Die Schatulle der
gebrochenen
Herzen
-grün, Farbe der Hoffnung
-rot, Farbe des Schmerzes
-weiß, der Trauer
-schwarz, Schuld
-blau, der Verzweiflung
-lila, der Hoffnungslosigkeit
-braun, Farbe der Enttäuschung
Ich bin nicht mehr die Jüngste, aber ich erinnere mich noch genau an meine Jugend mit ihren Problemen, die mir jetzt wie Nichtigkeiten erscheinen und bin fest entschlossen sie für euch, meine geliebte Enkelkinder, festzuhalten. Ob ihr das alles glaubt oder es nicht nachvollziehbar findet ist euch überlassen. Dennoch hoffe ich damit auch auf eurem Lebensweg einige schlechte Erfahrung ersparen zu können und euch Trost zu spenden.
Wenn ich über etwas nachdenke, ziehe ich daraus gewisse Schlüsse und bilde mir meine Meinung. Auch ich liege mit Vielem falsch und vielleicht, ach was, sicherlich gehen unsere bisherigen Erfahrungen und Meinung ab irgendeinem gewissen Punkt auseinander. Durch mein Geschriebenes will ich euch nicht meinen Willen aufdrücken, sondern, im Gegenteil, auch anregen selbst nachzudenken und euch eigenständig eine Meinung zu bilden.
Ich liebe euch, meine Kleinen
Eure überaus glückliche und zufriedene Großmutter
Eveline Grande
Der Plan für den heutigen Tag, der sich nicht sonderlich von anderen Tagen unterschied, weshalb ich mir auch nicht sicher war welcher Wochentag war, stand fest. Unspektakulär, gewöhnlich und somit langweilig. Aufstehen, Schule, essen, Therapeut, Schwester beschäftigen, essen, einschlafen. Immer dasselbe Muster.
Ich lag immer noch im Bett und konnte mich nicht selbst überreden endlich aufzustehen. Komm schon, du schaffst das!
Diese Ermunterung hätte ich mir genauso gut sparen können, denn geholfen hatte sie nicht. Leider kannte ich mich nur zu gut, deshalb wusste ich, würde ich noch viel länger liegen bleiben, hätte ich nacher ein schlechtes Gewissen. Kurz und schmerzhaft, sagte ich mir und stand mit einem schwungvollem Ruck auf, nur um mich fast sofort wieder auf mein Bett plumpsen zu lassen, da sich mein Sichtfeld in einem kurzen Schwindelanfall verdunkelte, sich jedoch direkt wieder aufhellte. Mein zweiter Versuch war wesentlich vorsichtigerausgeführt. Schlurfend erreichte ich die Tür und schaltete das Licht in meinem Zimmer aus.
Mein Zimmer war eigentlich nicht so klein, es war nur gut gefüllt, was vor allem an den Bücherregalen lag. Bücher waren eins meiner großen Laster. Von denen konnte ich nie genug bekommen. Doch kein Einziges konnte "Drakula" das Wasser reichen. Im Bad geschah nichts Aufregendes, außer vielleicht, dass ich wegen meiner Verschlafenheit drei mal die Zahnbürste fallen ließ. Unten traf ich auf meine Mutter.
"Guten Morgen, mein Schatz!", begrüßte sie mich.
Problemlos konnte ich durch die Maske hindurch sehen, aber was ich dort entdeckte, wühlte mich jedes einzelnes mal auf. Ihre Liebe, die nicht mir galt, der stetige Schmerz und die Sehnsucht. Alle fest verankert in ihrem Herz. Ich konnte es nicht ertragen länger in ihre Augen zu blicken.
"Morgen. Muss los", murmelte ich einsilbig, schnappte mir meine Jacke und verließ das Haus. Nun kam der nächste Schritt auf der Liste.
In der Schule würde niemand auf mich warten. Alle drehten sich um und ignorierten den Freak. In diesem Fall war der Freak ich. Wollt ihr wissen warum? Ich will es euch erzählen, ich half den Menschen. Wenn auch auf nicht so natürliche Weise. Ich machte für keinen die Matheaufgaben oder spendete mein ganzes Taschengeld für arme Kinder in Gunarai. Ich gehe eher etwas subtiler vor. Sagen wir mal so ich bin eine etwas andere Heilerin, denn ich heile Herzen. Um diesen Fakt erstmal sacken zu lassen gebe ich ein kleines Exempel an. An eben jenem Tag traf ich ich inmitten der Menschenmenge von gehetzten Schülern auf Brain. Er war nur eine Klasse unter mir und kümmerte sich lieber um seinen sozialen Status als seine absackende Noten in Physik. Ich quetschte mich durch die Menge und rempelte ihn extra an und wie geplant fielen seine Blöcke zu Boden. Während er sich reflexartig bückte, fing ich an in mich zu gehen und mich zu konzentrieren. Ich versuchte alles auszublenden und schloss dazu meine Augen. Alle meine Gedanken waren auf Brian fixiert. In nur einem Bruchteil einer Sekunde wechselte ich zwischen den Realitäten in meine virtuelle Welt. Es lässt sich mit einem Lichtschalter vergleichen. An und aus und an und aus.
Langsam schritt ich auf den Jungen zu und nahm sein Herz an mich. Er stand da und war gerade dabei seinen Rucksack gewaltsam auf seinen Rücken zu hieven. Der Schulranzen schwebte mitten in der Luft und die Gesichtszüge des Jungen waren wie eingefroren. Die umstehenden Leute sahen wahrscheinlich ähnlich aus.
Die einzelnen Teile waren unangenehm warm und lagen schwer in der Hand. Ich kramte in meiner Tasche nach der Schachtel, die ich überall in irgendeiner Tasche mitschleppte.
Als ich einige Blätter und Hefte herumgeschoben hatte, fand ich die Holzschatulle in den Tiefen meiner Tasche. Umständlich hob ich sie heraus. Ehrfürchtig strich ich mit den Fingerspitzen über das raue Holz. Es roch angenehm nach Zedern und Tannenzweigen. Langsam ließ ich die Scherben des Herzens in die Schachtel gleiten.
`Wie bin ich aber auch auf diese idiotische Idee gekommen? Was habe ich mir nur dabei gedacht? Wer könnte mir danach noch vertrauen? Warum bereue ich meine Tat nicht so wie ich es sollte?`
Die Gedanken des fremden Jungen überstrahlten alle anderen bis ich nur noch das Bedürfnis hatte, mich in meinen Kummer zu wälzen und mich in meinem Selbstmitleid zu suhlen, doch gleichzeitig wollte ich mit irgendetwas um mich werfen und vor Wut laut aufschreien.
Der Drang mich selbst aus diesem Schmerz zu befreien war kaum zu bewältigen, doch kurz bevor ich dem Drang nachgeben wollte riss mich etwas in die Gegenwart zurück.
„Entschuldige.“
Jemand hatte mich ausversehen geschubst und das hatte mich aus der Welt heraus gerissen. Sonst machte das der Schmerz der durch die Gefühle ausgelöst wurde. Schnell verschwand das Mädchen wieder in der Menge, der sich drängelnden und laut schwatzenden Menge. Auch ich machte mich auf den Weg in mein Klassenzimmer.
Niemand begrüßte mich oder fragte mich welche Hausaufgaben wir auf hatten. Meine Klassenkameraden taten so als gäbe es mich nicht. Wenigstens hänselten sie mich nicht. Es würde mich aber auch nicht wundern, wenn sie mich hinter meinem Rücken eine Hexe nannten. An meiner Gabe hatte ich eigentlich nicht viel auszusetzen, aber dass sie mir nie danken werden für meine Taten finde ich schade. Es gibt niemanden der mir sagt dass ich das alles toll meistere, niemanden der sagt wir danken dir dafür.
Das ist doch nicht zu viel verlangt.
Oder?
Schon seit ich etwas älterer bin frage ich mich warum ich diese Gabe besitze und nicht jemand anderes. Habe ich besondere Qualitäten oder war ich einfach gerade zur Stelle. Ich werde es wohl nie erfahren und das machte mich sehr traurig und träge.
Schlurfend erreichte ich meinen Platz im hinteren Teil der Klasse und setzte mich auf meinen Stuhl. Um die noch restliche Zeit zu über winden, beschloss ich schon mal die Sachen für diese Stunde rauszuholen.
„Hey, Joey. Was macht das Training?“, fragte ein Mädchen in meiner nähe.
„Du weißt doch, dass niemand an mich ran kommt. Es war mal wieder unter meinem Niveau“, antwortete Joey und zwinkerte dem zierlichen Mädchen zu. Es war recht schön. Klein, aber wegen ihrem strahlenden rotgefärbten Haaren fiel es einem in der Menge doch auf. Tracy McJaden hieß sie. Aber ich ahnte, würde ich sie nach meinem Namen fragen war es zweifelhaft ob sie ihn wusste.
Beide flirteten noch ein bisschen und verabredeten sich. Happy End.
Ich könnte niemals einfach einen Jungen ohne weiteres Ansprechen. Das war halt so, weil ich tief unten in der Rangordnung stand zusammen mit den paar Strebern und ein paar einzelne Kiffer.
Der Unterricht ist nicht erwähnungswert, denn mit meinen Mitschülern redete ich nicht viel und selbst die Lehrer mieden mich ein bisschen. Ich hatte mindestens jeden von ihnen schon einmal geholfen wenn nicht sogar häufiger.
Sofort als der Lehrer reinkam fing er an von langweiligen Zeug zu schwafeln. Ich stützte meinen Kopf auf meine Hand und schweifte mit meinen Gedanken immer weiter ab.
Der Trick war regelmäßig zu ihm aufzuschauen damit er denkt ich würde ihm interessiert zuhören. Das funktioniert meistens.
Bald sind Ferien und das merkt man an der Unaufmerksamkeit der Klasse. Ich bin ruhig, denn ich habe keine Ferien. Egal wie weit ich von zuhause entfernt bin, werden mir die Gefühle fremder Menschen mir folgen. Irrelevant welche Religion oder Hautfarbe sie haben.
Aber ich kann andere Menschen nicht leiden sehen, deswegen habe ich meine Gabe angenommen. Doch wenn ich nachts in meinem Bett liege und draußen den Wind höre, wie er durch die Blätter fegt und dabei eine Melodie entsteht, frage ich mich, ob ich diese Entscheidung bereuen sollte.
Den restlichen Schultag kritzelte ich zusammenhangslose Wörter auf meinen Block.
Anstatt zum Essen nach hause zu gehen, blieb ich in der Schule. Von hier aus war es kürzerer zum Therapeuten.
Gott sei Dank hat meine Therapeutin sich mit meiner Mutter unterhalten und sie beide haben zusammen beschlossen, dass ich auf dem Pfad der Genesung bin. Aber sobald sich Symptome für eine Verschlechterung meines Gesundheitszustandes ankündigen sollten, könnte ich einen Termin ausmachen und mich aussprechen. Direkt nach dem Kantinenessen (das dürfte schon einiges über die Qualität aussagen) begab ich mich zu diesem besagten letzten Treffen.
Den ganzen Weg dorthin war ich in Schweigen gehüllten. Gedankenversunken blickte ich auf den Boden und schaute auf meine Füße, als wären sie das nächste Weltwunder.
Warum sollte ich mich auch darauf freuen, Sachen gefragt zu werden, auf die ich die Antwort nicht weiß oder nicht antworten will?
Vor dem Haus blieb ich stehen. Gerade erst war es in einem Schild, welches sich vor dem Hauseingang befand stand, der Name meiner Therapeutin und ihr genauer Beruf.
Dr. Miller
Therapeutin für Kinder u. Jugendliche
Zögernd drückte ich auf die Klingel. Schon kurz darauf wurde ich reingelassen. Ich sammelte meinen Atem und erklimm die Treppe, denn ich musste in den 5. Stock. Seufz. Ich trat ein und sofort lag eine Spannung von unausgesprochenen Geheimnissen in der Luft. Zum Glück spürte ich nicht die ausgesprochenen Wörter, weil die wesentlich schlimmer im Raum hingen. „Dr. Miller wird sie gleich drannehmen“, sagte die blonde Sekretärin. Sie trug einen dunkelblauen Blazer und Jeans. Sehr unkonventionell. Allerdings keine Brille oder streng zurück gekämmtes Haar, wie es in Filmen so passend dargestellt wird. Doch wenn ich mir sie anschauen kann ich mir gut vorstellen wie sie mit T-Shirt und Jogginghosen in den Armen ihres Freundes liegt und unsinnige Talkshows ansieht oder in der Einkaufsschlange steht und wartet bis sie an der Reihe ist. Ich nehme auf einem Stuhl platz. Außer mir ist sonst niemand da. Der Warteraum sieht dem in einer Zahnarztpraxis sehr ähnlich, nur mit dem Unterschied, dass hier keine Poster, Bücher oder Zeitschriften über Zähne liegen. Stattdessen kurze Broschüren über physische Probleme für Laien. Ohne wirklich etwas zu lesen, blätterte ich in einigen, doch ich schnappte nur hie und da ein paar nicht zusammen hängende Wörter auf. Lieber konzentrierte ich mich auf das, was ich Dr. Miller erzählen würde und was nicht. Keine 10 Minuten und ein Junge tritt verstört in den Raum. Ich glaube er ist eine Klasse unter mir, ich mustere ihn, spüre jedoch kein zerbrochenes Herz, anscheinend war wirklich nur etwas verwirrt sonst nichts schlimmeres, was mir nur recht war, denn vor meiner Therapeutin ein Herz zu heilen schien mir etwas ... unpassend.
Dr. Miller steckt ihren Kopf zur Tür raus und fordert mich mit einem herzlichen Winken auf einzutreten. Den Kopf gesenkt stand ich auf, legte die Broschüren weg und ging ich zügig ins Büro um es endlich hinter mich zu bringen. Seit ich nun schon hier bin habe ich eins gelernt, schaue ihr niemals in die Augen, weil du sonst in Versuchung kommst ihr alle deine Probleme aufzubinden. Einige, die kamen hierher und noch so tiefe Geheimnisse hatten, kamen, um sie jemanden zu erzählen, doch manche haben welche, damit sie auch geheim bleiben und dann ist die Schweigepflicht der Ärztin vollkommen unwichtig, sie blieben solchen Menschen einfach fern. Denn umso mehr Leute dein Geheimnis wissen, umso größer ist die Gefahr, dass es ans Licht kommt. Unsicher betrat ich in ihr Büro und blieb im Eingang stehen. Verlegen trat ich von einem Bein auf das Andere. Obwohl ich schon einige Male bei ihr in Behandlung war, bin ich immer wieder verlegen, weil es mir peinlich ist besondere Hilfe von ihr anzunehmen.
„Hallo Eveline! Setzt dich doch. Fühl sich ganz wie zu hause. Schließlich kennen wir uns schon etwas länger“, begrüßte sie mich und zwinkerte mir freundlich zu.
„Hallo, Dr. Miller“, grüßte ich höflich aber distanziert zurück und ließ mich auf der zugegebener Weise sehr komfortablen Couch nieder. Sie war cremefarben und passte gut zur restlichen Einrichtung.
„Wie gesagt, du kannst mich Annis nennen.“ Das war so eine Masche, heuchle ihr Freundschaft vor, damit sie dir vertraut, aber eigentlich geht es ihr nur darum dir so schnell wie möglich zu helfen, damit sie das Problem los ist, denn genug Geld hat sie so oder so. Sie ist in keiner Weise mit dir verbunden oder abhängig.
Wie sollte man sich hier zu hause fühlen? Das Zimmer war groß aber es gab nicht viel Mobiliar, dazu kam noch, dass man ordentlichst darauf aufgepasst hatte keine spitzten Gegenstände rumfliegen zu lassen, als liefe ich in Gefahr mich selbst oder sie umzubringen. Natürlich sollte man vorsichtig sein, aber nicht zu auffällig, sodass man sich wie in der Klinik fühlt.
