Es war wie immer. Sie lief hinter den beiden dunklen Figuren her, die ihre Eltern waren. Diese beiden gesichtslosen Gestalten, die für sie mehr Sinn machten, als alle anderen Menschen. Einen Sinn, den sie jedoch nicht begreifen konnte. Ihr ganzes bisheriges Leben war sie ihnen hinterher gelaufen. Es bestand aus Hinterherlaufen, ihr Leben.
Der Tag war ein grauer. Die Wolken hatten alle Farben verschluckt. Der Boden verschmolz mit den Hauswänden, bildete eine graue Pfütze, in der sie sich spiegelte. Sie, das einzige, was wirklich war. Das einzige, was zu ihrer Welt gehörte. Sie und die Farben. Doch die wollten sich heute nicht zeigen. Die Menschen um sie herum flatterten ebenso schemenhaft durch das Grau wie die Gesprächsfetzen, die sie nicht verstand. Die auch nicht wichtig waren. Gespräche waren nicht von Bedeutung. Vor langer Zeit einmal hatte sie sich bemüht, mit ihren Eltern zu sprechen. Hatte stets wiederholt, was diese sagten. Doch solche Gespräche hatten Mutter und Vater nicht führen wollen. Und so war ihre Zunge mit der Zeit schwer geworden und die Stimme müde. Nur selten sprach sie noch zu ihren Eltern. Niemals zu anderen.
Autismus. Das war die Diagnose gewesen. Damals, in dieser Praxis, vor einigen Monaten, oder waren es Jahre? Zu der Zeit hatten die Gesichter ihrer Eltern noch Züge gehabt. Die Mutter hatte die Augen weit aufgerissen und sich auf die Lippe gebissen. Der Mund des Vaters war ein dünner Strich gewesen. Sie selber hatte sich abgewendet und weiter das Bild betrachtet, dass an der Wand über dem Schreibtischstuhl gehangen hatte. „Von wem ist das?“, hatte sie gefragt. Der Arzt hatte gelächelt. Sie erinnerte sich noch an seine Worte. Nicht daran, wie sie geklungen hatten, aber doch an ihren Sinn. „Das ist Der Singende Fisch von Joan Miró. Gefällt es Dir?“ Schon damals hatte sie selten Fragen als solche wahrgenommen und ohne eine Regung weiter auf das Bild gestarrt. Es war so anders. Die Farben berührten sie auf eine Weise, die sie nicht kannte. Der rosa Punkt war an genau der Stelle, an die er gehörte. Ebenso der blaue Strich. Und das rote Auge zwinkerte ihr zu. Alles passte zusammen und ergab einen Sinn.
Dies war der Tag, an dem sie begonnen hatte, selber zu malen.
Morgens stand sie auf und malte. Nach dem Frühstück malte sie wieder. Und auch am Nachmittag malte sie. Wenn sie dann von ihren Bildern aufsah, konnte sie manchmal die Augen der Mutter erkennen. Manchmal hatte sie auch einen Mund. Und manchmal, wenn sie besonders lange und ausgiebig gemalt hatte, verstand sie auch deren Worte.
Heute nicht. Heute hatte man sie heraus gerissen und in die Stadt geschleppt. Mitten zwischen all die flatterhaften Menschengestalten. Und die Sonne wollte auch nicht heraus kommen, um den grauen Pfützen aus Asphalt ein wenig Farbe zu geben.
Als sie die Drehorgel hörte, hob sie den Kopf. Die Musik übertönte die Gesprächswirren- Stark und zuverlässig sickerte sie durch das Grau. Sie nahm an, dass es ein fröhliches Lied war, denn der Takt war gerade und schnell. Sie folgte der Musik und als sie den Platz betrat, kam die Sonne hinter einer Wolke hervor. Die vielen Menschengestalten surrten ein wenig langsamer und sie konnte die Farben sehen. Der ganze Platz war voller Farben und Bildern. Der Stein, der sonst grau und unwichtig nur zum darauf gehen bestimmt war, leuchtet rot und blau und gelb und grün. Wie ein Fluss ein kleines Boot zog er sie von Gemälde zu Gemälde. Manche würdigte sie nicht eines Blickes, andere ließen sie verharren. Sie vergaß die Welt. Dann blieb sie stehen. Auf dem groben Pflaster vor ihr hockte eine Frau. Die Arme von der Sonne gebräunt, ihr kurzes Haar leuchtete silbrig und mit schnellen, geübten Bewegungen zeichnete sie eine Brille auf den Stein. Blasses Gold auf sattem Braun. Dunkle Augen blickten durch die nichtvorhandenen Gläser. Sie sahen auf, fragend. Ihr Herz begann schneller zu schlagen und es kitzelte in ihren Armen und Beinen und im Bauch. Sie kniete nieder, konnte den Blick kaum von dem Gesicht wenden, dass vor ihr auf dem Boden zu leben begann. Dann sah sie auf. Die blonde Frau tat es ihr gleich. Für eine Sekunde trafen sich ihre Augen. Die blonde Frau schob ihr die Kreiden hin, deutete auf einen leeres Stück grauer, steiniger, Leinwand. Ihre Hand begann mit den Augen. Rund mussten sie sein und braun. Dann folgten Nase und Mund. Sie kehrte zu den Augen zurück, zeichnete die schwarze Pupille in das Braun. Vorsichtig wischte sie mit dem Finger über die Kreide, so wie sie es bei der Blonden gesehen hatte. Weiße Lichtflecke begannen im Inneren der Augen zu glänzen. Sorgfältig glich sie beide Augen miteinander ab. Sie waren beinahe identisch.
Sie war sich sicher, dass sie niemals zuvor solch perfekte Augen gezeichnet hatte. Lange blickte sie ihr Gemälde an. Ob der Mund und die Nase stimmten, da war sie sich nicht sicher. Denn es war eine Weile her, dass sie zum letzten Mal ein menschliches Gesicht wirklich gesehen hatte. Bei den Augen jedoch wusste sie, dass sie genau so und nicht anders sein konnten.
Eine bekannte Stimme ließ sie den Kopf heben. Ihr Blick traf auf eben diese Augen, die sie gerade gemalt hatte. Sie gehörten in ein Gesicht, dass sie schon lange nicht mehr gesehen hatte. Auf eine merkwürdige Art und Weise freute sie sich, dieses Gesicht zu sehen. Es war das Gesicht ihrer Mutter.
Tag der Veröffentlichung: 20.08.2011
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Beitrag zum Augustwettbewerb der Kurzgeschichtengruppe