Es war der 24. Dezember.
Heiligabend.
Lilli stand unter dem berühmten Weihnachtsstress.
Sie hatte sich schon vor Wochen eine Liste angefertigt, was sie alles für das Fest zu erledigen hatte. Doch ihr Zeitmanagement in solchen Fällen war nicht das Beste und so vergingen die Tage, ohne dass sie etwas von ihrer Liste streichen konnte.
Doch wie sollte sie das alles noch schaffen?
In der Wohnung war noch nichts von Weihnachten zu spüren: keine Lichterketten an den Fenstern, kein Adventskranz, ganz geschweige von einem Weihnachtsbaum.
In letzter Zeit war einfach zu viel los und das schaffst du schon, versuchte sie sich zu beruhigen, als sie morgens um 11 Uhr am Frühstückstisch saß und ihren Kaffee trank.
Dann sah sie sich ihre Liste an:
1. Neue Lichterkette besorgen
2. Kerzen
3. Weihnachtsbaum besorgen
4. Lametta
5. Katzenfutter
6. Champagner 3 Flaschen
7. Martini
8. 2 Kisten Rotwein
9. Kartoffeln
10. Majoran
11. Tomaten
12. Büffelmozzarella
13. Tomaten
14. ital. Salami
15. Paprika / Pepperoni
16. Parmaschinken
17. Parmesan
18. Gemüse
19. Feigen
20. Lorbeer
21. Salbei
22. Filet
23. Lachs
24. Nudeln
25. Tiramisu
26. Nudelsuppe
27. Soßenbinder
28. Sahne
29. Milch
30. Baguette
31. Butter
32. Eier
33. Servietten
34. Tannenzweige
35. Zimt
36. Geschenke!!!!!!
Ihre Liste schien nicht zu enden.
Warum hab ich nur zugesagt, dieses Jahr das Weihnachtsessen zu machen?
Ihre Freunde kamen an Heiligabend zum Essen. Sie waren Feinschmecker und so durfte alles nur vom Besten und Feinsten sein.
Ich werde Nena diesmal schlagen, letztes Jahr war sie ja schon gut, aber ich werde besser sein, hatte sie sich damals gedacht und so wollte sie auch niemanden enttäuschen, es ging ja um ihre Ehre und sie wollte die anderen beeindrucken mit dem Essen und den Geschenken.
Sie blickte sich in ihrer Atelier-Wohnung um. Nichts war gemacht.
Zum Glück kommt Anne, dachte sich Lilli und versuchte einen Ablaufplan zu organisieren.
Anne war ihre Hilfe, die die Woche über kam und den Haushalt für Lilli regelte. Sie war Mitte 50 und allein stehend, ihr Mann war vor Jahren schon gestorben. Jeden Tag wenn Lilli von der Arbeit kam, war das Essen schon gekocht und sie musste es nur noch aufwärmen. Alles war fertig, sie konnte sich einfach auf die Couch fallen lassen, sie musste keine Wäsche waschen oder putzen. Alles war spiegelblank, und man hätte vom Fußboden essen können. Oder wenn kurzfristige Geschäftsessen anstanden, genügte nur ein Anruf und Anne zauberte ein wahres Menü.
Doch an Heiligabend wollte sie mal selbst kochen. Es war ja nicht so, dass sie es nicht konnte, aber ihre Zeit in der Agentur ließ nicht viel Zeit für solche Dinge übrig.
„Ach du meine Güte!! Schon halb 1!!!“ rief Lilli aus, als sie Gedanken versunken auf die Uhr sah.
Schnell machte sie sich zurecht und ging in die Stadt, denn einen Parkplatz würde sie heute keinen finden.
Als sie in die Fußgängerzone einbog, ging ihr nur ein einziger Gedanke durch den Kopf beim Anblick der Menschenmengen: Das schaff ich nie im Leben!
Sie griff in die Tasche und zog ihre Liste hervor. Wo sollte sie bloß anfangen? Ihren Organisationsplan hatte sie nicht zu Ende gebracht.
Ich hol zuerst die Lebensmittel, die sind am wichtigsten. Aber wenn ich dann damit in die warmen Geschäfte geh für die Geschenke, dann gehen sie kaputt. Und dann noch der Baum und das ganze Zubehör… Und mit einem Baum durch die Gegend zu laufen ist auch nicht der Brüller… Und zuerst die Geschenke? Aber die stören bei den Lebensmitteln….
