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„Einst lebten zwei Schwestern in den Straßen Sanaas. Sie glichen einander zum verwechseln und ihre Haut hatte die Farbe von goldenem Wüstensand, jedoch war sie vom Staub und Dreck der Stadt überzogen. Die Augen glichen in der Form zwei Mandeln, doch war ihr Glanz überschattet von Armut. Da sie nichts zu essen hatten und niemanden, der sich ihrer annahm, lernten sie früh, für sich selber zu sorgen. Kaum ein Gauner kannte sich besser aus als sie, in den Souks der Stadt, wo sich zwischen den Geruch von Kurkuma und schwarzem Sesam der stickige Gestank vom Schweiße hunderter Menschen mischte. In Lumpen gehüllt und mit dem kurzen Haar eines Mannes strichten die Schwestern durch die Gassen und raubten des Hungers wegen, was sie zum Essen und Leben brauchten. Hier ein paar Oliven, dort etwas Käse. Gelegentlich, wenn es ein besonders schöner Tag war und sie besonders wagemutig, so stahlen sie einen Armreifen oder anderen Schmuck, den sie in einer dunklen Gasse einem dunklen Händler verkauften, der kaum mehr zahlte, als dass es für ein Obst oder ein paar Nüsse gereicht hätte.

Nun erzähle ich dir, dass an diesem Morgen ein reicher Mann aus einem fernen Lande die Straßen Sanaas bereiste. Er hatte großes Gepäck, Diener, Sklaven und Lastenträger mit sich. Mehr als sonst war am heutigen Tage die Stadt gefüllt von Bettlern, die um Großzügigkeit baten und Schaulustigen, die es immer und zu jeder Zeit gibt. Aus den Souks waren die Händler gekommen, um edle Tücher und kostbare Seide darzubieten, Kupfertöpfe und Alabasterlampen anzupreisen.
Der Fremde ritt auf einem schwarzen Pferde dessen Fell glänzte wie der Himmel über Sanaa in einer klaren Nacht. Dass es von edler Herkunft war, daran konnte kein Zweifel bestehen und auch sein reich verzierter Zaum glitzerte von Gold und Edelsteinen. Das dunkle Gewand des Reisenden mutete fremdländisch an, seine Augen waren ebenso schwarz wie die Haare. Des Fremden Blicke schweiften über die Menge als er ritt, stolz und mit aufrechtem Sitz. Die beiden Schwestern standen an eine Hauswand gelehnt und folgten dem Mann mit den Augen. Dieser befahl das Pferd in einen Bogen, der direkt an den beiden vorbei führte und als er sie hinter sich gelassen und wenige Schritte weiter seinem Pferd an einem Brunnen etwas Wasser gab, so konnten sie es riechen. Das Fell des Pferdes und den süßlichen Duft von Parfum. Der älteren Schwester behagte der Geruch sehr und sie schloss die Augen, sog den Moment ein, um ihn nicht zu vergessen. Auch die lange Reihe von Trägern und Dienern hielt zur Rast. Einer von ihnen verweilte kaum eine Armlänge entfernt. Er hatte seinem Karren den Rücken zugekehrt und strich sich mit dem Stoff seines Gewandes die Perlen von der Stirn. Perlen aus salzigem Schweiß, die über sein Gesicht rannen, wie Regentropfen über Akazienblätter. Das Herz der jüngeren Schwester klopfte und zitterte, als sie ihre Hand ausstreckte. Auch die Finger zitterten, doch mit einer schnellen Bewegung hatten sie den Knoten gelöst und einen Beutel befreit, der an der Seite des Karrens gereist war. Sie presste ihren Mund an das Ohr der älteren Schwester, doch als diese nur unverwandt und mit glänzenden Augen den Fremden bestaunte, der dem Ross über den Hals strich und mit einem Sprung auf dessen Rücken aufsaß, so zog sie sie fort. Vor einer Mauer, die die Rückwand eines Hauses bildete, hielten sie. Fensterlos ragte der Lehm in den Himmel und besaß nur eine verwitterte Holztür. Dahinter lag eine Kammer, wenige Schritte lang und ebenso wenige breit. Das Haus gehörte einem entfernten Verwandten, der die Schwestern zu kleinem Preise dort wohnen ließ. Doch selbst der kleinste Preis war Wucher, betrachtete man die Enge und Dunkelheit des Raumes. Die ältere Schwester entzündete ein Licht, das in der Mitte des Zimmers auf einer Holzkiste stand. Nur langsam konnte der müde Schein durch die Schwärze dringen. Tapfer flackerte er, doch vermochte er es