Ihr Atem geht schnell. Jede Faser ihres Körpers ist bis zum Zerreißen gespannt. Wenn sich diese Tür öffnet, dann bedeutet das ihre letzte Chance auf Freiheit. Sie wird abwarten, bis sie Schritte hört und sich dann bereitmachen. Zur Flucht aus diesem dunklen, kalten und einsamen Käfig. Zurück ins Licht der Sonne. Zurück in ihr Leben. Die Hoffnung ist wie ein Stromschlag in ihren Gliedern und ein Kribbeln in ihrem Bauch. Ein Gefühl, dass sie lange nicht gespürt hat. Doch die Erkenntnis, dass es draußen kalt und dunkel sein könnte, verbreitet sich genauso schnell wie die Hoffnung und genauso schnell verfliegt ihr Glücksmoment. Das leise Tropfen des Wassers hinter ihr macht sie langsam schläfrig. Diese Hütte, in der sie gefangen gehalten wird, ist ein Drecksloch. Die Feuchtigkeit bahnt sich ihren Weg durch jede Ritze an Decke und Wänden. Die Pfütze hinter ihr dient ihr als Waschgelegenheit, wenn sie mal wieder verschwitzt von zahlreichen Alpträumen aufwacht. Das monotone Geräusch mit dem sich die Pfütze von Tag zu Tag mehr füllt, trug anfangs noch dazu bei ihr beim Einschlafen zu helfen, doch jetzt hat es zusätzlich noch die Fähigkeit, sie in wachem Zustand völlig verrückt zu machen.
Die Erinnerungen an eine bessere Zeit überkommen sie, wenn sie es am wenigsten erwartet. Genau wie der Schlaf. Und als sie das Knarren der Tür hört und die Schuhe sieht, die schnell näherkommen, da weiß sie, dass es vorbei ist …
*
„Es tut mir so Leid, Schatzi.“
Während ich genervt die Augen verdrehe blickt Maggy ihn an. Er ist ihr Mann und normalerweise sollte sie wissen, dass er sich oft einen Scherz erlaubt und ihr im nächsten Moment eine Tafel Schokolade vors Gesicht halten wird, die er so toll fand und unbedingt gegen den Willen seiner Frau kaufen musste. Aber dafür sind 3 Monate Ehe wahrscheinlich doch eine viel zu kurze Zeit.
Ich hänge meinen Mantel an die Garderobe und dann bemerke ich, dass etwas anders ist als sonst. Weil ich nicht darauf komme, was es ist, zucke ich mit den Schultern und widme mich meinen Schuhen. Als ich gerade den Zweiten aus habe und meine Mutter schluchzend in die Arme ihres Mannes fällt, da weiß ich, was fehlt: Meine Katze.
Ich drehe mich um und mir wird klar, dass er nicht miauend ankommen wird um mir um die Beine zu laufen und mich zu begrüßen. Nein, er wird nicht wiederkommen, weil er tot ist.
„Franzi, es tut mir wirklich Leid. Ich konnte nichts tun. Er ist gesprungen und sein Kopf ist gegen den Tisch geprallt. Dann hat er sich nicht mehr gerührt.“
Ich verstehe nicht, was er mir sagen will.
„Wo ist er?“, frage ich atemlos, obwohl ich doch gar nicht gerannt bin.
Günters Blick gleitet zu Boden und ich sehe wie sein Gesicht zuckt. Dann schiebe ich ihn beiseite und gehe ins Wohnzimmer. Mein kleiner 5 Monate alter Kater liegt am Boden. Seine Augen weit aufgerissen. Die Pfoten liegen komisch platt da, so als würden sie gar nicht zu ihm gehören. Ich knie mich neben ihn und weiß nicht, was ich tun soll, außer zu weinen. Ich nehme seinen kleinen Körper und drücke ihn verzweifelt an mich. Dann sehe ich ihm in die Augen, doch anstatt das unendliche Blau zu erblicken, sehe ich Günter wie er nach meinem Hals greift und zudrückt. Panisch schreie ich nach Hilfe, doch meine Stimme hört sich wie ein schwaches Krächzen an und dann höre ich Günter: „Ich hab dir gesagt, dass ich stärker bin. Du wirst mir helfen, damit sie mich nie verlässt und ich der Einzige in ihrem Leben bin! Sie wird traurig sein, doch ich werde sie trösten können und das wird uns unzertrennlich machen.“
Ich wehre mich, aber ich komme nicht an ihn ran. Als der Schmerz unerträglich wird und ich merke, wie mein Körper mir langsam nicht mehr gehorcht, spüre ich etwas auf meiner Schulter.
