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Inhaltsverzeichnis



Prolog / S. 6

Kapitel 1 Exil / S. 11

Kapitel 2 Springer / S. 23


Prolog


Nanashi no Gombei legte den Reiseführer zur Seite und lehnte sich seufzend in ihren breiten, schwarzen Ledersitz zurück. Vor dem Fenster rasten Bäume und Häuser vorbei und sie schloss die Augen.

Sie hatte sich kurzfristig zu der Reise entschieden. Vor drei Wochen, an diesem furchtbarsten aller Abende. Als sie früher nach Hause gekommen war, mit Kinokarten für sich und ihren Mann. Doch der war nicht alleine gewesen. Toku Itoe, das verlogene Biest.
Nanashi hatte die Haustür zugeworfen und war zu ihrer Schwester gefahren. Dort hatte sie vier Stunden lang geweint. Dann waren keine Tränen mehr gekommen. Sie hatte sich vorgestellt wie wunderbar es wäre, einfach zu verschwinden. Zu verblassen. Bis nur noch ein Schatten übrig wäre, ohne Körper. Mit der Abendsonne unterzugehen. Da sie nicht genau wusste, wie sie das anstellen sollte, hatte sie beschlossen, zu verreisen. Weit weg. Nach Europa. Das Thema der Busreise, „Haunted Places“, passte so wunderbar zu ihrer Gefühlslage, dass sie sich noch am selben Abend ein Ticket gekauft hatte.

Der Bus war riesig und schwarz und bis auf den letzten Platz ausgebucht. Nanashi sprach mit keinem anderen der Reisenden, blockte jegliche Kontaktversuche ab.
Jedes Mal, wenn der Bus hielt, erwachte sie aus ihrer Lethargie. Dann lief sie mit einer Gänsehaut am ganzen Körper über das Kopfsteinpflaster enger Straßen, besuchte dunkle Gruften und moderige Keller und lauschte mit perfider Genugtuung den Geschichten von übernatürlichen Erscheinungen, Hexenverbrennungen und Poltergeistern. Zurück im Bus, fuhr sie ihren Sessel in Schlafposition und träumte. Mit einem Lächeln im Gesicht malte sie sich aus, wie sie, in weiße Seide gehüllt, mit glasigen, blutunterlaufenen Augen und einem schauderhaften Klagegesang ihren Mann heimsuchte. Ihren Mann und Toku Itoe, das verlogene Biest.
Die Reise dauerte drei Monate und führte Nanashi quer durch Europa. Sie besuchte kleine verregnete Orte in England, deren Häuser schienen, als seien sie aus Moos gemacht. Sie wanderte durch kalte, verlassene Schlösser in Frankreich und die nebeligen Berge Calabriens in Italien, wo eine weiße Frau des Nachts ihr Unwesen trieb. An der Westküste Norwegens hielten sie, um den Glocken einer unsichtbaren Kirche zu lauschen und einen Blick auf den kopflosen Mönch zu werfen, der durch die Ruinen eines alten Klosters streifte. Doch ihr persönliches Highlight würde das nächste Ziel sein. In einer halben Stunde sollten sie die tote Stadt erreichen.
Nanashi öffnete die Augen wieder und klappte den Reiseführer auf. Den Text von Seite 136 bis 139 kannte sie auswendig. Trotzdem las sie ihn ein weiteres Mal. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Als der Bus hielt, war sie die erste, die die fünf Stufen hinunter ins Freie stieg. Der Himmel war bedeckt und die Sonne am Untergehen. Sie lauschte der Stimme des Reiseführers, der die Geschichte ein weiteres Mal zum Besten gab und sie weinte.
Zuhause in Japan, sollte Nanashi noch oft an diesen Ort zurück denken. Doch niemals würde sie erfahren, was dort wirklich geschehen war, vor über hundert Jahren.



Kapitel 1 Exil



Meine Mutter hatte sich im Schlafzimmer eingeschlossen, um mit ihrer Schwester zu telefonieren. Meiner Tante Jane, die in Hamburg lebte und meiner Mutter seit Jahren die kalte Schulter zeigte.
Als sie eine halbe Stunde später an meiner Zimmertür erschienen war, hatte sie müde ausgesehen, fast ein wenig abgekämpft. Sie hatte mir mitgeteilt, dass ich die Sommerferien bei Jane in Hamburg verbringen würde. Ich hatte geflucht, geschrien, die Türen geschmissen und mir geschworen, auf gar keinen Fall nach Hamburg zu fahren.