nicht, die Ecken zu erreichen. Die jüngere Schwester zog einen Beutel unter dem dreckigen Hemde hervor. Aus weichem blauen Samt war er und mit einem roten Band verschnürt. Als sie die Verschnürung lockerte, stand die ältere neben ihr. Beide blickten sie auf den Gegenstand, den das Täschlein verbarg. Eine Kette, lang, mit Gliedern gefertigt aus Gold und Edelsteinen, die im flackernden Schein des Lichtes auf das Wunderbarste zu glitzern und zu funkeln begannen. Sie legten ihre Hände auf die Kette und ließen die Steine durch die Finger gleiten. Bei einem großen roten Juwel hielten sie inne. Es war glatt geschliffen, die Ränder dunkelrot, doch in seiner Mitte von hellem Gelb. Als sie so ihre schmutzigen Fingern über den Stein rieben, spürten sie eine Hitze, die sich den Weg aus dem Inneren an die Oberfläche zu kämpfen trachtete. Kleine Flammen begannen über ihre schmalen Handrücken zu züngeln und es schmerzte. Die Flammen verschmolzen miteinander, bildeten eine Säule, stiegen in die Höhe, bis sie die niedrige Decke des Raumes erreichten und sie formten das Gesicht einer Frau. Ihre Augen waren blau, wie das Meer, und es donnerte, als sie sprach. Mit tiefer Stimme richtete sie ihr Wort an die Schwestern und offenbarte ihnen ihre Bestimmung. Dass sie jedem, der den Stein der Kette mit seinen Fingern berührte und die Flamme entzündete einen Wunsch erfüllen würde. „Aber wisset, dass jeder Mensch nur ein einziges Mal das Feuer entfachen kann und jeder weitere Versuch seinen Tod bedeutet.“ Da sprach die jüngere der Schwestern, die Flammen glühten noch in ihren Augen und sie war von hitzigem Gemüt. „Ich wünsche mir nichts mehr, als Reichtum. Schenke mir einen großen Berg von Goldstücken und ich werde mir jeden weiteren Wunsch von nun an selber erfüllen können." „Es sei, wie du befehlest“, donnerte die Flammenfrau „Doch Eigennutz und materielle Begier wie die deine, wird nicht ohne einen Gegenpreis befriedigt. So sollst du um jede Münze, die du vergibst, einen Tag altern.“ Und es erschien ein Berg glänzender Goldstücke, die sich in einer Ecke des Raumes bis unter die Decke stapelten. Die jüngere Schwester war hoch erfreut, war doch ein Tag ihres Lebens ein geringes Opfer für all die Köstlichkeiten und Herrlichkeiten, die sie für eine Goldmünze erwerben konnte. So sah sie die Augen ihrer Schwester nicht, die älter und weiser war und die Habgier der jüngeren mit Sorge betrachtete. Und so hörte sie auch deren Wunsch nicht. Denn erst als die Hitze ihre Hände freigab und die Kette zu Boden fiel, konnte sie den Blick von dem glänzenden Reichtum wenden, der ihren Namen rief.
Von diesem Tage an nahm das Leben der Schwestern eine unglückliche Wendung. Die jüngere ging in die Straßen und kam wieder mit edlen Gewändern und süßlich riechenden Köstlichkeiten. Der älteren jedoch war nicht Wohl, mit dem Geld in der Kammer, für dessen Benutzung ein so hoher Preis gezahlt werden sollte. Sie drängte ihre Schwester, es zu verschenken. Oder aber fort zu werfen. Als die Tage vergingen, kehrte die jüngere immer seltener zurück und nach wenigen Monden hatte sie die Goldmünzen fortgeschafft und kam nicht wieder. Die ältere Schwester aber grämte sich sehr und war voll von Kummer.

Die jüngere Schwester


Der Glanz des Goldes hatte ihr die Sinne verwirrt. Bald wurden ihr köstliche Kleider und edler Schmuck die liebsten Freunde. So zog sie durch die Lande, begleitet von zwei Dienern, die ihr treu ergeben waren. Wo immer sie hielt ließ sie verbreiten, sie sei die Frau eines reichen Kaufmannes auf dem Wege zu ihren Verwandten und so wurde sie überall mit einem Lächeln und viel Freundlichkeit empfangen. Nur am Abend, wenn sie einsam auf ihrem Lager ruhte, dachte sie daran, dass es ihr gefallen könnte, ihr Leben mit jemandem zu teilen. Und immer häufiger schlichen sich Gedanken ein, die ihr Herz unruhig werden ließen. Gedanken an ihre große Schwester, an Ablaa. So machte sie sich nach vielen Jahren auf den Weg, diese zu suchen.