Am liebsten hätte sie in dem Moment geschrieen.
Während sie so dastand, umringt von Menschen mit Tüten und sonstigen Sachen, fing es auch noch an zu schneien. Nicht das auch noch…
Ihre Gedanken wanderten wieder….
Wie schön wäre es doch jetzt auf einer Insel zu sein, wo es warm ist. An der Bar sitzen. Einen Cocktail trinken. Nein, du bist jetzt hier!
Zuerst der Weihnachtsbaum! Den bring ich dann nach Hause und dann geht’s weiter.
Zielstrebig ging sie auf den Marktplatz. Den erstbesten Stand steuerte sie an.
Ein Baum.
Doch was für einer? Eine Tanne? Nordmanntanne? Edeltanne? 1m? 1,2m? 1,5m? 1,8? oder doch lieber einen künstlichen Weihnachtsbaum? Warum hab ich sie nur eingeladen?
Hmmm.. 1,5m klingt ganz gut. 1,8m kann ich nicht tragen. Ja, der sieht ganz okay aus, den nehm ich.
Sie bezahlte den Baum und zog ihn ein Stückchen hinter sich her. Man, ist der schwer.
Ein Blick fiel auf ihre Uhr: Schon kurz nach 1, fast halb 2. Noch 7 Stunden, dann kommen die anderen.
Um 2 Uhr kam sie dann das erste Mal zu hause an.
Der Schnee hatte mittlerweile beträchtlich zugenommen.
Ein zweites Mal machte sie sich auf den Weg in die Stadt.
Geschenke.
Was soll ich bloß kaufen? Wein? Parfüm? Schmuck?
Lilli schlängelte sich durch die auf sie zu stürmende Menge. Ihre Gesichter waren gestresst, genervt, angespannt, zum Teil auch zornig.
Lilli sah keinen einzigen Menschen, der ein fröhliches Gesicht machte.
Dann sah sie sich in einem Schaufenster selbst an. Sie sah genauso aus.
Das muss wohl so an Weihnachten sein, dachte sie sich, zuckte mit den Schultern und ging weiter.
Von einem Geschäft ins andere. Dann wieder zurück.
Soll ich es vielleicht nicht doch holen? Aber was, wenn es ihr nicht gefällt? Ich find es okay, und wenn es doch was Besseres gibt? Ach, weiter.
Die Uhr schlug mittlerweile 4 Uhr.
Sie stand gerade an der Kasse. Sie hatte ihrer Freundin Janine eine Kette mit Anhänger ihres Lieblingsdesigners erstanden.
Es fehlten also nur noch 2 Geschenke, Ben und Nena, bzw. 3, denn Tobi wusste noch nicht, ob er es schafft.
Hatte Nena nicht letztens einen ihrer schönsten Ohrringe verloren?
Mittlerweile stand sie schon wieder mitten im Schnee.
Noch einmal zurück ins Schmuckgeschäft.
Wie hieß der Designer noch?
Wieder drängelte sie sich durch zu den Ohrringen.
Die sind schön, ach nee, da ist ein Smaragd drin, überhaupt nicht Nenas Farbe. Ah, da ist einer in Rubin. Werden sie ihr auch gefallen? Ich hoffe doch. Soll ich Tobi und Ben auch Schmuck schenken? Aber tragen sie überhaupt Schmuck? Nee, noch nie gesehen.
In Gedanken verloren stand sie wieder an der Kasse. Es ging schnell… Draußen war es schon fast dunkel. Die Straßenlaternen gingen schon an.
Was soll ich bloß den Kerlen schenken? Warum muss man denen überhaupt was schenken? Es ist so schwierig.
Parfümerie.
Männer riechen immer gerne gut.
Viele Menschen mussten das an diesem Tag gedacht haben. Duftwolken hingen in der Luft der Parfümerie, die einem den Atem nahmen.
Männerdüfte.
Welche? Ben ist eher der herbe Typ. Tobi der sportlichere.
Eine Bedienung ist nicht in Sicht. So viele Düfte.
Armani riecht gut. An Ben auch? Hmmm… Ich könnt es mir vorstellen.
Chanel für Tobi? Mir gefällt es. Aber ich muss es ja nicht tragen.
Ein Blick streifte die Uhr. Kurz nach 5.
Mist, ach, ich nehm die jetzt, sie können sie ja umtauschen.
Lilli eilte an die Kasse.