„Franzi!“
Ich löse meinen Blick von Günters hasserfülltem Blick und seinen zuckenden Mundwinkeln.
Das Etwas auf meiner Schulter ist die Hand desjenigen, der gerade versucht hat, mich umzubringen. Als ich in seine Augen sehe, da weiß ich, dass das Zucken vorhin keine Trauer sondern versteckte Freude war. Und dass seine Augen nicht leer sind, sondern voll von abartigen Gedanken und Zukunftsvisionen.
„Franzi? Was ist mit dir?“
Er hätte Schauspieler werden sollen. Die Sorge in seiner Stimme klingt so ehrlich, dass ich überlege, ihm zu glauben und, genau wie meine Mutter, schluchzend in seine Arme zu fallen.
Aber dann holen mich die schlimmen Bilder, die ich einen Moment zuvor gesehen habe, zurück in die Realität. Er sorgt sich nicht. Er ist nicht nett. Er ist nicht fürsorglich und er konnte mich wahrscheinlich nie leiden. Und vielleicht wäre ich die Nächste gewesen. Er hat meine Katze auf dem Gewissen, dessen bin ich mir sicher. Obwohl es nur eine Vision war, hat sie sich real angefühlt. Und ich weiß, dass sie es für meine Katze auch gewesen war. Dieser Mann, der da vor mir kniet und mich mitleidig ansieht, ist ein Mörder.
*
„Du weißt wie es läuft, Mädchen.“
Der Mann trägt einen schwarzen Anzug, unter dem der Kragen eines weißen Hemdes hervor lugt. Seine schwarzen Lackschuhe sehen aus wie neu, was angesichts des Drecks in den Zimmern der Hütte ein Wunder ist. Der Raum in den man sie gebracht hat, enthält lediglich einen kleinen Tisch mit drei Stühlen und eine Leichenliege, wie sie den metallenen, fahrbaren Untersatz nennt, auf dem die Objekte liegen. Dieses Mal ist es ein Mann mittleren Alters mit dunklen Haaren. Sein toter Blick geht starr zur Decke von der eine Neonröhre grelles, kaltes Licht abstrahlt. Der Rest seines Körpers ist mit einer weißen Decke verhüllt worden, so dass sie nur sein blasses Gesicht sehen kann. Ein zweiter Mann betritt den Raum und setzt sich ohne sie eines Blickes zu würdigen auf einen der drei Stühle. Der erste Mann tut es ihm nach. Sie weiß, was sie zu tun hat, dennoch ist sie nervös. Trotz der Kälte die in diesem Raum herrscht, schwitzt sie und als sie mit ihrer Zunge die trockenen aufgesprungenen Lippen mit Feuchtigkeit benetzen will, schmeckt sie den salzigen Geschmack von Schweiß, der sich über ihrer Oberlippe gesammelt hat. Mit dem Handrücken wischt sie sich über ihren Mund und die verklebte Stirn, dann sieht sie zu den Männern.
„Ich will es nicht.“
Ihre Stimme ist zittrig und vermittelt nicht den Eindruck, den sie sollte. Sie klingt hilflos und verletzlich, dabei ist sie das schon lange nicht mehr. Anfangs brach sie zittern zusammen wenn sie die Leichen erblickte, doch mittlerweile hatte man ihr seelisch genug Schaden zugefügt, und sie konnte eine Mauer um sich herum bauen. Diese verhinderte, dass sie von den toten Menschen träumte und dass deren ausdruckslose Augen sie verfolgten, wohin sie auch ging.