Als sie die Straßen von Sanaa betrat, war sie im Herzen wieder das junge Mädchen, das einst durch die engen Gassen geschlichen war. Vor der Mauer, die die Unterkunft ihrer Kindheit beherbergte, hielt sie inne. Die Gerüche waren die selben, wie damals. Staub und Sand und dabei der Gestank von Küchenabfälle und der Geruch feuchter Wäsche, die in der glühenden Sonne zum Trocknen hing. Sie zögerte, als ihre Hand das Holz berührte, dann drückte sie die Tür auf. Die Sonne erhellte die fensterlose Kammer und mit einem Blick sah sie, dass die Lumpen, die sie und ihre Schwester als Schlafstätte genutzt hatten, verschwunden waren. So auch die Holzkiste, die ihnen als Tisch gedient. Da die jüngere Schwester nicht weiter wusste, nahm sie ein Zimmer in einer der feinen Herbergen der Stadt. Als der Tag sich dem Ende neigte, die Sonne hinter den Häusern Sanaas niederging und die Tore der Stadt geschlossen wurden, lag sie auf ihrem Bett und sah an die Decke, wo tausend kleine Sterne silbern auf dem dunkelblauen Untergrund leuchteten. Sie begann, Bilder in den Sternen zu suchen, doch stets war es das Gesicht ihrer Schwester, das sie zu sehen meinte. Langsam schloss sie die Augen und als sie am nächsten Morgen erwachte, wusste sie, dass sie weiterziehen würde, Ablaa zu finden. Bald traf sie einen Mann, der ihr etwas zum Verschwinden der älteren Schwester berichten konnte. So verließ sie mit ihrem Hab und Gut und ihren Begleitern die Stadt. In den kommenden Tagen passierte sie mehrere kleine Siedlungen, in einigen wollte man Ablaa gesehen haben, in anderen nicht. In einigen kam sie für die Nacht unter, in anderen kaufte sie Qat und vergaß für eine kurze Weile ihre Reise, ihre Schwester und ihr Leben. Schließlich gelangten sie in eine Ortschaft am Rande des Haraz-Gebirges. Soviel sie auch fragte, niemand wusste ihr zu sagen, ob Ablaa dort gewesen war. Doch traf sie dann auf einen finster aussehenden Bärtigen, der berichtete, er habe sie gesehen. Alleine war sie gereist und hatte etwas zu Essen erbeten. Da die jüngere Schwester Ähnliches schon zuvor gehört hatte, war sie überzeugt, der Bärtige spräche die Wahrheit und sie folgte dem Pfad, den er ihr wies. Hinaus aus dem Ort, in die Berge.
Sie waren viele Stunden geritten und hatten das Dorf noch nicht erreicht, das der Bärtige ihnen beschrieben hatte. Die Sonne stand tief über den Felsen und hüllte sie in orangefarbenes Licht. Die jüngere Schwester und ihre Begleiter trieben die Tiere an, doch mussten sie halten, als hinter einem Felsen vier Männer auf Pferden hervortraten und ihnen den Weg verstellten. Alle viere blickten aus düsteren Augen und zwischen buschigen Bärten hindurch und der finsterste von ihnen war jener, der ihnen im letzten Ort den Weg gewiesen hatte. Er öffnete den Mund und ein fauliges Lachen kroch über seine Zunge, als er ein Messer aus dem Gürtel hervor zog. Mit blanker Klinge ritt er auf einen der Diener zu und schnitt ihm das Gepäck vom Sattel. Der treue Mann zückte ebenfalls ein Messer, doch bevor er es auf den anderen richten konnte, ward ihm die Kehle durchtrennt. Die jüngere Schwester bebte vor Wut und Furcht. Sie trat ihrem Pferd in die Seiten, um von dort zu fliehen, als etwas Schweres sie am Kopf traf. Sie taumelte und stürzte hinab auf den harten Fels. Als sie die Augen öffnete, war der Mann über sie gebeugt. Er lachte, seine wenigen Zähne waren braun und sein Atem roch übel. Sie versuchte sich aus dem Griff zu befreien, doch es wollte ihr nicht gelingen und sie spürte sein Gewicht schwer auf ihrem Körper. Sie sah, wie er die Augen aufriss, sah jede Ader auf seinen Augäpfeln und sein Mund öffnete sich. So weit, dass sie bis in seinen gierigen Rachen blicken konnte und ein Schrei erreichte ihre Ohren. Der Bärtige brüllte wie ein Tier, er bäumte sich auf und sackte dann über ihr zusammen. Sein Kopf war vom Körper getrennt und das warme Blut floss über ihr Gewand. Wohlgleich sie in ihrer Kindheit mehr als einmal dem Tod begegnet war, kam ein Gefühl von Übelkeit in ihr auf, als sie versuchte, sich von der Last zu befreien. So sehr sie sich auch abmühte, es wollte ihr nicht gelingen, den massigen Körper von ihrem eigenen schmalen zu drücken und der Geruch des Blutes wurde mit jeder Bewegung stärker. Schließlich gab sie entkräftet auf und schloss die Augen.

