Nussknacker
Genau vier Wochen nach seinem Tod beschloss sie, in die Kugel zu gehen.
Ihre Augen, rot und aufgequollen, wollten und konnten keine Tränen mehr ausspucken. Ihr Magen war in sich zusammengefallen, die Speiseröhre brannte. Was sie in den letzten Tagen auch gegessen hatte, es war nie in ihrem Magen angekommen, sondern hatte sich jedes Mal auf den sofortigen Rückweg gemacht. Es war als verweigere ihr Körper jegliche andere Aktivität außer schluchzen, rotzen und schniefen.
Das würde nun ein Ende haben!
Ein gepackter Koffer stand bereit. Sein Inhalt: achtlos hineingeworfene Mützen, Handschuhe, ein Mantel, Skiunterwäsche und ein langer, burgunderfarbener Schal, den ihr ihre Großmutter zu Weihnachten gestrickt hatte. Wenige Wochen bevor sie eingeschlafen und nie wieder aufgewacht war. Es war ein Fluch. Jeder, der ihr etwas bedeutete, verließ sie. Sie hatte es satt, zu trauern. Hatte es satt, Menschen in ihr Herz zu lassen, nur um sie kurz darauf wieder gehen zu sehen.
Über das Leben in der Schneekugel wusste sie nichts, machte sich auch keinerlei Gedanken darüber. Sie hatte ihren Umzug dorthin nicht geplant. Er war keine bewusste Entscheidung gewesen, sondern schien vielmehr die logische und unausweichliche Folge ihres bisherigen, einigermaßen jämmerlichen Lebens zu sein.
Der weiche, glänzend-weiße Schnee knirschte unter ihren Stiefeln und eine Ruhe zog in ihr Herz, die sie seit Jahren nicht mehr gespürt hatte. All die Rastlosigkeit und Eile, die ihr Leben bestimmt hatten waren verschwunden. Ihre Gedanken gingen langsam, im Einklang mit den großen weißen Flocken und dem silbernen Glitter, der unaufhörlich zu Boden schwebte.
Bereits als Kind, hatte sie Schneekugeln geliebt. Sie hatte ihre Augen nicht abwenden können, von den friedlichen Winterszenen. Immer und immer wieder hatte sie die Kugeln gedreht und zugeschaut, wie die Flocken langsam zu Boden segelten. Schon damals hatte sie sich gewünscht, in einer von ihnen zu leben.
Nun hatte sie sich für diese entschieden. Ein kleines, altertümliches Städtchen, dessen Straßen gesäumt waren von flackernden Gaslaternen und auf dessen Kopfsteinpflaster Pferdekutschen auf und ab fuhren.
So wie die Schritte auf dem Schnee, waren hier auch die Gefühle gedämpft. Es gab kein Himmelhoch-jauchzend und kein zu-Tode-betrübt. Jeder Tag war wie der vorherige. Keine unangenehmen Überraschungen warteten hinter den dunklen Ecken in den kleinen Gassen auf sie. Hier kannte man keine Freunde, die einem das Herz brachen, auch keine Feinde, vor deren Hass man sich fürchten musste. Jeder lächelte freundlich und war wunderbar unpersönlich.
Die Tage zogen dahin. Sie krochen über die Berge, die das Dorf im Norden säumten und wehten über den Wald, der im Süden lag. Der Schnee fiel unaufhörlich, begleitet von silbern glänzendem Glitzer, der von irgendwo jenseits des wolkenlosen Himmels zu kommen schien.
