Loderndes Licht
Lili ist lange wieder zurück.
Max hatte sie nicht vergessen können nach diesen Tagen in der großen Stadt.
Seine Nummer, seine e-mail wurden Bestandteil eines jeden Tages. Seine Person und die Erinnerung an das Licht, das sie in sich endlich wieder ein Leuchten verspürt hatte, als sie ihn traf und mit ihm in seiner Stadt zusammen war.
Lili hatte nicht mit ihm geschlafen. Sie hatte die Begierde gespürt und war ihr nicht gefolgt. Max hatte sie umworben, ihr seine Stadt gezeigt. Lili, im Mittelpunkt seines Interesses. Und endlich, endlich durfte sie wieder leuchten.
Jahre vergingen, in denen sie dieses Gefühl nicht vergessen konnte. Dieses Gefühl wollte Lili nicht mehr vergessen. Sie hielt sich daran fest, spürte das leuchtende Licht in ihr und es wurde zu einem lodernden Feuer.
Aber nichts davon durfte nach außen kommen. Telefonate und e-mails mit einem Mann, der sie nicht so wollte wie sie ihn, und ihr eigenes Wissen darum dass dieser Mann niemals mehr sein konnte als der Wind der das Feuer anbläst, aufrechterhält.
Und auch Max wusste nicht viel davon. Er blieb scheinbar ein Freund.
Sie galt als immerwährende Freundin, vielleicht sogar Liebe, die nicht zu erreichen war. Allein die Kilometer zwischen ihnen machten dies deutlich. Doch Lili konnte nicht loslassen. Sie verklärte alles. Er wurde ihr einziger Halt für das, was sie sich nicht selbst geben konnte. Vom Kopf her wurde ihr das klar, doch fühlte sie das nicht. Lili fühlte etwas ganz anderes. Lili war verliebt. Aber niemals hätte sie sich das eingestanden. Sie verbot es sich, sie redete es sich aus. Es konnte und es durfte einfach nicht sein. Max sollte ein Freund sein und Lili eine Freundin.
„Ich kann doch mit einem Freund so oft telefonieren wie ich will, oder?“ sagte Lili zu sich selbst und auch zu Michi, dem sie das natürlich auch erklären musste. „Einen Freund kann ich doch auch mal alleine besuchen, wenn ich mal raus will, oder?“ sagte Lili auch als sie wieder zu ihm fuhr. „Ich muss was für mich klären, nur für mich.“ fügte sie noch hinzu als Michi sie nicht sofort fahren lassen wollte.
Ein Jahr war vergangen als Lili zum dritten mal bei ihm war. Völlig bekifft schlief sie schließlich mit ihm. Dass er keinen Aidstest machen ließ, nicht mal das ließ sie an seinem Bild zweifeln. Das Einzige was darauf folgte, war der Entschluss, nicht mehr mit ihm zu schlafen.
Immer noch lodernde Flammen in ihr, immer noch verzweifeltes Festkrallen daran, dass dieser Mann Helligkeit in die Dürsternis ihrer Seele gab, und sei es für wenige Worte und sei es für die Erinnerung an die Stunden in seiner Stadt.
Lili konnte nicht mehr loslassen. Lili verdammte sich immer mehr selbst dafür. Sie hatte Kinder mit Michi, sie lebte Michis Lebensentwurf. Immer noch war sie die Mutter, die sich um Haushalt und Kinder kümmerte, während er das Geld für das Leben verdiente. Immer noch schlief sie ab und an mit ihm, auch wenn sie dabei kaum Lust empfand. Sie zweifelte an sich als Frau. Sie dachte, das läge an ihrer Unzulänglichkeit. Sie sei nicht Frau genug, Lust empfinden zu können. Nie kam ihr der Gedanke, dass es an Michi liegen könnte oder einfach daran, dass Michi nicht der richtige Mann für sie sei. Sie kannte ihre Lust nicht und mit Michi konnte sie ihre Lust auch nicht kennen lernen. Sie schlief mit ihm, weil er ihr Mann war.
Als sie mit Max schlief, war sie viel zu bekifft, um irgendetwas zu erkennen. sie schlief mit ihm, um etwas zu Ende zu bringen. Um etwas zu tun, was irgendwie noch fehlte. Doch es war überflüssig.
Denn genauso allein wie zuvor und nun voller Schuld lebte sie das Leben von Michi und ihren gemeinsamen Kindern. Lili kannte ihre Lust nicht, kannte ihr Leben nicht mehr, Lili erkannte sich selbst nicht mehr. Woran sollte sie sich halten? Da war nichts. Nichts.
Wie konnte es dazu kommen?
1.kapitel
Es waren nur wenige Stunden, die Lili diesen Mann kannte, als sie das erste Mal dachte, dass er ihrem Ehemann ähnlich sei. „Max scheint so anders zu sein als Michi. Doch das ist er nicht. Er ist es überhaupt nicht.“ sinnierte sie als sie die Greifswalder Strasse neben ihren beiden Freundinnen zurückging, um nun endgültig die Koffer zu packen.
Lili fühlte sich, als wäre sie noch einmal 17. Sie fühlte sich glücklich und stark und voller Gefühl. Lili ging wie auf Watte und die Welt um sie herum war gar nicht dort. Annabelle und Marlene grinsten verheißungsvoll als sie sie nach der letzten Nacht fragten. „Nein, das glaub ich Dir nicht.“ sagte Marlene „Du hast nicht mit ihm geschlafen?“ Lili schüttelte nur den Kopf. Nein, sie hatte nicht mit ihm geschlafen.
Sie hatte ihn in seiner Wohnung besucht, in die sie ihm am Tag zuvor nach durchzechter Nacht nicht gefolgt war. Vorgestern hatte sie die Begierde, die zwischen ihnen entstanden war deutlich gespürt, aber gefürchtet hatte Lili sie ebenso. Es war zwar schon hell, als er sagte: „Schlaf doch bei mir!“, aber sie hatte Angst. Lili folgte ihren Freundinnen.
Lili verdrängte die Gedanken an Max als sie sich hinlegte, als sie aufwachte, als sie duschte, als sie sich anzog, als sie mit Marlene und Annabelle frühstückte, als sie Marlene beim Sightseeing durch die fremde Stadt begleitete, als sie sich mit einigen anderen Bekanntschaften der letzten Nacht bei einem Inder trafen, als sie die unerträgliche Schärfe des Essens in einer Kneipe mit Bier hinunterspülten, als sie zurück in die Wohnung des verreisten Freundes gingen, als sie sich hinlegte, als sie aufwachte, als sie duschte, als sie sich anzog. Doch sie da spürte sie es. „Der letzte Tag war wie Nebel. Was habe ich eigentlich gemacht? Was habe ich eigentlich gesehen von dieser Stadt?“ fragte Lili sich plötzlich und wusste, was sie tun musste.
„Normalerweise gehe ich um zehn Uhr gar nicht ans Telefon.“ erzählte Max ihr am Sonntag Nachmittag. Sie suchten die Spree nach einem Schiffsablegeplatz ab, weil Lili so gerne Schiff fuhr. Sie liebte das Wasser. „Lili, ich hatte gehofft, dass Du dran bist und nur deshalb bin ich ans Telefon gegangen.“ fügte er hinzu und lächelte. Lili guckte verlegen auf die andere Seite, dahin wo die ersten Löwenzahnblätter im hellen Grün des Frühlings den Weg säumten. Er schmeichelte ihr sehr, als er das sagte.
Lili hatte ihn in seiner Wohnung besucht, denn die wollte sie sehen. Sie wollte wissen, wie er lebt und wer er ist. Sie waren Schifffahren gewesen und irgendwo haben sie wohl auch was gegessen, bevor sie dann noch mal zu ihm nach Hause fuhren. Sie hatten den Plan gehabt, dann noch mal rauszugehen, Marlene und Annabelle zu treffen. Max und Lili tranken und redeten, redeten, redeten. Lili fühlte sich so wohl in dieser rießigen, superchaotischen Wohnung, zwischen den Kerzen und Lichterketten, den ungespülten Gläsern, den Stapeln von irgendwas, die den Fußboden nicht mehr erkennen ließen. Lili fühlte sich wohl bei Max.
Es war schon lange dunkel geworden. Max war eigentlich immer noch ein Fremder, die Stadt draußen war es ohnehin, aber bang war es Lili überhaupt gar nicht geworden. „Uups, es ist schon halb eins.“ stellte sie überrascht fest. Sie wollte nicht mehr raus, sie wollte einfach nur bleiben. „Was denken wohl Annabelle und Marlene? Hoffentlich sind die mir nicht böse.“ überkam Lili ein schlechtes Gewissen. Sie hätte anrufen können, aber sie schrieb ihnen eine Kurznachricht.
„HALLO IHR BEIDEN LIEBEN. ICH HABE DIE ZEIT ÜBERSEHEN. ICH SCHLAFE HIER! LIEBE GRÜßE; LILI
2. Kapitel
Max war auf Tour gewesen, wie jeden Abend. Er kannte viele Menschen in dieser großen Stadt und eine alte Freundin hatte ihn heute in diesen Club bestellt. Sie mochte diese Soul-Musik wie sie dort heute gespielt wurde und Max mochte Antje. Antje war die Vormieterin seiner jetzigen Wohnung gewesen und blieb nach der Wohnungsübergabe seine gute Seele, sein Mutterersatz. Stürzte bei ihm mal wieder alles zusammen, war sie da.
