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Fjodor Stroganoff, Fahndungsbeamter der Kriminalmiliz Irkutsk, trat das Gaspedal seines uralten Lada 110 durch und brauste über den Asphalt. Der Auftrag bereitete ihm Kopfschmerzen, die durch die gelegentlichen Schlaglöcher auf der ansonsten gut ausgebauten Straße noch verstärkt wurden. Rechts und links flogen die Bäume vorbei. Auch wenn Listvyanka sich in den letzten Jahren zu einem Touristenort, beinahe schon zu einer Hochburg etabliert hatte, war die Fahrt dorthin für Stroganoff doch immer wie der Tausch von Zivilisation gegen einsame, abgeschiedene Einöde. Er liebte die Zivilisation. Schlecht gelaunt streckte er den Rücken, hob den Kopf und warf einen Blick in den Rückspiegel. Seine eigenen Augen schauten ihm entgegen. Sie waren von verschwommenem Blau, hart und unnahbar und sie hatten schon viel gesehen. Dünne dunkle Augenbrauen gaben ihnen einen ernsten Ausdruck und dazwischen, da war sie. Die steile Falte, die sich immer dann zeigte, wenn Stroganoff unzufrieden sein wollte und die ihm jedes Mal eine seltsame Genugtuung verschaffte, wenn sie sich in seine Stirn grub. Er richtete seinen Blick wieder auf die Straße. Eine dreiviertel Stunde und fünf waghalsige Überholmanöver später erreichte er die Ortseinfahrt, wo ihn ein riesiges Schild dazu einlud, das „Baikal-Festspiel der Eisskulpturen“ zu besuchen.
Stroganoff verlangsamte seine Fahrt kaum merklich. Er passierte einige Hotels, ließ die Apotheke, die in einem alten grau-braunen Blockhaus untergebracht war, rechts liegen, wich einer europäisch aussehenden Familie aus, die ohne ihn zu beachten auf die Straße getreten war und bremste vor einem weißen Holzhaus mit leuchtend blauen Fensterleisten. In der Post von Listvyanka sollte er seinen Zeugen treffen.
Stroganoff erklomm die drei Treppenstufen der weißen Holztreppe. Seine Knie schmerzten. Er wurde alt. Zum wiederholten Male verfluchte er den örtlichen Milizbeamten, der zu unfähig war, diesen Fall selber aufzuklären. Warum musste der bei jedem auch noch so winzig kleinen Problem immer gleich die Kollegen aus Irkutsk holen?
Die Zeugin saß auf einer weiß gestrichenen Holzbank und hielt eine blau gemusterte Tasse in der Hand, deren wohl duftender Inhalt einen dünnen, fast unsichtbaren Faden aus Dampf an die weiße Holzdecke schickte. Sie war nicht mehr allzu jung, ziemlich dürr und auf ihrem Kopf thronte eine riesige hellgraue Pelzmütze, die sie vermutlich für „furchtbar russisch“ hielt und die Teil ihrer Frisur zu sein schien. Amerikanerin. Ihr Gesicht wies den leicht vulgären Ausdruck einer Frau auf, die mehr Geld besaß, als die gesamte Oblast Irkutsk, ohne in ihrem Leben dafür auch nur einen Finger gerührt zu haben. Neben der Bank lehnte Alexej Paschkin.
Stroganoff beschloss, die reiche Amerikanerin fürs Erste zu ignorieren, knarrte mit großen Schritten über die alten Dielen und nickte Paschkin zu. Dieser verstand die Geste als das, was sie war. Kein Gruß, sondern eine Aufforderung. In kurzen Worten schilderte er seinem Kollegen, was dieser schon wusste: Ein Einheimischer hatte einen Hotelier getötet. Der Täter, Igor Sergejewitsch Dostojewski war 62, lebte schon sein ganzes Leben lang in Listvyanka und hätte es keine Zeugin gegeben, so wäre er vermutlich mit der Tat davon gekommen. Der Tote war ein reicher Ausländer, der Igor, der ein recht geschickter Handwerker war, dann und wann kleinere Reparaturen an seinem Hotel verrichten ließ und ihn meist dafür bezahlte, manchmal aber auch nicht. Die Dame, Lindsay Kennedy, hatte die beiden Männer beobachtet. Sie hatten sich gestritten. Da Mrs. Kennedy des Russischen selbstverständlich nicht mächtig war, hatte sie nicht verstanden, worum es in dem Streit gegangen war. Der Hotelier hatte Igor mit einer Handbewegung fortgeschickt. Dieser hatte etwas erwidert, worauf hin der reiche Mann ihn verächtlich angesehen und schließlich angespuckt hatte. Daraufhin hatte Igor seinen Hammer geschwungen und dem anderen auf den Kopf gedonnert. Diese Art der Behandlung war der feine Herr nicht gewohnt gewesen und er war sofort zu Boden gesackt und hatte sich dann und auch später nicht mehr gerührt.