Zum ersten Mal sah der zweite Mann, seiner Kleidung nach zu urteilen ein Doktor, auf. Er hatte ein Klemmbrett vor sich auf dem Tisch liegen und kritzelte etwas in ein Formular. Wüsste sie nicht, was für ein Widerling sich hinter seinem unschuldigen Gesicht verbirgt, würde sie ihn wahrscheinlich nett und attraktiv finden. Denn tatsächlich sieht er gut aus. Seine blonden Haare sind etwas länger und er trägt sie ungeordnet ins Gesicht, so dass sie sein rechtes Auge teilweise verbergen. Sein Alter ist schwer zu schätzen, aber er wird nicht sehr viel älter sein als sie. Vielleicht 20 Jahre, vielleicht aber auch 25. Sie weiß es nicht.
„Du weißt, dass du es tun musst.“ Sie hat ihn noch nie reden gehört, deswegen ist sie überrascht wie angenehm seine Stimme klingt. Sie jagt ihr einen angehnehmen Schauer über den Rücken und sie entspannt sich. Zum ersten Mal seit langem kann sie rational denken. Die werden sie nicht ewig hier behalten. Irgendwann wird sie frei sein. Aber was bedeutet Freiheit schon? In ihren Fall auch Hilflosigkeit und alleine sein, denn sie wird wohl kaum vor ihrem Haus abgesetzt werden.
„Wie lang muss ich das noch machen?“ Als sie das fragt sieht sie den Männern fest in die Augen und sie weiß, was sie zu tun hat. Die Antwort die dann kommt, lässt den Funken Hoffnung sofort wieder erlöschen: „Bis du stirbst.“
*
Die nächsten Tage und Wochen sind eine Qual. Die Gewissheit, dass mein Kater tot ist und der Mann meiner Mutter ein Mörder, verfolgt mich täglich. Stündlich. Minütlich.
Wieso sage ich es ihr nicht einfach? Ja, gute Frage.
Würde sie mir glauben? Nein, denn das würde keiner.
Welche Beweise habe ich denn? Keine. Ich habe in den Augen einer Katze gesehen, wie sie gestorben – pardon – ermordet wurde. Das ist … nicht normal. Unmöglich. Aber es ist mir passiert. Und doch, ich behalte es für mich. Die Wahrheit bleibt ein Geheimnis zwischen meinem Kater, Günter und mir.
Wann immer wir zu dritt sind, bin ich still. Ich sehe ihn nicht an oder rede mit ihm. Meine Mutter tut mir Leid. Verliebt in einen Mörder. Verheiratet mit einem Psychopaten, der darauf versessen ist, geliebt zu werden. Mit allen Mitteln.
Meine Mutter schiebt mein merkwürdiges, abweisendes Verhalten Günter gegenüber, die schlechten Noten und den Rückzug aus dem „heilen Familienleben“ auf den Tod meines Katers.
So wirklich leiden konnte ich Günter eigentlich nie, doch seit jenem Tag, an dem Maggy und ich vom Einkaufen kamen und er gestand, was vermeintlich passiert war, hasse ich ihn aus tiefstem Herzen.
Als ich die Wohnungstür aufgeschlossen habe und mein Mantel wie damals an der Garderobe hängt, höre ich die laute durchdringende Stimme von Günter.
„Wieso liebst du mich nicht so, wie ich dich?“
„Günter, ich liebe dich.“
Ich erstarre, als er zu schreien beginnt: „Liebe mich, Maggy! Liebe mich!“
Was darauf folgt, lässt mir das Blut in den Adern gefrieren. Ein Knall und dann die leise, wimmernde und verzweifelte Stimme meiner Mutter. „Günter, Günter …“ Immer wieder.
Ich renne ins Wohnzimmer.
Dieses Mal ist es er, der erstarrt.
„Franzi.“ Seine Stimme klingt wie immer, dennoch erkenne ich etwas in ihr, was ich vorher nicht erkannt habe: Diese Freundlichkeit. Übertrieben. Als würde er mich in eine Falle locken wollen.
