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Victor Grimois raufte sich die Haare. Im Lichtkegel seiner Schreibtischlampe, die einen gelben Kreis auf die dunkle Holzplatte malte, schwebten Millionen kleiner Staubflocken. Der Kaffee in der dickwandigen Tontasse, die auf einer zum Untersetzer umfunktionierten CD auf der anderen Seite des Bildschirms stand, dampfte schon lange nicht mehr. Der Monitor glotzte ihn aus der schwarzen Tiefe des Bildschirmschoners an und seine Finger ruhten. Schon viel zu lange lagen sie unbeweglich neben der Tastatur. Sie erhielten einfach keine Befehle mehr, von seinem Gehirn. Verzweifelt erhoben sie sich nun und fuhren durch das dichte braune Haar, das schon seit Tagen nicht mehr gewaschen worden war.

Es sah alles danach aus als hätte Victor Grimois eine Schreibblockade.

„Ich kriege dich nicht zu fassen“, murmelte er „Wer bist du nur?“
Fluchend schälte er sich aus dem unbequemen Schreibtischstuhl und entfaltete seine eingerosteten Knochen. Während dieser Phase des Schreibens, in der er Tage und Nächte lang Buchstaben, Worte, Personen und Orte in die Tastatur hieb, fühlte er sich jedes Mal um Jahrzehnte gealtert. Und nun das. Eine Blockade. Er konnte sich nicht erinnern, jemals an einem Charakter so verzweifelt zu sein, wie es nun bei Monsieur X der Fall war. Monsieur X hatte nichts, bis auf eine Handlung. Von Anfang an hatte festgestanden, was seine Aufgabe in Victors neuem Buch sein würde. Doch einen Namen hatte er noch nicht, auch kein Gesicht und es gelang dem Schreiber nicht, sich seiner Persönlichkeit zu nähern. Monsieur X war wie eine schwarze Wolke, die drohend aber diffus über diesem bislang grausamsten seiner Werke schwebte.

Victor Grimois verbrachte einige Stunden unruhigen Schlafes auf dem Sofa seines Arbeitszimmers. Seine Frau kannte diese Phase seines Schaffens schon und wusste, dass sie ihn erst nach Beendigung des letzten Kapitels wieder im gemeinsamen Ehebett würde erwarten können. Auch sein Sohn bekam den Vater während dieser Tage und Woche nicht oft zu Gesicht. Doch die beiden waren das gewohnt und arrangierten sich recht gut mit seiner Abwesenheit.


Der Blick in den Spiegel am nächsten Morgen versetzte Victor in Schrecken. Das Weiß seiner Augen war zu hellem Rot geworden, einzelne Adern deutlich zu erkennen. Die Haare standen fettig in die verrücktesten Richtungen vom Kopf ab. Seine Wangen waren zu blass und eingefallen und die Bartstoppeln schrien ihm entgegen „Clochard!“. Seufzend stieg Victor unter die Dusche. Das Wasser, so heiß wie er es eben noch ertragen konnte, brannte auf seinem Rücken und im Gesicht. Die Haare freuten sich über eine, wenn auch kurze, Begegnung mit etwas Shampoo. Das harte Frottee des alten Handtuchs rubbelte über seinen Körper und er betrachtete sich erneut im Spiegel. Aus Mangel an Motivation beschloss er, die Bartstoppeln schreien zu lassen. Als er sich von seinem, nun ein klein wenig ansehnlicherem Spiegelbild abwandte, meinte er im Augenwinkel etwas zu sehen. War das ein Bart gewesen, über seiner Oberlippe? Blödsinn, sein Gesicht sah aus wie immer. Müde und mit dunklen Ringen unter den Augen.

Dann verstand Viktor.

Er verstand, dass Monsieur X einen Bart trug. Auf der Oberlippe. Dunkelbraun war er und ordentlich zu Recht gestutzt. Aufgeregt riss er die Tür des Badezimmers auf, schob seine Frau zur Seite, die ihm auf der Treppe entgegen kam und stürmte ins Arbeitszimmer. Die Euphorie war schnell verflogen, als ihm bewusst wurde, dass der Bart zwar ein Anfang war, jedoch keine weiteren Geistesblitze mit sich zog.