Stroganoff seufzte. Langsam wendete er sich der Frau zu, die mit spitzen Lippen an ihrem Tee nippte. Und wieder fragte er sich, was solche Leute in dieser unwirtlichen Gegen verloren hatten, wo im Winter der Gefrierpunkt über den Temperaturen schwebte, wie ein unerreichbares Ziel. Er fühlte, wie sich zwischen seinen Augenbrauen erneut die steile Falte in die Haut fraß und da konnte er lächeln. Mrs. Kennedy sprach schnell und auf Englisch, Fjodor Stroganoff verstand nichts, nickte verstehend und kramte die einzigen beiden präsenten Wörter aus seinem nicht vorhandenen Fremdwort-Schatz hervor: „Thank you, Mrs. Kennedy“. Mit einem Blick, der keine Fragen ob seines genervten Gemütszustandes offen ließ, wies er den Milizen an, ihn zu Igors Haus zu bringen. Die Zeugin wurde nicht länger gebraucht.

Die kleine Hütte war ein wenig zerfallen, wirkte ärmlich und unterschied sich nicht im Geringsten von den anderen Häusern in der Gegend. Vor vielen Jahren war sie einmal grün gestrichen worden, die Fensterläden waren orange und hingen ziemlich schief in den Angeln. Vor dem Haus stand eine braune Hundehütte und die ganze Umgebung erinnerte Stroganoff zu sehr an seine Kindheit. Ärgerlich schüttelte er die schmerzlichen Gedanken ab. In dem türkisfarbenen Holzzaun fehlten ein paar Latten und als Alexej das Gatter öffnete, hoffte er beinahe, es würde zu Boden fallen.
Igors Frau Anna Andrejewna begrüßte beide mit einem unsicheren Lächeln und Alexej mit drei herzlichen Wangenküssen. Sie bestätigte, was Stroganoff schon wusste. Igor war nach der Tat kurz zu Hause gewesen. Er hatte ruhig gewirkt, hatte ihr erzählt, er hätte seinen Chef erschlagen, weil der ihm wieder einmal kein Geld für seine Arbeit hatte zahlen wollen und war ohne ein weiteres Wort wieder verschwunden. Seit dem hatte sie ihn nicht mehr gesehen.
Der Wohnraum war dunkel und eng. Auf einem Tisch stand eine Kanne Tee und ein Flasche Moskovskaja. Zwei klapperige Holzstühle flankierten ihn und es roch stickig und nach Fisch. Stroganoff nahm auf einem der Stühle Platz. Dieser wackelte bedenklich und für einen kurzen Moment dachte er, das Holz würde unter seiner Last in sich zusammen fallen. Noch bevor er auch nur ein Wort mit Igors Weib gewechselt hatte, wusste er, dass sie mehr wusste, als sie ihn wissen ließ. Mit einem überlegenen Grinsen auf den wunderbar schmalen Lippen streckte er die Beine aus. Alexej hatte Anna Andrejewna den zweiten Stuhl überlassen und Fjodor Stroganoff genoss, wie sich die alte Frau unter seinen Worten wand. Als ihr keine Ausflüchte mehr einfielen, gelang es ihm ihr zu entlocken, dass sie vermutete, ihr Mann wäre zu seinem Bruder gegangen. Dem hatte er einmal vor vielen Jahren beim Eisfischen das Leben gerettet. So ein guter Mann war er, ihr Igor. Der Bruder besaß eine kleine Hütte etwas außerhalb am See und Igor weilte in regelmäßigen Abständen dort, zum Austausch von Erinnerungen, zum gemeinsamen Schweigen und Saufen und natürlich zum Angeln.

Stöhnend bestieg Stroganoff seinen Lada 110. Sein Rücken knackste, als er sich bückte um auf den Fahrersitz zu kriechen und die verdammten Knie waren nicht zum Aushalten. Im Innenraum des Autos war es ebenso luftabschneident kalt, wie draußen und Stroganoff beschloss, den Winter noch mehr zu hassen, als die Einöde hier am Ende von Nirgendwo. Seine Stoßdämpfer hatten sich schon vor zehn Jahren und geschätzten 100000 km verabschiedet und seine Lendenwirbel waren gerade dabei, es ihnen gleich zu tun. Bei jedem Stein und jeder Unebenheit wurden sie ein Stück weiter zusammen gestaucht. Der Schmerz fuhr durch seinen Körper und er sog hörbar die Luft ein. Die war stickig vom Rauch einer Zigarette, die schweigend im Aschenbecher ihr Leben ausglühte. Stroganoff war Passivraucher. Den Geschmack von Tabak und das Gefühl eines Zigarettenfilters zwischen den Lippen konnte er nicht ausstehen. Doch er liebte den Geruch, konnte nicht mehr ohne ihn leben. Um dieser rein olfaktorischen Sucht Genüge zu tun hatte er stets ein volles Päckchen Pjotr I. im Handschuhfach, das nur darauf wartete angesteckt zu werden und langsam vor sich hin glühend sein und Stroganoffs Leben auszuhauchen.