Mein Blick gleitet von seinem Gesicht über seine Arme zu seinen Händen, die fest um die Handgelenke meiner Mutter geschlossen sind. Er kniet halb über ihr auf dem Sofa. Die schrecklichen Bilder aus meiner Vision kehren zurück, real wie damals, und dann sage ich: „Ich weiß, was du getan hast.“
*
Sie geht eine dunkle Straße entlang. Das Handy in ihrer Tasche klingelt. Mit zittrigen Fingern fischt sie es aus ihrer Hosentasche und drückt auf den grünen Hörer. „Ja?“
Ihre Stimme klingt gehetzt und sie erschrickt selbst darüber. Sie hört Schritte. Leise. Aber sie sind da.
„Ich bin hier, Mr. Sullivan.“
Als sie sich umdreht erblickt sie hinter sich einen Mann in schwarzem Anzug und Lackschuhen. Sie schreit und lässt das Handy fallen. Der Mann klappt sein Handy zu und macht einen Schritt auf sie zu.
„Wir wissen, dass sie alleine sind. Und wir wissen, dass nie jemand herausfinden wird, was passiert ist.“
Ein stechender Schmerz lässt sie aufschreien.
„Was ist mit dir?“ Es ist der Doktor. Er kniet über ihr und hält ihr ein Glas Wasser hin. Sie greift danach und trinkt es gierig aus. Es ist ihre Belohnung, wenn sie etwas gesehen hat. Mal ein Glas Wasser, mal ein Brot oder ein Stück Schokolade. Langsam richtet sie sich auf und der Doktor geht wieder zu seinem Klemmbrett.
Der Mann im Anzug sieht sie neugierig an, und ihr bleibt fast das Herz stehen. „Wer war es?“ Die eisige Stimme des Mannes lässt sie frösteln und ihr jagt nur ein einziger Gedanke durch den Kopf: Sie.
*
Maggys Blick gleitet abwechselnd von Günter zu mir. Hin und her, als würden wir uns beschimpfen, dabei sagen wir nichts. Ich sehe ihn an und er erfährt alles, was er wissen muss. Dass ich ihn hasse. Dass ich Bescheid weiß, auch wenn es ihm unerklärlich erscheinen mag, wie ich es wissen kann.
„Lass sie los. Ich rufe die Polizei!“ Ich weiß nicht, woher die plötzliche Entschlossenheit kommt, aber das ist mir ehrlich gesagt auch egal. Hauptsache sie ist da.
Als Günter noch immer nicht losgelassen hat, mache ich einen Schritt nach vorne und greife nach dem Telefon auf dem Sideboard neben der Tür, dann wähle ich die 110. Bevor ich den grünen Hörer drücken kann, ertönt Günters kalte Stimme. Sein wahres Ich. „Ich würde das an deiner Stelle lassen.“
„Sonst?“
„Sonst leidet deine liebe Mutter darunter.“ Um seine Kraft und Überlegenheit zu demonstrieren, drückt er fester zu. Die Knöchel an seiner Hand treten weiß hervor und Maggy jammert, doch er lässt nicht locker.
„Es tut mir Leid, Mum, aber er hat etwas Unverzeihliches getan.“
Mit diesen Worten drücke ich endgültig auf die Taste, die meiner Mutter und mir das Leben retten könnte. Das Telefon tutet kurz, dann meldet sich eine Männerstimme. Ich erzähle, dass jemand einen Mord begangen hat und meine Mutter bedroht.
Ich soll mich ruhig verhalten, die Polizei sei auf dem Weg. Das ist alles, was sie mir sagen. Niemand bleibt in der Leitung um mir zu helfen. Vielleicht hätte ich auf die Frage, ob ich auch bedroht werde lieber mit „Ja“ antworten sollen.
Die Polizei zu rufen war richtig, das rede ich mir ein, während Günters Knochen immer weißer hervortreten und sein Lachen stetig lauter wird. Ich greife mir das Stativ meiner Kamera, welches ich eigentlich gestern Abend hätte wegräumen sollen. Es könnte Leben retten.