Drei Wochen später saßen wir am Mittagstisch und ein großer, hässlicher, brauner Koffer stand gepackt im Flur. Es hatte nichts geholfen. Meine Eltern hatten nicht nachgegeben. Stephanie, meine beste Freundin, war enttäuscht gewesen, als sie gehört hatte, dass aus unseren Freibad-Plänen für diesen Sommer nichts werden würde. Ich sollte die Ferien im kalten Hamburg verbringen, bei meiner Tante Jane, die uns alle hasste und ich würde mich zu Tode langweilen.
Für die Gespräche am Tisch hatte ich heute kein Ohr. Alle redeten durcheinander. Meine Eltern freuten sich auf die drei Wochen, in denen sie ihren Laden zumachen würden, um zum ersten Mal seit siebzehn Jahren, ohne uns Kinder eine Reise zu unternehmen. Mein Bruder Max sollte diese Zeit bei seinem Freund Robin verbringen.
Ich gefiel mir ganz gut in meinem Selbstmitleid. Die letzten drei Wochen hatte ich mich bemüht, möglichst traurig und niedergeschlagen auszusehen. Sollten meine Eltern ruhig ein schlechtes Gewissen bekommen. Anfangs hatten sie versucht, mir gut zuzureden. Meine Mutter hatte geschworen, ich würde alles verstehen, wenn ich erst einmal dort wäre. Ich hatte sie aus meinem Zimmer geworfen und die Tür zugeschlossen. Schließlich hatte sie es aufgegeben. Genauso wie mein Vater nach zwei erfolglosen Wochen aufgehört hatte, mich mit gespielter Heiterkeit und kindischen Scherzen zum Lachen bringen zu wollen.
Nun saßen wir also am Mittagstisch. Die Familie amüsierte sich köstlich und mich und meine Mundwinkel, die bis zu den Zehen reichten, beachtete niemand. Wie ich da so schmollend vor meiner Spagetti Bolognese hockte, beschloss ich, mich nicht weiter selber zu quälen. Die Soße und die Nudeln rochen gut und mein Magen knurrte laut, nach Tagen der Essensverweigerung, in denen ich heimlich nachts aufgestanden war und mir Kekse und Schokolade aus der Küche geholt hatte. Dies war das offizielle Ende meines Hungerstreiks. Fünf Minuten lang tat ich nichts als Nudeln zu rollen und sie, zusammen mit einem Maximum an Soße in den Mund zu stopfen. Erleichtert, endlich wieder an den Tischgesprächen teilhaben zu können, stieß ich meinen Bruder mit dem Ellenbogen in die Seite.
„Und Maxi, gibt's was Neues von E.T.?“
Meine Mutter schaute auf und lächelte mir zu. Max hatte aufgegessen. Er schob seinen Teller von sich und grinste über sein ganzes Gesicht. Mein kleiner Bruder hatte am meisten unter meiner schlechten Laune gelitten. Er trank einen Schluck Wasser, räusperte sich theatralisch und fing an zu erzählen.
E.T. war ein alter Mann, der ein paar Häuser weiter wohnte und das „Dauerprojekt“ aller Kinder in unserer Straße. Er lebte in einem kleinen, blau gestrichenen Häuschen mitten in einem verwilderten Garten, der seit Jahrzehnten keine Heckenschere und keinen Rasenmäher mehr gesehen hatte. An seinem Briefkasten stand in schwarzen Buchstaben „E.T.“. Mehr wussten wir über ihn nicht. Schon als ich in die Grundschule ging, hatte ich mit meinen Freundinnen jeden Morgen auf der Lauer gelegen. Denn pünktlich um halb acht öffnete E.T. seine Tür. Einmal, zweimal, manchmal drei oder vier Mal. Immer schloss er sie wieder und nur einmal in der Woche, dienstags, schlurfte er in einer alten zerschlissenen Cordhose und einem Wollpulli durch den Garten zum Briefkasten. Keiner wusste, was er tat, wie alt er war oder wie genau er überhaupt aussah, denn dienstags trauten wir uns nicht in die Nähe des Hauses. Unter den Kindern gingen Gerüchte um, dort würden Menschen verschwinden. Einige wollten Fremde gesehen haben, die bei ihm geklingelt hatten, hinein gegangen und dann nie wieder erschienen waren. Sein Spitzname „E.T. der Außerirdische“ war mit acht Jahren der Brüller gewesen. Auch wenn eigentlich keiner von uns genau gewusst hatte, wer E.T. der Außerirdische gewesen war. Seit ich aufs Gymnasium ging, hatte ich das Interesse an E.T. verloren. Doch mein kleiner Bruder und sein Freund Robin waren begeisterte Leser von den „Drei ???“ und E.T. ihr bevorzugtes Spionage-Objekt. Nun begann Maxi eifrig zu erzählen.
Ich war erleichtert, dass ich meine selbstauferlegte Leidenszeit beendet hatte. Abwesend hörte ich zu, wie Maxi von einem Jungen berichtete, der angeblich seit zwei Wochen bei dem Außerirdischen wohnte. Mein Vater unterbrach seine Spekulationen darüber, ob der Junge von E.T. gefangen gehalten wurde oder ob es sich um einen Komplizen handelte.
„Linda, wir müssen...“
Er zeigte ungeduldig auf seine Omega Marine Chronometer, den einzigen Luxus, den er sich gönnte. Ich nickte und merkte, wie sich mein Kinn trotzig nach vorne schob und meine Lippen schmal wurden. Dann erinnerte ich mich daran, dass ich beschlossen hatte, nicht mehr zu schmollen und seufzte „Ich bin soweit.“.
Max sprang auf und umarmte mich stürmisch.
„Rufst du mich heute Abend an? Du musst mir alles von der Kalten Alten erzählen.“
Meine Mutter runzelte die Stirn und ich lachte über den Namen, den sich mein Bruder für die ebenso unbekannte wie ungeliebte Tante ausgedacht hatte. Ich drückte ihn fest und versprach, mich heute Abend zu melden. Dann standen auch schon Robins Eltern vor der Tür und Max wurde samt zweier riesiger Reisetaschen übergeben.
Mein Vater nahm meinen Koffer, meine Mutter meine Hand. Jacken brauchten wir keine. Die heiße Julisonne brannte uns entgegen, als wir auf die Straße traten. Es war das, was Meteorologen einen Jahrhundertsommer nannten und meine braunen Haare waren durchzogen von sonnengebleichten Strähnen. Selbst mein sonst weißer Bauch zeigte dank der regelmäßigen Freibadbesuche eine leichte Braunfärbung.
Wir stiegen in unseren klapprigen alten Ford Focus. Wie immer trieb meine Mutter meinen Vater hektisch an, in der Angst zu spät zu kommen. Wie immer waren wir viel zu früh.