Jeden morgen stand sie auf, zog sich an und trat vor die Tür. Sie grüßte lächelnd den Fahrer des Pferdeschlittens, der lächelnd lächelnde Passagiere durch den Winter kutschierte, und ging zur Arbeit. Was sie arbeitete war unbedeutend. Ebenso war es von geringer Wichtigkeit, ob sie aß, oder nicht. Auch Trinken und Sprechen waren nebensächlich geworden. Ihr Köper verlangte nicht danach. Ihr Körper hatte vollständig aufgehört zu verlangen. Wenn sie am Nachmittag ihr Arbeitspensum erledigt hatte, schlenderte sie gewöhnlich durch die „Stadt der Lichter“, wo tausend kleine Leuchten, Millionen kleiner Schneeflocken zum Scheinen brachten und sich im silbernen Glitter brachen. Ihr Weg führte sie stets an die Tore des Nussknacker-Museums, das zwischen einer Unzahl an Cafés und Läden im Kern des Ortes lag. Das hübsche Fachwerkhaus beherbergte über 6000 Nussknacker, moderne und altertümliche, solche aus Stein, aus Metall, aus Holz und sogar einige wenige, die aus Knochen, Elfenbein oder Porzellan gefertigt waren. Stumm standen hölzerne Soldaten und Könige in ihren Vitrinen. Sie blickten hinter dunklen Bärten hervor und ihre Augen erzählten, denen die es hören wollten, von längst vergangenen Zeiten. Sie wollte nichts von ihren Geschichten wissen. Sie wollte sie nur anschauen, schätze ihre unaufdringliche Gesellschaft.
Ihr letzter Besuch, bevor sie am Abend nach Hause in ihre kleine, schlichte Wohnung zurückkehrte, galt immer Mr. FiveOne. Der kleinste Nussknacker der Sammlung war so winzig, dass getrost zwanzig von seiner Sorte in einer Streichholzschachtel Platz gefunden hätten. Doch er war einzigartig und ein wenig ängstlich musste sie feststellen, dass er eine seltsame Faszination in ihr weckte. Ein Gefühl das sie, so wie all die anderen Gefühle, gerne aus ihrem Körper verbannt hätte.
Auch heute stand sie wieder vor seiner Vitrine und wie jeden Abend flüsterte sie ihm zu „Gute Nacht, Mr. FiveOne“, kurz bevor sie sich auf dem Absatz umdrehte, um das Museum zu verlassen. Dieses Mal ließ sie etwas in ihrer Bewegung innehalten. Hatte sie eine Stimme gehört? Eine leise, etwas piepsige Stimme? Hier gab es niemanden. Wie jeden Abend um diese Uhrzeit, war das Museum menschenleer. Sie schüttelte den Kopf. Die Zeit, in der sie Stimmen gehört hatte, die sonst zu niemand anderem sprachen, hatte sie mit ihrem alten Leben hinter sich gelassen.
„Mein Name ist Gunter!“
„Wie bitte?“
Verblüfft drehte sie sich zur Vitrine. Der kleine hölzerne Mann hatte die Arme in die Hüften gestemmt.
„Mein Name ist Gunter! Mr. FiveOne ist die idiotische Erfindung dieser bescheuerten Museums-Typen hier. Mein Macher gab mir seinen eigenen Namen. Gunter. Ich war sein ganzer Stolz.“
„Was...?“
Sie blickte nach links und rechts und ging ein wenig in die Knie, um sich den kleinen Nussknacker genauer anzusehen. Der Hölzerne seufzte.
„Ach, vergiss es einfach. Nenn mich nur nicht mehr bei diesem lächerlichen Namen. Du kannst den Mund jetzt wieder zu machen und nach Hause gehen.“
Genau das tat sie. Sie ging nach Hause. Und in dieser Nacht, zum ersten Mal seit sie in der Kugel lebte, träumte sie.
An den folgenden Tagen verließ sie nachmittags ihre Arbeit mit einer beinahe erwartungsvollen Angespanntheit, die sie selber für ziemlich ungesund hielt, um auf kürzestem Wege ins Museum zu gelangen. Den roten, grünen, blauen und goldenen Lichtern der „Stadt der Lichter“ schenkte sie kaum einen Blick, das beruhigende Geräusch des knarzenden Schnees unter ihren warmen Stiefeln hörte sie nicht. Sie eilte zwischen den Glaskästen hindurch, ignorierte die vorwurfsvollen Blicke von Gunters nicht beachteten Kollegen und kam, ein wenig außer Atem, vor seiner Vitrine zu stehen.
„Du bist ja immer noch hier“, war seine tägliche Begrüßung. Sie verstand nicht ganz, was er damit meinte, lächelte ihn jedoch an und nickte. Dann begann er zu erzählen. Seine Geschichten waren häufig dieselben. Er erzählte von seinem Macher. Von seinem Leben vor dem Museum. Sie lauschte, ohne ihn auch nur mit einem Wort zu unterbrechen. Niemals langweilte er sie.