Jetzt nur noch die Lebensmittel. Hoffentlich bekomm ich noch alles.
Schnellen Schrittes eilte sie aus dem Laden.
Zeit für einen Espresso wird wohl noch drin sein.
Sie ließ sich auf einen Korbsessel in dem Eiscafe fallen.
Direkt kam ein junger Italiener, der ihre Bestellung aufnahm.
Sie zog ihren langen Mantel aus und betrachtete sich die vorbeieilenden Menschen.
Kein Lächeln oder glückliche Gesichter konnte sie erblicken. Aber sie sah ja auch nicht anders aus.
Sollte es kein Fest der Freude sein?
Ohne Stress, Streit oder sonstigen Belastungen?
Es wird Geld aus dem Fenster geworfen, um Geschenke zu kaufen.
Wofür eigentlich?
Ja, es ist mittlerweile ein gesellschaftlicher Zwang geworden und kurbelt allein die Wirtschaft an und füllt die Schränke.
Kommen diese dann überhaupt von Herzen?
Wenn ich in die Gesichter schaue, dann nicht. Selbst wenn ich in mein eigenes blicke. Die Geschenke habe ich, weil ich sie haben muss. Weil Weihnachten ist und jeder es von einem erwartet.
An dem Preis seiner Geschenke wird die Liebe gemessen.
Und dann auch noch das Festessen. Stundenlang kochen. Es muss etwas besonderes sein.
Aber warum? Warum das teuerste vom teuersten? Es geht doch auch ohne 5 Gänge Menü.
Was machen denn die Menschen, die sich so was alles nicht leisten können? Die noch nicht mal ein Dach über dem Kopf haben, wo es warm ist.
Mist, ich muss weiter.
Sie hatte die Zeit mal wieder vergessen.
Sie legte das Geld auf den Tresen und wünschte dem Kellner noch ein frohes Fest.
Draußen war es stürmisch geworden und der Schnee flog ihr nur so um die Ohren.
Ein letztes Geschenk fehlte ihr noch- eins für Anne, sie hatte sie ganz vergessen.
Doch da gab es ein Problem. Sie wusste nicht viel über Anne. Nur dass ihr Mann gestorben war und sie viel las, aber was, wusste sie auch nicht wirklich.
Ein Gutschein ist blöd. Und sie macht so viel für mich, dachte Lilli, und doch weiß ich nichts über sie.
Sie wurde traurig. Jahrelang arbeitete Anne schon für sie.
Da kam ihr der Gedanke:
Ich lade sie zum Essen ein, so schick, wie sie es sich nur vorstellen kann, und dann möchte ich sie kennen lernen. Anne hatte sich das schon lange gewünscht, mal bei einem Kaffee zu reden. Doch immer habe ich sie vertröstet, vertröstet wegen unwichtigen Sachen. Das wird mein Weihnachtsgeschenk. Ein Geschenk von Herzen, und dazu die Stola hier.
Ihre Stimmung hob sich. Das erste Mal an diesem Tag fühlte sie sich gut, sie hatte ein Geschenk gefunden, was von Herzen kam und was Anne bestimmt große Freude bringen würde.
Gerade als sie gutgelaunt zum Feinkostladen schlendern wollte, da blieb ihr Blick an einem Menschen hängen.
Ein Mann mittleren Alters saß auf dem Boden.
Eine kaputte Hose und eine zerschlissene Jacke kleideten ihn. Eine alte Wollmütze versuchte ihn vor dem Schnee zu schützen. Seine Hände waren blau vor Kälte und seine Schuhe hatten auch schon bessere Zeiten erlebt.
Lilli konnte nicht weitergehen. Das Schicksal des Mannes berührte sie.
Wieso gehen soviel an ihm vorbei? Es ist doch Weihnachten!
Sie überlegte, was sie jetzt tun könnte.
Ihr kamen ihre eigenen Gedanken aus dem Eiscafe wieder in den Sinn.
Sie blickte auf ihre Liste. Lebensmittel standen noch drauf. Wert: 200-250 Euro.
Sie erinnerte sich an Geschichten zurück, in denen es an Heiligabend nur Kartoffelsalat und heißen Würstchen gab. Geschätzter Wert: 10 Euro.
Ihr Gehirn ratterte.
Gegenüber war ein Kleidungsgeschäft. Lilli war in diesem noch nie gewesen.