Nach wenigen Stunden befand er sich an demselben Punkt, an dem er all die Tage zuvor angelangt war. Ein dumpfes Gefühl der Verzweiflung machte sich in ihm breit und der leise Zweifel, ob nicht Monsieur X eine Nummer zu groß für ihn war. Wie hatte er sich an so einen Charakter wagen können? Von Grund auf böse und auf eine wahnsinnige Art und Weise gefangen in seiner eigenen Brutalität, war dieser Mann das genaue Gegenteil seines Erfinders. Etwas in Victor sträubte sich dagegen, sich in so einen Menschen hinein zu versetzen und genau darum kam er nicht weiter mit seiner Geschichte. Er bekam sie nicht zu fassen, bekam IHN nicht zu fassen. Es war zum verrückt werden.

Victor Grimois wusste, dass alleine ein Standort- und Blickpunktwechsel ihm nun noch helfen konnte. Seufzend packte er seinen Laptop in die braune Ledertasche und verließ die dunkle Sicherheit seines kleinen Arbeitszimmers unter dem Dach.
Seine Frau sah ihn fragend an, als er an der Küchentür vorbei schlurfte.
„Ich muss mal raus“, brummte er und „wartet nicht mit dem Essen“. Dann fiel die Tür hinter ihm ins Schloss.


Sein Lieblingsplatz, eine kleine Bank im Park, die etwas versteckt unter einem Baum stand und von der aus man eine gute Sicht über die große Wiese mit dem Springbrunnen hatte, war schon besetzt. Victor fluchte. Kurz erwog er eine andere Bank, doch dann entschied er sich dafür, doch dort Platz zu nehmen und den anderen durch seine Unfreundlichkeit schnell zu vergraulen.
Mit einem schweren Plumps ließ er sich auf das grüne Holz fallen, ohne seinen Nachbar eines Blickes zu würdigen. Umständlich kramte er ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und schnäuzte sich mit einem Trompeten, das jedem Elefanten Ehre bereitet hätte. Der andere rührte sich nicht und so zuckte Victor mit den Schultern und hob seine Laptoptasche auf den Schoß.
Ein paar Minuten saß er dort, mit den Fingern auf den Tasten. Ohne eine einzige Bewegung. Er starrte die Menschen auf der Wiese an. Dort war niemand, der ihn inspirierte. Niemand, der sein Monsieur X sein konnte. Als sein Banknachbar sich räusperte, fuhr er zusammen.
„Sie schreiben?“
Die Stimme war tief und weich und ließ Victors Puls in die Höhe schießen. Langsam drehte er den Kopf und betrachtete den Mann. Der war groß gewachsen, größer als Victor selber. Seine Haare hatten die Farbe von reifen Maronen und ebenso sein Schnauzer, der wohl getrimmt über seiner Oberlippe thronte. Der Mann lächelte ihn an, doch in seinen Augen gab es kein Lächeln. Sie waren hart und eisig und bohrend. Eine Besessenheit lag in ihnen, die schwer zu beschreiben war. Aus irgendeinem Grund jedoch stellte Victor Grimois fest, dass er diese Augen mochten. Sie waren ihm so vertraut wie es das sommersprossige Gesicht seiner Frau vor vielen Jahren einmal gewesen war und es befiel ihn die Ahnung, dass er seinen Monsieur X gefunden hatte. Er wurde so aufgeregt, dass seine Hände zu zittern begannen. „Langsam“, mahnte er sich, „den Mann jetzt nur nicht verscheuchen“. Also setzte er ein unschuldiges Lächeln auf und sah dem anderen ins Gesicht.
„Victor Grimois. Ja, Sie haben Recht, ich schreibe. Wenigstens versuche ich es. Ich befinde mich wohl im Moment in einer Art Schreibblockade und komme nicht so recht weiter, mit meinem neuen Roman. Aber vielleicht könnten Sie...“
Die Worte kamen aus seinem Mund gepurzelt, ohne dass er dem Fremden dies alles hatte offenbaren wollen. Doch der Mann lächelte nur verständnisvoll.
„Vielleicht wollen sie mir erzählen, worin es in Ihrem Roman geht. Wenn ich behilflich sein kann...?“
Dieser Tag schien die Wende zu bringen. Victor Grimois merkte kaum, wie die Zeit verging, während er mit den Mann, der sich als Hugo Desens vorgestellt hatte, sprach und über dessen Leben staunte.
Als die Sonne am untergehen war, saß er wieder an seinem Schreibtisch in dem kleinen Arbeitszimmer unterm Dach. Seine Frau hatte ihm eine Tasse Kaffee hinauf gebracht, er ihr einen aufgeregten Kuss auf die Wange gedrückt und dann war er in seiner Welt versunken. Seiner und der von Monsieur X, der heute auf eine wunderliche Art und Weise ein Gesicht bekommen hatte.