Ich bin kurz davor zu schlagen, als eine leise Stimme meinen Namen sagt. Es ist meine Mutter. In ihrem Blick liegt so viel Schmerz, physisch und psychisch.
Mein Vater hatte uns verlassen, als ich 8 Jahre alt war. Irgendwann lernte sie Günter kennen, und aus anfänglicher Freundschaft wurde Liebe.
Er trug sie auf Händen. Das war auch der Grund, weshalb ich nie gemotzt hatte, nie auch nur ein Wort des Protestes geäußert hatte: Er tat ihr gut. Sie lachte, wie sie lange nicht gelacht hatte. Es kränkte mich ein bisschen, weil auch ich sie oft zum Lachen gebracht hatte, aber es war anscheinend nie so befreiend wie mit Günter. Dennoch schwieg ich. Ich dachte er trüge sie auf Händen, weil er sie liebte, aber dem war wahrscheinlich nicht so.
Im Nachhinein frage ich mich, ob seine ständige Anwesenheit und sein Herumschwirren um meine Mutter als Klammern bezeichnet werden kann. War es Verlustangst, die ihn so weit trieb, sich abhängig von ihr zu machen indem er ihr nie widersprach und jeden Männerabend mit Freunden fünf Mal von ihr absegnen ließ? Hätte ich merken sollen, dass seine krankhaften Versuche, jedes Wochenende einen gemeinsamen Familienausflug zu unternehmen unnormal waren? Oder diese andauernden Entschuldigungen, wann immer er etwas getan hatte, was meiner Mutter nicht gefallen könnte. Hätte ich es wissen müssen? Ich, als nüchterner, unverliebter und sehfähiger Betrachter? Meine Mutter trifft keine Schuld. Sie war blind vor Liebe. Und ich denke, dass sie es auch noch immer ist.
Meine Hand schließt sich fest um das Stativ und seine um die Handgelenke meiner Mutter. Dann weicht er zur Seite, hält sich den Kopf und schreit.
*
„Erzähl es uns.“ Der Doktor greift nach seinem Stift und sieht sie erwartungsvoll an.
„Der Mann da ist gelaufen. Alleine. Eine dunkle Straße entlang. Sein Handy hat geklingelt und er ist rangegangen. Ihm ist jemand gefolgt. Er hat sich umgedreht und dann stand er da. Er hat ihn erstochen.“
„Wo genau ist der Einstich?“ Dass der Doktor nüchtern bleiben kann angesichts eines Mordes ist nichts Neues, aber es wundert sie trotzdem jedes Mal wieder.
„Direkt ins Herz.“
Er nickt zufrieden und sie weiß, dass es ein Test war. Man vertraut ihr nicht. Obwohl sie keinen Grund hat zu lügen. Sie würde sich eine solche Geschichte nicht ausdenken können. Sie weiß, was als nächstes kommt. Die Frage nach dem Mörder. Und sie weiß, dass die Antwort niemandem gefallen wird. Aber sie weiß nicht, wieso der Anzugträger angeordnet hatte, sie ermitteln zu lassen, wenn er selbst der Mörder war. Sie beschließt, dass es ihr egal sein kann. Es ist sein Problem. Jeder hat nun mal seine eigenen Sorgen um die er sich kümmern muss, und das hier ist eindeutig nicht ihre.
