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Als ich im Jahre 1330 geboren werde, empfängt mich eine Welt voller Magie. Die Wälder sind mystische Orte. Denn obwohl die Christianisierung Finnlands formell schon seit über 50 Jahren abgeschlossen ist, trotzt die alte Mythologie noch dem katholischen Glauben.

Mein Wald, in Sámi-Land im Norden Finnlands, liegt still und unberührt vom Menschen und strotzt vor Leben. Kiefern, wie ich, präsentieren stolz ihr rötliches Holz, recken die knorrigen Äste in die Luft, lassen ihre langen Nadeln den Himmel über uns grüßen. Die grauen Stämme der Fichten winden sich in manchmal bizarren Formen Richtung Licht. Der Boden ist bedeckt mit ihren Zapfen. Ajatare, böse Waldgeister, jagen zwischen weiß-gefleckten Birkenstämmen hindurch über die Flechten. Sie bringen Unheil und Krankheiten. Doch die Göttin des Waldes Mielikki und ihr Mann Tapio wachen über alles. Zusammen mit Tuulikki, dem kleinen Wind, ihrer Tochter. Freche Trolle recken ihre dicken Nasen in die Luft und schnuppern die reine Luft. Sie riecht nach Harz, Erde, Kiefernnadeln und Wasser. Auch die Seen spiegeln, unberührt vom Menschen, die Sonne warmer Sommertage, das runde Silber klarer Vollmondnächte und die verzauberten Lichter des ewigen Winters wieder. Das Revontulet, das Fuchsfeuer. Denn, so erzählt eine alte Geschichte, die Nordlichter stammen vom Feuerfuchs, der den Fjällrücken entlang läuft und seinen Schwanz in den Schnee schlägt, bis bunte Funken in den Himmel sprühen.

Unser Winter ist lang. Im Oktober kommt der Schnee. Er bedeckt unseren Boden und schützt meine Wurzeln und Äste vor der Kälte. Füchse, Marder, und Luchse hinterlassen ihre Spuren im glitzernden Weiß. Im Winter kommen auch die Sámi in die Wälder. Die Flechten, die auf unseren Stämmen wachsen und den Boden bedecken bieten Nahrung für ihre Rentiere. Das Gleichgewicht zwischen Natur und Mensch ist noch intakt. Erst im Mai beginnt der Frühling im hohen Norden. Die Zugvögel kehren zurück. Fast 90% der finnischen Amseln haben den Winter im Süden und Westen Europas verbracht. Nun bauen sie wieder ihre Nester in unserem Unterholz und ihr Gesang schallt durch den Wald.

Doch die Menschen haben sich verändert. Viele von ihnen haben aufgehört, zu glauben. Alte Geschichten werden seltener erzählt, geraten in Vergessenheit. Miellikki und ihre Familie verschwinden. Es ist niemand mehr da, der über uns wacht. Das 20. Jahrhundert bedeutet für viele von uns den Tod. Brandrodung, Teerbrennen und Abholzung vernichten mehr Bäume, als nachwachsen können. Das finnische Forstamt Matsähallitus verdient durch die Zerstörung des Urwaldes. Das Geschäft der großen Papierhersteller Stora Enso und M-Real boomt. Hier gibt es nichts mystisches mehr. Keine Magie. Nur den Tod. Wir sterben. Die Winterweiden der Sámi-Rentiere schwinden.

Die Welt wird beliefert mit finnischem Parkett, Fenstern, Türen, Möbeln und Holzhäusern.
Im Jahre 2007 falle ich der Papierindustrie zum Opfer. Ich bin über 650 Jahre alt. Mein Holz wird in Wasser zu einem Faserbrei zermahlen. Leimstoffe und andere Substanzen werden beigemischt. Dieser Brei wird abgeschöpft, auf ein Filztuch gegeben und zur Entwässerung gepresst. Schließlich wird er bei 100° getrocknet. Die Papierrolle wird von Oulu nach Lübeck-Travemünde verschifft. Denn deutsche Firmen sind Finnlands wichtigster Papierkunde. Im Dezember 2007 druckt eine deutsche Zeitschrift auf meinem Papier einen Artikel. Sie titelt: „Waldrodung – ein Klimakiller“.


Anmerkung:


Ein Artikel über den Klimagipfel auf Bali und dem Ruf nach Reduzierung von Entwaldung mit der Schlagzeile „Waldrodung – ein Klimakiller“ erschien am 09.12.2007 im Tagesspiegel. Der Tagesspiegel wird veröffentlicht vom Verlag Der Tagesspiegel GmbH. Ich weiß nicht, woher dieser Verlag das Papier für seine Zeitschriften bezieht. Tatsache ist, dass Deutschland einer der wichtigsten Papierabnehmer Finnlands ist. Das Papier aus den finnischen Wäldern wird zu Verpackungen, Zeitungen, Zeitschriften, Schulheften, Büchern, Kopier- oder Klopapier verarbeitet. Tatsache ist auch, dass in Finnland viele Arten vom Aussterben bedroht sind. Hauptsächlich durch die Zerstörung ihres Lebensraums. Ohne die Wälder, die den Sámi als Winterweiden dienen, ist traditionelle Rentierzucht nicht mehr möglich. Auch in neu bewaldeten Regionen mit jungen Bäumen, finden diese keine ausreichende Nahrung. Da in polaren Regionen die Sommer nur kurz sind, dauert das Nachwachsen neuer Vegetation sehr lange. Die Zerstörung der Urwälder beschleunigt den Klimawandel und den Artenschwund. Laut Greenpeace ist die Entwaldung für 20 Prozent der globalen CO2-Emissionen verantwortlich. Die Urwälder im Norden stellen den größten terrestrischen Kohlenstoffspeicher dar. Werden sie abgeholzt, so wird das dort gebundene CO2 frei.
Hoffentlich heißt es nicht bald „Der Wald – der war einmal“.



Anmerkung zur Anmerkung:


Der finnische Urwald ist gerettet!
Ende Dezember 2010 unterzeichneten das finnische Forstamt in Helsinki und die Saami einen Vertrag. Das langjährige Engagement von Greenpeace hat sich ausgezahlt. Mit Unterzeichnung des Vertrages ist nun eine Fläche, sechs mal so groß wie der Bayerische Wald, sicher - für 20 Jahre.


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Tag der Veröffentlichung: 20.04.2011

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