„Hallo Eveline. Erzähl mal, was so los ist. Wie geht es dir?“
Dr. Miller lächelte mir freundlich zu, doch ich konnte mir vorstellen wie sie hinter dieser Maske dachte, wie bescheuert man sein muss, um solche Probleme zu haben. Von Anfang an hatte ich mich geweigert über meine ‚Fantasiewelt’, wie sie es nannte, zu reden, einfach aus dem Grund, weil sie es nicht glauben würde, denn wer glaubt schon einer Verrückten, dass sie Menschen das Herz heilen und alle Phantomherzen in einer Büchse sammelt. Ganz einfach. Niemand. Und weil das so war hatte ich auch eisern geschwiegen. Ich habe mit ihr über meine Familie und die Schule geredet und mir im Wartezimmer ausgedacht wie oft ich dieses mal in meiner Welt war. „Zwei mal lag ich auf einer pinken Wiese und dann kamen moosgrüne Schwäne mit blutroten Schnäbel vorbei geradelt. Das Fahrrad sah übrigens genauso aus wie das meiner Mutter.“ Meiner Fantasie war keine Grenzen gesetzt. Bäume, die aus Styropor bestanden, Enten, die nur rückwärts watschelten und ein Vollmond, der sich dreimal im Wasser spiegelte. Es kam sogar soweit, dass ich ein paar Regeln für meine Welt aufstellte. Keiner konnte sterben, es gab keinen Streit, und es existierten keine knarrenden Holzdielen, da ich so was jedes Mal in Horrorfilmen sah hatte ich davor eine riesige Angst entwickelt. „Mir geht es sehr gut. Und bei mir zu hause läuft es auch wieder besser. Heute“, fing ich nach einer langen Pause an, „haben mich zwei Mädchen angesprochen, ob ich nicht mit ihnen ins Kino gehen wollte. Sie wollten sich morgen mit mir treffen.“ „Das ist super. Ich freue mich, dass du endlich wieder engere Kontakte geschlossen hast. Du machst große Fortschritte.“ Klick, schon wieder dasselbe Lächeln wie vorhin. Dieselbe Maske.
„Willst du mir jetzt vielleicht erzählen, was alles in deiner Fantasiewelt geschehen ist?“, versuchte sie vorsichtig das schwierige Thema anzusprechen.
„Ich bin diese Woche nicht dorthin gegangen“, antwortete ich fast ein bisschen schüchtern. Wie von selbst hatte ich damit angefangen nervös mit meinen Händen zu ringen. Ich senkte den Blick, um sie gut sehen zu können und zwang sie dann stillzuhalten. Darauf krallten sie sich in meine Oberschenkel und ließen sich von dort nicht mehr lösen. Mir tränten die Augen vor Schmerz, doch ich schluckte es runter und versuchte wieder dem Gespräch zu folgen.
„Willst du nicht vielleicht über deinen Vater reden? Du bist nun schon seit einiger Zeit hier und ich habe es bisher immer vermieden dich zu sehr zu drängen, aber ich denke es würde dir gut tun, wenn du mir von seinem Unfall erzählst“, sagte sie mit einem eindringlichem Ton zu mir.
Ich wusste, wenn ich es endlich hinter mich bringen würde, wäre sie zufrieden und ließe mich gehen.
„Er wollte zur Arbeit fahren, es war ein Tag wie jeder andere auch. Erst später erfuhren wir was passiert war. Damals war ich 7 und Lola gerade mal 3 Jahre alt. Als die Polizisten zu uns kamen fuhr unsere Mutter direkt ins Krankenhaus, danach schloss sie sich im Bad ein und heulte. Tagelang war sie nicht in der Lage sich um uns zu kümmern. Lola hat immer wieder nach Papa gefragt und ich ein Märchen erzählt in dem Papa von Feen und ihrem unwiderstehlichen Gesang festgehalten wird. Ich habe ihr vorgelogen wir würden eines Tages, wenn wir alt genug wären ihn befreien. Irgendwann hat sie aufgehört zu fragen und ich habe aufgehört zu antworten. Als Mama sich wieder einigermaßen erholt hatte, ging sie ihn regelmäßig besuchen. Ich bin nur einmal dort gewesen und Lola gar nicht. Als wir von seinem Tod erfuhren, mussten sich unsere näheren Verwandten um die Beerdigung und so weiter kümmern, weil Mama zu nichts fähig war, als zu liegen und an die Decke zu starren. Wir haben nun abgemacht zwei mal pro Woche sein Grab zu besuchen“, fasste ich die gefühllos Ereignisse zusammen. Ich verschwieg wie schwer es für mich war die Verantwortung für Lola zu übernehmen, wie schwer es war erst Papas ernsten Zustand und dann seinen Tod zu verkraften. Ich erzählte nichts von den beängstigten Nächten in denen ich mit verweintem Gesicht vor dem Fenster stand, in den Himmel sah und mir wünschte bei ihm zu sein, während immer mehr Tränen flossen. Ich erzählte nichts von Lolas Weinkrämpfen beim, von mir zubereiteten, Essen, mit denen ich nicht umzugehen wusste. Ich erzählte nichts von dem einsamen Schluchzern und verzweifelten Schreien, die durch die Tür des Bads zu hören waren. Genauso wenig wie ich von Besuchen erzählte, denn ich und Lola waren häufig an Papas Krankenbett, solange Mama nicht in der Lage dazu war. Wir lasen ihm vor oder weinten vor seinem Bett, flüsterten ihm vertraulich in sein Ohr wie sehr wir ihn vermissten und brauchten. Lola erinnerte sich kau noch daran. Eigentlich so gut wie gar nicht.
„Das war bestimmt keine leichte Zeit für dich. Du warst doch erst 7. Willst du mir noch mehr erzählen?“
„Nein, ich habe mich damit schon auseinander gesetzt und weiß, dass ich den Tod nicht berührungslos hinnehmen ihn aber akzeptieren sollte“, sagte ich leicht, obwohl mir eher danach war vor lauter Frust zu schreien und mit Sachen um mich zu schmeißen, aber ich verbot mir alles dieser Sorte von Gefühlen.
„Du bist also auf dem Weg der Besserung? Perfekt. Unser Ziel ist fast erreicht. Wie wäre es, wenn wir noch einen Termin ausmachen und wir uns dann nur noch auf Wunsch wiedersehen? Ist das auch in deinem Interesse?“
„Klar“, stimmte ich ihr wie aus der Pistole geschossen zu.
„Weißt du als ich so alt war wie du,“ Was! Die ist kaum 10 Jahre älter als ich!!! ,“hatte ich eine imaginäre Freundin und zwar Belle aus die Schöne und das Biest. In der Schule war ich nämlich nicht sehr beliebt. Ich war das unsichtbare Mädchen von dem niemand wusste, dass es überhaupt lebt. Doch sieh mich jetzt an. Ich bin Therapeutin und helfe Menschen indem ich einfach nur meinen Job mache.“
Das ist das erste Mal, dass sie etwas über sich selbst erzählt hat, vielleicht war es gelogen, aber dadurch wurde die Geste nicht minder liebenswürdig. Doch wenn sie sagt sie helfe den Leuten durch ihren Job, warum lässt sie mich dann nicht meine Arbeit machen, wobei ich doch auch nur versuche zu helfen. Sie versteht es nicht. So wie viele mich nicht verstehen.
„Na ja, jedenfalls denke ich es wäre das Beste für dich etwas Abstand zu nehmen, das heißt wir werden heute keinen weiteren Termin ausmachen, aber sobald sich eine Verschlechterung bemerkbar macht, sollst du dich hier melden und um eine weitere Therapie fragen. Ich halte dich für vernünftig genug, um entscheiden zu können, wann ein solcher Fall eintreten sollte.“
Ich sah sie an. Nicht wie gewöhnlich, sondern richtig. Ich bemerkte ihre runde Gesichtsform, ihr dünnes, glänzendes Haar, ihre markanten Gesichtszüge – aber was mir am meisten auffiel waren ihren stumpfen Augen. Sie zeigten keine Seele, sondern ein Nichts. Ich verstehe es. Sie kapselt sich ab, um möglichst objektiv zu bleiben und nicht zu viel Mitleid zu haben. Wahrscheinlich zeichnet das eine gute Therapeutin aus.
„So, Sitzung geschlossen!“, teilt sie mir mit.
Sie steht auf, um mir die Hand zu reichen und sich zu verabschieden. Nervös richtete sie ihr grau –blaues Kostüm, streicht nicht vorhandene Falten weg und zieht alles zurecht. Ich drehe mich um und verlasse angespannt das Zimmer. Die Sekretärin wirft mir einen gelangweilten Blick zu, während sie telephoniert. Kurz nickt sie mir zu. Mir kam es vor, als wollte sie mir ihre Einverständnis geben, rauszugehen. Lächerlich.
Erst als ich unten auf der Straße stand und die Luft in mich einsog, fiel die Verklemmtheit von mir ab. Erleichtert begann ich meinen Nachhauseweg anzutreten. Zufrieden mit mir und der Welt schlenderte ich und schaute mal hier mal dort in ein Fenster oder in einen Garten, um etwas zu bewundern. Es ließ sich jedoch nicht vermeiden, dass ich irgendwann vor unserem Haus stand. Ganz normal reihte es sich in die Häuserreihen ein. Das einzige besondere waren die Vorhänge von Lola. Sie waren von einem tiefen Meeresblau. Ich weiß noch wie wir uns elend lange die Beine in den Bauch gestanden haben, bis sie sich für eine Farbe entscheiden konnte.
„Lila, nein vielleicht das lavendelfarbene, oder doch das Nachtblau?“
Letztendlich half ich ihr und flüsterte in ihr eines Ohr: „Papa hätte sich für das Meerblau entschieden. Stell dir vor, dass, wenn der Wind in dein Zimmer bläst, der Vorhang sich aufbläht und aussieht, als würden sich riesige Wellen auftürmen. Oder etwa nicht??“
Eine kurze Stille trat ein und nachdenklich legte sie den Kopf in den Nacken.
„Mama, ich möchte diese Farbe“, hatte sie entschlossen gesagt und auf den meerblauen Stoff gezeigt. In diesen Augenblick sah sie total ernst aus und das war noch nicht lange her. Papa ist gegenwärtig, egal was wir tun. Die große Frage ist nur: Ist es gut einem toten Menschen festzuhalten oder schlecht? Sollen wir neu anfangen oder froh darüber sein so viele Erinnerrungen mit ihm zu haben. Vielleicht sollte das jeder selbst beurteilen, je wie gut es ihm bei den verschiedenen Optionen geht. Ich steckte gedankenversunken den Schlüssel ins Loch und trat in unsere Wohnung ein. Alles wie immer. Warum auch nicht? Augenblicklich verschwand das Gefühl der Freiheit und wich dem beklemmlichen Gefühl des Alltags. Ich stellte meine smaragdgrüne Convers in die dafür vorgesehene Nische. Meine Convers hoben sich von den altmodischen Schuhen meiner Mutter und den rosaroten Kinderschuhen mit Cinderella-Aufdruck ab. Außer diesen besaß ich keine weiteren Schuhe. Ich brauchte nie welche und wollte meine Mutter deswegen auch nicht unnötigerweise stören. Leise schlich ich die Treppe hinauf und verschanzte mich in meinem Zimmer. Der Raum hatte eine beruhigende Wirkung auf mich. Ich hatte alle Erinnerungen an Papa oder an mein früheres Leben weggeschmissen, als mir bewusst wurde, dass es sich grundsätzlich verändert hat. Meine Mutter war der Meinung, es sei besser die Erinnerungen zu behalten, doch sie schmerzten mich und schmerzen immer noch. Von wegen Zeit heilt alle Wunden. Ich versuchte meinen Kopf zu leeren und legte mich aufs Bett. Der Stoff fühlte sich flauschig an meiner Haut an und ich widerstand dem Drang mich darin einzuhüllen, wie in einem schützenden Kokon. In welchem ich nichts hörte oder sah, weder Gutes noch Schlechtes, in dem ich mit meinen Gedanken ganz alleine war, in dem ich meinen Tränen freien Lauf lassen konnte. Doch Tränen sind ein Anzeichen der Schwäche, die ich mir nicht leisten konnte. Meine Schwäche ist, zu meiner Mutter und zu Lola zu gehen sie umarmen, nicht mehr loszulassen, ihnen zu sagen wie sehr ich sie liebe und, dass ich sie nicht verlieren will so wie Papa oder sonst wann, denn sie sind ein fester und stetiger Bestandteil meines Lebens ohne welches es nicht zu leben lohnen würde. Deswegen mied ich die Nähe, sowie die Liebe von ihnen und redete mir ein ihre Zuneigung ignorieren und vertreiben zu können, aber tief in mir drinnen wusste ich, dass das aussichtslos war. Auf keinen Fall durften sie wissen, wie sehr sie mir bedeuten, denn sonst wäre mein Geheimnis nicht mehr lange geheim, denn schließlich denkt meine Mutter mein psychischer Zustand habe sich gebessert und Lola wusste noch gar nichts von dieser Gabe, und das war das Beste für uns alle, dachte ich.
Zaghaft wurde an meine Tür geklopft. „Ja!“ Vorsichtig öffnete Lola die Tür, denn nachdem wie der Tag verlaufen war, beschäftigte oder ignorierte ich sie. Dieses Mal musste ich mich zwingen nicht auf sie zuzugehen und mit meinen Fingern sanft über ihre blonden Haare zu streichen und sie fest an mich zu drücken. „Eveline?“, zögernd kam Lola näher an mich ran. Es tat mir weh zu sehen wie ängstlich sie aussah, als sie mich betrachtete und versuchte zu erkennen, ob sie Chancen hatte mir einen Gefallen abzuringen. Bei normalen Schwestern wäre sie wahrscheinlich einfach ins Zimmer gestürmt und ich hätte sie stirnrunzelnd, aber nicht wirklich böse, darauf hingewiesen, dass sie anklopfen soll. Es tat weh, zu sehen wie falsch alles war. Alles. „Ist was?“, ich wusste es war nicht fair, aber ich bin kein Engel und kann nicht alles richtig machen. „Darf ich mit deiner Spieluhr spielen?“ „Aber nur, wenn sie heute Abend wieder dort ist wo sie jetzt steht.“ Aufgeregt hüpfte sie auf und ab und klatschte dabei in die Hände. Ihr weißer Rock schwang mit und der Stoff raschelte leise. Zielstrebig und nun auch etwas sicherer ging sie auf mein Regal zu, wobei ich ihr mit den Augen folgte, und holte eine Spieluhr hervor. Ich hatte sie zu Ostern von meiner Tante geschenkt bekommen. Sie spielte das Thema von Schwanensee und war zu aufdrehen, weswegen man sich es in endlos Schleife anhören konnte bis man (nach langer, langer Zeit) genug davon hatte. Einen Monat lang hatte ich mich geweigert die Spieluhr in mein Regal zu stellen, denn dieses Stück erinnerte mich an sich elegant drehende, zierliche Frauen, die altmodische (aber hübsche) Kleider trugen. Mit einem Klicken schloss sich die Tür hinter meiner Schwester und ich war wieder allein. Ein Teil von mir wünschte sich, dass wir uns wie richtige Schwestern verhalten würden, während ein anderer Teil in mir dies abtat mit der Begründung, dass es besser für uns beide war, wenn ich versuchte einen gewissen Abstand zu wahren. Ich lag nicht lange so auf meinem Bett, denn mich überkam ein bedrängendes Gefühl, weil mein Kopf so leer schien, als hätte jemand eine Klappe geöffnet und die sich anstauenden Sorgen entsorgt. Also machte ich Hausaufgaben in der Hoffnung mich nicht nur zu beschäftigen, sondern auch eine Ausrede für das Abendessen zu haben, welche ich auch bekam, da ich Gott sei Dank einen Test schrieb. Ich hörte meine Mutter nach uns rufen und sofort rannte Lola laut jubelnd nach unten. Doch als klar war, ich würde schon wieder nicht beim Essen aufkreuzen, kam niemand, um sich nach dem Grund, meinem Befinden zu erkunden oder mich zu bitten nach unten zu kommen. Ich wusste nicht, ob ich deswegen Freude, weil meine Mauer sie tatsächlich abgeschreckt hat oder Trauer, da sie so offensichtlich zeigten, dass sie es nicht kümmert, was mit mir los ist, empfinden soll. Eigentlich war ich mit meiner Aufgabe fertig. Ich machte mich Bett fertig und fiel ins Bett. Schon seit einer Weile machte ich mir keine Hoffnung mehr auf eine besseren und schöneren nächsten Tag, stattdessen viel ich in einen tiefen Schlaf, den ich mir verwährte.
