Kraft, sei in deinem Körper!
Iedo inshea unadi e’daj!- Seele, ich bin dein Gebieter!
Lova del thrin! – Lungen, presst die Luft heraus!
Mordus razor! – Todesfluch!


Elfensprache Aussprache ( th wird im Englischen ausgesprochen):
Astro di nada fen jathrin as noso shan! – Asstroh dih nahdah fenn jasrihn schann!
Fen tura uthran! – Fenn turah usrahn!
Gamove – Gammoveh
Kinoga – Kihnohgah
Nothre tarez nuv? – Nossre tahress nuhf?
Nothre meraz shet ... – Nossre merahs schett…
Nothrila – Nossrihla
Nothrila shet hosan tarez. – Nossrihla schett hosann tahress.
… shen hosan. –…schenn hosann.
Vos thris mathro Landri Vardell! – Vohs sriss masro Lanndrih Vardell!
Wathru drola de noithan? – Wassru droala deh noisann?


Elfensprache Übersetzung:
Astro di nada fen jathrin as noso shan! – Möge der Geist der Jagd mit euch/dir sein! (Jagdspruch!)
Fen tura uthran! – Mit dir auch! (Erwiderung des Jagdspruches)
Gamove – Sei gegrüßt
Kinoga - neutrale Anrede für einen König oder eine Königin
Nothrila – Blumenelfen
Nothre tarez nuv? – Wie ist dein Name?
Nothre meraz shet ... – Mein Name ist…
Nothrila shet hosan tarez. – Die Blumenelfen zeigen sich keinen Menschen.
… shen hosan. - …ist ein Mensch.
Vos thris mathro Landri Vardell! – Wir müssen in das magische Land Vardell!
Wathru drola de noithan? – Was führt euch in unser Gebiet?


Alles über Bräuche und Fabelwesen:


Seelenwölfe:

Manche Menschen finden einen Wolf, und verbinden sich innerlich mit ihm. Dieser Wolf passt sich nach einiger Zeit an das Alter des Menschen an. Sobald der Wolf bereit ist sich für seinen Verbündeten zu opfern, sind sie wirklich eins und der Wolf geht in den Mensch über, auch der Körper ist nicht mehr auf zu finden. Der Mensch kann sich nun in seinen toten Gefährten, den Wolf, verwandeln, allerdings ist er dann so groß wie ein Pferd, wächst aber nicht mehr in seiner Wolfsgestalt. Von unseren Helden sind bis jetzt nur Jan und Navaje Seelenwölfe.


Kobolde:

Kobolde sind denen, die sie herauf beschwören treu ergeben. Es sind kleine, pelzige Tiere mit spitzen Zähnen. Das Gesicht ähnelt dem einer Katze, doch ihre Augen strahlen nur Verschlagenheit und Bosheit aus. Diese Tiere können unterschiedliche Fellfarben haben und die Augen unterscheiden das Geschlecht. Bei männlichen Kobolden sind die Augen braun, während sie bei den weiblichen grün sind. Sie sind nicht unsterblich, manche leben jedoch über 500 Jahre. Man darf ihnen nie trauen, auch wenn sie einem ihr Wort geben. Erst wenn man sie von selbst heraufbeschwört hat, gehorchen sie aufs Wort. In dieser Geschichte beschwört Sasuun die Kobolde herauf, um Lee und ihre Freunde zu vernichten.


Schamanen:

In jedem Indianerstamm gibt es ein oder zwei Schamanen, die das Unheil von dem Stamm fern halten, Krankheiten heilen oder bei der Geburt helfen. Schamanen besitzen eine große Zauberkraft und sprechen ihre Zaubersprüche in der Elfensprache. Das ganze Volk der Indianer, hat ursprünglich von den Elfen zu einem die Sprache erlernt und zum zweiten die Magie bekommen. In dieser Geschichte gibt es zwei gute und zwei böse Schamanen. Sasuun und Marek wurden verbannt und haben durch ihre Wut noch mehr Kraft entwickelt. Pachu und Navaje leben beim Wakatistamm und versuchen so gut es geht zu helfen. Irgendwann werden sie sich Nachfolger aussuchen, die sie vertreten werden.


Verbannung:

Wird ein Indianer verbannt, kann er keinen einzigen Zauberspruch mehr wirken, weil die innere Kraft ihn dann verlässt. Verbannung ist die schlimmste Strafe und die Indianer die verbannt werden, nennt man dann: „Verstoßene“!
Verstoßene sind vogelfrei und jeder der ihnen begegnet ist eigentlich verpflichtet sie zu töten. Indianer werden verstoßen, wenn sie einen anderen Menschen töten oder es versuchen. Manche wurden auch verbannt, weil sie einen Jäger mit einer Pfeilspitze getötet haben. Später haben Lee, Jan, Jenny und Lui erleichtert aufgeatmet, als sie hörten, dass ihre Morde mit den Pfeilspitzen an den Tieren keine Folge haben würden, da es aus Notwehr war und Sasuun die Tiere unter Kontrolle hatte.


Elfen:

Elfen sind tapfere Völker, die für ihre Freunde bis in den Tod gehen würden. Sie sind so klein wie Schmetterlinge und werden von normalen Menschen auch für solche gehalten. Es gibt verschiedene Elfenvölker, wie zum Beispiel die Blumenelfen, Farnelfen, Birkenelfen oder andere Stämme. Die Elfen lassen sich an ihrer größten Kraftquelle nieder, nach ihrer Kraftquelle werden sie auch benannt. Elfen waren die Lehrer der Indianer und leben noch heute mit ihnen in Frieden.


Wolfsköpfe:

Ein Wolfskopf ist sehr selten. Es handelt sich dabei, um einen Seelenwolf, der seinen Gefährten verliert, jedoch das Blut seines Gefährten in seine Adern bekommen hat. Nach einer Weile kann sich dieser Mensch, dann in seinen toten Wolf verwandeln. Er ist genauso groß wie ein Seelenwolf, verfügt jedoch über ungeahnte Schnelligkeit. Bei einem Wolfskopf ist das besondere, dass sich der Wolf, wenn er das Blut seines Menschen in sich hat, ebenfalls in den Menschen verwandeln kann, sollte dieser sterben. Das geht bei Seelenwölfen nicht. Wenn bei Seelenwölfen der Mensch stirbt, wird der Wolf verrückt vor Kummer oder stirbt mit ihm.


Danksagung:

Bedanken möchte ich mich erst einmal bei meiner Familie besonders bei meiner Großmutter und meiner Mutter, die auch Schriftstellerin ist und mir mit Tipps und Ratschlägen zur Seite stand. Dann möchte ich mich ebenfalls bei meinen Freunden Enya, Paul, Alina und Natalie bedanken, die sich mein Buch durchgelesen und mich bei schwierigen Stellen unterstützt haben. Aber vor allem möchte ich mich noch bei all meinen Helden bedanken, die tapfer alle Gefahren durchstehen, die ich mir für sie ausdenke.
Ich freue mich euch zu sagen, dass ich noch mehr Teile schreiben werde und will mich auch ganz herzlich bei euch bedanken, die die ihr dieses Buch mit viel Geduld durchlest und hoffentlich mitfiebert und Spaß daran habt. Mir jedenfalls hat es sehr viel Spaß gemacht.

Astro di nada fen jathrin as noso shan!

Mit lieben Grüßen

Lea Hoffmann

Impressum

Texte: lillianwaving
Bildmaterialien: lillianwaving
Tag der Veröffentlichung: 09.04.2012

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