Bahnhöfe machen mir Angst. Überhaupt mag ich keine Menschenmassen. Bahnhöfen sind laut und dreckig und sie stinken. Mein Vater konnte keinen Parkplatz finden und so mussten meine Mutter und ich alleine gehen. Meine Mutter mag große Menschenansammlungen noch weniger als ich. Ich sah wie sie litt, als sie mit der rechten Hand den schweren Koffer, mit der linken mich hinter sich her zur Gleisanzeige zog. An Gleis 12 kaufte ich mir eine Brezel. Direkt aus der Brezelmaschine war sie warm und weich und roch köstlich. Eine Dreiviertelstunde vor Abfahrt erreichten wir Gleis 13. Nun hieß es warten.
Trotz 38°C Außentemperatur fröstelte mich, als wir den vollkommen windstillen Bahnsteig betraten und uns auf eine Bank setzten. Ich spürte ein Kribbeln, als sich die Härchen an meinem Körper aufrichteten und sah die Gänsehaut auf meinen nackten Armen. Dann wurde mir eiskalt und ich begann zu zittern. Die Kälte schnürte mir die Luft ab. Ich konnte nicht mehr atmen, alles wurde schwarz. Als ich wieder zu mir kam, beugte sich meine Mutter über mich. Panik in den Augen. Ich lag auf der Bank und sie hielt meine Beine in die Höhe.
„Linda? Alles in Ordnung mit dir? Linda? Hörst du mich? Kind. Oh mein Gott. „
Hilfesuchend schaute sie sich um. Ich wurde mir der lächerlichen Position bewusst, in der ich mich befand und richtete mich umständlich auf.
Der Zug fuhr ein.



Kapitel 2 Springer



Ich wachte mit Kopfschmerzen auf. Meine Halswirbelsäule war völlig verspannt und fühlte sich schief an. Hinter meinen Schläfen pochte es. Die Nacht war nicht besonders erholsam gewesen und wirre Träume hatten mich mehrmals aus dem Schlaf schrecken lassen. Neben meinem Bett brannte noch immer die hässliche rote Nachttischlampe und aus dem Bad hörte ich Jane singen. Wie konnte jemand, der von Grund auf so missmutig war wie sie, um acht Uhr morgens so gut gelaunt sein?
Der Empfang gestern Abend war alles andere als herzlich gewesen. Ich hatte zwanzig Minuten lang vor ihrer Haustür gestanden. Nachdem ich zwei Mal erfolglos sie und einmal erfolg- aber wenig hilfreich meine Mutter angerufen hatte, hatte Jane die Tür geöffnet. Sie hatte ausgesehen, als wolle sie noch ausgehen, hatte Stiefel angehabt und eine viel zu warme Jacke. Nach einer unpersönlichen Begrüßung und ein paar Fetzen gezwungener Konversation, hatte sie uns eine Suppe gekocht, die ungenießbar gewesen war. Um ihrer muffeligen Gesellschaft zu entgehen, war ich kurz nach neun auf mein Zimmer gegangen und wenig später mit Kopfhörern im Ohr eingeschlafen.