Heute war es nicht der Großeinkauf in der Metro und auch nicht der Großreinemachtag in seiner Wohnung, heute war es die große Suche nach Antworten in Fragen der Liebe, die Max zu Antje führte.
„Hey Max!“ freute sich Antje als sie ihn unter all den vielen Menschen stehen sah, drückte ihm ein Bier in die Hand und ihn auf das Sofa an der Wand. „Was ist denn los? Du hast Dich am Telefon aber gar nicht gut angehört.“ Max drückte sie erst mal kurz an sich, nahm einen Schluck aus der Flasche und dann sprudelte all der Scheiß aus ihm heraus: „Ich weiß nicht, wie die Anderen das machen, aber ich komme wohl nie zu einer Frau an meiner Seite. Dass das mit Andrea einfach nichts mehr wird, das beginne ich allmählich zu akzeptieren. Was bleibt mir auch übrig? - Andrea hat jetzt endgültig einen anderen. Jan heißt der und sie hört nicht auf von dem zu schwärmen. Muss ja ein toller Typ sein. Ich kapier nicht, wieso ich es nicht sein kann, aber egal. - Wieso kriegen immer nur die Anderen eine ab? Die sehen eine, gehen hin, quatschen rum, nehmen sie mit und zack haben sie mindestens ihren Spass für diese Nacht gesichert. Und ich kenn so viele, die dann die große Liebe finden. Die nehmen sich, was sie eben gerade wollen, und dann kriegen die das auch noch. Kannst Du mir mal sagen, was ich verkehrt mach?“
„Mensch, Max!“ antwortete Antje und streichelte ihm tröstend über die Schulter. „Siehst Du in all Deinen pessimistischen Theorien über die Liebe denn überhaupt noch eine Frau? Guck Dich doch mal um, wie viele allein hier sind! - Mach es doch mal genau so wie die, von deren Heldentaten Du mir gerade erzählt hast. Hast Du was zu verlieren?“ „Nein, habe ich nicht.“ grummelte Max und hob seinen Blick etwas an, um diesen über die anwesenden Frauen streifen zu lassen. „Aber eigentlich finde ich das doch auch doof. Bin ich notgeil, oder was?“ wandte er sich wieder Antje zu. „Ich will das doch so gar nicht. Ich glaub doch an die wirklich große Liebe. Und das geht nicht so.“ Antje lachte. „Wer weiß, vielleicht bisste auch nur notgeil.. Eine Frau haste ja nu nich mehr. Aber diese Antwort liegt nicht in meinem Zuständigkeitsbereich, was Max?“ Antje trank einen Schluck Bier, bevor sie weitersprach. „Vielleicht solltest Dir einfach mal Arbeit suchen und Geld verdienen. Dann hast Du schon mal einfach weniger Zeit darüber zu grübeln. Deine Geldsorgen würden Dir auch nicht mehr so einen Kopf machen. Vielleicht ist dann auch Platz für die wirklich große Liebe. Und Du würdest Dich besser fühlen. Vergiss nicht, depressiv macht nicht sexy.“
Nicht sexy zu sein, das war das letzte, was Max sich zuschreiben wollte. „Und überhaupt, ich bin doch nicht der Typ, der grübelt!“ dachte er empört. Antje kitzelte mit diesem Satz sein Ego gewaltig. Er spürte neue Kräfte in sich freiwerden. „Erst mal entspannen und locker werden.“ kam es ihm in den Sinn als er sich einen joint drehte. „Jetzt seh dich doch mal um und nicht nur schwarz!“ meinte Antje noch und stand jetzt auf. Sie war sich ihrer Mutterrolle durchaus bewusst und wusste, dass er das jetzt alleine machen musste. „Ich guck mal zum Udo an die Plattenteller. Der wollte mir ein paar neue Scheiben zeigen. Die hat er am Flohmarkt ergattert. Echt alte Dinger, ein richtiger Schatz, sagt er. Bis später, Max.“
Max fühlte sich von Antje’s Worten herausgefordert. Der joint hatte ihn entspannt. Nochmal blickte er über die Frauen im Raum. Die meisten standen mit anderen zusammen oder bewegten sich zur Musik. Er fühlte sich ruhiger und gestärkter als noch vor einer Stunde, aber aufzustehen und eine anzusprechen oder gar anzutanzen, das war ihm zu viel.
„Aber hatte sich nicht eben als Antje ging ein weibliches Wesen neben mich auf die Couch fallen lassen, ganz allein und sichtlich durchtanzt?“ fiel es Max plötzlich ein. Er blickte nach rechts und tatsächlich, dort saß eine Frau. - Wow. Sie gefiel ihm. „Beste Voraussetzung für diese Übung!“ dachte Max. Was zählte war nur, dass er es jetzt auch einmal wie die ominösen, heldenhaften Anderen machte. „Nein, depressiv macht nicht sexy!“ dachte er noch und hielt ihr den joint rüber. „Willste mal?“ fragte er sie und vergaß diese alberne Anmache im selben Moment.
3. Kapitel
Lili genoß diese Reise allein mit Annabelle und Marlene. Gemeinsam erfüllten sie sich den Traum, mal wieder ganz für sich und ohne Verantwortung für ihre Familien zu verreisen. Ein paar Tage ausspannen, frei entscheiden, wozu sie Lust haben und was sie machen. Diese fremde, große Stadt, weit weg von zuhause, war der ideale Ort dazu.
Annabelle und Marlene waren mal nur zwei Frauen aus einem Kurs der Rückbildungsgymnastik gewesen. Verbunden waren sie an erster Stelle durch die Tatsache, dass sie alle drei in jenem Sommer vor drei Jahren ihr erstes Kind zur Welt brachten. Sie waren sich sympathisch, aber eigentlich doch nur über ihr Mutterdasein verbunden. Deshalb trafen sie sich ab und an auch mit ihren Kindern und manchmal auch mit den Vätern der Kinder, sofern es sie noch gab, zu einem Sonntagsfrühstück. Während eines solchen war die Idee dieser Reise entstanden.
Jetzt saß Lilli wahrhaftig in einer fremden Wohnung, inmitten dieser großen, fremden Stadt. Ihr Bewohner, ein Bekannter von Marlene, war verreist und hatte ihnen seine Wohnung überlassen. „Ich kann es gar nicht fassen. Diese verrückte Idee ist keine Träumerei geblieben!“ rief sie aus, als sie zu Marlene und Annabelle in die Küche ging. „Jetzt sitzen wir hier in einer richtigen Wohnung, nicht im Hotel, und wir machen gemeinsam Frühstück wie damals.“ „Es ist einfach nur super!“ pflichtete Annabelle ihr bei. „Kein Kind, einfach mal schlafen, solange ich mag. Allein dafür würde ich am liebsten in die Luft springen und jeden umarmen, der da kommt. Mag der mich dann für verrückt halten, aber genau dafür hielten wir ja auch damals diese Idee. Und jetzt, ist sie Wirklichkeit!“ Auch Marlenes Gesicht trug ein verzaubertes Lächeln, als sie von ihrem Reiseführer aufblickte. Sie war nicht der Typ Mensch, der vor Freude in Verzückung gerät. Ein gewisser Pragmatismus zeichnete sie aus und der hielt sie fest verwurzelt auf dem Boden der Tatsachen. Tatsache dieser Reise war, dass sie in einer großen Stadt waren, die viel zu bieten hat und das nicht nur nachts. „Was ich da gerade alles gelesen habe. Es gibt so viel, was ich unbedingt sehen muss.“ platzte sie heraus. „Ich meine, ich will Euch nicht stressen. Wenn Euch das alles zu viel ist, dann mache ich das auch alleine, ja?“ fügte sie leicht verunsichert hinzu, als sie die Blicke der anderen beiden sah. Sie war sich nicht sicher, ob Annabelle und Lilli all die Touristenanziehungspunkte brauchten, die sie selbst an dieser Reise so anzogen, einer Reise die allen dreien noch wie ein Traum erschien. Sie hatten diesen Traum gemeinsam geträumt, doch als sie ihn träumten, hatte keine von ihnen dabei gedacht, dass er tatsächlich Wirklichkeit werden könnte.
4. Kapitel
Damals hatten sie sich an einem Sonntag im Sommer um 10 Uhr zum Frühstück verabredet. Zuerst war Annabelle mit ihrer Tochter Carina mit dem Fahrrad in den Hof hineingefahren. Sie kam immer zuerst. Sie kam immer fast zu früh. Sie war einsam und sie sehnte sich nach Kontakten. Zu oft war sie allein mit ihrem Kind. Jeder konnte das verstehen und doch war es Lili mal wieder zu früh gewesen. Lili fühlte sich eingenommen von ihr. Es war zu nah und irgendwie zu viel. Keiner konnte die Familie ersetzen, nach der sie sich sehnte und die sie nicht lebte.
Tim und Marlene waren mit ihrer Tochter Suse gekommen. Wie immer waren sie ein wenig zu spät und eingehüllt in eine getriebene Atmosphäre. „Entschuldigt bitte, zuerst kamen wir nicht von zu Hause weg. Dann war der Bäcker schon geschlossen und wir mussten noch einen anderen suchen und dann haben wir uns auch noch total verfahren. Habt ihr schon lange gewartet?„ Das war Marlene, während Tim bedächtig mit dem Kopf nickte und versuchte all die Hektik seiner Freundin mit einem Grinsen wieder wettzumachen. Keiner hatte sich daran gestört, man war komplett.