Da, die sieht doch ganz okay aus. Und die Hose dazu und den Pulli. Eine Mütze und da der Schal und die Handschuhe noch. Socken brauch er bestimmt auch mal neue. Ah, noch eine Decke, Decken sind immer gut.
Sie stellte dem Mann Kleidung zusammen, die er in dieser kalten Zeit brauchte. Und da sie in einer Modeagentur arbeitete, kannte sie sich gut mit Größen aus.
An der Kasse war sie dann ganz überrascht, nur 70 Euro.
Schuhe durften auch nicht fehlen, und so ging sie in das nächste Geschäft.
Voll bepackt mit Sachen für einen fremden Menschen ging sie in den Supermarkt.
Erstens, um noch für sich selbst Kartoffeln, Würstchen und die Getränke zu kaufen, zweitens um dem Mann etwas zu besorgen. Kleinigkeiten, Speisen.
Ihre Stimmung bekam einen weiteren Schub nach oben.
Sie war gespannt auf das Gesicht des Menschen, den sie und der sie nicht kannte. Sie war ganz aufgeregt, als sie zu ihm ging.
„Entschuldigen Sie bitte!“ sprach sie ihn an.
Der Kopf des Mannes hob sich.
Sie kniete sich neben ihn.
„Es ist doch Weihnachten. Ich habe hier etwas für Sie. Es ist nichts besonderes, aber ich denke, Sie können es gut brauchen!“
Der Mann blickte zweifelnd in ihre Augen, als sie ihm die Tüten in die Hände drückte. Skeptisch, aber auch neugierig schaute er in die Tüten. Seine Augen leuchteten und fingen an zu glitzern.
„Aber Sie kennen mich doch gar nicht…“ antwortete er.
„Das weiß ich. Und Sie kennen mich auch nicht. Aber wie gesagt, es ist Weihnachten und Sie benötigen neue Kleidung, es ist so bitterkalt geworden und Hunger haben Sie bestimmt auch. Sie brauchen es nötiger, als ich es tue. Und holen Sie die Sachen mal raus, ich möchte sehen, ob es Ihnen auch passt.“
Der Mann war sprachlos. Tat aber wie ihm geheißen.
Mittlerweile hatten sich einige Menschen darum gestellt, um dem Schauspiel beizuwohnen. Niemand sagte ein Wort. Sie beobachteten nur.
Aber Lilli und der alte Mann beachteten sie gar nicht.
Die Sachen passten wie angegossen.
Der Mann lachte vor Freude und drehte sich im Kreis vor einem Schaufenster, um sich zu begutachten.
Lilli wurde von seiner Freude angesteckt und strahlte über das ganze Gesicht.
„Ich danke Ihnen!!!!! Wie kann ich Ihnen nur danken?“, sang der alte Mann schon fast. Seine Augen waren wieder lebendig.
„Sie danken mir gerade jetzt schon. Durch Ihre Freude. Ihr Lachen. Ihre Augen.“, antwortete Lilli, „Ich muss jetzt weiter, aber ich wünsch Ihnen ein schönes Weihnachtsfest. Gehen Sie dahin, wo es wärmer ist als hier und wo Sie schlafen können. Und damit das neue Jahr gut beginnen kann.“
Und steckte ihm noch 50 Euro zu.
Mit einem Lächeln ging Lilli von dannen und sie hörte immer noch die Danke-Rufe des Mannes.
Sie hatte den wahren Sinn des Weihnachtsfestes wieder gefunden. Sie hatte etwas von Herzen getan ohne irgendeinen Nutzen davon zu haben.
Sie zeigte den Menschen, dass Weihnachten kein Stress sein muss, sondern Freude.
Dass Geld auch für etwas anderes verwendet werden kann, und es keine teuren Dinge sein müssen, um anderen ein Strahlen in die Augen zu bringen.
Dass schon mit einer Kleinigkeit einem Menschen eine Träne vor Glück zu entlocken ist.
Dass es ein Fest der Liebe und Wärme ist.
Lilli fühlte sich so leicht wie eine Feder.
Die Menschen, die ihr mit düsteren Blicken ihren Weg kreuzten, schauten sie verwirrt an, doch sie strahlte nur zurück.
Ihr Herz war so leicht und fühlte sich so befreit an.
Und jetzt noch das Festessen für die Anderen. Die werden Augen machen, dachte sich Lilli, und stellte sich mit einem breiten Grinsen in Gedanken die Gesichter ihrer Freunde vor.
Tag der Veröffentlichung: 23.12.2009
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