Etwas Gutes hatte der nächste Tag schon. Nämlich Religion mit meinem Lieblingslehrer. Ich bin eigentlich gar nicht gläubig. Doch seit diesem Lehrer erkenne ich wichtige Punkte in meinem Leben und denke über Sachen nach und schraube für eine kurze Zeit die Ventile meiner Gefühle auf. Er bringt den Stoff ganz anders rüber. Wir sollen Geschichten schreiben zu Texten, Bildern oder Gedichten und egal was wir sagen, irgendwie trägt es zum Unterricht bei. Kein Falsch und Richtig, kein schwarz und weiß und das hilft mir sehr mich selbst zu öffnen. Vor allem mag ich es über Gott und die Welt, Jesus und Gefühle, Lügen und Abgründe zu diskutieren. Mich interessieren die Ansichten von den anderen Schülern brennend, weil ich wissen will wie man ohne diese Gabe über solche Dinge nachdenkt. Ich wartete gespannt darauf was diese Stunde mir bringen würde, denn unser momentanes Thema war die Bedeutung des Todes von Jesu. Sehr wichtig das richtig zu verstehen für Christen. Lächelnd trat Herr Christ ein, denn fast nichts konnte ihm die gute Laune nehmen. Wir begrüßten uns angemessen und als wir uns alle hinsetzten, fixierte er eine Kopie mit Hilfe eines Magneten an die Tafel hinter sich. Es war eine Zeichnung, aber nur die, die weiter vorne saßen konnten wirklich erkennen, was das darstellen sollte.
„Insa, wärst du so nett und beschreibst das Bild für die, die weiter hinten sitzen“, sagte Herr Christ.
Insa war eines dieser Mädchen, die bei Freundinnen immer eine große Klappe hatten und einfach drauflos plapperten ohne Rücksicht zu nehmen, aber im Unterricht vor sich hin schwiegen.
„Da, ähm..., da ist eine Kluft und viele Menschen stehen davor und schauen nach unten. Ein Einziger ist auf der anderen Seite.“ Herr Christ nickte. „Julia, was ist deine Meinung dazu?“ „Also, ich denke die Kluft soll den Tod darstellen und wir Menschen stehen davor. Jesus ist die Person auf der anderen Seite.“ „Gut Julia. Du natürlich Recht. Eveline.“ „Wir alle fürchten uns vor dem Tod, denn wir wissen nichts von dem Danach. Jesus zeigt uns, dass wir hinüber kommen, wenn wir glauben.“ „Meinst du nicht, dass er uns hilft uns nicht davor zu fürchten?“, fragte mich Julia und sah mich mit nachdenklichem Gesicht an. Ich war überrascht, denn ich hatte erwartet, dass sie mich misstrauisch ansehen müsste, doch ihr Ausdruck verriet nur große Interesse. Doch ich ließ mir nicht so leicht anmerken, wie erstaunt ich darüber war, was ich jahrelanger Übung zu verdanken hatte.
„Nein, denn Jesus hatte schließlich selbst Angst vorm Tod, aber durch den Glauben an Gott ist er sicher auf die andere Seite gekommen. Wenn man keine Angst vor dem Sterben hat, ist man nicht menschlich und wenn es diese Angst der Unwissenheit nicht gäbe, dann würde wir uns alle selbst umbringen, weil uns danach mit einer fifty-fifty Chancen das Paradies erwartet“, versuchte ich ihr meine Ansichten zu erklären. „Du meinst so ähnlich wie diese Selbstmordtäter, die denken sie kommen danach in den Himmel?“, hakte Julia nach. „Ihr redet jetzt schon die ganze Zeit über das Danach, erklärt doch mal was genau ihr damit meint“, mischte sich nun Herr Christ und unser eigentlich unerlaubtes Gespräch ein. Dafür allein musste man ihn doch schon Preiskrönen. Er ärgerte sich nicht darüber, dass wir ohne Erlaubnis redeten, sondern sah den Wert unserer Diskussion. Ich und Julia sahen uns ratlos an. „Mit Danach meinen sie das was nach dem Tod kommt, weil wir können ja nicht zu Hundertprozent sagen, ob nach dem Tod der Himmel, die Hölle, das ewige Nichts oder vielleicht eine Wiedergeburt auf uns wartet“, rief Robin einfach so in die Klasse rein. „Gut Robin, schön endlich auch mal wieder was von dir zu hören“, war das trockene Kommentar zu diesem Reinrufen. „Wir wollen doch mal besprechen, woher genau ihr heraus lest das dieser Abgrund den Tod ersetzt.“ Er sah erwartungsvoll in unsere Gesichter, dennoch meldete sich niemand. „Seht euch zum Beispiel die Länge an. Oder könnt ihr vielleicht Aussage zur Tiefe machen?“ Ich meldete mich. Mit einem Nicken nahm er mich dran.
„Na ja, wir wissen doch so gut wie nichts über den Tod, außer, dass er da ist und nicht umgangen werden kann. Deswegen ist er als endlos lang und tief dargestellt.“
Schmunzelnd nickte er anerkennend, obwohl ich nicht wirklich wusste wieso und dann geschah etwas.
Die Stunden flogen an mir vorbei. Es fühlte sich an als würde ich nicht mehr an meinem Leben teilnehmen. Alles bewegte sich, manchmal zu schnell, manchmal zu langsam und ich mitten drin. Unberührt von der Zeit stand ich da und ließ alles an mir vorbei. Es schien als wüsste ich nichts. Nichts, außer Existenz, deren war ich mir plötzlich sicher. Szenen spielten sich ab ohne, dass ich daran teilnahm. Einzelheiten tauchten zwischendurch auf. Tanzende Lichter, spielende Schatten, rufende Winde, ächzende Leere, ein Lachen, stumme Schreie, Trubel, Einsamkeit, unser Haus überdeckt von Lichtern, meine Schwester beim Spielen, meine Mutter beim Kochen, Lehrer, die mit mir reden wollen, mich aber nicht erreichen, mich selbst am Esstisch. Kurze Eindrücke, das alles war für mich wirken, aber es hinterließ nichts außer einer noch größer scheinenden Leere. Mir war es egal was mit mir passierte, weil nichts blieb. Das Einzige was sich in mein Gedächtnis brannte waren die Herzen, die ich heilte. Dieser Mechanismus war der einzige Grund, der mich noch an diese Welt band. Dann kam irgendwann ein Gedanke, der erst im hintersten Winkel wuchs, dann schlug er Wurzeln und keimte auf.
Wenn Gott mir, ausgerechnet mir, diese Gabe gegeben hat, dann braucht er doch auch einen triftigen Grund, den ich anscheinend noch nicht kannte. Vielleicht könnte das Wissen der Antwort auf diese Frage mich wieder ins Leben einfädeln. Langsam baute sich alles in mir neu auf. Gedanken verwoben sich, Erinnerungen kamen wieder, Gefühle fingen an mein Denken zu kontrollieren, es war als würde ich noch mal geboren. Es entstanden Verknüpfungen, ich sah, roch, fühlte und hörte. Mein Leben fing an zu rennen oder sich zu verlangsamen. So genau kann ich das nicht erklären. Insgesamt wurde mir meine Seele wieder eingehaucht. Mein Geist, mein Innerstes rückte sich zurecht. Ich wusste wieder welches Datum wir haben, ich fing an mich in Gespräche einzubringen. Ich gab dem Leben, welches ich aufgegeben hatte, eine neue Chance. Mein Herz schlug.
Bumm, bumm.
Bumm, bumm.
Bumm...
Das Herz war rot. Tief rot. Und als ich die Scherben aufsammelte und in das Kästchen legte, fühlte ich den Schmerz. Mein Herz schien zu zerspringen. Ich sah förmlich wie mein Herz Risse bekam und auseinander fiel. Zitternd holte ich Luft und wollte anfangen zu schreien, doch da war der Schmerz schon vorbei und ich stand wieder im Schulgang. Die Schatulle war ein bisschen voller geworden.
Ein paar Schüler sahen mich misstrauisch an, aber ich hatte mich daran gewöhnt. Nur ich sah zu dem unscheinbaren Mädchen, dass leicht lächelte und glücklich in den Klassenraum rannte. Sie hatte einen leichten Gang und sang leise ein Lied vor sich hin. Ihre blonden Haare umspielten ihr perfektes Gesicht, als sie sich in die erste Reihe der Schulbänke setzte. Ein Junge ging auf sie zu und wollte mit ihr reden, doch sie lachte nur und schüttelte ihren Lockenkopf. Wissend schaute ich ihr hinterher. Es gab keine Entschuldigung für diese öffentliche Blamage. Als ihr Freund sie verlassen hatte, war sie am Boden zerstört gewesen. Ich bin ihr im Gang begegnet. Weinend. Schluchzend. Verletzt. Leise liefen ihr Tränen über ihr zartes Gesicht und ihre Gesichtszüge waren verzerrt. Keiner hat sich um sie gekümmert. Warum auch? Sie ist ja nur ein weiterer Mensch von vielen. Das denken die Menschen. Sie sagen sich, man kann nicht auf jeden Rücksicht nehmen, aber das stimmt nicht oder man sollte es zumindest versuchen. Aber ich habe ihr den Schmerz genommen, weil ich mir wegen meiner Gabe es mir nicht leisten kann. Langsam und auf den Boden schauend machte auch ich mich auf den Weg zu meinem Klassenzimmer. Ich wurde von links und rechts geschubst und Leute drängelten sich an mir vorbei. Dieser viele Körperkontakt machte mich nervös. Ich konnte nicht überblicken wie viele Leute mich gerade in diesem Augenblick ansahen. Das war eine eigene Art von Kontrolle, die für mich sehr wichtig war.
Die letzten zwei Schulstunden muss ich kein weiteres Herz mehr aufnehmen. Auf meinem Heimweg jedoch kam ich an einem zankendem Paar vorbei.
„Was soll das?“
„Hättest du nicht gelogen, dann...dann...ich weiß auch nicht. Ohne deine dämlichen Lügen wäre ich aber auf jeden Fall besser dran gewesen!“, schrie die Frau verzweifelt und hämmerte mit den Händen auf die Brust ihres Mannes ein, der das gar nicht zu bemerken schien.
So schrien sie sich an. Eine zierliche, blonde Frau und ein großer, breitschultriger Mann, dessen Haare nicht sehr gepflegt aussahen. Sie standen vor einem Hauseingang mitten auf dem Bürgersteig. Ein paar Passanten kamen vorbei. Während ich ein paar Schritte ging, schloss ich die Augen und spürte den frischen Wind über meine Haut streichen. Ich stellte mir vor, dass ich in einem dunklen Raum stehe und den Lichtschalter suche. Da ich das schon häufiger gemacht hatte, brauchte ich nicht lang zu tasten, sondern legte den Schalter einfach um. Als ich die Augen öffnete und war alles in schwarz-weiß außer die zerbrochenen Glasherzen. Das Herz der Frau war in ihrer Handtasche. Es war blau. Dunkelblau, was bedeuten musste, dass sie schon länger hier steht und ihrem Mann versuchte etwas klar zu machen. Doch in dem kalten Blauton schimmerte etwas rot. Schnell nahm ich die einzelnen Teile aus ihrer Tasche und begab mich nun zum Mann. Sein Herz war grau. Dem Himmel sei Dank ein mausgrau. Doch dunkel genug um sich farblich von der Hose abzuheben. Vorsichtig schob ich meine Hand in seine hintere Hosentasche. Die Scherben liegen kalt in meiner Hand. Ich atmete tief ein und legte sie in die Schatulle. Die Verzweifelung überschwemmt mich und ein kleiner Schmerz bohrt sich in meinen Magen. Warum hört er nicht auf mich? Was will er damit bezwecken? Ich keuchte auf, als mich dazu auch noch die Hilflosigkeit des Mannes traf. Als würde ich ertrinken und Menschen sehen mir dabei zu. Gerade wollte ich sie anschreien, mir zu helfen, da war alles schon vorbei. Ich blinzelte und die farblose Welt verschwand. Das Pärchen lag sich in den Armen und lachte über ihre sinnlose Streiterei. Auch ich konnte mir ein schwaches Lächeln abringen, obwohl ich immer noch atemlos war. Auf diese Art von seelischem Schmerz konnte man sich nicht vorbereiten oder sich daran gewöhnen. Doch ich tröstete mich mit einem Gedanken. Wieder war die Schatulle um zwei Herzen reicher. Irgendwann, wenn sie voll ist, werde ich das ‚Helfen’ hinter mir lassen. Ich war noch zu jung, um zu verstehen, dass sie nie voll werden würde. Wenigstens wusste ich, dass ich eine Gabe hatte und nicht verrückt war, wie meine Mutter behauptete. Mach das nicht noch einmal, sagte sie mir eindringlich. Das ist nicht echt. Das ist nicht normal. Sei normal. Normal ist gut. Das alles waren Standartsätze, die ich immer zu hören bekam, wenn ich dabei war anderen zu ‚helfen’. In Mamas Gegenwart lasse ich die Herzen liegen, aber das ist fast so schmerzvoll wie sie in das Kästchen zu legen. Ich nahm die Gabe so an, wie sie war. Ein teil von mir. Ohne sie, wäre ich nicht ich selbst. Doch meine Mutter schien das nicht zu verstehen. Inzwischen war ich zuhause angekommen. Ich hätte nicht mit diesem Tag angefangen zu erzählen, wenn er so ereignislos wäre, wie er bis jetzt erschien, deshalb mache ich einen Sprung über das stille Mittagessen und die langweiligen Hausaufgaben. Erst der frühe Abend machte den Tag zu einem entscheidenden Moment in meinem Leben. Dann wie fast jeden Freitagabend gingen meine kleine Schwester Lola, Mama und ich spazieren. Draußen war es etwas windig und die verfärbten Blätter häuften sich auf dem Boden. Lola hüpfte auf und ab. Mal nahm sie Mamas Hand, mal rannte sie voraus. Außer uns dreien war niemand auf der Straße zu sehen.
„Eis!“
Meine Schwester schafft es immer die unmöglichen Dinge zu fordern. Aber unsere Mutter konnte ihrem Augenaufschlag nicht wiederstehen. Wir mussten durch die halbe Stadt laufen, um einen offenen Eisladen zu finden.
„Wir kaufen uns Eis und essen es dann auf dem Rückweg. Das ist die einfachste Lösung“, beschloss unsere Mutter.
„Ich bleibe hier draußen.“
Ich hatte keine Lust stundenlang in dem Kaffee zu stehen, weil meine Schwester sich nicht entscheiden konnte. Ich wollte nicht die vielen zersplitterten Herzen spüren ohne ihnen helfen zu können. Da bleibe ich lieber draußen an der frischen Luft.
„Welche Eissorte willst du?“, fragte mich meine Schwester.
„Zitrone & Erdbeere.“
Mit einer kindlichen Ungeduld zerrte Lola Mama in das Eiscafe. Ich sah ihnen hinterher wie sie in das Cafe gingen, das nur spärlich gefüllt war. Dabei war es hier ganz gemütlich. Die Straße war schmal und der Verkehr nur gering, dazu kam noch, dass die niedrige Steinmauer, vor der ich stand, mit Efeu überwuchert war und einen Blick auf eine atemberaubende Landschaft bot. Grüne Hügel so weit das Auge reicht und das alles verhüllt durch einen Schleier von Nebel. Der Traum jedes Künstlers und ein sehr typisches Bildnis für den Herbst, obwohl wir eigentlich Ende Frühling hatten und alle darauf warteten, dass die Sonne sich zeigte.
Ich drehte mich um stieß fast mit einem Jungen zusammen. Der Junge entschuldigte sich und ging weiter. Anscheinend war er viel zu tief in Gedanken versunken anstatt zu bemerken wie ich stolperte und auf die harte Kopfsteinpflasterstraße fiel. Aber Dankeschön. Ich rappelte mich von alleine auf und schaute ihm hinterher. Eigenartiger Junge, dachte ich. Eigentlich hätte ich von ihm abgelassen, doch er schien verwirrt und eindeutig war sein Herz gebrochen. Ich sah mich um. Niemand zu sehen. Ich kniff meine Augen zusammen und stellte mir den Jungen vor. Etwas größer als ich, aber wahrscheinlich in denselben Alter. Seine dunklen, verstrubbelten Haare fielen ihm ins Gesicht. Seine tiefen grauen Augen. Seine starke, aber schlanke Statur. Etwas in mir machte ‚klick’ und ich wusste, dass ich in meiner virtuellen Welt war. Ich schlug die Augen auf und sah den Jungen ein paar Schritte vor mir. Zögernd trat ich näher und hielt nach seinem Herz Ausschau. Mir stockte der Atem als ich es fand. Es war nicht zerbrochen, noch nicht mal Risse waren zu erkennen. Das funkelte in einem strahlendem Grün. Ein reines grün. Doch dann wechselte die Farbe zu blau, lila, rot, gelb, schwarz, weiß, gelb, lila... Die Farbe gingen ineinander über und waren gemischt. Was hatte das zu bedeuten? Dieser Fremde sollte mich für den Rest meines Lebens nicht mehr loslassen und mich zu dem machen, was ich jetzt bin. Eine glückliche, alte Frau, die dem Tod ins Auge blickt. Aber ich weiß noch ganz genau wie es war, als mein Herz in seiner Gegenwart zu hüpfen anfing.