Suse hatte sich schon losgemacht, die anderen Kinder im Garten zu finden. Die Kaffeetassen und das restliche Geschirr waren inzwischen schon draußen auf dem Tisch im Garten gestanden. Sie hatten die Brötchen dazugelegt, hatten die frischen Sachen aus dem Kühlschrank geholt und die erste Kanne Kaffee. Die Kinder waren barfuss durch den Garten gelaufen. Die Alten hatten sich an den Biertisch gesetzt und begonnen zu frühstücken. Auch die Kinder hatten sich geholt, was sie haben wollten, doch dann waren sie schon wieder unterwegs.
Es war irgendwann im Sommer und es war warm. Die alten Bäume hatten angenehmen Schatten gegeben, so dass die Butter nicht allzu schnell schmolz und man einfach nur sitzen blieb, um zu essen, um zu trinken und um zu reden. Es war ein schöner Tag und eine schöne Stimmung, um unter den alten Bäumen zu sitzen. Die Kinder hatten es genossen zusammen herumzulaufen, zu schaukeln, sich im Sandkasten die Füße einzugraben. Jeder hatte sich innerlich zurückgelehnt. Sie hatten alles im Blick. Was brauchten sie mehr!
So waren die Stunden an ihnen vorbeigeflossen. Sie hatten sich noch eine Kanne Kaffee geholt, hatten Obst aufgeschnitten und es an die Kinder verteilt. Sie waren einfach weiter dort sitzen geblieben und hatten den Tag genossen. Manchmal hatte man innegehalten, dem Rauschen des Windes über sich in dem alten Bergahornbaum gelauscht, hatte hinauf und die Sonne durch die großen Blätter blinzeln gesehen. Manchmal war einer von ihnen mit einem der Kinder ins Haus hinauf auf die Toilette gegangen, manchmal hatte jemand von ihnen die Kinder angeschaukelt und sich dann wieder zu den anderen Erwachsenen gesetzt. Man hatte die Schuhe abgestreift und das Gras unter den Füßen gespürt.
Es war viel über dies und das geredet worden, doch alles war ohne Belang geblieben. Sie hatten diesen Tag wirklich genossen, die Luft auf der Haut, die Menschen um sich und die Zufriedenheit, die sich ausgebreitet hatte.
Sie hatten sich auch über Reisen unterhalten, die sie gemacht hatten und auch über Reisen, die sie machen wollten.
„Damals im Rousillion - Mensch, ist das lange her, was Michi? Da war es so schön. Nie war ich an einem vergleichbaren Platz. Am liebsten wäre ich dort geblieben und nie mehr von dieser Bucht am Meer weggefahren. Weißt Du noch, Michi? Sogar Dir ging es so und wir entschieden uns, einfach noch einen Tag länger zu bleiben.„ Das war Lili, die Gastgeberin, die da versuchte, ihren Mann mitzureißen in die Erinnerung und die Sehnsucht als sie vordergründig den anderen von dieser Reise vor fünf Jahren erzählte.
In Jedem von ihnen wurde eine solche Erinnerung wach. Natürlich waren es doch zumeist die Frauen, die sie in Worte kleideten. Doch an den Gesichtern der Männer konnte man ablesen, dass auch in ihnen Erinnerungen an vergangene Reisen aufstiegen. Jeder träumte von vergangenen Orten und davon, diese oder auch ganz andere aufzusuchen.
Annabelle erzählte von ihrer Reise an den Gardasee und dem Haus von Freunden, von dem Geld ihrer Eltern, mit dem sie, die Sozialhilfe empfing, und Carina diese glücklichen Tage erleben konnten. Dieses Glück, dort den öden, harten Alltag hier zu vergessen, ließ sie auch die Anstrengung mit Kind zu verreisen fast vergessen.
Die Strapazen einer Reise mit Kind erinnerten Marlene an ihre Reise nach Sardinien, die sie vor einem Jahr mit Freunden und einigen Kindern gemacht hatten. Sie wollten irgendwann ganz bestimmt dorthin zurückkehren, noch hatte sie nicht alles dort erlebt, was sie dort erahnte. Suse war damals einfach noch sehr klein gewesen und die alltäglichen Herausforderungen mit einem zweijährigen Kind wuchsen im nicht vertrauten Ausland doch erheblich, meinte Marlene. Tim winkte ab: „War doch aber alles nicht so wild“. Wie immer wollte er nichts von den Schattenseiten hören und erst recht nicht von vergangenen. Im Vergleich zu Marlene schienen für ihn die Erinnerungen nicht so wichtig zu sein.
Auch Michael trug Erinnerungen in sich, doch sein Lächeln galt mehr der glückselig schwelgenden Freude seiner Frau Lili als seinen eigenen Erinnerungen.
In den Erinnerungen wuchsen allmählich Sehnsüchte in den Frauen. Der Blick auf die vergangenen Tage, rüttelte die Sehnsucht nach Neuem wach. Sie begannen zu träumen, setzten sich eine neue Reise aus den Überresten ihrer Erinnerungen zusammen: „Eine Reise, die sie mit Glück und Leichtigkeit erfüllt, die sie aus dem heraustreten lässt, was sie umgibt. - Eine Reise ohne die Kinder würde die Strapazen vermeiden. - Die Männer könnten Urlaub nehmen und bei den Kindern sein. - Die Reise müsse gar nicht so lange und so weit sein, auch in Deutschland gibt es reizvolle Ziele. - Vielleicht könnte man dort sogar privat wohnen, wenn eine von ihnen dort jemanden kennt. - Ans Geld müsse man auch denken.“ setzte sich in ihren Köpfen und Worten allmählich eine immer deutlicher erkennbare, gemeinsame Idee zusammen.
Die Fantasien sprudelten nur so aus ihnen heraus. Immer wieder hielten sie kichernd inne, aber auch nur um einen neuen Einfall gleich darauf preiszugeben. Schon waren die Namen von Städten gefallen: Hamburg, Wien, Berlin hatten sie sofort im Kopf. Schon die Gedanken lösten Glück und Leichtigkeit in ihnen aus. Sie konnten gar nicht mehr an sich halten. Sie vergaßen alles um sich herum.
Marlene hatte Bekannte sowohl in Hamburg als auch in Berlin. Die wollte sie fragen. Plötzlich war eine Idee geboren.
Die beiden Männer saßen still und grinsend bei den Frauen. „Verdient hätte sie es allemal.„ dachte Michi. Er hatte das Gefühl, Lili in den letzten Jahren viel alleingelassen zu haben. Seine Arbeit, die ihn selbst sehr belastete, ließ ihn einfach oft nichts anderes mehr sehen als das, was sein musste. Was er sah, das war die Arbeit und das waren Lotta und Pieter, ihre beiden über alles geliebten Kinder. „Lili kommt zu kurz.“
Lili liebte er gerade für ihre Träume, ihre fast kindliche Begeisterung, mit der sie sich in diese hineinstürzte. Er selbst war nicht verträumt. Er stand fest auf dem Boden der Pflichten. Lili nahm ihn, ab dem Tag, an dem sie in sein Leben trat, ein Stückchen in eine ihm so fremde Welt mit. Das liebte er an ihr, das genoss er schmunzelnd auch jetzt.
„Das geht schon klar!„ meinte Tim und Michi relativierte, denn er dachte an seine viele Arbeit. Er stand unter Strom, wenn er nur an die Arbeit dachte. Zugleich wollte er Lili glücklich sehen und zusammengenommen bedeutete das Hochspannung in ihm. So wie Tim war auch er gerne Vater und das nicht nur biologisch. Gerne verbrachte er gemeinsame Zeit mit seinen Kindern und Lili musste dazu nicht immer anwesend sein.
Die Vorstellung, fünf Tage alleine mit ihren Kindern zu sein, löste schon in beiden Männern ein flaues Gefühl aus, aber vorerst war das, was sie da hörten, weit weg. Die Frauen sprachen vom März des folgenden Jahres, wenn Marlene ihre Ausbildung abgeschlossen hat. Und schließlich waren die Worte der Frauen ja auch nur ein Sommertagtraum. Kein Grund bestand, mehr dazu zu sagen. „Erst mal abwarten.„ dachten sie beide.
Annabelle konnte nicht allzu viel dazu sagen. Carina hatte keinen Vater, der sich ihrer annahm wie es Tim und Michi taten. Es gab einen Mann. Er war nicht der leibliche Vater von Carina und inzwischen nicht mal mehr Annabelle’s Freund. Doch er hatte einige Zeit die Vaterrolle für Carina übernommen - wurde sogar Papa genannt - und er fühlte sich tatsächlich immer noch verantwortlich für Carina und Annabelle. „Ich werde ihn einfach mal fragen.“ Mehr konnte sie dazu nicht sagen.
Sie saßen noch lange an diesem warmen Tag draußen im Garten. Die Kinder spielten, die Alten redeten wieder ohne Belang und die Butter schmolz dann doch.
