Es war ein Mittwoch, als Mutter Natur beschloss, unsere Erde zu verlassen.
Nachdem ihre einzelnen Vertreter mehrere Jahrzehnte lang getagt hatten, waren nun alle Details geklärt und es konnte losgehen. Ein geeigneter Planet war gefunden, mit fester Oberflächenkruste, belebbaren Temperaturen von unter 70°C und einer Atmosphäre aus Wasserdampf, Wasserstoff und Kohlenmonoxid. Dazu Wasser, das aus der Atmosphäre kondensiert war und große Ozeane gebildet hatte. Die vulkanische Aktivität der Oberfläche war zum Großteil abgeklungen und langsam hatte sich Sauerstoff in der Atmosphäre angereichert und eine erste dünne Ozonschicht gebildet. Diese verdickte sich, die Temperaturen sanken weiter und es gab Regen. Nun war der neue Lebensraum bereit für die Besiedlung.
Schweren Herzens musste sich Mutter Natur eingestehen, dass ihre Ära auf der Erde vorbei war. Es hatte alles so gut angefangen, vor über drei Milliarden Jahren. Mit den ersten Einzellern. Die Evolution hatte ihr Spaß gemacht. Alles war lebendig geworden und bunt. Doch in den letzten Jahren, eine verschwindend geringe Zeitspanne gemessen an ihrem Alter auf der Erde, war es aus dem Ruder gelaufen. Die Menschen waren entstanden. Obwohl Mutter Natur die Menschen mochte, war sie sich nicht sicher, dass dies auf Gegenseitigkeit beruhte. Es hatte sich schnell abgezeichnet, dass die Menschen nicht besonders pfleglich mit ihr umgehen würden. Auch ihre Launen verkrafteten sie nur schlecht. Sie nannten sie „Naturkatastrophen“ und Mutter Natur begann zu glauben, dass diese der Grund für den Hass der Menschen ihr gegenüber waren.
Dass die Menschen sie hassten, stand schon bald außer Frage. Es begann mit dem Goldabbau bei dem giftiges Quecksilber in die Böden und Gewässer gelangten. Schlecht angelegte Müllhalden, Düngemittel und Pestizide verschmutzten das Grundwasser. Ein mächtiger Schlag wurde ihr durch den industriellen Bergbau und das Abholzen ihrer Wälder versetzt. Aber wirklich schlimm wurde es, als die Menschen begannen, die Meere mit Öl zu kontaminieren. Bohrunfälle im Pazifik, Tankerunglücke in der Nordsee, im Atlantik und im indischen Ozean, Unfälle auf Bohrinseln, Tankerkollisionen, Fehler bei der Betankung von Flugzeugträgern, Lecks oder Explosionen von Pipelines. Ja sicher, all dies waren Unfälle. Nur fragte sich Mutter Natur, wie viele Unfälle es noch geben musste, damit die Menschen lernten. Und als sie dachte, es könnte nicht mehr schlimmer kommen, begannen die Menschen mit den Tests von Kernwaffen. Und wieder verseuchten sie die Erde auf der sie lebten, das Wasser, das sie tranken und die Kinder, die sie gebaren. Gelernt hatten sie nicht. Also bauten sie große Kraftwerke, die durch Kernspaltung Energie erzeugen sollten. Das taten sie auch. Doch die Kerne spalteten sich nicht nur, manchmal verschmolzen sie auch und so kam es zum Super-GAU von Tschernobyl. Wieder trat keinerlei Lerneffekt ein und die Menschen bauten munter weiter. Bis schließlich, infolge eines Erdbebens, eine weitere Katastrophe eintrat. Mehrere Tage lang brannten und explodierten Teile eines Atomkraftwerks in Japan. Die Menschen, durch die Laune von Mutter Natur schon genug gebeutelt, ertrugen unsägliches Leid. Doch lernen wollten sie nicht.