„Ähm... habe ich was im Gesicht?“
Ohne es zu wissen bin ich die reale Welt gewechselt. Verwirrt schaue ich ihn an. Verlegen wischte er sich mit der Hand übers Gesicht. Was bedeutet das? Ich kann nicht glauben, was ich gesehen habe.
„Du...ich meine dein...ich...Ich bin Eveline.“
Welche glaubwürdige Erklärung kann ich ihm geben? Es ist egal. Ganz gleich was ich ihm erzähle, es wäre gelogen. Da ist es egal, ob es glaubwürdig ist oder nicht.
„Du siehst aus wie jemand den ich kenne“, lüge ich.
Der fremde Junge nickt. Dieses Gesicht. Es ist so einzigartig. Es spiegelt sein schimmerndes Herz wieder.
„Hi, ich bin Niclas.“
„Eveline.“
Warum sein Herz so seltsam? Ich helfe jetzt schon mindestens sechs Jahre, aber so etwas ist mir noch nie passiert.
„Rauschst du häufiger um Ecken und rennst dabei kleinere Mädchen um?“, scherzte ich, um die peinliche Situation aufzulockern.
Froh, dass ich alles auf die leichte Schulter nahm und darüber Witze machte, fing er auch an zu lächeln.
„Das gehört eigentlich nicht zu meinen Hobbies, aber es hat Spaß gemacht. Vielleicht überdenke ich das Ganze noch mal“
„Dann such dir ein neues Opfer. Mit mir kriegt man nur Ärger“, warnte ich ihn spielerisch vor und dabei war das gar nicht so gelogen.
„Dann wäre es nicht mehr das selbe und würde nur noch halb so viel Spaß machen“, spielte er den Ball zurück.
„Das tut mir jetzt aber sehr leid.“ Ich betonte das ‚sehr’, damit man raushören konnte, dass ich das ironisch meinte. Nun lachten wir beide. Über mein offenes Verhalten wunderte ich mich. Sonst war ich zu Fremden er verschlossen, selbst bei meiner restlichen Familie riss ich nicht einen Witz nach dem anderen. Doch im Moment wollte ich nicht darüber nachdenken. Ich hatte ganz vergessen, dass ich ja mit meiner Schwester und Mama hier war, bis die beiden hinter mir ein Eis reichte.
„Ähm, wir sehen uns bestimmt.“ Mit diesen Worten verschwindet er.
„Evy ist erkna-halt.“
Auf und ab hüpfend trällerte Lola es wie ein Kinderlied vor sich hin. Ich versuchte gar nicht erst zu wiedersprechen. Jeder der kleinere Geschwister hat, kann mich verstehen. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich immer zu an das bunte Herz denken musste. Es hatte sich in meinen Gedanken eingenistet wie ein Virus. Selbst wenn ich die Augen schließe sehe ich das Farbenspiel. Was hat er gefühlt, als ich sein Herz sah? Was hat er gedacht?
„Alles okay?“, riss meine Mutter mich aus den Gedanken.
„Alles okay“, bestätigte ich.
Sonst las meine Mutter aus mir wie in einem offenem Buch, doch sie hatte es verschlossen. Sie verschließt sich vor meiner Gabe. Als wäre sie nicht da. Sie verdrängt die Erinnerung. Sie will es weder einsehen noch wahr haben. Damit stößt sie einen Teil von mir weg. Ich dachte nie, dass sie jemals zu so etwas fähig wäre. Aber vielleicht ist das ihre Gabe? Alles zu vereinfachen. Ich wünschte ich besäße diese Gabe. Nach diesem enttäuschenden Ereignis, habe ich jedenfalls aufgegeben, Menschen meine Gabe zu erklären. Ausdrücken wie wichtig sie für mich ist. Für mich und die Menschheit. Denn das ist sie, aber ich konnte es nur nicht in Worte fassen. Kennt ihr das, wenn etwas so ausdrucksvoll ist, egal ob positiv oder negativ, dass ihr in eurem Kopf und im Vokabular verzweifelt nach Worten sucht, die auch nur ausreichend die Kraft und die Bedeutung widerspiegelt. Unsere Worte sind nicht dazu da Gefühle(ich verbessere: starke Gefühle) auszudrücken. Sie beschreiben eine Situation oder Gegenstände, annährend auch Gefühlszustände, doch echte Gefühle kann man nur fühlen und nicht beschreiben. Zum Beispiel die wahre Liebe, die starke Trauer, das reine Glück, der tiefgehende Schmerz. All das kann man biologisch, physisch und physikalisch beweisen. Jedoch ist es etwas gänzlich anderes, es zu fühlen. Als ich abends im Bett lag, machte ich mir noch so einige Gedanken über Gefühle. Hauptsächlich auch über meine Gefühle. Jeden Montag muss ich nach der Schule zum Therapeuten, da meine Mutter das Gefühl hatte ich käme nicht mit Papas Tod zurrecht, wo sie vielleicht auch recht behalten kann. Das tat ich auch und ließe sie nach zwei weiteren Terminen in dem Glauben, ich würde mich nicht mehr in meine virtuelle Welt verflüchtigen. Kurz nach Vaters Tod, hatte ich mir geschworen, meine Gefühle zu kontrollieren, weil ich mir nicht selbst helfen kann. Immer wenn ein starkes Gefühl im Anmarsch, lasse ich ein bisschen Wut mit einfließen. Diese Wut ist stark genug das Gefühl zu übertonen und gleichzeitig zu schwach, um selbstständig zu machen. Es ist als würde ich mit Gefühlen experimentieren. Das Risiko ist schließlich hoch genug. Dazu habe ich noch die Zutaten. Ich mache mir nichts vor. Ich weiß, dass nicht viele ihre Gefühle unter Kontrolle haben. Schon wieder bin ich anders. Ein Außenseiter. Die Minderheit. Was bedeutet es, anders zu sein? Man unterscheidet sich von der Masse. Oder insgesamt? Dann ist jeder anders. Bei mir könnte man ‚anders’ aber auch durch ‚seltsam’ ersetzen. Macht die Bedeutung dann einen Unterschied? Vielleicht bin ja nicht ich seltsam (oder anders), sondern die anderen sind es. Mama hat gesagt: „Normal ist gut.“ Doch wie definiert sie normal? Ist es notwendig sich anzupassen? Immer mit dem Strom schwimmen. Es gibt aber sicherlich Stellen im Fluss, wo der Strom nachlässt und man wird fortgerissen, ob freiwillig oder nicht. Ich werde auf jeden Fall dagegen ankämpfen, bis zum bitteren Ende. Mit diesem Gedanken schlief ich ein und träumte von einem Herz, tief schwarz, aber trotzdem noch ganz. Dann zerläuft das Herz und die plötzlich rot gewordene Flüssigkeit rinnt über meine Hände. Fließt zwischen meinen Fingern hinweg. Tropfen fallen auf das Rot und ich merke, dass ich zu weinen begonnen habe. Danach wird alles schwarz nur hin und wieder taucht das Bild eines dunkelhaarigen Jungen auf, der sich übers Gesicht fährt. Das einzige was mich stört ist, dass seine Augen die Farbe wechseln. Angeblich soll man ja durch die Augen auf das Herz sehen können. Ich verliere mich in meinen Träumen in dem Realität und meine Fantasien sich vermischen. Ich wachte dadurch auf, dass meine Schwester auf mich sprang und begeistert schrie: „Heute ist der Tag!“ Ich wusste sofort was sie meinte. Alle zwei Wochen gehen wir zu Papas Grab. Wir alle ziehen uns hübsch an und flechten uns gegenseitig die Haare zu komplizierten Zöpfen. Lola war die ganze Zeit über hibbelig. Deswegen brabbelte sie unentwegt über belanglose Dinge. Erst auf dem Friedhof war sie still geworden. Der schwarze Grabstein war von Efeu überwuchert mit einem perfekten Loch in dem man die Inschrift lesen konnte: Christopher Stein geliebter Mensch mit reinem Herzen. Auf den Anhang hatte ich bestanden. An dem Grab redete wir mit ihm. Das fühlte sich an als rede man mit einem Stummen. Trotzdem war es für mich immer eine Erleichterung. So hatte ich ihn nicht ganz verloren.
„Ich werde keinen andere so lieben wie dich.“
Nach Papas Tod hatte Mama uns erklärt, dass sie keine anderen Mann heiraten will und diesen Entschluss akzeptiert. Auch für uns war Papa unersetzlich. Wir waren im Begriff zu gehen, als ich IHN entdeckte. Er stand vor einem Grab, ein paar Reihen hinter uns. Weiße Rosen waren auf das Grab gelegt worden. Weiß ist die Farbe der Trauer. Es hat lang gedauert bis ich den Zusammenhang verstanden hatte. Weiß ist eine reine Farbe und Trauer ist ein reines Gefühl. Wenn jemand trauert, hat er meistens ein weißes Herz ohne Verfärbung. Er trauert also. Aber warum war sein Herz nicht rein weiß, sondern hatte alle Farben angenommen? Was fühlte er? Als hätte er meine forschen Blicke gespürt, hob er den Kopf und lächelte mich traurig und sanft an. Er hat mich wiedererkannt. Scheu lächelte ich zurück und senkte den Blick. Stumm und auf den Boden schauend, tappte ich meiner Mutter hinterher. Doch ich hielt es nicht lange aus und blickte zurück. Weg. Dort stand niemand mehr. Wo ist er wohl hingegangen? Natürlich ging es mich nichts an. Trotzdem schossen diese Fragen durch meinen Kopf. Irgendwie wurde ich aus diesem Jungen nicht schlau. Wegen ihm stehen in diesem Buch so viele Fragen und es werden noch mehr kommen. Manche kann ich hier vielleicht beantworten, andere nur erklären. Aber ich denke, dass es nicht das Wichtigste ist sie zu beantworten, sondern sich mit ihr zu beschäftigen oder laut auszusprechen. Wenn mein Mathelehrer mich fragen würde was 1+7 war, würde ich sofort 8 sagen. Da kommt es nur auf die Antwort an, doch es gibt viele Fragen. Am häufigsten ist die Frage Warum. Warum heißen Vögel Vögel? Warum ist ein Reh braun und nicht grün oder blau? Warum ist alles so wie es ist? Ich nenne es mutig diese Frage zu stellen, denn auf die meisten solcher Fragen findet keiner eine Antwort. Aber trotzdem ist es wichtig ein paar von ihnen zu stellen, ob man jetzt eine Antwort weiß oder nicht. Warum leben wir? Warum haben wir Gefühle? Warum haben Gegenstände keine? Als Lola an meinem Arm zog bemerkte ich, dass wir gerade aus dem Friedhof trafen. Für mich hatte es sich viel länger angefühlt, als nur eine Minute, denn meine Gedanken waren schneller gewesen. Normalerweise dachte ich etwas langsamer, aber alles das hatte ich innerhalb weniger Sekunden gedacht und verdaut. „Was ist denn?“, fragte ich Lola.
„Kannst du mich schminken, wenn wir zuhause sind?“
Tja, so ist das halt mit einer kleinen Schwester quiekte erfreut auf, denn ich stimmte nicht häufig bei ihren Vorschlägen zu. Aber in diesem Augenblick hätte ich allem zugestimmt, bloß um mich abzulenken. Und wenn das hieß meiner Schwester Lippenstift und Sonstiges auf das Gesicht zu schmieren, dann musste ich da eben durch. Endlich zuhause musste ich sofort anfangen und danach spielten wir Friseure. Ich flocht ihr die Haare in dem Versprechen, dass sie morgen Locken haben würde. Am nächsten Morgen sah sie aus wie ein kleiner Unschuldengel. Mit ihren goldenen Locken und dem anhaltenden Lächeln kleidete ich sie ganz weiß ein. Ihr schneeweißes Lieblingskleid, welches sie eigentlich noch nicht anziehen durfte, da es ihr zu groß war. Aber wozu sind Stecknadeln nutzte, wenn nicht dazu. Sobald ich fertig war, schloss sie raus auf die Straße. Dort beschloss sie der Schutzengel von einem herumstreunenden Hund zu werden. Ich konnte über sie nur lächeln. Aber der Gedanke an Engel drohte mich wieder zum Grübeln zu drängen. Stattdessen rannte ich meiner Schwester hinterher und schlug vor ob wir nicht zusammenspielen könnten. Strahlend ging sie auf meine Bitte ein. Wir rannten kreuz und quer durch Häuser und Gassen durch. Mal waren wir Piraten und suchten einen Schatz, mal waren wir zwei verfluchte Prinzessinnen, die auf ihren Prinzen warteten, mal waren wir Hexen, die Streit suchten und einmal waren wir Engel, die die Aufgabe hatten, die Welt zu retten. Für diese Spiele mussten wir uns nicht verkleiden. Unsere Fantasie reichte dazu aus.
„Psst. Oder willst du, dass sie uns hören?“, wies mich Lola zurecht, als ich zu doll aufgetreten war. Momentan waren wir Flüchtlinge und wollten nicht von der Polizei erwischt werden.
„Natürlich will ich das nicht, doch ich denke wir sollten uns zuerst eine Strategie überlegen.“
„Ja, dann könnten wir die Polizisten austricksen und ab in die Freiheit.“
So spielten wir den Rest des Tages und hörten erst auf, als unsere Mutter uns aus unserer Fantasiewelt riss, um uns zum Abendbrot zu rufen. Es gab Chili Concane. Herrlich. Zusammen saßen wir am runden Tisch und Lola erzählte aufgeregt unserer Mutter, was wir alles gespielt hatten und wo wir dabei überall waren. Bei jeder weiteren Geschichte schmunzelte sie weise und ich erahnte, dass sie an ihre Kindheit zurückdachte, in der sie mit ihren Freundinnen gespielt hatte. Vielleicht waren es nicht die gleichen Spiele, aber sie waren mit der gleichen Feuereifer dabei. Während Lola so erzählte stopfte ich mir einen Teller Chili nach dem anderen in den Magen. Ich liebe Chili. Erst nach Lolas Erzählung erhob ich mich und zog mich damit zurück in mein Zimmer. Wenn ich eins aus meinem Leben gelernt habe, dann dass das Glück nicht ewig währt und man es nicht überstrapazieren soll. Ich setzte mich auf meinen Drehstuhl und fing an in einem meiner Bücher zu lesen. Erst als ich im Bett lag wurde mir klar, dass das ein perfekter Tag gewesen war. Ein Tag ohne Grübeln, ein Tag an dem ich Kind sein durfte, ein Tag ohne Gabe, ein Tag an dem man weder an die Zukunft dachte. Kurz und knapp, ein perfekter Tag. Leider bemerkt man das erst danach. Wahrscheinlich hätte ich ihn mehr genossen, wenn ich es gewusst hätte. Vielleicht war aber genau das der Fehler. Dass man sich mehr darauf konzentriert wie man den Moment festhalten kann, anstatt ihn zu erleben und danach im Gedächtnis zu behalten. Das würde heißen, dass ich doch alles richtig gemacht habe, einfach indem ich in der Gegenwart gelebt habe. Wieder träumte ich von dem schwarzen Herz. Es schien alle Farben um sich herum aufzusaugen und zu verschlucken. Normalerweise brach das Herz schon bei einem hellen Grauton. Die Umrisse verschwammen immer mehr, bis das Herz zu bluten anfing. Es schmolz in meiner recht kühlen Hand. Danach diesen Verlust begann ich zu weinen. Die Tränen waren lila. Manche auch grün mit einem Hauch rot. Das war beim letzten Traum nicht so gewesen. Und anstatt dass alles schwarz wurde, saß ich in meinem Traum und weinte bis durch meinen Wecker geweckt wurde. Ich war nicht der Geringsten überrascht, als ich in dem Spiegel über meiner Kommode meine rot angeschwollenen Augen sah. Nur war es mir ein Rätsel warum. Sie Schuld und Hoffnungslosigkeit ausdrückten. Hatte das etwas mit dem schwarzen Herz zu tun? Egal. Ich verbrannte (oder versuchte es zumindest) diese Gedanken und machte mich rasch fertig für die Schule. Ich war nur froh, dass ich, wegen meiner ‚geistlichen Besserung’, nicht mehr zur Therapeutin musste. Zwar wusste ich nicht warum aber ich mochte sie nicht gerne. Wenn sie nicht gerade mein Seelenklempner wäre, hätte ich sie bestimmt sympathisch gefunden und das war sie garantiert auch, doch ich wette niemand mag seinen Therapeuten. Ich frage mich, wie man sich wohl fühlt, wenn man weiß, dass seine Patienten einen hassen, aber man nichts dagegen unternehmen kann. Mama fährt Lola immer zur Schule und ich gehe zu Fuß zu meiner Schule. In dieser passierte nicht viel außer dass ich immer Niclas sah. Bevor ich ihn kannte war er nur Teil der Masse, doch unsere Begegnung hatte ihn etwas besonderem gemacht. Dauernd lief er mir über den Weg, wie es schien. Ich wusste nicht wie ich ihn ansprechen sollte und hoffte er würde mir diese schwere Entscheidung abnehmen, doch er wich geschickt meinen Blicken aus und scherzte mit ein paar seiner Kumpels rum. Am Ende des Schultages war ich sauer auf ihn. Dieses starke Gefühle verbat ich mir jedoch sofort. Ich sagte mir, dass ich doch keine Gefühle haben wollte und wurde dadurch wütend. Die Wut darüber, dass Niclas mich ignorierte verlor und trat den Rückzug an. Die andere Wut war bald verraucht. So macht man das, lobte ich mich selber in Gedanken. Doch kaum hatte ich einen Fuß außerhalb des Schulgeländes gesetzt, legte er eine Hand auf meine Schulter. Ich hatte ihn daran erkannt, dass mein Herz zersplitterte. Was wollte er jetzt so plötzlich?