Es war Abend geworden als sie auseinandergingen. Jeder trug ein paar Überreste hinauf in die Wohnung und dann standen sie wieder unten. Sie nahmen sich in den Arm, schüttelten sich die Hände oder nickten sich einfach nur wohlwollend zum Abschied zu. Sie verabschiedeten sich in Zufriedenheit mit diesem schönen Tag. Es war nicht nur diese Idee einer gemeinsamen Reise, auch die Wärme und die wunderschöne Stimmung unter den alten Bergahornbäumen, einfach alles zusammen hatte Zufriedenheit aufblühen lassen. Pieter und Lotta liefen den Gästen noch ein paar Meter schreiend hinterher, blieben an der Ausfahrt stehen und winkten ihnen nach, bevor sie zu Michi und Lili zurückliefen.
Noch einmal gingen die vier zusammen zurück in den Garten. Lili und Michi setzten sich noch mal an den Tisch und guckten ihren Kindern zu, die nun Nachbarskinder entdeckt hatten, mit denen sie die Tatsache, dass dieser warme, lebendige Tag nun bald zu Ende sein sollte, einfach vergaßen.
Lili lehnte sich noch einmal zurück und zündete sich eine Zigarette an. Michi war unruhig. Das merkte sie. Noch standen ein paar Flaschen und Gläser auf dem Tisch. Auch lagen da noch eine leere Brötchen- und eine ausgeschüttete Milchtüte. Den Müll wollten sie gleich in die Aschentonne hier unten werfen. Bevor das nicht alles weggebracht und aufgeräumt war, würde Michi niemals die Ruhe verspüren, die sich in Lili bereits ausbreitete. Das wusste sie ganz genau. Sie kannte ihn ja nun schon lange.
„Komm, lehn Dich doch zurück. Das bisschen, was hier noch rumsteht, das machen wir dann schon noch weg. Und das oben in der Küche, das mach ich dann weg. Du musst Dich da nicht drum kümmern, ja? War doch wirklich schön heute, was Michi?„
Sie wollte nun einfach noch mal in Ruhe den Tag am inneren Auge vorbeilaufen lassen. Am schönsten hätte sie es gefunden, ihre Zufriedenheit nun auch mit ihm teilen zu können, aber sie spürte wie schwer ihm das fiel, wie sehr es ihn belastete, dass da noch Pflichten auf sie warteten, die Lili gar nicht als solche empfand. Das Aufräumen würde in ihr die Bilder dieses schönen Tages wieder wachrufen. Diese Sichtweise war ihm fremd und Lili wusste, dass sie ihm die seine kaum nehmen konnte.
„Ja, das war wirklich eine gute Idee von Dir, Lili.„ sagte er. „Jetzt muss ich aber erstmal hier alles wegräumen. Ich bin sonst nicht ruhig.„ bestätigte Michi das, was Lili auch zuvor schon gespürt und bedauert hatte. Er stand auf und sie blickte ihm traurig hinterher, als er den Müll zur Aschentonne trug.
Noch einmal zog sie an ihrer Zigarette. Dann drückte sie sie aus, bevor sie aufstand, um sie in die Tonne zu werfen, wo sie nachdenklich auf die Milchtüte blickte, die Michi gerade entsorgt hatte. Auch die Tüte erinnerte sie an den schönen Tag, aber sie erinnerte sie gerade noch viel mehr daran, dass sie all das Schöne dieses Tages nicht so mit Michi teilen konnte, wie sie es sich wünschte. Tief sog sie Luft durch ihre Nase ein, ließ sie dann seufzend heraus und ging zu Lotta und Pieter, um ihnen zu sagen, dass Lili auch sie nun bald holen würde.
Auf dem Weg zurück nahm sie die übrigen Gläser auf und schlenderte langsam nach oben. Michi hatte die Wohnungstür offen gelassen und sie hörte das Geschirr schon im Treppenhaus scheppern.
Michi stand in der Küche, spülte die Teller, die Tassen und das Besteck vor, damit sich die gröbsten Essensreste nicht hartnäckig daran festklebten und ordnete sie schließlich so neben dem Spülbecken, dass es den späteren Abwasch erleichterte. Die vorgespülten Teller aufeinandergestapelt, das Besteck in einer Schüssel gesammelt und die Gläser und Tassen zusammengestellt direkt neben dem Becken. Sie sollten als erstes gespült werden. So analysierte Lili stumm, was sie da sah.
Auch Michi blieb stumm, als sie eintrat. Zu dem Gefühl der Getriebenheit, aufräumen zu müssen, um Zufriedenheit zu verspüren, war ein zweites nicht weniger unangenehmes hinzugekommen. Er wusste, dass Lili ihre Zufriedenheit mit dem Tag gerne mit ihm teilen würde. Auch er kannte sie nun schon lange genug, als dass Worte dies hätten aussprechen müssen. Er hätte ihr so gerne jeden ihrer Wünsche erfüllt, doch ihr diesen zu erfüllen, dazu war er einfach nicht in der Lage.
Er fühlte sich minderwertig, weil er sich unfähig sah, diesen ihren Wunsch zu erfüllen und das machte ihn stumm. Er kam nicht im geringsten auf die Idee, seinen Wunsch nach Ordnung über ihren Wunsch zu stellen oder zumindest seinen Wunsch gleichwertig neben ihrem Wunsch stehen zu lassen. „Es ist schön, dass Du so zufrieden bist, Lili. Ich brauch jetzt erst mal Ordnung hier. Dann bin ich es auch.„ hätte er sagen können. Er sagte nichts.
Die unausgesprochenen Worte erstickten unter dem Scheppern der Teller, die er stapelte. Es war als drängte er sie zwischen den Stapel der bereits aufgetürmten Teller und jeden neuen Teller, den er darauf abstellte. Der Lärm des Schepperns, was er dabei erzeugte, übertönte die Versuche der Worte, sich Gehör zu verschaffen, bevor sie zwischen den Tellern eingequetscht wurden und ihnen jede Chance dazu genommen war.
5. Kapitel
Die Tage vergingen, der Sommer verging, es fielen die Blätter von den Bergahornbäumen im Garten. Es ereignete sich viel, auch wenn sich später keiner so recht daran erinnern konnte.
Allein die Kinder brachten jeden Tag Leben in das Leben von Lili und Michi. Pieter und Lotta waren beide in dem Alter, in dem man scheinbar zusehen kann, wie Kinder sich entwickeln.
Waren es bei Pieter die ersten Sätze, die er sprach, begann Lotta, zu argumentieren. Lili und Michi waren manchmal sprachlos und konnten nur noch staunen, wenn sie hörten, wie ihre kleine Tochter auf diese Weise ihren Willen derart untermauerte, dass es nicht möglich war, ihr zu widersprechen.
Pieter und Lotta wuchsen und wuchsen heran. Lili bemerkte das, wenn sie Kleidung für die beiden aus dem Schrank holte und allzu häufig diese dann auf den Stapel der ausgemusterten, weil zu kleinen Kleidungsstücke legen musste. Aber natürlich konnte das auch jeder an dem Maßband an der Kinderzimmerwand sehen, neben dem die aktuellen Körpergrößen von Pieter und Lotta regelmäßig schriftlich festgehalten wurden.
Lotta war es, die nun auch begann, Kontakte zu knüpfen. Pieter war dann einfach mit dabei. Manchmal war es Lili regelrecht zu viel Leben in ihrer Wohnung, durch die schon auch mal vier oder fünf Kinder tobten. Doch es überwogen die positiven Seiten dieses sozialen Netzes.
Sie wünschte sich dies für ihre Kinder und war froh darum, dass Lotta und Pieter das erleben konnten. Sie waren nicht allein.
Lili verspürte den Wunsch, einmal wieder ohne Kinder zu sein, ihr Studium zu verfolgen. Sie organisierte den Einstieg, indem sie sich mit anderen Müttern in der Betreuung der Kinder abwechselte.
Marlene und Annabelle und den Traum ihres gemeinsamen Sommernachmittags unter den alten Bergahornbäumen vergaß sie dabei nicht. Regelmäßig trafen sich die drei Frauen. Gingen abends ein Glas Wein trinken und hatten schon bald ihr Stammlokal wie ihre Stammsorte Rotwein gefunden. Da saßen sie dann stets wie junge Mädchen um ihre Gläser, kicherten und feixten oder erzählten sich ihren ganzen Ärger von der Seele. Es ging um die Kinder, natürlich, es ging aber auch um die Männer, um ihre Zukunft ganz allgemein. Annabelle und Lili steckten beide noch inmitten des Studiums, Marlene in einer Umschulung. Ihr Beruf gefiel ihr nicht mehr. Als Mutter hatte sie nun andere Ziele.
„Wenn diese Umschulung vorbei ist, dann fahren wir!“ sagte Marlene eines abends. „Au ja, das können wir machen. So ist es gut. Bis dahin kann auch ich das ganz bestimmt noch regeln.“ jubelte Annabelle. Lili wurde ganz mulmig. Doch hatte sie nichts was dagegen gesprochen hätte. Genau zu dieser Zeit hatte sie selbst Semesterferien. Es war noch eine Weile hin. Selbst Michi, der auch nicht der schnellste war, Dinge zu organisieren, hätte genug Zeit, seinen Urlaub zu beantragen und sich an den Gedanken zu gewöhnen.