Auch der nächste Tag brachte Sonnenschein und mehrere neue Kapitel seines Kriminalromans. Am übernächsten jedoch, schien der musen-gleiche Einfluss Hugo Denses' zu schwinden. Monsieur X hatte zu diesem Zeitpunkt der Geschichte in seinem Tun einige Grenzen überschritten, die Victor Grimois des Nachts Albträume bereiteten und sich so wieder weiter von seinem Erfinder entfernt.
Am übernächsten Tag stand das Finale bevor und Grimois saß geschlagene 24 Stunden vor einem schwarzen Bildschirm. Es war, als wäre er nicht bereit, Monsieur X in die Abgründe zu folgen, die dieser nun betreten sollte. Und wieder raufte sich Victor Grimois die Haare.

In der Nacht überkam ihn eine Unruhe, wie er sie zuvor noch nie gespürt hatte. Nach nur zwei Stunden Dämmerschlaf knipste er das Licht auf seinem Schreibtisch an und begann einige Zeilen in die Tasten hämmern. Fünf Minuten später schüttelte er den Kopf und löschte sie wieder. Auch der nächste Absatz war ihm nicht recht und die Seite, die er darauf aus purer Verzweiflung niedertippte, war so falsch, dass er, müde und frustriert, die drahtlose Tastatur von der dunklen Eichenplatte fegte und den Kopf in die Hände legte.
„Scheiße! Scheiße! Scheiße!“
Die immer stärker werdende Unruhe kämpfte mit der schweren Müdigkeit, die gewann und ihn die Augen schließen ließ.

Am nächsten Morgen erwachte er und spürte die Schmerzen. Im Rücken, in den Armen und auch sein Kopf dröhnte, als hätte er am Abend einen oder zwei über den Durst getrunken. Auch die Unruhe war noch da. Grimois schnappte sich die Ledertasche seines Laptops und machte sich auf, in den Park. Die Bank, auf der Tage zuvor Hugo Desens für Inspiration gesorgt hatte, war leer. Es war noch früher Morgen und Victor beschloss zu warten. Als die Sonne unterging und er immer noch wartete, musste er einsehen, dass der Mann nicht kommen würde.

Seine Frau, die zuhause in der Küche saß und ihm einen Teller Nudeln vor die Nase hielt, schließlich hätte er seit Tagen nichts Ordentliches mehr gegessen, schrie er an, sie solle ihn in Frieden lassen. Nur um sich gleich darauf wieder bei ihr zu entschuldigen. Sie zuckte mit den Schultern und ließ sie Pasta im Mülleimer verschwinden. Grimois verschwand in seinem Arbeitszimmer und holte sich eine Tafel Vollmilch-Nuss aus der Schreibtischschublade, die dort zusammen mit anderen Schokoladensorten, darauf wartete, einer seiner Schreibphasen zum Opfer zu fallen. Meistens gab ihm der Zucker einen kleinen Schub und ermöglichte ihm ein bis zwei weitere Stunden ohne Schlaf.
Doch dieses Mal war es anders. Nachdem er sich den letzten Riegel in den Mund geschoben hatte, spürte er ein ungutes Gefühl, das aus der Magengegend herzurühren schien. Eine Minute später eilte Victor Grimois ins Badezimmer, um dort seinen gesamten, recht dürftigen, Mageninhalt in die Kloschüssel zu entleeren. Seiner Frau, die mit besorgtem Blick in der Tür stand und ihm dazu riet, vielleicht doch einmal einen Arzt aufzusuchen, warf er die dreckige Klobürste an den Kopf. Dann verließ er kreidebleich und immer noch von Magenkrämpfen gepeinigt das Bad und schloss sich für den Rest der Nacht erneut in seinem Arbeitszimmer ein.