„Hey!“
Langsam drehte ich mich um. Am liebsten hätte ich ihm jetzt eine Geklatscht, aber da ich nicht wie eine verliebte und überemotional Zicke klingeln wollte sagte ich nur: „Hi, schön dich zu sehen. Schon wieder.“
Er schenkte mir ein leichtes Lächeln. Ich traute mich nicht im in seine Augen zu sehen, obwohl er meinen Blick suchte, denn sonst wäre ich in Gefahr gelaufen und mich in diesem dunklen und geheimnisvollen Grün zu verlieren. Plötzlich sah er verlegen aus und wich auch meinem Blick aus den ich verwirrt und fragend auf ihm richtete.
„In der Schule habe ich...nun ja...ein paar Gerüchte...aufgeschnappt.“
Verstehend nickte ich, schließlich wusste ich von dem Klatsch und Tratsch, der über mich verbreitet wurde. Trotz allem sprach ich mit vielen Mädchen aus meiner Klasse, die alle sehr nett zu mir waren und fühlte mich keineswegs ausgeschlossen oder ähnliches.
„Nicht, dass ich alles davon sofort glaube würde“, schob er hastig direkt hinterher. „Würde ich die Gerüchte verstärken, wenn ich dich fragen würde, was du gefühlt hast, als du mich das erste mal sahst?“
Diese Frage musste ich ihm einfach stellen, denn sie ließ ich nicht los, ob ich nun mit meiner Schwester spielte oder etwas anderes machte, um mich abzulenken.
„Ich konnte nur daran denken wie süß du bist und mein Herz hat angefangen zu rasen.“
Verlegen senkte ich den Blick. Nicht ganz die Antwort, die ich hören wollte, aber für ein paar Tage wird sie schon ausreichen. Ewig konnte er aber nicht mehr ausweichen. Schweigend und auf den Boden gerichtet, als wollten sie etwas finden, das man sonst mich leicht sieht, setzte ich mich in Bewegung. Er folgte mir. Den Rest meines Nachhauseweges. Als wäre das die normalste Sache der Welt. Zum Abschied lächelte er mir aufmunternd zu. Erst als ich die Tür schloss hatte ich bemerkt, dass ich in seiner Gegenwart die anderen Herzen vergessen hatte. Wie konnte das nur passieren? Ich schwor, auf alles was mir wichtig war, dass mir das noch nie im Leben schon einmal widerfahren ist. Leider gibt es für alles ein erster Mal. Aber was bedeutet dieses Sprichwort eigentlich? Ich werde bestimmt nicht aus einem Flugzeug springen oder Millionär werden. Oder? Wenn es jedoch passieren würde, wäre es das erste mal. Ab der Geburt gibt es dauernd erste Male. Aber es gibt nicht für alles ein erstes Mal. Ich staunte über mich selbst. Früher habe ich mir nie so viele Gedanken über alltägliche Dinge gemacht. Jetzt schien es jedoch, als käme ich aus dem grübeln gar nicht mehr heraus. Früher gab es allerdings auch kein Herz, dass in allen Farben schimmerte. Seit dieser einmaligen Begegnung war ich nicht mehr ich selbst. Als wäre alles auf den Kopf gestellt. Wie wenn man einem 3-jährigen Kind erzählt, dass es keinen Weihnachtsmann gibt, sodass es fängt zu weinen. Nur noch schlimmer. Ich mache mir viel zu viele Gedanken darüber. Ein 13 Jahre altes Mädchen sollte mit Freundinnen treffen und über Make-up, Jungs und Schlankheitstipps quatschen. Stattdessen liege ich allein auf meinem Bett und rätsele über die Bedeutung von Sprichwörtern. Nicht gerade die Kindheit , die man sich erträumte. Sie wurde mir von der Gabe geraubt. Aber man muss dazu sagen, dass ich mich nicht dagegen gewehrt habe. Ich habe zugelassen, dass ich meine Kindheit zu einem Alptraum werden ließ. Dazu kam noch der frühe Tod unseres Vaters. Lola erinnerte sich gar nicht mehr an ihn und ich...ich erinnere mich nur noch an eine einzige Szene mit ihm: Meine Mutter bat mich ihr zu helfen Papa in das nächste Zimmer zu bringen. Er stützte sich auf uns und ich weiß, dass er eine grüne Schlabberhose getragen hatte. Kurz danach fiel er ins Koma. In dieser Zeit war ein großes Nichts. Ich habe nur noch eine Erinnerung. Wir fahren gerade in das Krankenhaus, weil sich sein Zustand verschlechtert hatte, gerade passierten wir ein Einkaufszentrum, als ich was sagen wollte unsere Mutter mich aber sofort zum Schweigen brachte. Dann wieder nichts. Nicht gerade viel was mir geblieben ist. Aber das Schlimmste ist, umso mehr ich versuche diese Details festzuhalten, umso mehr entgleiten sie mir. Ich wickelte mich fester in meine rote Bettdecke ein und zog sie mir bis zum hals hoch. Als wäre dort ein anderer Ort mit weniger komplizierten Problemen. Langsam wärmte sich meine Decke auf und machte mich schläfrig. Ich rollte mich auf die Seite und schloss die Augen. Viel Zeit nachzudenken, blieb mir nicht mehr dann kurz darauf schlief ich ein.
Mit neuem Elan stieg ich aus meinem Bett. Während ich zur Tür auf der gegenüberliegenden Seite schlenderte ließ ich meine rechte Hand zärtlich über die Bücherrücken im schwarzen Regal streichen. Das tat ich nur wenn ich richtig fröhlich war. Erst jetzt reagierte ich auf seine Worte. „Ich konnte nur daran denken wie süß du bist und mein Herz hat angefangen zu rasen.“ Ich sah ihn wieder vor mir. Wie er sich nervös die Haare mit seinen Händen zerzauste und schüchtern lächelte. Für mich war es das erste Mal, dass jemand mir so etwas gesagt hatte. Im Bad angelangt machte ich mich für mich Schule fertig. Ausnahmsweise zog ich meine enge Jeans und mein verwaschenes Lieblingshemd an. Das Hemd war grau und lila gestreift und ich zog es deswegen normalerweise nicht an, weil es viel Aufsehen erregte. Für meine Gabe zu viel Aufsehen erregte. Der Grund warum ich es jetzt doch anzog war Niclas. Ich wollte nicht, dass er sich dafür schämen musste mit mir etwas zu unternehmen oder mit mir zu reden. Ich glitt die Treppe runter, wo ich auf meine kleine, süße, niedliche, engelhafte Schwester Lola traf.
„Einen herrlichen guten Morgen, liebste Lola!“, verkündete ich Freude strahlend und schlang meine Arme um sie.
Als erstes erstarrte sie und war schockiert. Ohne mir davon die Laune verderben zu lassen, entließ ich sie aus der Umarmung, wuschelte ihr noch kurz durch ihre blonden Harre, die immer noch etwas lockig waren, und schwebte in die Küche. Lola lief mir hinterher und kreischte begeistert:
„Mama, Evy hat Drogen genommen!“
Dabei lachte sie sich halb tot. Es wurde nicht gerade dadurch besser, dass Mama mit ernster Miene auf mich zu rannte und mich untersuchte, um herauszufinden was ich eingeworfen hätte.
„Mama, ich habe keine Drogen eingenommen. Ich bin momentan nur soooo glücklich“, erklärte ich ihr und schmatzte ihr einen Kuss auf die Wange, wobei ich ihre Sorgenfalten vertrieb.
„Oh.“
Ich glaube, dass war das erste Mal, dass ich so richtig ausgelassen war seit Papas Tod und meiner Gabe.. Ich schnappte mir meine Tasche und tänzelte zur Haustür hin.
„Ich mache mich jetzt auf den We-heg!“, trällerte ich.
Mit diesen Worten schloss ich die Tür hinter mir und ließ Mama und Lola mit ihrer Verblüffung alleine.
Auf der ersten Hälfte des Schulweges sang ich ‚I walked in the sunshine’, obwohl die Wolken immer mehr zuzogen, dann fing es an zu regnen und ich wechselte zwischen ‚Singing in the rain’ und ‚It’s raining men’ und mixte meinen eigenen Remix. Damit verschaffte ich bestimmt vielen einen Ohrwurm, denn soooo schlecht sang ich gar nicht.
Meine Haare wippten auf und ab und kitzelten meine empfindliche Haut. Doch es dauerte nicht lange bis sie tropfnass an meinem Kopf und Rücken klebten, aber das störte mich nicht sonderlich. Es ist nicht so, dass jeder jeden kennt, es ist nur, dass die Menschen mich als unsichtbar und unnahbar abgestempelt hatten. Sonderlich gestört hatte es mich bis jetzt nicht.
Wie ein kleines Kind sprang ich von einer Regenpfütze in die Nächste und kümmerte mich nicht darum, dass meine Hosenbeine sich voll Wasser sogen und mich auf dem Boden festhielten. Obwohl ich durch meine Jeans an die Erde gekettet war, fühlte ich mich unendlich frei. Jeden Moment musste ich nur meine Arme ausbreiten um loszufliegen. Aber aus irgendeinem Grund wollte ich das gar nicht. Irgendetwas hielt mich hier fest. Sowohl meine Familie und Niclas, als auch meine Gabe. Der Weg zur Schule dauerte viel zu kurz. Wenige Minuten nachdem ich das Haus verlassen hatte, kam ich auch schon an. Nicht wenige staunten über meinen Aufzug, aber mich ließ das kalt. Ohne mit nur einem Schritt zu zögern, stolzierte ich auf Niclas zu. Umso näher ich ihm kam, umso mehr beschleunigte ich meine Schritte. Es kam dazu, dass ich auf ihn zurannte und mich in seine Arme warf. Überrascht torkelte er ein paar Schritte rückwärts. Ich presste meine nasse Wange an seine noch trockene und flüsterte sachte in sein Ohr:
„Danke, für deine Worte.“
Erst errötete er, doch schlang er seine starken Arme um meine Taille. Auch ihn schien es nicht stören, dass ich bis auf die Haut durchnässt war, oder er hatte es noch nicht einmal bemerkt. Meine Hände verschränkten sich hinter seinem Hals. Einen Augenblick löste er sich ein Stückchen von mir und ich sah in seinen Augen, was er vorhatte, doch auch eine Frage um Erlaubnis. Ohne zu zögern zog ich ihn nah an mich ran und legte meine Lippen auf seine. Eigentlich hätte ich mich davor fürchten müssen, immerhin war dies mein erster Kuss. Und ich hätte ihn mir nicht perfekter vorstellen können. Gefühle stürmten auf mich ein und ich vergaß meine eiserne Regel ich dürfte nicht so viele Gefühle an mich ran lassen. Um nicht einzuknicken musste ich mich an ihm festklammern. Ihn schien es nicht zu stören, dass ich meine Fingernägel in seinen Rücken krallte. Mein Herz pochte gegen meine Brust als wolle es das Gefängnis aufbrechen und dann war da plötzlich noch einein Herzschlag. Beide stimmten sich schnell aufeinander ein und hatten nun denselben Rhythmus. Ein Rauschen war in meinen Ohren, welches mich für alles andere taub machte. Alles um mich verschwamm und mich störten die vielen Zuschauer nicht. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, als wir uns schließlich voneinander lösten. Dann sahen wir uns nur noch in die Augen. Ich verlor mich in seinen grauen Augen, die mir das Gefühl gaben, als müsste ich vor Freude platzten. Und auch er war vertieft in meine braune, die wahrscheinlich eine Lebensfreude versprühten, die für mich etwas Ungewöhnliches war. Er griff nach meiner Hand ohne mich aus den Augen zu lassen. Zart drückte er zu und ich erwiderte diese Geste. Überrascht das jemand außer meiner Familie etwas für mich empfand.
Ab diesem Moment hatte ich einen neuen Ruf. Ich war nicht mehr die ruhige Streberin, sondern ein ganz normales Mädchen, dass morgens mal hier, mal dort begrüßt angesprochen wird. Dies sollte mich grundsätzlich ändern. Ich bekam mehr Vertrauen in mich und meine Gabe. Nicht, dass ich jetzt denken würde ich wäre die Beste und Schönste und stolziere herum wie eine eingebildete Kuh. Ich veränderte mich eher im positiven Sinne. Nach 1-2 Tagen waren Niclas und ich feste Freunde. Wir hatten beide gemeinsam beschlossen ins kalte Wasser zu springen. Dadurch, dass Niclas sich in meiner Nähe befand, spürte ich es nicht mehr als Schmerz ein kaputtes Herz liegen zu lassen, viel mehr war es nur noch ein unbehagliches Kribbeln in Magengegend. Ich wusste einfach nicht wie ich ihm meine Gabe erklären sollte, denn ich kann sie ja nicht wirklich beweisen. Er würde mich bloß auslachen und es als Scherz abtun. Das hätte ich nicht ertragen, also schob ich den Termin immer vor mir her und ließ mir immer wieder neue Ausreden einfallen. Denn selbst, wenn ich jetzt mehr Freunde besaß, musste ich meinen Job tun.