Michi arbeitete unablässig viel und das war mehr, als ihm gut tat. Neben der Arbeit war nur noch Platz für Lotta und Pieter, die er über alles liebte. Der Kontakt zu Freunden war schon nach der Schulzeit, als sich diese über ganz Deutschland verteilten, deutlich weniger geworden. Inzwischen war Michi abends nicht mal mehr in der Verfassung, noch telefonieren zu wollen. Er wollte nur noch seine Kinder sehen, mit ihnen spielen, ihnen vorlesen und sie zu Bett bringen, wenn er denn schon zuhause war.
Kam er erst dann, wenn die Kinder schon schliefen und sah sie nicht einmal mehr am nächsten Morgen, weil er schon aufbrach, wenn sie noch schliefen, dann hinterließ das ein löchriges Gefühl in ihm. Doch die Arbeit nagte auch an ihm. Notfalls hielt er es einige Tage mit diesem Gefühl aus und tröstete sich mit dem Wissen, dass es auch wieder anders kommen würde.
Zuhause angekommen, wünschte er sich nur mehr Ruhe, Harmonie und Zufriedenheit. Mit der Kleidung, die er in der Arbeit trug, wollte er auch die Verpflichtungen des Tages abstreifen. War die Wohnung aufgeräumt, waren die Kinder zu Bett gebracht, war da einfach nichts mehr, was er zu tun müssen glaubte, konnte er sich zurücklehnen.
Und Lili? Sie war die Mutter seiner Kinder, eben seine Frau.
6. Kapitel
Es wurde Frühjahr und es kam der Tag der Wahrheit. Die Frauen setzten ihren Sommertagstraum in die Realität um und aufgeregt wie Teenager trafen sie sich am Bahnhof. Sie hatten Sekt dabei und das war auch das erste, was sie taten, als der Zug die Stadt verließ. Sie stießen darauf an, ihre Träume in die Tat umgesetzt zu haben. Sie fühlten sich frei und beschwingt.
Lili war kurz davor gewesen, abzuspringen. Sie war ziemlich erkältet als es losging und sie hatte Angst, die anderen zu stören, damit zu beeinträchtigen, krank zu sein. Vielleicht hatte sie aber auch nur Angst vor ihrem Weg in die Freiheit. Doch auch sie saß mit im Zug und fieberte bibbernd dieser Reise entgegen.
Angekommen in der großen Stadt, auf dem Bahnhof, auf dem Weg zwischen den völlig unbekannten Straßen, den vielen Menschen inmitten der Straßenbahnen, Autos und viel höheren Häusern als sie das kannte, sog sie diese Wucht bereits in sich auf. Sie fühlte sich wohl und doch war sie froh, dass eine ganz private, leere Wohnung dort auf sie wartete, ihr Zuhause für diese Tage sein sollte. Dort zog sie sich zurück. Dort machte sie sich ein Lager für sich, denn sie war ja die, die krank war und ließ die andern beiden alleine losziehen.
„Das war ein echt guter Inder“, sagte Annabelle am nächsten Morgen beim Frühstück in der Küche. „Schade, dass du nicht dabei warst. Das war schön dort und richtig lecker, so was findest du nicht bei uns.“ Marlene pflichtete ihr bei. Lili war sehr froh ihre Erkältung vorschieben zu können. Wenn sie recht überlegte, war sie erst einmal in ihrem Leben indisch essen gewesen, und das notgedrungen. Sie war nach wie vor eher skeptisch. Außerdem hatte sie der Entschluss auf diese Reise zu gehen, dann hier anzukommen, all diese wuchtigen Eindrücke des Ankommens am Abend zuvor, ganz schön mitgenommen. „Das kapiert doch keine von denen!“ dachte sich Lili und erzählte wie sehr ihr es gut tat, gestern abend einfach nur noch einen Tee zu kochen und dann ins Bett zu gehen. Und tatsächlich, allmählich begann sie, sich auf diese Tage zu freuen, Ideen zu entwickeln, was sie hier alles machen und sehen wollte.
Lili war es dann auch, die unbedingt einen „Führer“ kaufen gehen wollte. Die anderen machten sich zwar lustig, doch Lilis Idee war nicht mehr zu bremsen und so gingen sie alle drei nach dem Frühstück los.
Die Tage verbrachten sie stets in der Stadt. Sie guckten das an, was wohl alle Touristen sich in dieser großen Stadt suchen. Annabelle und Marlene wollten immer auch shoppen und Lili ging manches mal auch mit, die meiste Zeit streifte sie aber lieber alleine durch die Stadt bis sie sich trafen. Sie liebte es die Atmosphäre einer anderen Stadt, zumal einer so großen in sich aufzuatmen, die Vielfalt der Menschen zu betrachten, die durch die Straßen eilen, schlendern, wanken, die Andersartigkeit der Häuser und Straßen, der Busse und Bahnen zu erleben, all das auszukosten und sich als Teil davon zu fühlen.
Einzukaufen und dann zuhause zu kochen, zuhause, in dieser privaten, leeren Wohnung des Freundes von Marlene, verstärkte das Gefühl, Teil zu sein dieser großen Stadt. Lili fühlte sich bald so als wäre sie dort wirklich zuhause.
Sie kannte den Kiez, den Laden für das Obst und das Gemüse, der auch die Milch für das Frühstück verkaufte, den Händler für französischen Wein und Käse und natürlich den Kiosk, wo sie ihre Zigaretten holte. Sie liebte die vielen kleinen Straßen, gesäumt von hohen Häusern und wusste die Wege, die sie zu den großen Straßen führten, dort wo die Straßenbahn fuhr. Sie verlief sich nicht einmal.
Abends gingen sie auch gern einmal essen. Endlich einmal nicht für die Familie, die Kinder sorgen. Endlich einmal alle viere gerade lassen, es sich richtig gut gehen lassen, das vergaßen sie alle drei nicht eine Minute.
Und dann ab in die Kneipen, ab in die Clubs. Auch das war etwas, wonach sie sich sehnten. Nicht auf die Uhr schauen, nicht an den morgigen Tag, die fordernden Kinder oder einen Babysitter denken. Einfach weggehen, tanzen, trinken, vergessen, was ist und was kommt. Getragen von zwei Freundinnen, die immer dabei sind, die einen nach Hause begleiten.
7. Kapitel
„Willste mal?“ fragte dieser Kerl neben Lili und hielt ihr doch tatächlich nen joint hin. Lili konnte es nicht fassen. Sie war inmitten einer echt netten Disco. Tanzschuppen hätte es noch besser getroffen. Ein Geschwisterpärchen, Bruder und Schwester, das sie in einer anderen Kneipe kennen gelernt hatten, einfach weil sie sich zu ihnen an den Tisch setzten, hatten sie hierhin mitgenommen. Sie hatten sich alle ein Taxi geteilt und schon waren sie hier. Soul-Music, nette und ganz verschiedenartige Leute tummelten sich auf einer winzig kleinen Tanzfläche, die an einen kleinen Barraum angrenzte. Und dort stand dieses Sofa. Ein Sofa, wie sie so viele nun schon in den unterschiedlichsten Clubs der Stadt gesehen hatte und alle hatte sie geliebt. So etwas kannte Lili nicht aus ihrer Stadt. Wegzugehen, zu tanzen, zu lachen, zu quatschen und mitten drin sich gemütlich mal aufs Sofa zu kuscheln, auszuruhen, das alles war Lili wirklich neu. Und es machte Lili Spaß. Aber das jetzt? Das war auch neu für Lili, doch das fand sie doof. „Plumpe Anmache.“ dachte Lili und sagte. „Nee, laß mal. Brauch ich nicht. Ich muss mich nur mal grad ausruhen. Hab zuviel getanzt.“
Lili wusste gar nicht wie es geschah. So plump und doof sie diese Anmache fand, denn als etwas anderes konnte sie das einfach nicht verstehen, sie fand ihn nett, den Kerl. Und so saß sie auf dieser und später einer anderen Couch des Ladens und redete und redete immerzu mit diesem einen Mann. Annabelle und Marlene und auch die beiden, die sie hier her gebracht hatten, hatte Lili schon lange aus den Augen verloren. Irgendwann einmal sah sie, dass sich deren Kreis inzwischen auch um einige Leute erweitert hatte, aber Lili nahm es nur zur Notiz. Sie redete weiter. Die Spannung wuchs. „Doch reden ist doch nicht verboten!“ dachte Lili, die das gar nicht wahrhaben wollte. Sie genoss es einfach, diese ungeteilte Aufmerksamkeit von diesem Mann zu bekommen. Beinahe war sie eingeschlafen, auf diesem ach so bequemen Sofa, als er ihren Nacken streichelte. Doch das war verboten und das sagte sie ihm auch.
Als es draußen dämmerte, setzte der Wirt sie alle auf die Straße. Da standen sie dann und kaum jemand von ihnen wollte schon ohne die anderen sein. Ein wunderbares Band trug sie alle, so müde sie doch waren. „Hej, da gibt’s nen Bäcker, der verkauft auch Kaffee und der macht bald auf.“ fiel es irgendeinem ein und schon zogen sie alle los.
Mit Kaffee und Stullen stärkten sie sich. Eine lustige Begegnung von Nacht und Tag an dieser Theke.
Der Vater mit seinem dreijährigen Sohn auf dem Laufrad aus Holz, vor der Tür geparkt. Die alte Oma, die schon lange nicht mehr schlafen konnte und jetzt endlich ihre Brötchen holen und wieder mit jemanden ein paar Worte wechseln konnte und dann diese Nachteulen. Sie, denen jeder ansah, dass sie die Nacht nicht geschlafen hatten, dass sie lachend, tanzend, flirtend und auch trinkend durch diese Nacht gelebt hatten. Die Oma sah sie skeptisch an, doch gefährlich sahen sie nicht aus. Sie war beruhigt.