„Er war es.“ Ihr Finger zeigt in die Richtung des Mörders. Der Doktor reißt überrascht die Augen auf und steht rasch von seinem Stuhl auf. „Sie?“, fragt er, doch das hätte er sich sparen können. Der Mann im Anzug lacht auf und sieht mich an: „Gratulation! Du bist wirklich gut, Mädchen. Es stimmt also. Du kannst den Mörder von Menschen herausfinden. Aber wie machst du das? Es ist faszinierend!“
„Gehen sie jetzt bitte!“, der Doktor ist nervös und zeigt in Richtung Tür. „Sie hat getan, was sie wollten. Gehen sie und wir belassen es dabei.“
„Ach, aber ich habe nicht vor zu gehen. Ich möchte sie ihnen abkaufen, Doktor. Ich finde sie können ihr Talent nicht nur für sich alleine beanspruchen. Es steht der Regierung zu. Mein Name ist Rehmer und ich komme von der Regierung. Ich bin Chef eines geheimen Ermittlungskommandos namens „EDUG“. Ermittlungen Deutschlands im Untergrund. Wir untersuchen den Tod von Menschen, deren Umkommen Rätsel aufweist.“
„Wieso musste der Mann sterben?“ Sie sieht Rehmer an und er grinst zufrieden. Ihr Interesse ist geweckt, und das weiß er. „Er hatte jemand anderes umgebracht. Einen Unschuldigen. Und nun dient er eben noch ein letztes Mal seinem Land. Ein Test, ob es wahr ist, dass es ein Mädchen gibt, was die Fähigkeiten hat, Mörder anhand der Leiche zu entlarven.“
„Es ist wahr. Aber wenn sie jetzt nicht gehen, dann werden sie eben mit Gewalt nach draußen befördert. Sie wird nicht verkauft. Egal wie viel sie bieten.“ Der Doktor greift in die Tasche seines weißen Kittels und tippt etwas auf seinem Handy ein. Schon Sekunden später öffnet sich die Tür und zwei große bewaffnet Männer treten ein.
Der Anzugträger Rehmer hebt beschwichtigend die Hände und bevor er den Raum freiwillig verlässt, sagt er an sie gewandt: „Du wirst hier schlecht behandelt. Wir werden das hier melden und dann wirst du sowieso zu uns kommen. Diese Menschen hier lassen dich hungern und sie werden dafür mit ihrem Leben bezahlen.“
Sie sieht in Richtung des Doktors, der das Klemmbrett fest an sich gedrückt hat und sie ansieht. Er ist kein böser Mensch. Er tut widerliche Dinge, aber dafür muss es Gründe geben. Er würde sie nicht hungern lassen, so wie der Boss. Seine blauen Augen sind nicht die Augen eines Lügners oder Verbrechers.
„Ich werde nur unter einer Bedingung zu ihnen kommen.“
Rehmer lacht: „Du hast keine Wahl, wenn wir dich mit uns nehmen.“
„Doch, der Tod ist eine Alternative.“ Er weiß was sie damit meint. „Was ist deine Bedingung?“
„Der Doktor wird verschont.“
*
Der Raum sieht erstaunlich freundlich aus. Also dafür, dass hier ein Polizeibeamter arbeitet.
„Du sagtest uns, er wäre ein Mörder. Wo ist die Leiche? Wer ist sein erstes Opfer?“
Der eisige Blick des Mittvierzigers mit angegrautem Haar durchbohrt mich und es kommt mir vor, als durchsuche er meine Seele, Gedanken und mein Gehirn nach Informationen. Weil ich mich fühle, als wäre ich festgefroren, nicke ich einfach nur. Dieses Büro wirkt vielleicht nur so freundlich, weil es der Inhaber nicht ist.
„Wer war sein erstes Opfer?“
Dieses Mal bemüht er sich nicht mehr darum harmlos zu klingen. Im Gegenteil: Er betont jedes Wort, als wäre es ein Code den ich mir unbedingt merken müsste.
„Mein Kater.“, sage ich und mein Blick gleitet durch den Raum, dann sehe ich dem Polizisten fest in die Augen. „Er hat ihn umgebracht. Ich habe es in seinen Augen gesehen.“
„In seinen Augen?“, der Beamte sieht sichtlich überrascht aus, „Du warst also dabei, als Günter Lehmarck angeblich deine Katze umgebracht hat?“
Angeblich. Wie das klingt. Als ob ich lügen würde.
„Ja … nein … indirekt.“
Unglaubwürdig!, schreit alles in mir, ein ganzer Chor voll mit vorwurfsvollen Stimmen.