Ihr Beschluss stand also fest, diesem vergifteten Planeten den Rücken zu kehren. Als erstes würden die anorganischen Rohstoffe die Erde verlassen. Da diese im Allgemeinen als recht gefühlsarm gelten, spürten sie keine nennenswerte Euphorie vor ihrer Reise. Doch der Verlust von Kohle, Erdöl und Erdgas machte sich auf der Erde schmerzlich bemerkbar. So kam es zum unmittelbaren Erliegen beinahe sämtlicher Kraftwerke. Es wurde ungewohnt still und ruhig auf der Erde, als die Motoren verstummten. Einzig das Jammern der Menschen war zu hören. Denn nun fuhren keine Autos mehr, keine Motorräder. An den Bahnhöfen stauten sich leer stehende Züge und die Häfen und Flughäfen platzten aus allen Nähten. Auch die Fernseher blieben aus. So, dass niemand die Meldung hörte: Mutter Natur war im Begriff, unsere Erde zu verlassen. Denn es konnten auch keine Zeitungen mehr gedruckt werden und Bildschirme, die täglich mehrere Stunden die Weisheiten verschiedenster Internetseiten auszuspucken pflegten, blieben schwarz. Im Radio hörte man noch nicht einmal ein Rauschen, und in den Kühlschränken verdarben dort, wo gerade Sommer war, Käse, Wurst und Tiefkühlpizzen. In den Krankenhäusern starben die Menschen und die Produktion von Lebensmitteln, Medikamenten, Stoffen und Waffen in den Fabriken kam zum Erliegen. Die einzigen zugänglichen Energien waren solche aus erneuerbaren Energiequellen, denn es gab nun auch keine Kernenergie mehr. Das Uran war zusammen mit dem Kalk, dem Salz, Erzen, Gold und Silber und sämtlichen anderen Metallen auf den Weg in eine neue Existenz gestartet. Stein und Sedimente blieben, denn davon gab es genug, am anderen Ende der Welt.
So formte sich die neue Bleibe, die sich die Natur ausgesucht hatte. Der Boden war angereichert und lag friedlich und einladend da, das Leben Willkommen zu heißen. Und Mutter Natur war sehr zufrieden.
Unter den Einzellern herrschte große Aufregung. Sie waren die ersten Lebewesen, die die neue Heimat bevölkern würden. So verschwanden Geißeltierchen Amöben, Wurzelfüßler und Wimperntierchen aus unseren Meeren und Seen, aus den Böden und dem Grundwasser. Nur die Parasiten unter ihnen bleiben bei ihrem Wirt und würden mit ihm die Reise antreten. Es gab niemanden mehr, der die Reste toter Pflanzen oder Tiere zersetzen konnte.
Nun musste alles sehr schnell gehen. Algen, Farne und Pilze folgten zusammen mit den Schwämmen und anderen Wasserbewohnern wie Plattwürmer oder Brachiopoden. Sämtliche Tiere aus Süß- und Salzwasser wurden ihrem neuen Lebensraum zugeführt. Schon tummelten sich Fische, Krebse, Seepferdchen und Meeressäuger in sauberen, nährstoffreichen Gewässern.
Die verschmutzen Meere der Erde waren verlassen. Und die Landpflanzen sollten ihre Reise antreten. Diesen folgten sogleich die höheren Vertreter der Nahrungskette.
Nach kürzester Zeit sah sich der Mensch alleine auf der Erde. Denn Mutter Natur hatte nun auch sämtliche Insekten, Arachniden, Amphibien und Reptilien umgesiedelt. Ihnen gefolgt waren die Vögel und Säugetiere.
Mit Tränen in den Augen blickte Mutter Natur hinüber zu ihrer alten Heimat. Die restlichen verbliebenen Menschen waren in einem elendigen Zustand. Ihre Atemluft war knapp, es war niemand mehr da, der ihr durch Photosynthese neuen Sauerstoff hätte zuführen können. Auch Nahrung gab es keine mehr. Und da Mutter Natur den Menschen liebte und er ein Teil von ihr war, nahm sie auch ihn mit.
Dort lebte er nun, in Hülle und Fülle. Frische, unverbrauchte, reine Luft strömte in seine Lungen. Er kostete von dem klaren, sauberen Wasser und er dankte Mutter Natur dafür.
So hätten sie glücklich und zufrieden weiterleben können, wäre der Mensch nicht Mensch gewesen. Denn dem Menschen, so musste Mutter Natur feststellen, war es ein Ding der Unmöglichkeit zu lernen.
Tag der Veröffentlichung: 16.03.2011
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Ich bitte alle Geowissenschaftler etc. mindestens zwei Augen zuzudrücken oder das Lesen gar nicht erst anzufangen.
Diese Geschichte soll lediglich eine Parabel sein, die wieder einmal darauf hinweisen möchte, wie wichtig und schützenswert jeder auch noch so kleine Bestandteil der Natur für uns ist.