Die ältere Schwester


Ablaa trauerte, als ihre Schwester fort gegangen war. Zehn Tage und Nächte lang gab sie sich ihrem Kummer hin. Doch dann wollte keine Träne mehr fließen und so kehrte sie in ihr altes Leben zurück. Die Kette mit dem roten Stein legte die ältere Schwester wieder in den blauen Samtbeutel und trotz der Kette Schönheit, wurde es ihr jedes Mal bange ums Herz, wenn sie diesen anblickte. Nach unendlich vielen Tagen, die einander glichen und trübe und einsam aufeinander folgten, sah sie sich vor der Entscheidung, sie möge entweder von einem der hohen Gebäuden springen und den Tod suchen, oder aber ihr Leben ändern. Sie wagte es nicht, zu springen und so würde sie weiter leben. Daraufhin nahm sie den Beutel mit der Kette, ein weiteres Täschlein mit dem Wenigen, was sie sich am vorigen Tage zum Essen gestohlen hatte und verließ das dunkle Kellerloch. Ablaa würde sich auf die Suche machen nach jenem Manne, der ihres Unglücks Schmied gewesen war und sie würde ihm die Kette zurück bringen. Um Vergebung wollte sie ihn anflehen, dafür, dass sie das Schmuckstück gestohlen hatten und dann würde sie auf die Knie sinken und Gott anflehen, ihre Schwester, die einen falschen Weg eingeschlagen hatte, zurückzubringen. Viele Tage lief sie, getrieben von dem sehnlichsten aller Wünsche. Sie schlief unter freiem Himmel, dessen Sterne des Nachts über sie wachten und erbat ihr täglich Brot bei denen, die ihr unterwegs begegnete. Der Spur des Fremden zu folgen erwies sich als leicht, denn jeder hatte ihn und sein Gefolge gesehen und wusste von seinem Wege zu berichten. Ihre Beine und ihr Herz waren müde von der langen Reise, als sie die große Stadt am Wasser erreichte, wo ihr Pfad sie an ein mächtiges Haus führen sollte, das der Fremde mit seiner Dienerschaft bezogen hatte. Vor dem Eingangstor wuchsen ordentlich gestutzte Sträucher, der Boden war gekehrt und mit Feuchtigkeit benetzt und es war schattig. So setzte Ablaa sich, um eine Weile zu ruhen und Mut zu fassen, bevor sie durch die Tore trat.
Die Tage die folgten waren so wunderbar, wie der herrlichste aller Träume. Ihr Gastgeber, ein reicher, wohlhabender Kaufmann von feinem Ansehen, stammte aus einem Land weit von hier. Er war in die Hafenstadt gekommen, um Geschäfte zu machen und da das Klima und die Menschen ihm behagten, wollte er bleiben. Von dem Augenblick an, so schwor er, da Ablaa in seine Gemächer getreten, ihm die Kette zurück gebracht und um Vergebung gebeten hatte, war sie das einzige, was er begehrte. Er hatte ihre schmutzigen Gewänder nicht gesehen, nicht das zerzauste Haar, noch die schwarzen Ränder unter den Nägeln ihrer schmalen Finger. Einzig die betörende Schönheit, die in ihren Augen und Worten zu lesen war, hatte er wahrgenommen. Auch Ablaa war von dem artigen Kaufmann recht angetan, dessen Augen nicht müde wurden, auf ihr zu ruhen und dessen Mund ihr das Paradies versprach, als er sie zur Frau nahm. Es folgten viele glückliche Jahre, in denen sie ihm zwei Söhne gebar.