„Ich lüge nicht,“ sage ich wie zu mir selbst, „Ich habe ihm in die Augen gesehen, als er tot in meinen Armen gelegen hat. Dann habe ich es gesehen. Wie Günter ihm die Luft abgedrückt hat, ihn zerquetscht hat.“
Ich wiederhole mich, weil ich meine eigenen Worte nicht erfassen kann: „Ich lüge nicht. Ich habe es in seinen Augen gesehen.“
*
Ihr Atem geht schnell. Jede Faser ihres Körpers ist bis zum Zerreißen gespannt …
*
Ihr Leben ist ein einziges Hin und Her. Das weiß sie jetzt, da sie in der Limousine sitzt. Die Scheiben sind getönt und die Farben der Landschaft erscheinen unwirklich.
Sie hat die Hölle verlassen, aber die Zukunft wird kein Himmel, sondern wie das Gehen über heiße Kohlen. Schmerzhaft. Ohne ersichtliches Ende. Sie denkt an die Zeit zurück, als sie ein normales Leben geführt hat. An den Tag, als ihre Mutter Günter geheiratet hat. War es seine Idee gewesen? Wollte er sie damit an sich binden? Sie hatte ihre Mutter nie etwas Derartiges gefragt.
Dann der Tod ihres Katers und damit der Beginn von allem. Die Verhörungen und die Einweisung, weil sie wochenlang stur behauptet hatte, was der Wahrheit entsprach.
Günter Bewährungsstrafe, die einem Mord bei Weitem nicht gerecht wurde.
Ihre Mutter, die höchstwahrscheinlich noch immer eine Therapie macht, um mit den Tiefen ihres Lebens klarzukommen.
Der Boss, der sie aus der Klinik holte, wie auch immer er das geschafft hatte.
Die Leichen, jedes Mal aufs Neue. Kinder, Männer, Frauen, Tiere. Teile von Familien, wie sie. Durch den Tod zerrissen, wie ihre. Sie hatte die Auftraggeber jedes Mal verstanden. Ihre Beweggründe und Motive.
Bis zu dem Zeitpunkt, als der Boss begann, krumme Geschäfte zu machen und sie auf der Flucht vor dem Gesetz waren, welches sie im Endeffekt wieder eingeholt hatte. Die Auftraggeber wurden zwielichtiger und die Todesursachen grausamer. Wahrscheinlich war der Boss dem Geld verfallen, welches die mafiaartigen Kunden mit sich brachten. Aus ehrlicher Arbeit für das Wohl der Allgemeinheit wurde die Arbeit für Reiche.
Doch das Gesetz hatte sie gefunden.
Sie hatte dennoch gezögert, als der Fremde ihr die Freiheit angeboten hat, denn sie wusste ja nicht, wer er war, außer ein Mörder und angeblicher Diener des Landes.
Außerdem mag sie den Doktor und mit einer sofortigen Entscheidung zur Flucht wäre seine Zukunft zerstört. Das verdient er nicht. Der Boss muss ihn auf seiner Flucht angeworben haben. Noch ist er also nicht verdorben, denn lange arbeitet er noch nicht als Leichenbeseitiger in einem Drecksloch.
Sie hingegen ist schon zu lange gefangen zwischen verdorbenen Menschen, und sie hat einige böse Eigenarten übernommen. Das Aushandeln von Konditionen für den eigenen Vorteil, die kalte Mauer um ihr Herz und die damit einhergehende Gefühllosigkeit. Nur einige von vielen Schwächen, die sich in Gefangenschaft als Stärken erweisen.
„Miss?“
Ohne die Landschaft aus den Augen zu lassen nickt sie.
„Es wird ihnen besser gehen, glauben sie mir.“
„Mhm.“ Seine Worte überzeugen sie nicht im Geringsten.
„Rehmer ist der denkbar schlechteste Repräsentant für die Mitarbeiter bei EDUG. Sehen sie mich an!“
Sie tut es. Er grinst in den Rückspiegel. Er sieht nett aus, deswegen lächelt sie ebenfalls. Es tut ihr weh und sie massiert sich konzentriert die Wangen.