Nun stöhnte ich und wälzte mich aus dem Bett. Happy Birthday, Linda. Ich beglückwünschte mich zu diesem schmerzhaften Auftakt in meinen siebzehnten Geburtstag. Dann stand ich auf, in dem Wissen, dass für den Rest des Tages keine nennenswerte Steigerung meines Wohlbefindens zu erwarten war. Als ich aus dem Zimmer schlurfte, stieß ich um ein Haar mit Jane zusammen, die gerade aus dem Bad kam. Sie sah mich und ihr fröhliches Lachen fiel in sich zusammen wie die Weltwirtschaft beim Börsencrash. Es wurde umgehend durch eine spöttisch hochgezogene Lippe und Augenbraue ersetzt, als sie verächtlich an mir herunter schaute, mein Schlaf-Outfit musterte. Eine weite Jogginghose und ein schlabberiges T-Shirt.
„So setzt du dich nicht zu mir an den Frühstückstisch, Linda. Zieh' was Ordentliches an und kämm' dir die Haare!“
Ich beäugte skeptisch das lila Handtuch, das sie wie einen Turban um ihre nassen Haare gebunden hatte und murmelte „Du siehst auch nicht gerade aus, als würdest du zu einem Schönheitswettbewerb gehen.“. Als sich ihre Augen in meine bohrten und sie zu einer Antwort ansetzte, drehte ich mich um. Für einen verbalen Schlagaustausch so früh am Morgen war ich schlicht zu müde.
In Erwartung auf einen weiteren 35°C-Tag zog ich eine kurze Jeans und ein Trägeroberteil an und schlüpfte in meine Flip Flops. Es roch herrlich im ganzen Treppenhaus. Nach Honig und warmem Kuchen. Vielleicht würde sich mein erster Tag hier im Exil doch nicht so katastrophal entwickeln wie erwartet. Die Kalte Alte stand in der Küche am Herd. Sie musterte mich von oben bis unten, rümpfte die Nase, lächelte kurz, herablassend nicht freundlich, und bedeutete mir mit einem Nicken Richtung Tisch, mich zu setzen. Die Küche war irgendwie – anders. Anders, als normale Küchen. Sie war groß und geräumig. Es gab eine Spüle, einen Herd, einen Kühlschrank und einen Ofen, keine Unterschränke, keine Hängeschränke, keine Regale. Vier große Holztische waren vollgestellt mit Töpfen, Tellerstapeln und Küchengeräten. Davon besaß Jane eine beachtliche Anzahl. Mixer, Toaster, Mikrowelle und Co. waren zwar als solche erkennbar, ähnelten jedoch nur entfernt den Geräten, die bei uns zu Hause standen. Sie waren so rund und glänzend, dass sie gut in eine größere Version der Kugelküche von Luigi Colani gepasst hätten. Langsam schlurfte ich durch das geordnete Chaos und setzte mich an den großen quadratischen Holztisch in der Mitte des Raumes. Mit einer blank polierten Suppenkelle klatschte Jane mir einen nicht schlecht riechenden gelben Klumpen Irgendetwas auf den Teller.
„Was ist das, Tante Jane?“
„Nudeln mit Honig und Oliven in Birnenmus. Das gibt’s jeden Morgen, wirst du dich dran gewöhnen müssen.“
Mir drehte sich der Magen um. Ich hasste Birnen. Oliven konnte ich auch nicht leiden und in Kombination mit Nudeln und Honig klang das wie ein Albtraum.
„Ich glaube, das ist nichts für mich. Hast du nicht irgendwas anderes da? Brot? Cornflakes?“
„M-m.“
Meine Tante schüttelte den Kopf, samt lila Turban und stopfte sich eine Portion in den Mund. Sie kaute langsam, hob den Blick, wirkte genervt.
„Entweder du isst das hier oder du hast Pech gehabt. Kein Brot mehr da.“
„Gibt es denn irgendwo einen Bäcker?“
Die Kalte Alte schaute mich nicht an. Wieder über den Teller gebeugt, den vollen Löffel vor dem Mund muffelte sie „Entweder du nimmst die Bäckerei, an der du gestern auf deinem Weg vom Bahnhof vorbei gekommen bist, oder du gehst nach Nebenan. Rechts die Straße runter. Die führt direkt auf die Kaufstraße.“
Jetzt schaute sie mich doch an.
„Je nachdem zu welcher Bäckerei du gehst, solltest du dir überlegen, doch was anderes anzuziehen.“
Mit spöttischem Blick musterte sie mein Outfit.
„Warum? Ist das ein 5-Sterne-Bäcker wo man nur im Abendkleid rein gelassen wird?“
Sie zuckte die Schultern und beugte sich erneut über ihren Teller. Ich schnappte mir den Schlüssel, der an einem kleinen Brett im Flur hing und öffnete die Haustür. Schon als ich den Gartenweg zur Straße hinunter lief bemerkte ich den kühlen Wind. Von der drückenden Schwüle gestern Abend war nichts mehr zu spüren. Als ich am Gartentor ankam war mir so kalt, dass ich keine Lust mehr hatte und am liebsten umgekehrt wäre. Der Gedanke an den verächtlichen Blick meiner Tante und den spöttischen Spruch, den ich mir vermutlich hätte anhören müssen, hielt mich davon ab. Wie schlimm konnte es schon sein? Wahrscheinlich würde gleich die Sonne rauskommen und meine nackten Arme und Beine wärmen.
