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SIE




Sie stehen um ihn herum. Wie immer. Wie jeden einzelnen verfluchten Tag, seit das neue Schuljahr angefangen hatte. Der Neue hat es nicht einfach bei uns in der Klasse. Er ist aber auch seltsam. Irgendwie – anders. Immer so abwesend. Wenn man ihn etwas fragt, schaut er mit großen Augen, als hätte er kein Wort verstanden. Dann braucht er Minuten, bis er antwortet. Und seine Antworten sind meistens ziemlich abgedreht, etwas wirr, irgendwie – anders. Ebenso wie das, was er sonst so von sich gibt. Meine Mutter sagt: „Vincent hat einfach viel Fantasie“. Die Lehrer sagen „Vincent konzentriert sich nicht auf den Unterricht. Er lebt in einer anderen Welt.“ Und Benni und die andern Jungs sagen „Vincent ist ein Spinner. Der ist so – anders.“ Ich frage mich, warum es so schlimm ist, anders zu sein. Sind wir nicht alle ein bisschen anders? Kai, der die Musik auf seinen Kopfhörern immer so laut dreht, dass er einen Gehörschaden hat. Und das schon seit er 13 ist. Mark und Laurens, die sich immer mir diesem albernen Ellenbogen-an-Ellenbogen-Ritual begrüßen. Rena, die Angst vor Hunden hat, auch wenn sie ihr nur bis zum Unterschenkel reichen. Und Benni, der ausschließlich blaue Pullover mit Kapuze trägt. Wieso fällt es niemandem auf, dass auch wir anderen anders sind?
Die Jungs stehen zu fünft um Vincent herum und lachen. Er sieht auf den Boden, versucht, sie zu ignorieren. Der Reihe nach werfen sie ihm blöde Bemerkungen in die Mitte. Beleidigungen. Vincent starrt immer noch hinunter auf den grauen Asphalt. Unter einem Fuß lässt er ein kleines Steinchen hin und her rollen. Benni macht einen Schritt auf ihn zu. Auch die andern kommen näher. Ich halte die Luft an. Um die sechs Jungs hat sich scheinbar zufällig ein Kreis von Zuschauern gebildet. Alle werfen hier und dort betont unbeteiligte Blicke in die Runde. Neben mir stehen Rena und Sylvie. Benni hebt seine Hand und gibt Vincent einen Schubs. Rena saugt hörbar die Luft ein, Sylvies Hand ist erschrocken in Richtung Mund geschnellt. Ich kann nicht atmen. Vincent weigert sich, den Blick vom Boden zu nehmen. Auch die anderen vier fangen an, ihn zu schubsen. Hin und her. Mir wird ganz kalt. „Wenn er dir leid tut, dann hilf ihm“, sagt mein Vater immer. Ich möchte, aber ich kann nicht. Ich stehe dort, als hätten meine Füße Wurzeln geschlagen. Durch die Asphaltschicht hindurch, die geben mich nicht frei. Die Stöße werden immer fester. Vincent hat seine Augen endlich vom Boden gelöst. Er sieht seine Peiniger an, doch sagen tut er nichts. Ich kämpfe gegen die Wurzeln an. Gegen die Angst vor den anderen. Gegen das Schamgefühl, die einzige zu sein, die etwas tut. Gegen die Furcht, anders zu sein. Ein besonders kräftiger Stoß lässt Vincent taumeln. In Bennis Richtung. Benni fängt ihn nicht auf. Mit einem dumpfen Schlag landet er auf dem Boden. Als er sich aufrappeln will, trifft ihn ein Schuh am Bauch. Hass steigt in mir auf. Und Verachtung. Wie ich die fünf Jungs verachte, die dort einen Schwächeren demütigen und quälen. Wie ich die anderen verachte, die zuschauen, ohne etwas zu unternehmen. Wie ich mich selber verachte. Die Fünf beginnen zu treten. Harte Schuhe auf schmutziger Kleidung, auf schmutziger Haut.
Als Vincent schreit, wache ich auf aus der Erstarrung. Mit einem Ruck trennen sich meine Füße vom Boden und ich renne. Ich habe Angst, trotzdem renne ich in die richtige Richtung. Ich reiße Benni zur Seite. Der ist viel stärker als ich, aber ich habe ihn überrascht. Ich schreie. Wie ein Tier. Und ich zerre Vincent aus der Mitte, helfe ihm, aufzustehen. Rena und Sylvie sind bei uns. Sylvie hilft mir, Vincent zu stützen, Rena wirft drohende Blicke in die Richtung der Jungs. Benni lacht.