Irgendwann hörte der Weg auf und verengte sich zu einem schmalen Fußpfad. Ein paar Meter weit versuchte der Polizist, seinen Wagen über den eisigen Boden zu scheuchen, dann gab er auf und stieg, mit Mundwinkeln, die bis hinunter zu seinem Bauchnabel reichten und einer Laune die alleine den See zum gefrieren gebracht hätte, der vor ihm lag, aus. Das kalte Eis erstreckte sich von seinen Füßen bis weit ans Ende der Welt. Die Sonne glitzerte über ihm, vermochte es nicht, ihre wärmenden Strahlen durch die weißen dünnen Schleierwolken und die eiskalte Luft bis hinunter zur Erde zu schicken. Die Kälte brannte in seinen Augen, die ihr zwischen der dicken Kapuze und dem warmen, nach Tabak duftenden Wollschal schutzlos ausgesetzt waren. Als er den Kopf hob und in die helle Januar-Sonne blinzelte, musste Stroganoff feststellen, dass seine Wimpern eingefroren waren. Er murmelte einen leisen Fluch in seinen Schal und blickte aufs Eis hinaus. Ein Stück entfernt konnte er eine dunkle Gestalt erkennen. Ein Mann stand dort, über einen Eimer gebeugt. Der Schnee krachte unter Stroganoffs schweren Stiefeln, als er die Oberfläche des Sees betrat.
„Igor Sergejewitsch?“ Erbarmungslose Kälte strömte in seine Lungen. Stroganoff wimmerte, wie ein verwundeter Hund. Er beeilte sich, den Abstand zu dem Angler zu verkürzen, der dort stand, als hätte er ihn nicht gehört, und einen Fisch in den Eimer fallen ließ.
„Igor Sergejewitsch? Ich bin Fjodor Iwanowitsch Stroganoff von der Miliz Irkutsk.“
Jedes einzelne Wort schmerzte. Es war totenstill hier draußen. Jetzt, da er stehengeblieben war, war es alleine sein eigener gedämpfter Atem, den Stroganoff durch den dicken braunen Wollschall hören konnte. Der alte Mann hatte sich aufgerichtet und sah ihn unverwandt an. Neben ihm ein rostiger Metalleimer, hinter ihm ein großes Loch in der beinahe einen Meter dicken Eisschicht, an seinem Fuß ein Eisbohrer, eine Hacke und einen Angel, sonst nur blaues Weiß, wohin das Auge reichte.
„Wie zur Hölle hat der alte Teufel das Loch ins Eis bekommen?“, fuhr es Stroganoff durch den Kopf. Doch bei weiterer Betrachtung der Frage musste er feststellen, dass ihn die Antwort nicht allzu sehr interessierte. Er setzte erneut an.
„Ich suche Igor Sergejewitsch.“
Der Mann starrt ihn an. Stahlgraue Augen, umrandet von grauen Wimpern und mächtigen weißen Augenbrauen. Er stand nur noch wenige Schritte entfernt. Mit einer Hand zog er sich den Schal vom Mund. Seine aufgesprungenen Lippen waren eingefasst von weißen Bartstoppeln, die Stimme rau und leise, als er sprach.
„Ja, ich bin Igor Sergejewitsch Dostojewski“. Seine Worte schwebten wie ein Feder über das Eis. Der alte Mann machte einen Schritt zurück. Stroganoff, eben noch zufrieden über die Aussicht, weg aus dieser verdammten Natur, endlich wieder nach Hause in die Zivilisation zu kommen, streckte einen Arm aus. Doch obwohl der andere sich wie in Zeitlupe zu bewegen schien, war der Arm zu langsam, zu kurz. Dostojewski sah ihm in die Augen, trat einen weiteren Schritt nach hinten und ins Nichts. Stroganoff, endlich wieder Herr über die Zeit, hastete nach vorne und warf sich auf das Eis. Er rutschte an den Rand des Loches und starrte in das tiefe Dunkel, in dem der Alte verschwunden war. Der Eimer war umgefallen. Die beiden Fische lagen auf dem Eis, wie in der Auslage eines Supermarktes. Sie schlugen mit den Schwänzen, kämpften um ihr Leben. Ein aussichtsloser Kampf. Eine Flasche Wodka, die hinter dem Eimer gestanden hatte, rollte über den gefrorenen See. Mit einem leisen Klirren, dann blieb sie liegen.
Stroganoff warf die Fische zurück in den Eimer, alles andere ließ er auf dem Eis zurück. Er stand auf, spürte seine Knie nicht. Langsam dirigierte er seine Schritte zu seinem Auto. Das dort stand, am Rande des Sees und alles beobachtet hatte.
Anna Andrejewna weinte, als Alexej ihr den Eimer mit dem Fisch brachte. Igor Sergejewitsch Dostojewski, ihr Mann, erfuhr erst zwei Wochen später vom tragischen Tod seines Bruders. Er war nur kurz bei diesem in der Hütte am See gewesen und war dann, um seinen Bruder nicht in Schwierigkeiten zu bringen, weitergezogen, um für eine Weile bei Verwandten unterzukommen.
Für Fjodor Stroganoff war der Fall zu diesem Zeitpunkt schon längst abgeschlossen.

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Tag der Veröffentlichung: 15.02.2011

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