Annabelle und Marlene holten sich Kaffee und Stullen. Lili war noch immer im Bann von Max. Sie schaffte es kaum, ihren Kaffee zu trinken und die Stulle, die er holte, die ging gar nicht. Vor dem Bäcker rauchte sie dann eine Zigarette ganz mit ihm allein. Er gab ihr seine Nummer. Er wollte, sie wiedersehen.
Ein Stück gingen sie noch den Weg zusammen, gemeinsam mit Annabelle und Marlene. Dann trennten sich ihre Wege. Sie folgte ihm nicht nach durchzechter Nacht in seine Wohnung. Er hatte gefragt. Auch kein Kuss, nur ein Blick. Ein Blick zurück.
Als sie mit Marlene und Annabelle die Greifswalder Straße entlang ging, war Lili einfach nur erschöpft, fertig. Eine Nacht hatte sie nichts geschlafen und dann dieser Typ. In ihrem Kopf kreiselte es nur so vor Gedanken. Ihr ganzer Körper vibrierte davon. Annabelle und Marlene sagten keinen Ton. „Vielleicht sind sie nur zu müde.“ dachte sich Lili, hatte aber auch gar keinen Platz dafür, sich auch noch um die beiden Gedanken zu machen. Sie schienen ganz zufrieden. „Wer weiß, was die beiden letzte Nacht so erlebt haben.“ kam es ihr erleichternd in den Sinn als sie still neben ihnen in die Wohnung ging. Dann fiel sie nur noch ins Bett.
8. Kapitel
Ein Tag und eine Nacht in dieser aufregenden, großen Stadt folgten. Lili, Marlene und Annabelle schliefen bis Mittag. Als Mütter, die sie waren, war das lang, trotz der durchzechten Nacht, die hinter ihnen lag. Sie duschten ausgiebig und trafen sich in der Küche zum Frühstück.
„Das war eine geile Nacht, was?“ frohlockte Annabelle. Sie war immer noch richtig aufgedreht. Marlene hatte es auch gut gefallen und schon bald wusste Lili, was die beiden die Nacht so erlebt hatten. Sie hatten viele Leute kennen gelernt und sich gleich für diesen Abend verabredet, diesen Abend bei einem Inder zu beginnen. Außerdem stand eine ganz private Einladung zum hawaianischen Essen bei Einem der Süßen aus. Insbesondere Annabelle hatte sich einen Mann ausgeguckt und schwelgte auf Wolke Sieben. Marlene hatte da so ihre Bedenken. „Jetzt aber mal halb lang, Annabelle. Du kennst den doch gar nicht. Gestern da war doch jeder irgendwann süß und betrunken, vergiss das nicht. Und außerdem haben wir doch auch unsere eigenen Ideen. Da brauchen wir die doch nicht dazu, oder? Den Inder mach ich gerne noch mit, aber dann lass uns doch auch erst mal gucken, was wir so finden, ja?“ Die Enttäuschung auf Annabelles Gesicht glich fast dem auf dem trotzenden ihrer kleinen Tochter als Annabelle diese Predigt hörte. Man sah ihr an, dass sie am liebsten aufgeschrieen hätte und sich noch mal zurücknahm. „Na ja, dann ruf ich mal an und frag nach der Adresse von dem Inder.“ sagte sie noch bevor sie aufstand. Lili war froh um den Diskurs der Freundinnen. Sie fühlte sich nach den Worten von Marlene noch mehr zwischen den Stühlen und spürte ihre Scham. „Irgendwann war jeder süß und betrunken.“ ließ sie die Worte nachklingen. „Ich kenn Max auch eigentlich überhaupt nicht.“ wurde es ihr bewusst. „So ein Glück, dass ich heute morgen nicht einfach mit ihm mitgegangen bin. Beinahe hätte ich ja gesagt als er mich gefragt hat. Puh.“ sinnierte Lili. „Was war denn mit dir los? Gestern, meine ich. Dich hat man ja gar nicht mehr gesehen.“ riss Marlene sie plötzlich aus ihren Gedanken heraus. „Ja, das war toll.“ antwortete Lili fast apathisch. „Was war toll? Von was sprichst Du?“ Marlene verstand scheinbar nicht. „Na, diese Nacht, einmal eine ganze Nacht durchfeiern, nicht an den nächsten Morgen denken, nicht einmal nachdenken, was kommt.“ blieb Lili immer noch allgemein. Sie wollte nicht über Max reden. Sie wusste doch selbst nicht, was das gestern Nacht mit ihm war. Lili war froh, dass Annabelle nicht im Raum war. Annabelle, die es liebte, solche Themen auszubreiten oder die der anderen hervorzuholen. Annabelle, die nicht einmal den Anstand besaß, aufzuhören, wenn man nicht davon sprach, so wie eben jetzt. Marlene war anders. Marlene mochte vielleicht auch spüren, dass da etwas mit Lili und Max passiert war und auf diese unauffällige Weise fragte sie sogar danach. Doch jetzt, wo Lili nichts dazu sagte, ließ Marlene es gut sein und fragte „Kommst Du heut mit mir ins Jüdische Museum? Annabelle mag gar nicht, aber ich will es in jedem Fall sehen. Die Architektur wurde sehr gelobt und auch die Ausstellung.“ „Gerne, das ist nach meinem Geschmack.“ sagte Lili und dachte bei sich „Gerade nach dieser Nacht.“
Annabelle verzog beleidigt das Gesicht als sie zurück in die Küche kam und hörte, was Lili und Marlene planten. Doch als sie Lili von ihrer Eroberung der letzten Nacht vorschwärmte und diese so gar nicht darauf reagierte, gab sie endgültig auf. „Wisst Ihr was, ich glaub, ich bin eh noch viel zu müde. Ich muss unbedingt noch mal ins Bett. Ich pack das heut Abend sonst überhaupt nicht. Und wer weiß, was da noch auf mich zukommt.“ seufzte sie verheißungsvoll und machte sich auf den Weg in ihr Bett. Lili und Marlene grinsten sich nur an und tranken den Rest ihres Kaffees aus, bevor sie sich auf ihren Ausflug vorbereiteten.
Sie verbrachten den Tag wie sie es geplant hatten. Beiden gefiel es. Das Museum war nicht umsonst gelobt worden und Lili dachte sich, dass sie nun endlich auch etwas zu erzählen hätte, etwas, was man eben macht, wenn man in dieser Stadt ist. „Museen besichtigen, für die diese Stadt bekannt ist, nicht sich Nächte um die Ohren schlagen und fremde Männer abschleppen, etwas von der Stadt sehen, Sehenswürdigkeiten heißt das.“ dachte Lili ganz panisch als sie durch einen langen, kahlen, spitz zulaufenden Gang des Museums lief. Er sollte die Panik der Juden damals vermitteln, die Ausweglosigkeit ihres Lebens. „Absurd!“ dachte Lili und schämte sich fürchterlich. Sie spürte Panik in sich. „Das ist nicht vergleichbar!“ schüttelte sie alles in sich von sich ab. Die nächsten Stunden sog sie alles in sich auf, was sie wirklich vor sich sah, die Fotos und Ausstellungsstücke, die Filme. Sie dachte immer nur daran, dass sie davon zuhause erzählen könne.
Marlene und Lili waren erschöpft als sie das Museum verließen. Sie gingen noch in ein Cafe, tranken etwas, aßen eine Kleinigkeit und ließen die Eindrücke auf sich wirken. Sie sprachen über die Grausamkeit, die Menschen, die das getan haben und die, denen das geschehen ist. „Kinder, Alte, Frauen und Männer. Unvorstellbar. Und da siehst du ihre Bilder, Briefe und es ist wahr!“ erinnerte sich Lili. Marlene sprach viel von der Architektur des Museums. Und da war es wieder da. Das Gefühl, das Lili so sehr verdrängen wollte. Das Gefühl, das sie erlebt hatte als sie durch diesen langen, kahlen, spitz zulaufenden Gang ging, der die Ausweglosigkeit der Juden darstellen sollte. „Verdammt! Und ich fühl mich ausweglos, oder was? Wegen einem Kerl und einer durchzechten Nacht!“ dachte sie. Doch Lili konnte ihr Gefühl in diesem Gang nicht vergessen. Ihre Scham, dass sie sich ausweglos fühlte. Sie konnte diese Nacht und diesen Mann nicht mehr vergessen.
„Ich muss mal aufs Klo.“ meinte Lili und stand auf. Vor den Blicken anderer verborgen und sicher suchte sie ihre Taschen ab. Erleichtert zog sie ihn hervor. Sein Zettel, den er ihr geschrieben hatte, um sie wiedersehen zu können. „So war das doch. Er will mich wiedersehen. Hier steht seine Nummer und seine Adresse. Sogar seinen vollen Namen hat er draufgeschrieben.“ murmelte Lili in sich hinein. Auch wenn Lili nun immer noch nicht wusste, was sie mit dieser Erkenntnis tun sollte, fühlte sie sich ruhiger als sie die Spülung der Toilette drückte, die Kabine verließ und zu Marlene zurückkehrte. Marlene hatte bereits gezahlt und drängte zum Aufbruch.