„Sie haben lange nicht gelacht?“
Nein, das hatte sie wirklich nicht. Zwei, vielleicht auch drei oder mehr Jahre ist es her, seit sie mit ihrer Mutter einkaufen war. Sie haben über den Versprecher des Radiomoderators gelacht, als sie im Auto saßen.
Ihr fällt auf, dass sie jegliches Zeitgefühl verloren hat. Aus diesem Grund fragt sie den Chauffeur nach dem Datum.
„Der 22. August 2015.“
August. Der Gedanke an diesen besonderen Monat schmerzt. Vor vier Jahren wollte sie einen Austausch machen. Ein Jahr weg von zu Hause. Ein Jahr erwachsen werden. Ein Jahr um zu lernen, wie sehr sie ihr Zuhause schätzen kann.
Vor vier Jahren im Mai starb ihr Kater. Vier Jahre ist das alles also her. Sie ist mittlerweile 19 Jahre alt.
Innerhalb der letzten Jahre hat sie nicht nur ihr Zeitgefühl, sondern auch ihre Jugend verloren. Mit 16 haben ihre Freundinnen die Diskos unsicher gemacht, während sie in der Klapse war. Mit 17 hatten ihre Freundinnen Freunde, waren im Ausland oder haben langsam ihren Führerschein begonnen, während sie Toten in die Augen sehen musste.. Mit 18 feierten sie ausgelassen die Volljährigkeit, Unabhängigkeit und das bevorstehende Abitur, während sie auf der Flucht war. Jetzt, mit 19, da ändert sich nichts für ihre Freundinnen. Für sie ist das jedoch ein magisches Alter, denn es bedeutet Freiheit in einem geringen Maße.
Während sich draußen die Sonne hinter dem Horizont verkriecht und dabei ein unwirkliches Licht abgibt (was durchaus an den getönten Fensterscheiben liegen könnte), sitzt sie im Auto und lässt ihr Leben Revue passieren.
Es passt. Die Welt da draußen ist in vollem Gange und sie ist eingesperrt und isoliert. Es ist Jahre her, dass sie gehen konnte, wohin sie wollte. Jetzt ist jeder ihrer Schritte von jemand anderem geplant. Kein Schritt, keine Entscheidung gehört ihr. Sie selbst gehört nicht sich, sondern Menschen, die aus ihrem Können Kapital schlagen. Sie hat gelernt sich damit abzufinden. Der kleine aufgeregt flatternde Kolibri namens Freiheit, den gibt es nicht mehr. Er ist zahm und alt geworden. Nur manchmal, da spürt sie ihn. Wie er in einem hoffnungsvollen Moment die Flügel ausbreitet, bevor ihm bewusst wird, dass er in einem Käfig gefangen ist.
Doch selbst einsame alte Menschen, die seit Jahren nicht tief und frei atmen konnten, ja, selbst diesen Menschen wird oft noch Glück geschenkt. Wenn sie Uroma werden, wenn ihr Enkel heiratet, wenn sie einen Hund bekommen, der sie wieder zurück unter Menschen führt, oder wenn sie Besuch von ihren Kindern bekommen, die sie sehr lange nicht gesehen haben.
Und auch der Kolibri wird einen Anstoß bekommen, zu fliegen. Irgendjemand wird ihm zeigen, wie er aus dem Käfig entfliehen kann, und dann wird er frei sein. Glücklich. Als sie das beschließt, lächelt sie. Sie legt ihre Hand auf den Bauch um zu spüren, wie sie tief einatmet. Sie spürt ihren Körper wie lange nicht mehr. Sie spürt sich selbst wieder.
Ihre abgestumpften Sinne empfangen die Schönheit des Sonnenuntergangs und für einen kurzen Augenblick ist sie geblendet. Erst jetzt fällt ihr die Helligkeit auf, die draußen herrscht. Es ist nicht kalt oder dunkel, nein, die Welt da draußen ist voller Leben, und eines Tages wird sie teilhaben, an diesem Leben. Auch wenn sie dann alt und einsam ist.
Der Kolibri flattert aufgeregt in seinem Käfig…
Tag der Veröffentlichung: 23.01.2011
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