An einem Sonntagnachmittag ging ich mit Niclas in die Stadt. Wir schlenderten gerade durch die Fußgängerzone, als ein pechschwarzes Herz mich praktisch in die ‚andere’ Welt zog. Als alles in schwarz, grau und weiß war, machte ich mich zögerlich auf den Weg. In so einer Menschenmenge war es schwer das Herz zu finden, vor allem weil das Herz nicht durch eine Farbe hervorstach. Aber ich fühlte die bedrückte Aura des zerbrochenes Herzens und machte es so ausfindig. Dieses Schwarz schien das Licht zu schlucken. Es sah grauenhaft aus. Als erstes zögerte ich und es dauerte eine Weile bis ich mich traute mir das Herz zu nehmen. Kurz hielt ich inne, um die entsprechende Person einzuschätzen. Es handelte sich hierum um einen Mann in einen dicken und dunklen Mantel gewickelt. Langsam streckte ich die Hand nach dem Hand nach dem Herzen aus. Die Scherben schnitten in meine Handflächen und mein Blut beschmutzte die Farbe. Ängstlich ließ ich die Schatulle aufschnappen. Ein solches Herz fehlte mir in meiner ‚Sammlung’ gerade noch, denn mit diesen Herzen hatte ich bis jetzt nicht viel zu tun gehabt. Ich wusste nicht was mich erwarten würde, wenn ich das Herz in das Kästchen legte. Aber es war meine Aufgabe, das zu tun und ich konnte die Menschen nicht einfach so im Stich lassen. Obwohl sie es nicht wussten, brauchten sie mich und nicht selten habe ich darüber nachgedacht, ob es noch mehrere mit meiner Gabe gab oder wie ich es schaffen sollte überall gleichzeitig zu sein, um Menschen zu helfen. Es brach mir das Herz zu wissen, dass so Viele unnötiger Weise litten. Ohne noch weiter darüber nachzudenken, ließ ich das Herz in die Schatulle fallen. Dann zwang es mich in die Knie. Der Schmerz dieser Gefühle überschattete die Gedanken, die sonst immer in meinem Kopf herum spukten. Ein gellender Schrei entfuhr meinen Lippen und ich sackte in Niclas Armen zusammen. Mir war schwindelig und ich hatte jegliche Orientierung verloren. Wie an einem Felsen klammerte ich mich an ihn. Überrascht versuchte er mich zu stützten.
„Ich...muss...sehen“, murmelte ich und bemühte mich die Augen zu öffnen, die sich wie versteinert anfühlten.
„Was gibt’s denn zu sehen. Ich glaube, ich bringe dich am besten ins Krankenhaus oder nach Hause.“ „Aber...“ „Kein aber. Dir geht es nicht gut.“ Ich merkte, dass er nicht nachgeben wird. Deswegen kämpfte ich gegen mich selbst an und öffnete die Augen. Der Mann fing an zu lächeln. Zufrieden seufzte ich auf und ließ mich in das Dunkel fallen, dass mich zu verschlingen drohte. Das Letzte was ich hörte war das glückliche, tiefe und raue Lachen des fremdes Mannes. Etwas kitzelte mich. Ruckartig zog ich meine Beine an, um der Folter auszuweichen. Ich kicherte, was bei mir so selten vorkam, wie ein Vulkan am Südpol ausbrach. Sogar vor Papas Tod habe ich selten gelacht, aber jetzt kam es einem Wunder gleich. Ich öffnete die Augen und sah Lola am Fußende des Bettes sitzen. Sie grinste mich an. Ich grinste zurück. Zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit führten wir uns wie Schwestern auf. Durch den Schlaf ging es mir schon wieder besser und gleichzeitig fühlte ich mich stark mit dem Gedanken im Hinterkopf, dass ich Wunder vollbringen konnte. Ich konnte Menschen heilen. Als wäre Liebeskummer, Trauer, Schmerz oder Ähnliches eine lästige Krankheit.
„Komm zu mir.“
Mein Mund war etwas trocken und deshalb hörte sich meine Stimme sich rau und etwas dunkler an als sonst. Sofort krabbelte meine Schwester zu mir und kuschelte sich unter der Decke an mich. Ihre Wärme war einschläfernd und ihre Haare dufteten nach exotischen Früchten. Ohne es genau zu bemerken glitt ich wieder in den Schlaf. Als ich nun zum zweiten Mal aufwachte, lag meine Mutter auch bei uns. Ihre Augen waren geschlossen und ihre Atem ging regelmäßig. Wir drei zusammen hatten uns ineinander verknotet und bildeten einen Klumpen inmitten der weichen Kissen und Decken. Meine kleine Schwester schnarchte leise, aber ich lächelte nur darüber. Sie war ja noch ein Kind. Sanft versuchte ich mich zu entwirren ohne die beiden aufzuwecken. Auf Zehenspitzen tapste ich den Flur entlang, die Treppe runter und in die Küche. Als ich auf die Uhr schaute sah ich, dass es 2 Uhr in der Nacht war, wir alle hatten über 12 Stunden geschlafen. Es war Zeit für einen Mitternachtsimbiss. Ich machte für uns alle einen heißen Kakao mit Marshmallow, bestrich Brot mit Marmelade und legte noch die letzte paar Scheiben von dem Marmorkuchen dazu. Zur Feier des Tages benutzte ich unser Feiertagsgeschirr. Es bestand aus Porzellan und dort waren Röschen und Tulpen, von Hand draufgezeichnet worden. Nur für Lola benutzte ich ihre über alles geliebte Cinderella Tasse. Eine Tante hatte sie ihr zum Geburtstag geschenkt und seitdem weigerte sie sich selbst Wasser aus einem gewöhnlichen Glas zu trinken. Ich erinnere mich wie ich mal aus Wut auf Lola den Henkel zerschmettert, als ich im Taumel meiner Gefühle die Tasse zu Boden geworfen hatte. Am nächsten Tag bereute ich meine Tat furchtbar, als ich durch das ganze Haus meine Schwester heulen und schluchzen hörte und am Tag darauf hielt ich ihr ihre Tasse mit geklebten Henkel vor die Nase. Sofort stoppte ihr Tränenfluss und danach mochte sie die Tasse nur umso mehr. Auf einem hölzernen Tablett trug ich die Sache nach oben. Kurz stockte ich und überlegte. Darauf fing ich an ‚Morning has broken’ zum besten zu geben. Sofort reagierte meine Schwester darauf und setzte sich auf. Früher hatte ich Lola immer gern was vorgesungen und danach hatte sie begeistert in ihre Patschehändchen geklatscht. Damals hatte Papa noch gelebt. Damals war noch alles okay. Kurz darauf entdeckte ich meine Gabe und Papa fiel wegen eines schweren Unfalls ins Koma von dem er niemals wieder aufwachen sollte. Zwei kleine Stupser von Lola reichten aus, um Mama aufzuwecken. Sie blinzelte kurz, blieb aber liegen. Lola hüpfte quiekend im Bett auf und ab und summte mit, weil sie den Text noch nicht konnte.
Mit einer übertrieben schwungvollen Geste legte ich das Tablett auf die Bettdecke und veranlasste so, dass Mama aufstöhnte und ‚Bitte sag mir, dass ich nicht falsch liege, wenn ich sage, dass riecht nach heißem Kakao’, seufzte.
„Du liegst nicht falsch. Wir werden einen Mitternachtsimbiss zu uns nehmen. Zu dies haben wir exzellenten Kakaowein extra aus der Küche importieren lassen. Und zuletzt frisches Brot mit delikater Marmelade“, führte ich ihnen das ‚Büfett’ mit einer aufgesetzten Schnöselstimme vor. Ich verbeugte mich tief wie es ein Butler zu tun pflegen. Das brauchte nicht nur Lola und mich zum Lachen, sondern auch Mama. Zu dritt saßen wir auf dem viel zu kleinem Bett. Es war ein Wunder, dass es unter unserem Gesamtgewicht nicht einstürzte. Schöner hätte es nicht sein können. Wir scherzten und unterhielten uns während die Kakaos immer kälter und weniger werden. Irgendwann, um 4 Uhr saßen wir beisammen, das Tablett leer neben dem Bettpfosten. Mama verlor kein Wort darüber, dass morgen Schule war und wir eigentlich schlafen müssten, damit wir morgen wach genug für die Schule waren. Die letzten zwei Stunden vor dem Aufstehen verbrachten wir schon wieder aneinander geschmiegt und dösten vor uns hin. Am nächsten Morgen machte ich mir Gedanken über meine Beziehung zu Niclas. Plötzlich fiel mir auf, dass wir uns seit meines Ansturms auf ihn nicht mehr vor unseren Mitschülern gezeigt hatten. Jetzt würden die Gerüchteküche aber brodeln. Wie ich es mir gedacht hatte, tuschelten alle sobald ich das Schulgebäude betrat. An meinem Schulspind hakte sich Cordney, das beliebtste Mädchen der Klassenstufe, bei mir unter.
„Alle sagen er hätte mit dir Schluss gemacht, indem er dir eine SMS geschrieben hat, aber Mandy schwört auf ihre neue Sonnenbrille, dass sie euch zusammen im ‚Closed eyes’ gesehen hätte“, sprudelte sie los und begleitete mich zum Klassenraum als sei dies, das gewöhnlichste auf der Welt. Bevor meinem Auftritt hatten wir kaum zwei Wörter gewechselt, obwohl wir in derselben Klasse waren.
„Dann ist die Brille aber nicht besonders viel wert“, entgegnete ich prompt. Erst danach kam mir in den Sinn, dass ich damit ihre Freundin beleidigt haben könnte, doch sie lachte nur.
„Ich wusste gar nicht das du soooo witzig bist. Hättest du schon früher solche Witze in den Raum geworfen, wären wir nicht erst jetzt Freundinnen geworden. Das ist doch okay, oder?“
Sie warf mir einen fragenden Blick zu. Ich schielte zu ihr rüber. Sie war schlank, aber sah nicht abgemagert aus, wie die meisten Mädchen. Ansonsten sah sie mit ihrer zierlichen Figur, ihrer langen, honigblonden Haaren und dem hübschen Gesicht aus, als könnte sie jeden Moment auf den Laufsteg steigen. Gegen ihren Markenrock und 80$-Blazer plus Seidenschal, sah ich mit meiner etwas ausgefransten Jeans und einem T-Shirt mit der Aufschrift: ‚Glaub mir, ich tu nicht nur so, ich bin schlau!’
Richtig erbärmlich aus. Wäre sie nicht dafür bekannt, öfters mal auf schräge Gedanken zu kommen, wäre sie in der Rangliste bestimmt ganz oben. Doch trotz ihren verrückten Einfällen hatte sie viele feste Freundinnen, was mir mal wieder den Unterschied zwischen ihr, dem Cool-Girl, und mir, dem unsichtbaren Mädchen, zeigte.
„Klar ist das okay.“ Endlich bekam ich meine Chance und ich fand das es an der Zeit war sie zu nutzen.
„Supi!! Hast du nicht gerade auch das Bedürfnis dich mit Wasser zu bespritzen?“ Das war eindeutig noch eine ihrer harmlosen Ideen. „Ja“, antwortete ich wahrheitsgemäß, „aber ich würde warten bis zur Pause und es draußen machen.“ Nur so nebenbei, draußen war es um die 5°Celsius. „Genau! Ich wusste du würdest die ‚Prüfung’ schaffen. Aber ich glaube ich lasse euch jetzt allein, doch danach will ich alles bis ins kleinste Detail wissen.“ Mit diesen Worten ging sie an mir vorbei ins Klassenzimmer. Noch bevor ich wusste was sie damit sagen wollte, kam Niclas auf mich zu. Ich wusste nicht, ob er es erkannt hatte und unsere Beziehung geheim halten wollte oder ob es ihm nicht aufgefallen ist, dass wir uns in der Schule nie zusammen zeigen. Bei mir angekommen legte er sofort einen Arm um meine Taille und küsste mich öffentlich mitten auf den Mund. „Geht’s dir besser?“, flüsterte er mir zärtlich ins Ohr. „Mhmh“, brachte ich gerade noch so heraus, denn seine Nähe löste bei mir ein komplettes Blackout aus. „Willst du es mir erklären?“ Und bevor mir irgendeine passende Lüge einfiel, hauchte ich ihm ins Ohr: „Nachher.“ Er nickte ernst. Schließlich war es nicht Alltag, dass seine Freundin ohne Grund und mitten in der Stadt einfach mal so umkippte. Zum Abschied gab ich ihm ein Küsschen denn so wie unserer beider Stundenplan aussah hatten wir keine Zeit uns zu sehen. Im gesamten Biounterricht schrieb ich mir mit Cordney Zettelchen und erklärte ihr meine jetzige Beziehung zu Niclas.
Und???
Was und?
Na, wie steht`s um euch?
Wir sind offiziell zusammen.
Und inoffiziell?
Sind wir total verknallt J
Ich freu mich sooo für dich.
Danke.
Wasserschlacht nächste Pause?
Gern.
Viel mehr kam nicht dabei heraus. Aber so ist das nun mal mit Freundinnen. In der Pause sammelten wir kurz ein paar Plastikflaschen und füllten sie mit Leitungswasser aus der Mädchentoilette. Leider gongte es zur dritten Stunde, also mussten wir noch mal zwei Schulstunden warten. Aber das Warten lohnte sich. Denn nachdem Cordney und ich begannen uns gegenseitig mit Wasser zu bespritzen, kamen als erstes Cordneys Freunde dazu, aber noch etwas später hatten sich der ganze Schulhof in einer riesigen Jeder-gegen-Jeden-Wasserschlacht verstrickt, sogar Lehrer, sodass die nächsten zwei Stunden ausfielen. Mitten im Kampf mit einem gewissen Jason, den ich noch nie gesehen hatte, zog mich plötzlich Niclas an sich und küsste mich stürmisch. Sofort vergaß ich alles um uns herum. Das einzige was zu mir durchdrang waren unsere beide Herzschläge und drei gewisperte Worte, die mich schwindeln ließen.
Ich. Liebe. Dich.
Mehr brauchte es nicht, um mir den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Zum einen war ich glücklicher den je. Zum anderen war mir bewusst, dass ich, jetzt wo diese Worte gesprochen waren, keine Geheimnisse vor ihm haben sollte. Und das wiederum bedeutete, dass ich ihm von meiner Gabe erzählen musste, komme was wolle. Er registrierte kurz meinen Gesichtsausdruck und sagte:
„Hätte ich das nicht sagen sollen? Wir können noch warten wenn-“
„Nein“, unterbrach ich ihn hastig, „es ist nur so, dass es etwas gibt was du nicht über mich wissen solltest.“
Er runzelte die Stirn nickte aber. Meine Schöne-Welt-Blase war geplatzt. Der Höhenflug hatte ein abruptes Ende gefunden. Nach dem Hoch kommt immer ein Tief. Um uns herum spritzte Wasser und Lachen lag in der Luft. Es war als hätte jemand mit Lachgas experimentiert. Vor ein paar Minuten hatte ich mich anstecken lassen, doch nun war ich resistent geworden. Wie sollte ich anfangen? Mein Kopf war voll von solchen Gedanken. Doch gleichzeitig war er leer, denn als wir uns in die hinterste Ecke stellten, wusste ich immer noch nicht wie ich ihm alles erklären sollte. Doch instinktiv wusste ich, er würde es merken, wenn ich ihn anlügen sollte. Da bleibt nicht viel zu machen. Ich drehte mich zu ihm um und hielt den Atem an.
„Ist es eine Todeskrankheit?“
Das ist gut, es ist besser wenn er fragt.
„Nein!“
Ich sprach zu schnell und wahrscheinlich gab es noch tausend weitere Anzeichen dafür, dass ich nervös war. Meine Hände, mein Gesicht, meine gesamte Körpersprache, ...
„Hattest du eine schlechte Jugend oder bist du adoptiert?“
Ich schüttelte heftig den Kopf. Wir werden hier ewig stehen, wenn ich ihn weiter raten lasse. Ihm war das auch klar, denn er schwieg und wartete darauf, dass ich bereit dafür bin ihm alles und die Wahrheit zu erklären.
„Glaubst du an Übernatürliches?“
„Darüber habe ich mir noch nie so wirklich Gedanken gemacht“, war seine schlichte Antwort. Verwirrt neigte er seinen Kopf zur Seite und runzelte die Stirn. Um ehrlich zu sein, ich hatte mir mehr von seiner Antwort erhofft.
„Also, ich, nun ja, ich helfe Menschen auf eine ganz spezielle Art und Weise, die ich eigentlich geheim halten sollte, weil sonst die ganze Welt Kopf stehen würde.“
Sein Gesicht verfinsterte sich, als sähe er schon ein unlösbares Problem auf sich zu kommen. Aber konnte mich nicht auf ihn konzentrieren, sondern nur darauf die folgenden Sätze so zu formulieren, dass ich ihm schonend klar machen konnte, was ich vor meiner Familie nie aussprechen konnte. Ich weiß noch genau wie meine Mutter reagiert hatte, als sie merkte wie ernst es mir als 4-jähriges Kind war. Damals habe ich noch nicht verstanden, warum es manchen Menschen so schwer viel an das Unmögliche zu glauben. Sie hatte die Augen erschrocken weit aufgerissen. Diesen Fehler habe ich danach nie wieder gemacht.