„Zurück nach Hause schlendern wir jetzt einfach durch die Stadt, ja?“ schlug Lili vor. „Dann sehen wir auch was von dieser tollen Stadt und haben gleich wieder neue Eindrücke, von denen wir zuhause erzählen können. Ich liebe es, durch Städte zu laufen, ihre Luft zu atmen, ihre Menschen und Häuser und Straßen anzusehen und zu spüren, wie sie alle darin leben. Was hältst Du davon?“ Lili war regelrecht beschwingt und mitreißend in ihren Worten und Marlene war begeistert. „Oh, ja. Dann kommen wir bestimmt auch irgendwo vorbei, wo wir Karten für die Kinder kaufen können. Das haben wir nämlich auch noch nicht gemacht. Und das dürfen wir auf keinen Fall vergessen, wir Nachteulen.“ lachte sie.
9. Kapitel
Diesem Tag wie er im Reiseführer steht, folgte ein ernüchternder Abend. Zumindest im Vergleich zum vorangegangenen.
Annabelle stand schon in den Startlöchern als Marlene und Lili höchst zufrieden zurückkamen. Völlig überdreht und gestylt fanden sie sie kniend inmitten eines Berges von Kleidung, zerstreut über den Zimmerboden vor. „Ich weiß nicht, ob ich das jetzt so anlassen soll, was ich anhab. Ich versuch schon seit Stunden das Beste rauszuholen, aber ich hab ja nicht alles dabei, was gut ist und jetzt weiß ich allein echt nicht.“ stammelte sie vor sich hin. Lili und Marlene fingen fast zeitgleich an loszulachen. Das sah wirklich zu komisch aus. Sie kannten sich als Mütter. Als alles organisierende und im Griff habende Frauen. Das hier war etwas völlig anderes. So hatten sie selbst Annabelle noch nie gesehen. „Süß. Du bist echt süß.“ schmunzelte Lili, die von solchen Dingen nun wirklich keine Ahnung hatte, aber sich über ihre Freundin und deren Aufregung freute. „Das muss ja ein wirklich toller Hecht sein, dieser Typ, den du da gestern kennen gelernt hast. Da bin ich ja mal gespannt. Heute lern ich den ja kennen.“ „Freu Dich mal nicht zu früh.“ orakelte Marlene. „Oh!“ brach es aus Annabelle hervor. „Jetzt ist aber genug! Ich hab gesagt, ich brauch eure Hilfe und überhaupt. Ihr seid verdammt spät. Ihr müsst euch auch noch umziehen. Ihr wollt ja wohl nicht so zu unserer Verabredung erscheinen!“
Rasch traten Lili und Marlene den Rückzug an. „Bevor die hier noch anfängt mit Schlüpfern zu schmeißen.“ raunte Marlene Lili zu als sie ins Bad ging und kicherte. „Na, dann wollen wir mal gucken, was wir aus uns machen.“ antwortete ihr Lili lachend und ging sich umziehen.
Auf dem Weg zum Restaurant, wo sie sich treffen sollten, wurde es dann friedlicher zwischen den drei Freundinnen. Annabelle erzählte, es sei ein Inder und Marlene freute sich schon, in Erinnerung an den des ersten Abends. Annabelle freute sich ohnehin, denn endlich war die Zeit des Wartens vorbei. Endlich konnte sie den Mann wiedersehen, an den sie seit der vorangegangen Nacht immerzu denken musste. Ein junger, knackiger angehender Arzt, für den sie ihre Stadt verlassen würde. Sie hatte sich alles schon genau überlegt. Sie war alleinerziehende Mutter. Es gab keinen Vater, keine derartige Verpflichtung ihrem Kind gegenüber. Sie konnte ihre Stadt ohne weiteres sofort verlassen und zu ihm ziehen.
Die Ernüchterung kam bald. Der Mann kam nicht. Seine Freunde entschuldigten ihn, er müsse lernen. Wichtige Prüfungen stünden an. Die dürfe er auf keinen Fall in den Sand setzen.
Dafür kam schlechtes Essen. Es war zu stark mit Curry gewürzt. Man hätte es eigentlich auf der Straße wissen müssen, denn dort schon roch man dies. Lilis Essen war zu scharf. Nicht weil sie eine Frau war und selbst zu empfindliche Geschmacksknospen hätte. Auch die Männer probierten. Keiner konnte das essen. Lili musste es nach einem Drittel zurückgeben. Sie war enttäuscht und fühlte sich zugleich bestätigt. „Indisches Essen, das ist nicht mein Geschmack.“ dachte sie sich.
Der ganze Abend war nicht nach ihrem Geschmack. Diese geschniegelten Jungs, Männer konnte man sie beim besten Willen nicht nennen, sie langweilten Lili. Was Annabelle und sogar Marlene an denen am Abend zuvor gefunden haben wollten, blieb ihr unbegreiflich. Gerne hätte sie zumindest Marlene dazu befragt, aber das war unmöglich. Sie saßen hier in diesem nach Curry stinkenden Inder, eng aneinander gedrängt mit drei Jungs, Freunden des großen Unbekannten, des Herzensbrechers von Annabelle. Und genau dieser ominöse Wunderbare blieb dem Treffen fern. Über ihn konnte sie sich keine Meinung bilden. Doch sie zweifelte, dass er anders sein könnte und dachte an die Worte Marlenes beim Frühstück. „Gestern war jeder irgendwann süß und betrunken.“ sinnierte Lili, während sie dem seichten Gerede der anderen fünf am Tisch nicht wirklich Gehör schenkte. Ihre Gedanken schweiften mehr und mehr ab von diesem Tisch und bald schon war sie wieder in diesem kleinen Club, hörte die Soul-Musik, sah die verschiedenartigsten Menschen um sich herum tanzen, lachen, trinken und dann sah sie ihn, sah Max, sah sich mit Max auf diesen Sofas.
„Was mach ich hier?“ fragte sich Lili im Stillen und stand auf, um die Toilette zu suchen. Selbst auf der Toilette, die im Keller lag, stank es nach Curry. „Sagenhaft!“ dachte sich Lili und setzte sich auf die Klobrille. „Hätte nie gedacht, dass man damit selbst den Geruch von Pisse wegkriegt. Muss ich mir merken.“ lachte sie. Als sie fertig war, zog sie fast mechanisch zum ixtenmal den Zettel von Max aus ihrer Tasche. Da fiel es ihr ein. „Heute Abend ist er gar nicht zuhause, hat er gesagt. Er muss Geschäfte erledigen. Was auch immer das ist, was auch immer ich hier mache, ihn kann ich heute nicht sehen!“ beruhigte sich Lili, faltete den Zettel fast zärtlich und steckte ihn zurück in ihre Hosentasche.
„Hört mal, selbst auf dem Klo stinkt es nach Curry und nicht nach Pisse. Sagenhaft, hätte ich nicht gedacht, dass man damit diesen Geruch dort aus der Nase kriegt.“ flüsterte Lili den anderen zu als sie sich wieder an den Tisch setzte. Die lachten gezwungen und irgendwie hatte Lili das Gefühl, dass sie mit dieser Mischung von Leuten überhaupt nicht klar kam.
Bald hatten alle ihr Essen abgeschlossen. Keinem hatte es wirklich geschmeckt. Und die Jungs führten Annabelle, Lili und Marlene in eine kleine Kneipe. Diese war nett und gemütlich, Sofas und Sessel, nette Leute und trotzdem half auch die Atmosphäre und das Bier nicht, etwas anderes als Oberflächlichkeit zwischen den sechs Leuten herzustellen. Lili war es egal, nun da sie sich erinnert hatte, dass sie Max heute ohnehin nicht mehr sehen würde. Marlene schien ebenfalls alles einfach so zu nehmen, wie es kam, doch Annabelle war todunglücklich und konnte das auch nicht verbergen. Sie versuchte alles, um sich zu erklären, warum ihr Traumprinz nicht zu ihr gekommen war. Sie fragte seine Freunde nach ihm aus und gab sich verständnisvoll. „Na klar, wenn er Arzt werden will, dann muss er viel lernen, der Arme. Das hat er mir ja auch erzählt, dass er da voll drin hängt, und dass er da auch alles dafür tun will. Das ist bewundernswert. Wirklich toll, finde ich das.“
Nach dem dritten Bier verabschiedeten sich alle von einander, sprachen lachend von vagen Verabredungen und waren bis auf Annabelle vermutlich doch alle einfach froh nach Hause zu kommen. Auch die letzte Nacht hatte ihre Spuren hinterlassen.
„Mensch Annabelle“, sagte Lili als die Jungs weg waren, „du bist gar nicht müde, oder? Du würdest doch jetzt am liebsten zu ihm fahren, nachsehen, ob der auch wirklich über seinen Büchern sitzt, stimmt’s?“ „Lass mich in Ruhe. Ja, verdammt. Ich glaub es ihm nicht. Der hat Angst vor mir, das glaub ich.“ platzte es aus Annabelle heraus. Marlene sagte nichts dazu.