Der Himmel war wolkenverhangen und das Haus meiner Tante und die endlos lange Straße in der es stand sahen so völlig anders aus als gestern Abend. Alles schien mir größer und weitläufiger. Ein Wohnhaus reihte sich an das andere. Große, dreistöckige Gebäude mit weißen Gardinen hinter den Fenstern, langweilige Vorgärten mit gelbem Rasen und ohne Blumen. Ich lief schnell und verfluchte mich selber. Bei diesem Wetter in kurzer Hose rauszugehen, was für eine Schnapsidee. Zitternd und mit den Zähnen klappernd erreichte ich das Ende der Straße das, merkwürdig genug, auf einen schmalen Fußweg führte. Diesem folgte ich zwischen den hohen Mauern zweier Häuser hindurch und lief gegen eine Wand. Aus Menschen. Die eilig an mir vorbei surrten. Auf einer Straße, die rechts und links von Häusern in allen erdenklichen Farben, Größen und Formen gesäumt war, liefen Männer und Frauen geschäftig in hellen Anzügen und Kostümen auf und ab. Die meisten von ihnen zogen rollende Aktenkoffer hinter sich her. Andere, mit kleinen Kindern auf dem Rücken, eilten von Geschäft zu Geschäft. Solche mit größeren standen um eine Art Spielfläche herum, rund und eingezäunt, und schauten ihren Sprösslingen beim Toben zu. Der ganze Boden dort schien weich und etwas elastisch zu sein. In einer Ecke sprangen zwei dunkelhaarige Mädchen hoch in die Luft, als wären sie auf einem Trampolin. In einer anderen spielten mehrere kleine Jungs und Mädchen mit bunten, überdimensional großen Bauklötzen. Zwei der Mütter saßen auf Ergometern, die in einer langen Reihe mit anderen Fitnessgeräten unter einem glänzenden Dach an einer Seite des Spielplatzes standen. Sie strampelten in mäßigem Tempo und unterhielten sich. Neben ihnen lief ein Mann in einem roten, enganliegenden Jogginganzug auf einem Laufband. Er kontrollierte seinen Puls und rief seinem Sohn, der gerade ein anderes Kind von einer knallgelben, mehrfach gewundenen Rutsche geschubst hatte, eine Ermahnung zu.
Ich befand mich in der merkwürdigsten Straße, die man sich vorstellen konnte. Der plötzliche Lärm von lachenden Kindern, eiligen Schritten und hunderten verschiedener Gesprächsfetzen hatte mich unvorbereitet getroffen. Meine erfrorenen Finger unter die Achseln geklemmt, blieb ich stehen wo ich war und versuchte die Eindrücke in meinem Kopf zu ordnen. Nicht sehr erfolgreich, denn je länger ich das bunte Treiben beobachtete, desto eigenartiger erschien es mir. Die Menschen sahen merkwürdig aus. Sie trugen seltsame Klamotten und Einkaufstaschen aus Zeltstoff mit Namen von Geschäften oder Marken, von denen ich noch nie etwas gehört hatte. Unter einem Baum, dessen Äste kahl waren und in dem mindestens zwanzig runde und halbrunde Vogelhäuschen hingen, stand eine Gruppe junger Mädchen. Etwa in meinem Alter. Sie trugen dunkelrote Hosen und Oberteile, die beinahe aussahen, wie die Uniformen einer Science Fiction Serie aus den 80er Jahren. Eines der Mädchen bemerkte meinen Blick. Sie flüsterte ihren Freundinnen etwas zu und alle schauten in meine Richtung. Ihre Augen scannten ungläubig mein luftiges Outfit und sie kicherten. Ich schaute an mir herunter. Flip Flops, Shorts und Trägershirt waren bei der aktuellen Wetterlage ungefähr so passend wie ein Wintermantel an einem heißen Julitag. Ich war mir ziemlich sicher, dass Claudia Kleinert gestern bei ihrer Wetterprognose für die kommenden Tage nicht von Minusgraden in Hamburg gesprochen hatte. Ich würde also schnell diese Bäckerei finden und dann nichts wie zurück nach Hause flitzen. Verspürte ich doch wenig Lust, meinen so gelungenen Urlaub bei der Kalten Alten durch eine Blasenentzündung noch zu toppen.
Unendliche viele Geschäfte reihten sich auf beiden Seiten der Straße dicht an dicht. Steril-modern aussehende Häuser mit großen Fensterscheiben thronten neben kleinen Fachwerkhäuschen mit schiefen, moosbewachsenen Dächern. Die Bäckerei befand sich in einem Gebäude aus dunkelbraunem Holz. Es sah aus wie ein irischer Pub, klein und unscheinbar und eingeklemmt zwischen einem hohen roten Backsteinhaus, das ein schimmerndes, hellblaues Schild als „Elektro-Ecke“ auswies, und einem riesigen weißen Gebäude mit goldener Fassade, steinernen Säulen, einer runden Kuppel und einem imposanten Eingangstor auf dem mit großen Buchstaben „Haben Sie Zeit?“ stand.
Ich beeilte mich, auf die andere Straßenseite zu kommen und betrat die Bäckerei. Hier war es warm und roch wunderbar nach frisch Gebackenem. Zitternd versuchte ich die Kälte aus meinem Körper zu schütteln und schimpfte leise.
„Scheißwetter!“
Eine alte Frau mit hellblau gefärbten Haaren drehte sich um. Theatralisch schlug sie die Hände über dem Kopf zusammen, als sie mich sah und schrillte „Ach du meine Güte, Kindchen, du holst dir ja den Tod. Du kannst doch mitten im Winter nicht so herumlaufen. Was haben sich deine Eltern nur dabei gedacht? Herrjeh, herrjeh.“.