ER


Sie stehen um mich herum. Wie immer. Wie jeden einzelnen verfluchten Tag, seit das neue Schuljahr angefangen hatte.

Nicht, dass es an den anderen Schulen anders gewesen wäre. Egal wo ich hinkomme. Ich bin überall der Sonderling. Aber sie können nichts dafür. Es stimmt ja. Ich bin anders. Ich sehe und fühle die Dinge anders, als sie.
Ich betrachte den grauen Boden vor mir. Eine kleine Blume versucht sich den Weg durch den Asphalt zu kämpfen. Mit einem leisen Plopp hat sie es geschafft. Dort, kaum zehn Zentimeter über dem Boden entfaltet sie ihre gelben Blütenblätter und ihre ganze Schönheit. Die Stimmen der Jungs höre ich nur gedämpft, nur im Hintergrund. Als wären sie gar nicht da. Sind sie auch nicht, solange ich nicht hochsehe. Keiner ist da. Nur ich und die Blume. Ich lächele. Die Stimmen werden lauter. Sie sind ein Stück näher getreten. Bennis Turnschuh schiebt sich in mein Blickfeld. Ich will ihn nicht sehen. Ich will nur die Blume sehen. Der Turnschuh stört. Er ist wie ein Panzer, der kommt um die gelbe Blüte zu überrollen. Immer näher kommt er. Ein kleines Männchen lenkt ihn. Es hat einen winzigen grünen Helm auf und rote Schuhe. Wieso ausgerechnet rot? Ich weiß es nicht. Langsam schiebt er sich über die Blume, zermalmt sie unter seinen Ketten. Ein Stoß trifft mich. Benni. Er ist ein Boxer mit riesigen roten Handschuhen. Schon wieder rot. Er tänzelt um mich herum. Trifft mich hier und dort. Von allen Seiten. Ich kann nicht boxen. Also warte ich ab. Irgendwann wird die Runde vorbei sein. Die Stöße werden kräftiger. Das ist die Truppe vom Militär. Sie haben es heraus gefunden. Sie wissen, dass ich alles weiß und nun haben sie ihre besten Männer geschickt, um mich fertig zu machen. Aber so schnell kriegen sie mich nicht klein. Mich nicht. Wir kämpfen und die Fäuste fliegen. Ich trage einen strahlend weißen Karate-Anzug mit schwarzem Gürtel und verteile Tritte und Schläge. Bald sind sie k.o. Doch es sind einfach zu viele. Zu viele von ihnen. Zehn oder zwanzig Mann. Sie überwältigen mich und werfen mich zu Boden. Ich kann nicht aufstehen. Alle meine Rippen sind gebrochen, beide Beine und die Arme auch. Braune und schwarze Turnschuhe fliegen um mich herum. Jetzt spüre ich auch die Schmerzen. Ich will die Augen schließen doch da löst sich jemand aus der Menge. Eine Frau. Groß und blond. Es ist Lina, aus meiner Klasse. Fliegt sie? Ich glaube sie fliegt. In Zeitlupe kommt sie auf uns zu. Es ist, als höre ich Musik. Ihre Haare flattern im Wind. Sie breitet ihre Flügel aus und mit einem gekonnten Kick hat sie alle meine Gegner auf einen Schlag erledigt. Lina ist meine Retterin! Sie hat mich nicht nur vor den fünf Jungs gerettet. Sie hat mich aus meiner Einsamkeit heraus geholt. Wo sonst keiner etwas getan hat, war sie da. Solche wie Lina gibt es selten aber überall. Welche, die sich trotzdem trauen. Lina wird für immer meine Superheldin sein.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 20.01.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für alle Linas dieser Welt

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