Ihr Gesicht und ihr ganzer Körper sagten alles. Sie musste ihre Meinung dazu nicht noch einmal kundtun. Das hatte sie nun oft genug getan und ein Riss durch die Freundschaft zu Annabelle war entstanden. Lili spürte das genau und sie war froh, dass Marlene sich jetzt zurückhielt, dass sie jetzt einfach nur still mit ihnen ging. Annabelle erzählte Lili von ihren Sehnsüchten mit diesem Mann, ihren Träumen, zu ihm zu gehen, ihre Stadt mit ihrem Kind zu verlassen. Annabelle erzählte, dass sie alles hinter sich lassen wolle und neu anfangen wolle, mit ihm. Lili hörte einfach nur zu. All das kam ihr sehr fremd vor, doch niemals hätte sie gewagt das zu sagen. Sie konnte es sich nicht vorstellen, sie sah keinen Boden für eine solche Sehnsucht, aber das war Annabelle. Und die tat ihr jetzt einfach nur leid.
Marlene verschwand dann auch gleich in ihr Bett als sie zuhause angekommen waren. Lili trank noch ein Glas Wein mit Annabelle, hörte ihr weiter still zu, konnte es nicht fassen, was sie da hörte, konnte ihr aber auch nicht weiter helfen. „Weißt Du was, geh jetzt einfach schlafen.“ sagte sie schließlich zu Annabelle als sie aufstand, um selbst ins Bett zu gehen. „Morgen ist ein neuer Tag. Vielleicht weißt du dann mehr.“ Annabelle zog den Kopf weg unter Lilis Hand, die hilflos über diesen streichelte. Das waren nicht die Antworten, die sie suchte. Und an Schlafen war nicht zu denken. „Geh schlafen!“ sagte sie nur. „Und schlaf gut, Du!“
10. Kapitel
Der nächste Morgen kam bald für Lili. Sie schlief unruhig und wälzte sich durch wilde Träume. Als sie die Augen endgültig aufschlug und auf ihren Reisewecker blickte, war es erst acht Uhr. „Auch wenn der letzte Abend wirklich nicht lang war, diese Nacht, die war ja schon wieder kurz.“ dachte sich Lili verwundert. „Brauch ich denn gar keinen Schlaf mehr?“ Sie kroch aus ihrer Decke, streckte sich ausgiebig und schlich leise in die Küche. Aus dem anderen Zimmer, in dem Marlene und Annabelle schliefen, hörte sie kein Geräusch. Die Wohnung war still. Alles schlief. Das gefiel Lili ausgesprochen gut. Eine Zeit ganz für sich zu haben, das wollte sie nun genießen. Sie ging in die Küche, kochte sich Kaffee und drehte sich erst mal eine Zigarette. Dann stöberte sie den Stapel mit alten Zeitungen durch. Kein Gequatsche, kein Reden, kein Erklären, kein Planen und noch nicht einmal zuhören müssen. Das tat gut. Sie trank ihren Kaffee aus und dann ging sie duschen.
Unter der Dusche fiel es ihr ein. Heute war Sonntag. Heute war der Tag gekommen, an dem sie ihn wieder sehen konnte. An dem sie ihn wiedersehen musste. Sie würden nur mehr zwei Tage hier in dieser wunderbaren Stadt sein und dann schon wäre ihre Zeit hier vorbei. Sie musste diesen Tag nutzen. Auch sie wollte ihn wiedersehen. Lili stieg aus der Dusche und nahm sich die Zeit, ihren Körper noch ganz bewusst zu pflegen. In Gedanken schon am Telefon, griff sie nach der Lotion, verteilte sie über die Haut auf ihren Armen und Beinen und auch ihren Bauch und ihre Brüste salbte sie nach und nach ein. „Jetzt!“ dachte Lili. „Jetzt oder nie!“ Sie öffnete leise die Tür zum Gang und stellte erleichtert fest, dass immer noch alle schliefen. Niemand würde etwas hören.
11. Kapitel
Als Lili am nächsten Morgen aufwachte, konnte sie es kaum fassen. Sie fühlte sich einfach nur glücklich und frei.
Lili hatte es gewagt. Sie hatte ihn angerufen. Max hatte gehofft, dass es Lili sei, sonst wäre er um zehn Uhr morgens gar nicht ans Telefon gegangen. Ihr Herz machte einen Sprung als er ihr das erzählte.
„Normalerweise gehe ich um zehn Uhr gar nicht ans Telefon.“ erzählte Max ihr am Sonntag Nachmittag. Sie suchten die Spree nach einem Schiffsablegeplatz ab, weil Lili so gerne Schiff fuhr. Sie liebte das Wasser. „Lili, ich hatte gehofft, dass Du dran bist und nur deshalb bin ich ans Telefon gegangen.“ fügte er hinzu und lächelte. Lili guckte verlegen auf die andere Seite, dahin wo die ersten Löwenzahnblätter im hellen Grün des Frühlings den Weg säumten. Er schmeichelte ihr sehr, als er das sagte.
Lili hatte ihn in seiner Wohnung besucht, denn die wollte sie sehen. Sie wollte wissen, wie er lebt und wer er ist. Sie waren Schifffahren gewesen und irgendwo haben sie wohl auch was gegessen, bevor sie dann noch mal zu ihm nach Hause fuhren. Eigentlich wollten sie dann noch mal rauszugehen, um Marlene und Annabelle zu treffen. Doch dann war alles wie beim ersten Mal. Max und Lili tranken und redeten, redeten, redeten. Lili fühlte sich so wohl in dieser riesigen, superchaotischen Wohnung, zwischen den Kerzen und Lichterketten, den ungespülten Gläsern, den Stapeln von irgendwas, die den Fußboden nicht mehr erkennen ließen. Lili fühlte sich wohl bei Max. Lili konnte sehen, wie er lebt und wer er ist. Sie liebte dieses Chaos von Stapeln über die man steigen musste vom ersten Moment.
Da saßen sie inmitten dieser Stapel auf dem Fußboden und redeten und redeten. Es wurde immer später. Lili wollte einfach nicht mehr weg. „Ich schreib ihnen jetzt einfach eine sms. Ich will nicht mehr raus. Kann ich bleiben?“ fragte sie Max. Sie fürchtete Annabelle, die vielleicht neidisch sein könnte, da ihr Traumprinz sie enttäuscht hatte. Sie fürchtete auch ein Gespräch mit Marlene, die schon Annabelle verurteilt hatte. „Neid und Verurteilung, das kann ich jetzt echt nicht gebrauchen.“ dachte sie als sie Max sagen hörte: „Klar, ich freu mich.“
Als Max und Lili sich mit Annabelle und Marlene zum Frühstücken verabredeten, hatten sie nicht viel geschlafen. Lili war froh, dass ihre Freundinnen ihr nicht böse waren, dass sie einfach kamen, als wäre nichts geschehen. „Ist ja auch nicht!“ dachte Lili bei sich und trotzdem durchzog sie ein schlechtes Gewissen. Sie war den ganzen Tag zuvor alleine oder schlimmer, mit Max unterwegs gewesen, nicht mit ihnen. Und dann war sie nicht mal nach Hause gekommen. PASS AUF DICH AUF! hatte Marlene mütterlich auf ihre Kurznachricht geantwortet. Das Gefühl eines erhobenen Zeigefingers blieb in Lili zurück. Mit einem Bangen blickte sie dem Treffen entgegen.
Ein wunderbarer Frühsommermorgen wärmte den Tag und sie beschlossen sich draußen vor einem Cafe nieder zu lassen. Croissants und Kaffee füllten ihre Mägen und sie erzählten sich von ihrem vergangenen Tag.
Lili beobachtete ihre Freundinnen genau. Beruhigt stellte sie fest, dass nichts Ungutes in der Luft hing. Sie mochten Max und lachten mit ihm. Sie waren neugierig, was das für ein Mann war, mit dem Lili so viel Zeit verbracht hatte, aber nicht mal Marlene schien etwas auszusetzen zu haben. „Puh,“ dachte Lili bei sich und wurde euphorisch.
Allmählich kroch der Abschiedsschmerz in ihre Herzen. In wenigen Stunden war es soweit. Der Zug zurück fuhr ab.
Als die Zeit einfach keine Verzögerung mehr zuließ, sie Erinnerungsfotos gemacht und viel gelacht hatten, verabschiedeten Annabelle, Marlene und Lili sich von Max.
„Na, Lili?“ meinte Marlene jetzt als Max außer Sichtweite war und Lili sich das letzte mal nach ihm umgedreht hatte. „Was war letzte Nacht?“ Lili war sprachlos. Marlene fragte solche Dinge? Das passte doch gar nicht. Das war Annabelles Part, doch die grinste nur breit. „Aha! Ich möchte nicht wissen was die alles geredet haben.“ dachte sich Lili und überlegte nur kurz, denn sie wusste, es war nichts passiert. Sie war auf der sicheren Seite. „Nichts was ihr denkt. Wir haben viel geredet und eine schöne Zeit verbracht.“ antwortete sie freudestrahlend. „Das glaubst du doch selbst nicht, wie du grinst.“ fuhr es aus Annabelle jetzt heraus. „Du hast nicht mit ihm geschlafen?“ fragte jetzt tatsächlich Marlene. Doch Lili sagte nur noch „Nein!“ und dann ging sie lächelnd neben ihren Freundinnen in die Wohnung, um nun endgültig die Koffer zu packen. So wenige Tage und doch so lange war hier in ihrem Herzen ein Zuhause gewachsen.
Texte: alle Rechte beim Autor
Tag der Veröffentlichung: 03.06.2009
Alle Rechte vorbehalten