Die Tonlage schmerzte in meinen Ohren. Ich trat einen Schritt zurück. Mitten im Winter? So fühlte ich mich allerdings, an diesem kalten Tag in dieser kalten Stadt.
„Ich bin siebzehn, ich ziehe mich selber an.“
Wie unpassend. Ich bereute augenblicklich meine Unfreundlichkeit. Doch die alte Blauhaarige war schwerhörig oder Schlimmeres gewöhnt. Sie ignorierte meinen Kommentar, zog ihren Mantel aus, eine Art Poncho aus dicker roter Wolle mit Kapuze, und warf mir, noch bevor ich protestierten konnte, das Teil über den Kopf.
„Aber Sie können doch nicht, das ist wirklich nett von Ihnen, aber es ist doch nicht nötig, dass...“
„Schon gut, Kindchen.“
Sie winkte ab, packte ihre Brötchentüte in einen kleinen flachen Rucksack aus dickem gelbem Plastik und verließ fröhlich pfeifend den Laden. Ich sah an mir herunter. Der Poncho war kratzig, feuerwehrrot und reichte mir noch nicht einmal bis über den Po. Er roch unangenehm und wenn ich auch nur daran dachte daran zu denken, dass eine fremde Person ihn getragen hatte, deren Schweiß, Haare, und Haarschuppen sich nun in seinen dichten faserigen Wollmaschen befanden, bekam ich Ausschlag am ganzen Körper. Ekel kämpfte gegen Kältezittern und verlor.
Jemand stieß mir von hinten leicht in die Rippen. Ein Junge, etwas größer als ich, mit stacheligen blonden Haaren und einem netten Lachen im Gesicht.
„Du bist die Nächste, Rotkäppchen.“
Und tatsächlich, die Schlange vor mir hatte sich aufgelöst. Eine korpulente kleine Verkäuferin mit weißer Schürze und ebenso weißen Haaren lächelte mich geduldig an. Sie stand vor einer großen Glaswand in der Mitte des Ladens.
„Zwei Croissants und eine Brezel, bitte.“
Die Frau sah an mir hoch. Lächelte immer noch, jetzt etwas verunsichert. Mit leiser Stimme fragte sie „Entschuldigen Sie, was möchten Sie haben?“
„Ich hätte gerne zwei Croissants und eine Brezel, bitte.“, wiederholte ich ein wenig zu laut. Die Frau blickte sich fragend um. Keine ihrer Kolleginnen hatte meine Bestellung gehört. Entschuldigend hob sie die Hände.
„Das tut mir leid, so etwas führen wir leider nicht. Dies ist ein Bäckerladen. Hier in der Vitrine sehen Sie unsere Ware.“
Die Glaswand hinter ihr bestand aus durchsichtigen Würfeln gefüllt mit Brötchen und Broten in verschiedenen Größen, Formen und sogar Farben. Ich zeigte auf einen Würfel links unten in dem ein hellbraunes hörnchenähnliches Brötchen lag. Mein Tag hatte schon schlecht genug begonnen, da wollte ich dem blassgrünen Brot in dem Würfel daneben oder dem dunkelblauen kuchenartigen Gebäck obendrüber nicht die Chance geben, ihn völlig zu versauen.
„In Ordnung, dann nehme ich drei solche.“
Die Verkäuferin nickte, und rief über die Schulter, in einer Lautstärke, die ich ihr nicht zugetraut hätte „Drei Mal die „H2“!“
Zu mir gewandt fügte sie mit ihrer, eigens für die Kunden reservierten, Mäuschenstimme hinzu „Die Coffbacks können Sie dort hinten abholen und bezahlen. Der Nächste bitte.“.
„Dort hinten“ war der hintere Teil des Ladens. Ich lief um die Glaswand herum und schnappte nach Luft. Die war schwer vom Geruch frischgebackener Brötchen und heiß. Fünf Männer standen dort vor einer Reihe großer Öfen, die an der Wand hingen. Sie trugen braune Hosen, sonst nichts. Einer von Ihnen winkte mich heran.
„H2?“
Ich nickte. Er öffnete eine der vielen Schubladen einer langen Kommode, die unter den Öfen stand. Kühler Dampf stieg auf, als er einen hellen Teigklumpen zum Vorschein brachte. Innerhalb von Sekunden hatte er den in drei gleichgroße Stücke geteilt, daraus drei exakt identisch aussehenden Hörnchen geformt und diese in einen der großen Öfen geschoben. Dem Mann liefen Schweißperlen über die Stirn, den nackten Oberkörper und den leichten Bauchansatz. Ich schluckte und versuchte meine Aufmerksamkeit weg zu lenken von den glänzenden, feuchten, unbehandschuhten Händen. Wenige Sekunden später holte er die nun braungebrannten Hörnchen mit einer Zange wieder heraus. Er ließ sie in eine von innen beschichtete Tüte fallen, die er mir unter den Arm schob, und hielt seine Hand auf.
„Das macht jenau sechs Kram, bidde.“
Sechs was? Die Hitze wurde unerträglich. Meine Beine waren ebenso rot wie der Poncho und meine Arme klebten unter der Wolle. Ich holte meinen Geldbeutel aus der Gesäßtasche und zählte sechs Euro ab. Die saftigen Preise interessierten mich in diesem Moment nur am Rande. Ich reichte dem schwitzenden Nackten das Geld und drehte mich um. Seine klebrige Hand hielt meinen Arm fest.