Da ihm mittlerweile bewusst geworden war, dass er ohne Hugo Desens nicht in der Lage sein würde, die Geschichte um Monsieur X endlich zum Abschluss zu bringen, beschloss er am nächsten Morgen, dem Park einen weiteren Besuch abzustatten. Wie beim letzten Mal fand er dort nur eine leere grüne Bank vor. Die beiden Jogger, die ihn angewidert anstarrten, als er sich, seine Augenringe, seine fettigen Haare und seine ungewaschenen Klamotten auf der Bank parkte, beachtete er nicht.
„Clochard“, murmelte einer von ihnen und hüpfte mit seinen schneeweißen Turnschuhen an Victor vorbei über den Schotter.
Er wusste nicht, wie viele Stunden er ihm Park verbrachte, ob die Zeit schnell verging oder langsam voran kroch, war ihm einerlei. Die Übelkeit hatte es sich in seinem Magen bequem gemacht und diese verfluchte innere Unruhe ließ seine Hände zittern. So bekam er auch sein Mobiltelefon nicht gleich zu fassen, als es in der Außenseite seiner Laptoptasche zu vibrieren und musizieren begann.
Grimois' Verleger bat ihn, doch einen Zahn zuzulegen mit seinem Krimi, der schon seit zwei Wochen im Lektorat hätte sein sollen.
War das der berühmte Tropfen, der das Fass zum überlaufen bringen würde? Der Schreiber, oder das was von diesem noch übrig geblieben war, sprang auf und schmiss sein Mobiltelefon mit voller Wucht gegen den Rücken eines weiteren schneeweißen Sportfanatikers, der schon seit Stunden seine Runden im Park zu drehen schien. Ohne auf dessen unerträgliches Gebrüll einzugehen stapfte er mit großen Schritten über die Wiese.
Als er den Brunnen erreichte, glaubte er seinen Augen nicht trauen zu können. Auf dem weißen Marmorrand saß ein Mann. Großgewachsen mit maronenbraunem Schnurrbart blickte er Victor aus eisigen Augen entgegen. Die letzten Schritte legte dieser im Eiltempo zurück.
„Hugo Desens. Das freut mich aber.“ Der Versuch möglichst neutral und unbeteiligt zu klingen scheiterte kläglich an seiner euphorischen Stimmlage. In genau dem Moment, in dem der Schreiber den Mann dort hatte sitzen sehen, hatte er gewusst, was zu tun war. Kurzerhand lud er Desens zu sich nach Hause ein. Dieser schien nicht im Geringsten verwundert, dass ein Mann mit seiner Vergangenheit von einem Fremden nach Hause gebeten wurde und nahm die Einladung gerne an.


„Schatz, das ist Hugo Desens. Monsieur Desens, das ist meine Frau.“
Madame Grimois schenkte ihrem Mann keine Beachtung, als dieser die Küche betrat. Und als Hugo sie höflich begrüßte, nickte so noch nicht einmal zur Erwiderung.
„Madame Grimois? Ich sagte, was für einen herrlichen Tag wir heute haben. Denken Sie nicht?“
Erneut ignorierte die Frau den Fremden. Zur Spüle gewandt sprach sie leise „Victor, ich habe die Nase voll. Du bist unausstehlich. Ich halte es hier nicht länger aus. Ich werde den Jungen nehmen und bis du dein Buch fertig geschrieben hast, werden wir bei meiner Schwester wohnen.“
„Aber Madame Grimois“, Hugo's Stimme klang enttäuscht „Sie können doch Ihren Mann nicht verlassen. Nur weil er seine Arbeit ernst nimmt. Jemand muss doch das Geld verdienen. Sie tun das jedenfalls nicht.“
„Ich habe Amélie heute Morgen angerufen. Wir fahren noch heute zu ihr.“
„Madame Grimois!“ Hugo fasste sie am Arm. Victor beobachtete interessiert die Szene. Er musste erfahren, wie es weiter ging. Wie würde Hugo Desens handeln. Seiner Frau würde er später alles erklären. Die würde das schon verstehen. Sie verstand immer.
Die Frau befreite sich aus dem Griff.
„Es reicht“, schrie sie.
Doch Hugo Desens hatte kein Verständnis. So durfte niemand ihn behandeln. Und schon gar keine Frau. Er wurde immer grober, sein Griff immer fester. Madame Grimois schlug um sich. Als sie den Fremden auf die Nase traf, legte dieser beide Hände um ihren Hals und drückte zu. Fester und noch fester.
„Victor!“ schrie sie. Victor war wie festgewurzelt und betrachtete das Geschehen, als sei er selber kein Teil davon.
„Victor!“ ihre Stimme klang dumpf, erstickt.
„Papa!“ hörte er die Stimme seines Sohnes von der Tür. Victor sah erstaunt auf. Auch Hugo Desens schien für einen Moment abgelenkt und die Frau konnte sich aus seinem Griff befreien, indem sie ihm ein kleines Küchenmesser in die Hand hieb. Sie rannte zur Tür und riss den Jungen mit sich. Hugo Desens jaulte auf vor Schmerz und stürmte hinterher. Ein paar Augenblicke darauf schlug die Haustür ins Schloss. Victor Grimois dachte nur an eines. In wenigen Sekunden hatte er die drei Stockwerke bis unters Dach bewältigt und für eine lange Weile war nur noch das Klappern der Tastatur zu hören.