Eines Abends, als der Schnee ein wenig dichter zu fallen schien, die Glitterflocken ein wenig langsamer auf die Erde segelten und der Himmel ein wenig dunkler war, empfing Gunter sie mit einem merkwürdigen Ausdruck auf seinem winzigen Gesicht. Die dunklen Augen wirkten enger, die Arme hingen weniger stramm an den hölzernen Schultern, als sie es sonst zu tun pflegten.
„Heute will ich dir erzählen, warum ich hier bin.“
Die Geschichte, die folgte war unerhört. Erschreckend gefühlsgeladen, voller Trauer und Verzweiflung. Sie wusste, dass sie diese Gefühle kannte, besser, als sonst eine Person. Sie wusste auch ob ihrer alles zerstörenden Kraft. Sie wusste, dass sie den kleinen Nussknacker stoppen musste, seine Geschichte durfte nicht weiter erzählt werden. Doch Gunter war nicht aufzuhalten. Sie spürte alte Gefühle in ihr aufkommen. Gefühle, die sie für immer hatte vergessen wollen. Ihr wurde kalt, der hölzerne Mann begann vor ihren Augen zu verschwimmen, das musste aufhören. Dann hielt Gunter inne. Seine Stimme war verstummt, ihre Beine und ihr Blick festigten sich. Als sie eben dachte sie habe es geschafft, begann er eine andere Geschichte zu erzählen. Eine von seinem neuen Leben. Von Freundschaft, Hoffnung und Liebe und von einer neuen Aufgabe. Sie wollte sich die Ohren zuhalten, wollte das alles nicht hören, hatte damit abgeschlossen. Für immer, für ewig, endgültig. Doch Gunters Stimme hielt sie, verbot jegliche Form der Verweigerung, sie war ihm hilflos ausgeliefert.
Schließlich war er fertig. Sie konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Gunters Geschichte wirbelte durch ihren Kopf, durch ihr Herz. Seine Worte hatten sie berührt, wie sie nie wieder hatte berührt werden wollen. Ihre Stimme zitterte, als sie sich verabschiedete.
„Gute Nacht, Gunter.“
Der kleine Nussknacker legte seinen Kopf schief, sah ihr abschätzend in die Augen und erwiderte:
„Gute Nacht. Und wage es nicht, morgen wieder zu kommen!“
Sie verließ das Museum, stolperte auf das schneebedeckte Kopfsteinpflaster vor der Tür, lief eilig ein paar Schritte in eine Richtung, dann ein paar in die andere. Etwas schnürte ihr die Luft ab. Diese reine, nach Schnee und Frieden duftende Winterluft. Es kroch ihre Kehle hinauf, brannte in den Augen und mit Schrecken musste sie feststellen, dass sie weinte. Kleine Tränen tropften aus den Augenwinkeln, kitzelten ihre Nase und ihre Wangen und fielen hinunter zu Boden. Dort, wo sie den Boden berührten, brachten sie den Schnee zum Schmelzen. Große Wasserlachen bildeten sich zu ihren Füßen, vereinten sich zu kleinen Bächen und flossen die Straße hinunter. In nur wenigen Sekunden hatte sich die friedliche Winterlandschaft in einen rauschenden Fluss verwandelt, der alles mitnahm, das nicht fest und sicher auf dem Boden stand.
Doch sie stand, ihr konnte der Fluss nichts anhaben.
Als sie ein dunkles Grollen vernahm, blickte sie hinauf. Mit einem lauten Knall barst der Himmel der Schneekugel in tausend Stücke. Kleine Splitter aus Glas mischten sich mit Schneeflocken und Silberglitter und fielen als dicke Regentropfen zu Boden.
Sie stand einfach nur da, ließ den Regen ihre Kleider tränken, spürte die kühle Nässe, die sich den Weg durch den Wintermantel, den Pullover, die Skiunterwäsche, bis zu ihrer Haut bahnte. Dort machte sie Halt. Denn in ihrem Inneren war kein Platz für Kälte. Ihr Herz fühlte sich so warm an, wie noch nie vorher und wäre sie nicht so damit beschäftig gewesen, zu weinen und mit ihren Tränen die Gleichgültigkeit wegzuwaschen, sie hätte laut lachen mögen.
Texte: Die Rechte für Bild und Text liegen bei mir.
Tag der Veröffentlichung: 21.12.2011
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