„Moment. Wolln Se mir vereiern? Wir nehmen hier keene andre Währung. Sechs Kram habbich jesacht.“
„Kram? Was wollen Sie von mir?“
Angeekelt befreite ich meinen Arm aus seinem Griff, schwitzig, schmierig. Ich verstand überhaupt nichts, wollte nur raus hier, aus dem Fegefeuer. Kurz zog ich in Erwägung, mich einfach umzudrehen und den Laden zu verlassen. War ich in einer Fernsehsendung gelandet, wo sie Leute veräppelten und dann deren dämliches Gesicht über die Bildschirme von ganz Deutschland flimmerte? Noch bevor ich über die am wenigsten peinliche Vorgehensweise in diesem, zugegeben unwahrscheinlichen Fall nachdenken konnte, wurde ich gerettet. Der blonde Junge stand hinter mir.
„Das geht auf mich.“
Er drückte dem Halbnackten drei Münzen in seine glitschigen Hände, zwinkerte mir zu und verließ das Geschäft. Einige Sekunden lang starrte ich seiner engen Jeans und der grünen Kapuzenjacke hinterher. Dann floh ich aus dem Laden, stolperte auf die Straße.
Um ein Haar wäre ich von etwas überfahren worden, das einem überdimensionalen Kinderwagen aus der Zukunft glich. Tiefer gelegt, mit großen, gefederten Rädern, metallisch glänzender Verkleidung und einem Verdeck aus Plexiglas. Die Frau, die ihn schob, hatte blonde hochgesteckte Haare und trug einen langen weißen Mantel.
„Jetzt schlaf endlich, Schatz.“ sagte sie und lächelte dem Mann zu, der in dem Wagen lag. Dieser seufzte, steckte sein bananenförmiges Telefon in die Tasche, drehte sich zur Seite und schloss die Augen.
Ich starrte den beiden hinterher, schüttelte den Kopf. Das war doch nicht normal. Das alles nicht. Die Straße, der Spielplatz, die Menschen, die merkwürdige Kleidung, diese skurrile Bäckerei und Männer, die von ihren Frauen im Kinderwagen kutschiert wurden. Es war, als wäre ich alleine in einem fremden Land. Nur, dass man hier dieselbe Sprache sprach. Ich stand lange mit der warmen Brötchentüte unter dem Arm vor dem Laden. Die Luft war kalt und wunderbar. Ich lehnte mich an die Hauswand, atmete ein paar Mal tief durch, um die schwitzige Bäckereiluft aus meinen Lungen zu pusten.
In meinem Ärger über die Abschiebung ins Tanten-Exil war das Wort „Hamburg“ ein Rotes Tuch für mich gewesen und ich hatte mich nicht über die Stadt informiert, in der ich die Sommerferien verplempern sollte. Trotzdem war ich mir sicher, dass auch Ole von Beust von Euro redete, wenn es um die Defizite in Hamburgs Finanzhaushalt ging, nicht von Kram. Es gab keine vernünftige Erklärung für all das hier, oder sie wollte mir nicht einfallen. Eine Idee allerdings, war mir schon beim ersten Mal in den Sinn gekommen, als ich den bunten Spielplatz gesehen hatte. Gab es in Hamburg einen Vergnügungspark? Ich wusste es nicht. Wenn diese merkwürdigen Menschen nun Statisten waren, die den Besuchern eine verrückte Welt vorspielten? Ich hatte kein Eingangstor passiert und natürlich auch keinen Eintritt bezahlt. Also beschloss ich, einen Infostand oder einen offiziellen Ausgang zu finden, um dort den roten Wollponcho wieder abzugeben. Ein Blick zum Himmel brachte mich schnell von diesem Vorhaben ab. Dunkle Wolken zogen heran und ein eiskalter Wind pfiff um meine nackten Beine. Sekunden später begann es zu schneien. Große dicke Flocken, die sich auf die rote Wolle meines Leihponchos setzten. Ich lief los, schlüpfte zwischen der weißen Fabrikhalle mit dem Flachdach und dem niedlichen, von Efeu bewachsenen Hexenhäuschen hindurch, auf die Straße in der Janes Haus stand. Wieder war sie menschenleer, die Luft immer noch eiskalt, meine Lungen schmerzten. Wie konnte das sein? Mitten im Juli? Jane würde einiges zu erklären haben.
Meine Finger waren steif, als ich den Schlüssel in das Türschloss steckte. Nach mehreren Versuchen ließ er sich drehen. Ich stieß die Tür auf und stolperte in die Küche. Die Schaumgummisohlen meiner Flip Flops waren hart gefroren und machten klackende Geräusche auf dem dunklen Steinboden. Jane saß noch immer am Küchentisch. Sie blickte auf und seufzte. Ich war überrascht, wie sehr sie mich an meine Mutter erinnerte, als sie deren Lieblingssatz benutzte.
„Ich hab's dir ja gesagt.“
Ohne ein weiteres Wort stand sie auf und schlurfte an mir vorbei, in lila-schwarz-karierten Filzpantoffeln, die Treppe hinauf. Eine Minute später kam sie wieder herunter. Sie legte mir einen schweren dunkelroten Bademantel um, drückte mich auf einen Stuhl und, noch ehe ich mich wundern oder gar beschweren konnte, kniete sie vor mir. Sie riss mir die Flip Flops von den bläulich angelaufenen Zehen und zwang meine Füße in ein paar dicke graue Wollsocken, die sie über meine nackten Beine bis zu den Knien hoch zog. Es schmerzte, als die Wärme das Blut zurück in meine Zehen trieb.