„Eveline, das darfst nicht noch einmal machen. Und am Besten sagst du es nicht Papa. Okay?“, hauchte sie und fuhr beschützend über ihren größer werdenden Bauch. Als wollte sie das Baby vor mir, meinen Worten oder der Gabe schützten. Daraufhin habe ich nur eingeschüchtert genickt, ich war wie betäubt von ihrem eindringlichen Blick und dieser Geste.
So etwas, wie damals, wollte ich auf jeden Fall vermeiden. Und das würde ich auch, sprach ich mir Mut zu, denn dieses mal habe ich nicht die kindliche Entschlossenheit es meiner Mutter zubeichten, sondern hier ging es um meine Zukunft, die ausnahmsweise etwas Gutes beinhaltete und da wollte ich nicht, dass es zerstört wird, egal ob von mir oder etwas anderem.
„Ich habe in meiner Tasche ein Schachtel in der bunte Glasscherben liegen. Sie stammen von Herzen. Euch ist das vielleicht nicht bewusst, aber jeder von euch besitzt eine Art Phantomherz, dass aus Glas ist oder auf jeden Fall etwas Glasähnliches.“
„Ich auch?“, fragte er, als wollte er sicher gehen.
„Ja, aber dieses Herz sehe nur ich und selbst ich kann sie nur sehen, wenn ich in eine virtuelle Welt gehe, die wiederum nur von mir betreten werden kann.“
Gott sei Dank. Er stellt Fragen. Er ist nicht abgeneigt mir zu glauben und interessiert sich für mein `Problem`.
„In dieser bleibt die Zeit stehen und alles ist farblos außer die Herzen. Je nachdem welche Farbe sie annehmen, weiß ich wie sich mein Gegenüber fühlt. Falls das Herz zerbrochen sein sollte, nehme ich die Scherben an mich und lege sie in mein Schatulle und der Andere fühlt sich von allen Sorgen befreit. Manchmal fühlt er auch reines Glück.“
Dass der Schmerz auf mich projiziert wird, verschwieg ich im Moment besser noch.
„Hast du das auch schon mal bei mir gemacht?“
Wenn ich schon mal dabei war und die ganze Wahrheit ausspuckte, kann ich auch ganz, ganz ehrlich sein.
„Ja, ich habe es versucht. Nämlich als wir und das erste Mal getroffen haben, vor Eisdiele. Doch dein Herz ist anders“, versuchte ich ihm zu erklären.
„Inwiefern `anders´?“, hakte er nach. Das Alles musste ihn doch furchtbar einschüchtern, doch anscheinend steckte er alles gut weg.
„Es hat seine Farbe gewechselt und ist dabei ins tiefste Schwarz gegangen ohne zu brechen, während andere schon beim hellsten Grau tiefe Risse bekommen.“
Er wirkte ernsthaft betrübt, aber immerhin nicht angeekelt.
„Aber geheilt hast du es nicht? Sollte mich das beruhigen?“
Ich wünschte ich könnte Gedanken lesen, aber eine Gabe reicht mir vollkommen.
„Ich habe dich nicht geheilt, warum sollte ich auch, schließlich war es nicht zerbrochen. Ob dich das beruhigen sollte? Ich habe nicht den leisesten Schimmer, doch da du so oder so schon durcheinander genug bist, würde ich sagen, dass es nichts bringt sich jetzt den Kopf darüber zu zerbrechen.“
Eigentlich war ich selbst zerstreut, nur hatte ich es nicht bemerkt, weil ich solche Angst vor seiner Antwort hatte, davor, dass er mich zurück weist.
„Warst du bei einem Therapeuten?“, sagte er und dabei schwang in seiner Stimme eine gewisse Nervosität mit.
„Ja, kurz nach Vaters Tod.“
Ich wippte unbeständig auf meinen Füßen hin und her.
Hin und her.
Hin und her.
An dieser Bewegung maß ich die verronnene Zeit, während er schwieg. Das war bestimmt viel zu verdauen. Jeden Augenblick erwartete ich den großen Ausbruch, der hinter diesem relativ entspannten Gesicht lauerte. Ich machte mich darauf gefasst, dass er mich anschrie ich sei vollkommen durchgeknallt und mich zurückwies.
„Gute Entscheidung, nach dem Tod eines geliebten Menschen sollte man das durchaus in Erwägung ziehen.“
Ich atmete auf, obwohl ich wusste, dass noch nicht alles überstanden war, hatten wir doch das Schlimmst schon hinter uns. Als er nichts weiteres sagte, ergriff ich wieder das Wort: „Wenn du willst können wir dieses Gespräch vergessen und ich werde dieses Problem nie wieder ansprechen. Das mache ich so oder so schon die ganze Zeit. Es wäre wie zuvor. Einfach und unkompliziert.“
„Aber diese Gabe ist ein Teil von dir und ich würde somit auch dich wegstoßen. Wenn ich mich für dich entscheide, will ich dich ganz und nicht nur zu Teilen. Außerdem muss es schrecklich wehtun, zu wissen, dass ich ein Stück von dir verabscheue. Entweder ganz oder gar nicht. Und die Entscheidung liegt bei mir.“
Er sagte die Wahrheit und ich wünschte ich könnte ihm die Entscheidung leichter machen, aber das konnte niemand.
Ich wollte, dass jemand verstand und ich hatte diesen Jemand gefunden. Mein Herz klopfte laut und ich wartete auf seine Antwort. Doch er zögerte. Ich fühlte meinen Puls durch meinen ganzen Körper rasen. Ich war gespannt wie ein Bogen, doch gleichzeitig drohten meine Beine ihren Dienst zu quittieren.
„Ich brauche Zeit.“
Mit diesen Worten drehte er sich um, ging und ließ mich allein, verwirrt und zerstört zurück. Ich spürte die Tränen in mir aufsteigen und konnte nicht verhindern, dass sie in Strömen mein Gesicht hinunterliefen. Hilflos sank ich auf den Boden, vergrub mein Gesicht in meine Arme und spürte wie mein Herz, welches ich sonst so gut zu verteidigen wusste, langsam zerbrach und auseinander fiel. Aber ich konnte mich nicht selbst heilen. Ich war dem tiefen Schmerz des Verlustes hilflos ausgeliefert. So musste mich Cordney später auch gefunden haben. Mit geröteten Augen, verstopfter Nase und wirren Haaren. Während alle um mich herum lachten und die Wasserschlacht langsam ausklang, kam es mir vor wie ein Witz, dass ich gerade noch mit ihnen gelacht hatte, denn nun lag mein Leben in Scherben vor mir und ich konnte den Kleber nicht finden. Auf mich zustürmend rief sie überschwänglich: „Du hast verpasst wie ich einen vollen Treffer beim Rektor gelandet habe.“
Doch sie unterbrach sich sofort als sie meinen Zustand sah.
„Hat dieser Idiot mit dir Schluss gemacht?“, fragte sie vorsichtig und hockte sich vor mich hin. Beim ersten Versuch ihr zu antworten kam nur ein heiserer Schluchzer aus meinem Mund, woraufhin sie in ihrer überdimensionalen Tasche ein Taschentuch suchte.
Ich schüttelte den Kopf und versuchte verzweifelt die Worte: `Er braucht Zeit´ an meinem Klos im Hals vorbeizubringen. Ich scheiterte wieder hoffnungslos. Alles was ich herausbekam war ein vom Weinen heiseres Krächzen. Doch anscheinend verstand sie mich auch ohne Worte.
„Oh Süße, er ist bloß ein Typ. Falls er ein blinder und tauber Dummkopf sein sollte und dich abblitzten lässt, dann triffst du bestimmt noch auf viele nette Jungen“, versuchte sie mich zu motivieren und reichte mir ein zerknittertes Taschentuch.
Der Versuch mich aufzuwerten war zwar nett gemeint, aber in Gedanken war ich mir sicher, er ist, war und wird der Einzige für mich sein.
„Wir sind des Rest des Tages freie Leute. Komm mit zu mir“, versuchte Cordney es erneut, während sie mir beruhigend über den Rücken strich und ihren Kopf gegen meinen lehnte.
Ich brachte ein schwaches Nicken zustande. Wie eine beste Freundin half sie mir auf und bugsierte mich ohne viel Aufsehen in ihr Auto. Immer mehr Tränen rannen mir über die Wange und perlten von meiner blassen Haut ab. Ich spürte meine Beine nicht mehr und war froh darüber, dass Cordney sich meiner annahm, obwohl wir uns heute erst richtig kennengelernt hatten.
Es schien mir Jahre her zu sein, dass ich lachend über den Schulhof rannte und Niclas Wasser ins Gesicht spritzte und Jahrtausende, dass ich seine Berührungen genießen durfte, dabei war es noch nicht mal ein Tag her. Aber ich musste mir eingestehen, dass das alles eine Illusion war, die nun langsam in sich zusammenbrach. Und da ich mich gut kenne, wusste ich auch: Ich würde noch jahrelang in den Ruinen nach etwas Brauchbarem suchen, denn, obwohl ich es besser wusste, keimte immer wieder diese trügerische Hoffnung auf, als mein Vater im Krankenhaus lag, als ich Niclas traf, sie kam wieder und wieder und wenn sie endlich fort war ließ sie mein Herz zerstört zurück und ich konnte mich nicht dagegen wehren. Mein Kopf war leer, stattdessen kam der wogende Schmerz. Wie Wellen überspülte er mich und riss mich in seine Tiefen hinein. Das Zuknallen der Tür zog mich in die Gegenwart zurück. Cordney ging ums Auto herum und öffnete die Tür. Verständnislos sah ich sie an. Traurig sah sie mich an und nahm meine Hände, hockte sich vor mich, sodass sie mir geradewegs in die Augen sehen konnte.
„Wir gehen jetzt zu mir, dort machen wir uns Kakao, dann nehmen wir uns so viele Packungen Taschentücher, wie wir brauchen, gehen rauf in mein Zimmer und du erzählst mir was passiert ist.“ Zitternd nickte ich und stieg aus. Dabei half es mir wahrscheinlich sehr, dass sie ihre Worte wie ein Befehl formuliert hatte, denn so hatte ich das Gefühl ihre Anweisungen befolgen zu müssen. Als wir dann in ihrem Zimmer auf dem weichen Bett saßen und den heißen Kakao tranken, wurde mir klar, dass ich wirklich gerne mit ihr darüber reden wollte.
„Er hat gesagt, dass er mich liebt. Aber ich habe ein Geheimnis, welches ich ihm sagen musste bevor er dies zu mir sagen darf. Als ich es ihm gesagt habe hat er einfach gesagt er brauche Zeit und ist einfach... einfach gegangen. Er ist der Einzige außer meiner Mutter, der es weiß.“
„Ich verstehe. Wenn das Geheimnis wirklich groß ist, war es gut, dass du es ihm gesagt hast, bevor es etwas Ernstes wird.“
Aufrichtig sah sie mir in die Augen. Ihre blaue Iris wirkte beruhigend auf mich und endlich schaffte ich es einen Satz auszusprechen ohne zwischendurch nach dem Taschentuch greifen zu müssen.
„Bist du mir böse, wenn ich es dir nicht verrate?“
Ich wusste ich hörte mich wie ein Kleinkind an, aber diese Frage brannte sich schon seit ich mein Geheimnis erwähnt hatte in meine Seele.
„Was? Dein Geheimnis?“, ihre Augen wurden groß, „Nein, natürlich nicht, wir kennen uns doch erst seit heute und schließlich wissen wir nicht, ob wir uns in ein paar Wochen auch noch so gut wie jetzt verstehen. Jetzt nicht falsch verstehen, ich mag dich wirklich, aber ich kann leider nicht in die Zukunft sehen.“
Meine Lippe begann zu zucken und stürzte mich in die tröstende Umarmung von Cordney ohne darüber nachzudenken, weil der Schmerz sich so real anfühlte, dass ich es verstand, wenn man Risse in ein Herz malt, den ich verspreche euch, genau so fühlt es sich an Liebeskummer zu haben. Cordney fuhr mich noch nach hause, als ich mich endlich gefasst hatte und meine Augen an Röte verloren hatten, ich dankte ihr von ganzen Herzen bis ihr Tränen in die Augen stiegen.
„So, meine beste Freundin, wir sehen uns morgen, bevor ich hier noch in Tränen ausbreche.“
Mit diesen Worten straffte sie die Schultern, warf ihr Haar zurück und zwinkerte mir aufmunternd zu, bevor sie aufs Gaspedal drückte und davon brauste. Während ich unser Haus betrat, kam mir in den Sinn, dass ich mich ihr heute bei ihr so weit geöffnet habe, weil ihre Augen kein Mitleid oder Mitgefühl gezeigt haben, sondern Traurigkeit, so als würde sie fühlen was ich fühlte. Aber eigentlich war es mir egal, denn zum ersten Mal kümmerte ich mich nicht um das `Warum` sonder akzeptierte das `Darum`. Im Haus war alles still. Doch mir war nach Gesellschaft, deswegen warf ich meine Regeln über den Haufen und ging nach oben und blieb vor der Tür meiner kleiner Schwester stehen. Konnte ich das? Das habe ich noch nie gemacht. Was hätte sich ändern müssen, damit ich dies tun konnte. Die einzige Antwort die ich darauf geben konnte war Niclas. Bevor ich wieder anfangen musste zu weinen. Ich straffte meine Schultern, setzte ein Lächeln auf und betrat das Zimmer. Früher war ich nachts immer gekommen, und habe sie während dem Schlafen beobachtet. Lola saß brav an ihrem Tisch und machte Hausaufgaben, als sie mich hörte, drehte sie sich um und riss überrascht ihre Augen auf. Kurz darauf breitete sich ein Lächeln über ihr Gesicht aus, das keinen Platz für Traurigkeit ließ. Wie von selbst erwiderte ich ihr Lächeln und ich war mir sicher, dass dieses Mal auch meine Augen mitlachten.
„Ich dachte du hättest vielleicht Lust mit mir runterzugehen und dort könnten wir dann zusammen Hausaufgaben machen? Ich helfe dir auch“, schlug ich vor.
Man konnte förmlich sehen wie ihre Augen aufleuchteten. Sofort raffte sie ihre Sachen zusammen und kam zu mir, um mich zu umarmen. Ich erwiderte sie nur allzu gerne. „Danke! Du bist die beste Schwester aller Zeiten!“
„Komm jetzt! Wen wir schnell fertig sind können wir Mama mit Pfannkuchen überraschen.“
Ihre Augen wurden zu Kreisen, dann kniff sie sie zusammen.
„Mit Äpfeln?“ Ich nickte feierlich.
Sofort rannte Lola an mir vorbei und rief glücklich: „Dabei ist heute noch nicht mal mein Geburtstag!“ Aufgeregt hüpfte sie laut lachend die Treppe runter ins Wohnzimmer und blieb vor dem Esstisch stehen.
„Eve, wo bleibst du?“, rief sie zu mir rauf.
Glücklich warf ich den Kopf in den Nacken und lachte. Schon lange war ich nicht mehr dazu fähig gewesen. Umso besser fühlte es sich an, endlich ein Loch in meine hohe Mauer zu schlagen. Wir saßen beide an unserem Esstisch, nebeneinander und machten unsere Hausaufgaben, aber wegen der Wasserschlacht hatte ich nicht sehr viel zu tun, stattdessen half ich Lola beim großen 1x1. Jubelnd fielen wir uns in die Arme, als sie endlich die 17-Reihe auswendig konnte. Dann drehte ich die Lautstärke auf und holte singend die Zutaten raus. Lola drehte sich im Kreis und tanzte zu dem schnellen Rhythmus. Bei jedem neuen Lied wurden wir ausgelassener, bis wir anfingen uns mit Teig anzumalen. Trotzdem bekamen wir noch mehrere Pfannkuchen heraus. Wenig später kam unsere Mutter und wurde überrascht mit einem liebevoll gedecktem Tisch und frisch dampfenden Pfannkuchen mit Apfelstückchen darin.
„Okay?! Was ist denn hier passiert?“, stutzte Mutter.
Es dauerte seine Zeit bis ich bemerkte, dass sie damit nicht nur die Pfannkuchen meinte, sondern auch unsere teigverklebten Gesichter. Ich verzog mein Gesicht zu einer Grimasse und kniff ein Auge zu.