Als er die letzte Zeile tippte, überkam ihn ein Gefühl absoluter Freiheit und Glückseligkeit. Zum ersten Mal seit Wochen konnte er wieder atmen. Er öffnete das kleine Giebelfenster und sog die frische Abendluft ein. Auch die Übelkeit war verschwunden und als das Telefon klingelte nahm er den Hörer in dem guten Gefühl ab, dass er nun auch seinem Verleger gegenübertreten konnte.
Doch es war nicht der Verleger. Am anderen Ende der Leitung kreischte eine hysterische Stimme Worte, die er nicht verstand. Es gelang ihm, diese als die Stimme seiner Schwägerin zu identifizieren und mit einem Mal fiel ihm seine Frau ein. Er seufzte. Es schien, als sei er ihr wohl eine Erklärung schuldig.
„Amélie“, sagte er ruhig, „gib mir mal meine Frau!“
„Du bist ja wahnsinnig, Victor. Ich hasse dich. Wie konntest du meiner Schwester das antun? Sie will dich nicht sprechen. Sie will dich nie wieder sprechen, Arschloch“, kreischte es aus dem Hörer.
„Nana, es tut mir ja auch leid. Aber Desens ist weg. Wir werden Anzeige gegen ihn erstatten. So ein Wahnsinniger, meine Frau zu schlagen?“
„Desens?“ ihre Stimme hatte die nächsthöhere Oktave erreicht „Du bist ja völlig irre, Victor. Wer soll das sein? Desens? Du hast deine Frau geschlagen und gewürgt, verdammtes Arschloch. Gegen DICH werden wir Anzeige erstatten.“
Jetzt war Victor doch ein wenig verblüfft. Dass sie ihre Schwester schützten wollte, gut und schön, aber was bildete sich Amélie eigentlich ein?
„ICH soll sie gewürgt haben? Wie kommst du den darauf? Dieser Desens...“
„Jetzt hör auf mit einem Desens. Dein Sohn hat es gesehen, er ist völlig fertig und weint nur noch. Du hast sie gewürgt, dann hat sie dir ein Küchenmesser in die Hand gejagt und die beiden sind abgehauen. Willst du dich mit Gedächtnisverlust rausreden, oder was?“
Verwirrt hob Victor Grimois seine linke Hand. Aus einer großen, pochenden Wunde sickerte hellrotes Blut. Auch der Schreibtisch und die Tastatur waren in Blut getränkt. Die Wunde schmerzte und Grimois wickelte ein dreckiges T-Shirt um die Hand, das achtlos weggeworfen auf dem Schlafsofa lag. Was er Amélie erwidern sollte, wusste er nicht. Er öffnete den Mund und dann hörte er die Stimme seiner Frau im Ohr.
„Victor? Du bist besessen. Du warst es schon immer. Jedes Mal, wenn du ein Buch schreibst, gehe ich durch die Hölle. Und ich mache das nur mit, weil ich weiß, dass das nicht DU bist. Du bist besessen von deinen Geschichten. Besessen von den Personen, die du in deinem Kopf zum Leben erweckst. Diesmal hast du den Bogen überspannt. Ich habe schon den Anwalt angerufen. Nächste Woche bekommst du die Scheidungspapiere. Wenn du sie unterschreibst, werde ich dich nicht wegen Körperverletzung anzeigen.“
Der traurigen Stimme seiner Frau folgte ein leises Klicken und das Gespräch war unterbrochen.
Victor Grimois sank auf die Knie. Das Blut sickerte bereits durch den dreckigen Stoff des ehemals weißen T-Shirts. Seine Gedanken waren leer und ihm war, als füllten sich seine Augen mit Tränen. Doch als er im Augenwinkel ein Flackern wahrnahm und sah, wie sich der Bildschirmschoner einschaltete, stand er auf und ging zum Computer. Er fuhr mit der Maus über die Eiche und nach erneutem Flackern blickte er auf die letzten Zeilen seiner Geschichte.

„Hugo Desens ließ sich in einen Sessel fallen und betrachtete die Leiche seiner Frau, die ihm gegenüber auf dem Parkett lag. Aus dem großen Spiegel hinter ihr, an der Wand, blickte ihm ein Paar blauer Augen entgegen. Kalt waren sie und eine Besessenheit lag in ihnen, die schwer zu beschreiben war. Er sah, wie sich der silberne Lauf einer Pistole seiner Schläfe näherte.
Dann drückte er ab.“


Impressum

Texte: Alle Rechte für Text und Bild liegen beim Autor
Tag der Veröffentlichung: 05.06.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Beitrag zum Kurzgeschichtenwettbewerb im Juni Thema: Besessen

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