An einem Tage als die Sonne besonders hoch stand und ihre Strahlen ohne Erbarmen auf die Stadt brannten, brachten die Männer eine Frau in das Haus. Gefunden hatten sie sie zwei Tagesritte entfernt in den Bergen Haraz. Sie war von Räubern überfallen worden, ihre Dienerschaft getötet. Die Männer hatten den Halunken die Kehle durchgeschnitten und so die Frau vor Schlimmerem bewahrt. Nun lag sie gebettet in einem der Schlafgemächer und ruhte. Ablaa stand am Fenster und sah in den Garten auf ein Meer von Blumen. Dies war ein Anblick, so köstlich und voller Frieden, dass sie ihn jeden Tag aufs Neue suchte. Doch heute trübten andere Gedanken die Freude an der Blütenpracht. Sie wusste, dass sie den Moment nicht länger dehnen konnte und während ein leises Seufzen über ihre Lippen floss, drehte sie sich um. Im Zimmer roch es nach Aloe und Rosenwasser, die Wände waren von Seide bedeckt und in der Mitte des Raumes stand ein prächtiges Bett. Dort, zwischen goldrandigen Kissen und schweren Decken, lag ihre Schwester.
Als Ablaa heute morgen in das Gemach gekommen und ihr Blick auf die alte Frau gefallen war, deren Haut von tiefen Falten und deren dunkles Haar von weißen Strähnen durchzogen war, hatte sie sie nicht erkannt. Doch sie ließ ihn ruhen, den Blick, und es gelang ihr zu sehen, was unter den Falten lag. Und sie weinte um die verlorene Zeit und um die Jugend, die die jüngere Schwester mit ihrer Gier so leichtfertig vertrieben hatte.
Im selben Moment, da diese nun die Augen öffnete und Ablaa erblickte, erkannte sie die ältere Schwester und beide fielen sich in die Arme. Sie sprachen bis in die Nacht hinein, da jede der anderen von ihrem Leben berichtete. „Nun, geliebte Schwester, ist es eine Frage, die mich quält. Was ich mir wünschte, das weißt du und ich kenne deine Bedenken, auch wenn ich sie nicht teile und keine Reue empfinde. Doch was, meine Ablaa, wünschtest du dir, als der Geist aus der Kette zu uns sprach?“. Ablaa lächelte die jüngere Schwester an und dabei glänzten ihre schwarzen Augen voller Liebe. „Ich“, so erwiderte sie „war voller Sorge ob deines Wunsches. Zu oft habe ich sagen gehört, wie Gold und Reichtum die Menschen verändern. Da fiel mir nichts besseres ein, als mir zu erbeten, dass wir beide uns wiedersehen, in zehn Jahren, und dass wir glücklich und bei bester Gesundheit sein mögen. Dies ist nun geschehen. Heute vor genau zehn Jahren haben wir den roten Stein gerieben und nun halte ich dich in meinen Armen.“ Und von der Schwester Augen unbemerkt lief eine Träne über Ablaas Wange, als sie die grauhaarige Alte an ihren Leib drückte.
Von diesem Tage an war die Schuld des Geistes aus der Kette abgetragen und Ablaas Wunsch konnte ihre jüngere Schwester nicht länger vor dem Verfall des Alters schützen. Mit jedem Tag der verstrich, wurde diese blasser und schwächer und auch der Schwester Bemühungen, sie mit gutem Essen zu neuer Kraft zu bringen, blieben erfolglos. So kam es also, dass die jüngere nach Ablauf eines Jahres starb, in der selben Nacht, in der die ältere ihre erste Tochter gebar. Ablaa hielt das Kind in den Armen, als sie Abschied nahm, von ihrer geliebten Schwester, die als alte Greisin gegangen war, während sie selber noch in der Mitte des Lebens stand.“

„Für wahr, Mutter, das ist eine sehr traurige Geschichte. Und doch ist sie wunderschön.“ Ablaa lächelte und strich ihrer Tochter über das schwarze Haar, als diese sich zum Schlaf auf die Kissen legte. Sie umarmte das Mädchen und flüsterte „Schlaf nun gut, meine kleine Nayila.“ Und ungesehen von der Tochter Augen lief eine Träne über ihre Wange, als sie den Namen nannte, der „kleine Schwester“ bedeutet und den einst auch ein anderer geliebter Mensch getragen hatte.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 05.01.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
In letzter Sekunde und nach radikaler Kürzung (10 Seiten mussten raus!!!) doch noch fertig geworden. Mein erstes Märchen. Viel Spaß beim Lesen.

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