„Ich glaube es wäre angebracht, wenn ich und Lola uns erst mal waschen bevor wir die Pfannkuchen vernichten.“
„Lola und ich!“, näselte Lola worauf Mama und ich kicherten. Immer noch lachend scheuchte ich den aufgedrehten Zwerg ins Badezimmer.
Zu dritt saßen wir dann am Tisch.
„So, ich hoffe der Abwasch ist danach nicht nur meine Sorge“, sagte Rosalie.
Ich erinnere mich noch gut, dass ich ab da beschloss meine Mutter Rosalie zu nennen. Papa hatte sie immer so genannt. Er meinte dazu immer nur, dass er sich dann jünger fühlt. Darauf hat Mama bloß gelacht und eingeworfen, dass die Liebe allein sie schon jung machen würde. Es sollte ein stiller Friedensversuch und gleichzeitig einen mentalen Neustart werden.
„Nöp, wir helfen dir natürlich, Rosalie.“ So unbekümmert wie möglich holte ich mir noch einen Pfannkuchen, ich verfluchte mich, als ich merkte wie sehr meine Hände vor Aufregung zitterten, während Rosalies Kopf hochschoss. Ich sah auf und beobachtete wie sich Tränen in ihren Augen sammelten. Ihr Kiefer verspannte sich. Ich wusste sie dachte gerade an dasselbe wie ich. Das erkannte ich an den aufgerissenen, feuchten Augen und den zusammengezogenen Augenbrauen. Verzweifelt schnappte sie nach Luft und ihre Hände verkrampften sich haltsuchend um die Tischkante, sodass ihre Knöchel weiß hervor stachen. Mit einem schwachen Lächeln griff ich über den Tisch hinweg nach ihrer Hand und sie verstand. Dieses Mal zuckte sie nicht vor meiner Berührung zurück, sondern drückte sogar kurz meine Hand. Ihre gesamte Anspannung fiel von ihr ab und hinterließ nur süßlichen Schmerz. Erinnerungen waren nicht immer schön. Dennoch sollten wir nicht an den Schlechten untergehen, sondern uns aufrichten mit Hilfe der Guten. Das erkannte ich jetzt.
„Ich habe was Wichtiges vergessen. Können wir den Abwasch auf später verschieben?“
Lola, die von der Gefühlsregung von Rosalie und mir nichts gemerkt hatte, sah von ihrem Essen auf und fragte neugierig: „Was hast du denn vergessen?“
„Ich habe vergessen mich auszusprechen mit einer Person, die ich... sehr mag.“ Ich war sehr vorsichtig mit meiner Wortwahl, denn ich wollte Rosalie nicht direkt nach unserer Versöhnung aufbinden, dass ich einen Jungen den ich über alles liebe gerade vergrault habe.
„Es geht hier um einen Jungen.“ Das war eine Feststellung, die direkt ins Schwarze traf. Ich nickte zögerlich und spielte mit meinen Haarspitzen.
„Aber ihr wollt nicht...?“, fragte Rosalie, die mich argwöhnisch ansah.
„Nein!! Ich bin doch erst 13 und er auch!!!“, wiedersprach ich ihr heftig.
„Ich wollte nur fragen. Na dann sehen wir uns später. Tschüss mein Schatzt“, verabschiedete sie sich. Darin lag so viel Nähe und Liebe, die mir mein Bett niemals geben könnte. Ich kam um den Tisch herum und drückte sie fest an mich. Ihr Haare dufteten angenehm nach Kamille. Mit geschlossenen Augen sog ich den seltsam vertrauten Geruch auf, damit ich ihn nie wieder verlor.
„Es tut mir so leid, ich liebe dich“, hauchte ich ihr ins Ohr und rannte dann zur Tür bevor ich drohte vor lauter Glück in Ohnmacht zu fallen.
Ich schloss die Tür hinter mir und hatte dabei das Gefühl, dass, egal was auch passieren mag, ich hier her zurückkommen würde und man mich auch gerne aufnehmen würde, zum ersten Mal in meinem Leben seit Papa uns verlassen hat.
Ich kannte den Weg zu Niclas` Haus, der auch durch einen wundervollen Park führte, aber ich war so durch einander und aufgebracht, dass ich von meiner Umgebung nur wenig mitbekam. An der Tür klingelte ich und rief mich zur Ordnung. Er machte die Tür auf und erstarrte.
„Bist du allein?“, fragte ich ihn direkt.
„Nein, meine Eltern sind im Wohnzimmer“, kam seine knappe Antwort.
„Können wir kurz in dein Zimmer?“
Anstatt einer Antwort, trat er einen Schritt und bedeutete mir einzutreten.
Als wir in seinem Zimmer waren blieb ich stehen, obwohl er selbst sich hinsetzte und mich eben falls dazu aufforderte.
„Also..?“
„Ich weiß, es ist wahrscheinlich falsch, was rede ich eigentlich, es ist aus jeden Fall falsch, zu dir zu kommen nachdem was ich dir heute in der Schule erzählt habe.“
„Ich denke, du bist nicht gekommen um mir zu sagen, dass du Quatsch geredet hast?“
„Nein, aber ich wollte dir noch ein paar Sachen an den Kopf werfen. Zum Beispiel, dass du einfach gegangen bist. Du hast mich allein gelassen, wie es bis jetzt jeder gemacht. Ich weiß nicht warum Menschen sich immer wegdrehen wenn es etwas gibt, was sie nicht direkt verstehen. Vielleicht glaubst du mir, oder auch nicht, aber du hattest nicht das Recht mich stehen zu lassen. Ich dachte das würden nur Arschlöcher tun.“
„Ich habe nicht in unser Haus gelassen um mir anzuhören wie scheiße ich bin und was ich falsch gemacht haben soll.“
„Es fühlt sich an als hätte ich heute in Gefühlen gebadet. Erst war ich noch mit dir zusammen, dann musste ich dir erklären wie die Umstände sind, dann habe ich zum Ersten Mal seit fünf Jahren den Mut und die nötige Kraft gefunden, um mit meiner kleinen Schwester zu lachen. Und bei Gott, ich habe mich noch nie so glücklich gefühlt, vor allem als meine Mutter beschlossen hat sich nicht mehr vor mir zu ekeln und jetzt bin ich stocksauer, weil du mir für alles die Schuld in die Schuhe schieben willst“, fauchte ich ihn an, obwohl meine Wut verraucht war wollte ich ihm das noch nicht zeigen.
„Ich schiebe dir für nichts die Schuld in die Schuhe, ich brauchte lediglich Zeit.“
„Die hättest du auch bekommen, wenn du nicht einfach wie ein Feigling abgehauen wärst.“
„Ich bin kein Feigling und schon gar kein Arschloch oder Idiot, außer du machst mich zu einem“, knurrte er.
„Zufälliger Weise hatte ich genau das vor, weil ich überzeugt bin du hast gutes Potenzial“
„Ach, aber du siehst nicht ein, dass ich verwirrt war nachdem du mir sagst, dass du etwas kannst, dass nach allen Gesetzten vollkommen unmöglich ist?“
„Natürlich sehe ich ein, dass es nicht leicht ist, aber..“
„Aber der Idiot wird das schon schaffen. Schließlich hat er ja Potenzial.“
„Nein, aber ich hatte gehofft, du würdest vielleicht sehen, dass es auch nicht leicht für mich war und mit einem kleinen Satz wie: Keine Sorge wären wir jetzt nicht in dieser Situation!!“
„Dann ist also doch alles meine Schuld!“
„Entweder kannst du oder willst du es nicht verstehen oder du verdrehst mir die Wörter im Mund herum. Nichts von dem ist jetzt angebracht, also hör auf dich dumm zu stellen und lass uns wie erwachsene Personen darüber reden. Das wäre mir sehr willkommen.“
„Siehst du das ist dein Problem, du denkst alles löst sich wenn wir erwachsen sind.“
„Das stimmt doch...“
„Nein, jetzt rede ich. Du denkst alle Probleme wären dann verschwunden, bei manchem mag das auch zutreffend sein, aber wir sind noch nicht erwachsen. Ich weiß nicht, warum du es nicht einsehen willst, aber wir dürfen bei Mandalas über den Rand malen, wir dürfen unsere Uhr zu Hause vergessen.“
„Das mag bei dir zustimmen, aber du vergisst, dass es nicht jedem so gut gehen kann wie dir. Du weißt doch gar nichts!!“
„Ich weiß nur, dass du diejenige bist die mir erzählt hat sie kann etwas übernatürliches machen und ich nicht wusste was ich machen sollte.“
„Das habe ich getan, weil ich nicht zulassen konnte, dass du dich in mich verliebst, obwohl du noch nicht mal weißt wer ich wirklich bin!“
„Das kam etwas spät, weil ich mich schon bei unserem zweitem Treffen auf dem Friedhof wusste, dass du die Eine sein wirst.“
„Dann dürfte es dich nicht erschrecken, dass ich das schon beim ersten Mal wusste, als ich dein Herz nicht heilen konnte.“
„Das ist mir egal, weil mich nicht geschockt hat, dass du überhaupt eine Gabe hast, sondern, dass ich dir direkt ohne Fragen geglaubt habe!!! Denn welcher normale Mensch würde so was einfach hinnehmen. Fakt ist doch, dass wir beide wissen, dass ich in dich liebe und dich mit Gabe nehmen werde, weil sie ein Teil von dir ist!!“
Ich war die ganze Zeit auf und ab getigert, doch nun blieb ich stehen und sah ihm in die Augen, diese wundervollen Augen, die mich zur schönsten Frau der Welt machen konnten. Zornig wie er war, kam er auf mich zu und küsste mich. Ich verlor noch vollkommen den Verstand. Ich hatte nun schon zwei Leute, die sich mit meiner Gabe auseinander gesetzt hatten und mich liebten. Ich vergrub meine Hände in seine Haare, während seine an meiner Hüfte ruhten. Und in diesem Moment wünschte ich mir die Ewigkeit, weil man schließlich nur für solche rauschartigen Momente lebt. Für dieses trunken machende Glück, welches einen durchstrahlt und ansteckend wirkt.
Eng aneinander gekuschelt saßen wir auf seinem Bett.
„Willst du mir erzählen, warum du so krampfhaft versuchtst erwachsen zu sein?“
„WEIL ES VON MIR ERWARTET WURDE!!! Was hätte ich anderes machen sollen. Als mein Vater starb, da musste ich mich die meiste Zeit um Lola kümmern, weil meine Mutter sich in ihrem Zimmer einsperrte. Es tat weh zu hören wie sie weinte und kreischt, während sie mit Kissen um sich schmiss. Nach einem Jahr ungefähr war sie endlich in der Lage wieder sich um uns zu kümmern, aber sie hat nicht aufhalten können, dass ich mich zurückzog. Vielleicht fühlte ich mich jetzt unnütz oder ich hatte einfach Angst. Jedoch war es für uns alle keine leichte Zeit", erklärte ich ihm und hörte selbst wie meine Stimme zitterte.
„Du hast deinen Vater sehr geliebt", stellte er fest.
Ich nickte.
„Ich hatte das Gefühl ihm vollkommen vertrauen zu können, deswegen hatte ich auch so Angst er würde mich wegstoßen, wenn ich ihm von der Gabe erzählen würde, dass ich es zuerst meiner Mutter sagte. Doch jetzt wünschte ich nur, dass er es wüsste. Ich habe das Gefühl das Geheimnis trennt uns. Früher hat er mich immer zu Bett gebracht. Er hat mich zugedeckt und mir die komischsten und absurdesten Wörter ins Ohr geflüstert wie Steckdose, Rollladen, Backwarengeschäft, dass ich immer lachen musste. Als ich ihm im Krankenhaus heimlich besuchte, hatte ich gehofft ihn durch Wörter zum Lachen zu bringen. Ich flüsterte Wörter wie Klobrille, Nylonfaden, Textilienfabrik oder Süßwasserfisch in sein Ohr. Ich hatte gehofft er würde kichern und mich in seine Arme nehmen und sagen: Ich bin doch bei dir mein kleiner Fan. Doch das hat er nie getan. Nach seinem Tod habe ich vieles gefühlt aber vor allem Wut, Trauer und Schmerz und es tut weh zu bemerken, wie mir immer mehr Erinnerungen an ihn mir entgleiten. Das Geräusch, wenn er den Schlüssel ins Schloss steckt, heim kommt und direkt mit einem Lächeln nach seinem größten Fan fragt. Sein Geruch, der immer an meiner Decke hing, wenn er sich mal wieder zu mir legte und sich mit mir um die Bettdecke stritt.“
Mir liefen die Tränen die Wange hinab und verfingen sich in meinem Haar. Noch nie hatte ich es gewagt, seit Papas Tod so über ihn nachzudenken. Aber es tat gut.
„Ich wünschte ich hätte ihn kennengelernt. Er hört sich nach einem tollen Vater an.“
„Ja, er ist einfach unersetzlich.“
„Wollen wir fragen, ob du heute bei mir übernachten kannst. Aber nur wenn du das auch magst?“, fragte er etwas unsicher. Schniefend drehte ich meinen Kopf zu ihm und sah ihm in die Augen. Ich konnte nicht anders, als ihn zu küssen. Sanft und beruhigen. Mein Herz begann schneller zu schlagen als er den Kuss erwiderte. Es war als hätte er mich geheilt.
„Das wäre toll", murmelte ich in den Kuss hinein.
Letztendlich hörte meine Mutter meine Freude und stimmte ausnahmsweise zu. Danach rief ich noch Cordney an.
„Hey!“, meldete sie sich.
„Hey, Cordney!“
„Was ist, ich dachte du würdest dich mit Kalorien voll stopfen und einen Liebesfilm nach dem anderen angucken, das hilft immer.“
„Nein, ich bin stattdessen zu Niclas gegangen und hab mit Kissen um mich geschmissen und mich gestritten und, Gott sei Dank, wieder versöhnt.“
„Das hast du gemacht???. Ich glaube das sollte ich auch mal ausprobieren.“
„Die Taktik ist nicht schlecht, wenn du noch ein bisschen Tränen hinzufügst, ist er aufgeschmissen und er kommt auf Knien zu dir zurückgekrochen“ Niclas knuffte mich.
„Danke für den Tipp!“
„Gern geschehen, aber ich muss jetzt Schluss machen, denn Niclas wollte mich noch seinen Eltern vorstellen.“
„Oh, dann will ich mal nicht weiter stören, aber wir sehen uns doch morgen in der Schule oder?“
„Jep, dann bekommst du auch einen ausführlicheren Bericht. Bis dann!“
„Bye.“
Ich war überglücklich, mir kamen die Tränen. Ich hatte einen Freund, eine beste Freundin und eine Familie.
Ich dachte ich hätte meine Gabe dadurch angenommen, dass ich sie von dem Privatem trennte, aber jetzt weiß ich, ich hatte sie erst jetzt, wo sie verbunden waren, wirklich angenommen.
Ich kann nicht darum herum, euch Lesern zu gestehen, dass ich mit Niclas nicht mehr zusammen lebe, auch wenn wir noch lange Zeit den Kontakt zueinander pflegten, wussten wir beide, dass die Ewigkeit nicht für uns war, obwohl wir uns liebten. Unsere Wege haben sich getrennt, wie in jedem normalen Leben. Ich liege nun neben meinem über alles geliebten Mann, der auch von meiner Gabe weiß, und auf dem Nachttisch ist liegen die Überreste meines Gebisses. Unsere Kinder sind in alle vier Winde verstreut. Mein Mann schläft während ich die letzten Worte aufschreibe. Vielleicht ist es eine weitere Gabe, aber ich weiß, dass heute die letzte Nacht ist, meine Knochen sind alt und schwach, doch es beruhigt mich, dass der Mann den ich liebe neben mir liegt und mitkommen wird. Die einzige Sorge dient meinen erwachsenen Kindern. Trotzdem versuche ich nicht in das Schicksal einzugreifen. Mit dem Wissen, dass etwas von mir weiter leben wird, kann ich getrost einschlafen und hoffe, dass meine Mühen nicht umsonst waren. Dieses Buch wird bleiben, wenn ich schon längst gegangen bin. Ich hoffe es hat euch geholfen bei Problemen oder Ähnlichem. Ich hoffe es hat euch gelehrt. Ich hoffe es hat euch gezeigt. Aber es ist eure eigene Meinung. Auf Wiedersehen und gute Nacht.
Tag der Veröffentlichung: 30.01.2013
Alle Rechte vorbehalten