Jane nahm mir die Brötchentüte aus der Hand, öffnete sie, steckte ihre Nase hinein und schnüffelte wie ein Jagdhund, der einem besonderen Leckerbissen auf der Spur ist.
„Hmmm, Coffbacks. Darf ich?“
Ohne meine Antwort abzuwarten nahm sie sich eines der Hörnchen und legte mir die beiden anderen auf den Teller. Ich nickte ergeben, griff ein Messer, schnitt beide in der Mitte durch. Sie waren noch warm. Ein leichter Kaffeegeruch strömte durch die Küche und als ich in eines der Brötchen biss, hatte ich das wunderbare Gefühl einen Schluck frischgebrühten Kaffees gekostet zu haben. Das Coffback hatte eine harte Kruste, war innen weich, fast schaumig und zerging auf der Zunge. Ich lehnte mich zurück und schloss die Augen. Eine Minute gönnte ich mir. Dann beschloss ich, Janes vermeintlich gute Laune zu nutzen, um ein paar Antworten zu bekommen.
„Jane, was war das?“
„Das? Das sind Coffbacks und zwar besonders köstliche. Frag nicht so dumm. Die hast du doch gekauft.“
Ich seufzte. Das war es wohl schon gewesen, mit der guten Laune.
„Nicht die Brötchen. Das Ganze. Ich meine, die merkwürdige Straße, diese Leute, mit ihren komischen Klamotten, die Bäckerei. So was habe ich noch nie gesehen. Und dann das Wetter. Frost im Juli? Das gibt's doch gar nicht. Gestern waren es 38° Grad im Schatten. Da hätte ich alles gegeben für einen kühlen Cocktail und einen halbnackten Südländer, der mir mit einem Palmwedel Luft zu fächert. Heute sind die einzigen Halbnackten denen ich begegne übergewichtige Angestellte einer Bäckerei. Und draußen herrschen Temperaturen, bei denen selbst Reinhold Messner und sein Yeti mit den Zähnen klappern würden.“
„Jetzt übertreibe mal nicht, Linda. 2°C brechen wohl kaum den Kälterekord. Und hättest du auf mich gehört, als ich dir geraten habe, etwas Wärmeres anzuziehen, dann hättest du dir auch nicht die Zehen abgefroren.“
Nicht mit einem Wort hatte sie heute Morgen etwas von wärmerer Kleidung gesagt. Ich setzte zum Protest an, schüttelte den Kopf, wollte mich nicht mit Nebensächlichkeiten aufhalten.
„Darum geht es doch überhaupt nicht. Wie kann es sein, dass sich die Straße gestern noch wie eine heiße Herdplatte angefühlt hat und ich mir heute Frostbeulen hole?“
„Es sind immer noch 38°C draußen, nur eben nicht Nebenan. Wärst du zum Bäcker am Bahnhof gegangen, würdest du jetzt nicht hier in meinem besten Morgenmantel und den Wandersocken von Opa Gerd sitzen.“
Bei der Vorstellung die Socken von einem Opa Gerd an den Füßen zu tragen, begannen meine Beine zu jucken. Ich gab dem Kratzbedürfnis nicht nach.
„Was meinst du damit? Nebenan? Wenn es hier Minusgrade hat, wird wohl zwei Kilometer weiter am Bahnhof kein Hitzefrei ausgerufen.“
Jane musterte mich lange. Sie sagte nichts und ich konnte ihren Blick nicht deuten. Fragend, grübelnd, etwas mitleidig? Dann seufzte sie.
„Sie hat dir nichts erzählt, richtig? Gar nichts.“
„Wer hat mir was nicht erzählt?“
So langsam war ich mit meiner Geduld, wenn ich jemals welche besessen hatte, am Ende.
„Würdest du mir bitte sagen was los ist? Warum schaust du mich so merkwürdig an?“
Jane seufzte erneut. Sie stand auf, holte eine Kanne frisch gekochten Tees und zwei riesige runde Tontassen, goss den Tee ein,
„Holunder-Senf-Tee“
und setzte sich mir gegenüber an den quadratischen Holztisch.
„Deine Mutter hat dir also nicht erzählt, warum du hier bist. Warum gerade jetzt. Sie hat dir nichts von Nebenan erzählt.“
Keine drei Fragen, drei Feststellungen.
„Alles Gute zum Geburtstag, übrigens.“
„Danke“, murmelte ich automatisch, verwirrt.
„Ich war wohl ein bisschen übellaunig, heute Morgen. War eben nicht sonderlich erfreut, dass deine Mutter mir die Aufgabe aufs Auge gedrückt hat.“
Ein bisschen übellaunig war stark untertrieben.
„So, naja, hat sie mir also die ganze Arbeit überlassen. Hätte dich ja ruhig darauf vorbereiten können. Typisch. Hast du den Tee schon ausgetrunken? Magst du noch was haben? Das hier wird länger dauern.“
Der Tee schmeckte besser als er klang und vor allem war er warm, ich nickte. Mehr als nur ein bisschen verwirrt. Sie goss meine Tasse bis zum Rand voll, ihre ebenso, und ließ sich erneut mir gegenüber auf einen leicht futuristisch aussehenden, weißen Plastikstuhl plumpsen.
„Es ist so. Wir sind Springer.“

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Texte: Die Rechte für Text und Bilder liegen bei mir Dies sind vorerst nur der Prolog und die ersten zwei Kapitel von 19.
Tag der Veröffentlichung: 09.12.2010

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