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Das Kaltenbach’sche Gesetz über das Licht und die Sonne

Die Kaltenbachs sind meine Nachbarn, das heißt, sie sind nicht meine richtigen Nachbarn. Ich habe ein kleines Ferienhaus auf dem Land, dort sind die Kaltenbachs meine Nachbarn. Während ich jedoch meist nur im Sommer für vier und im Spätherbst dann noch mal für zwei Wochen da bin, haben die Kaltenbachs ihren ständigen Wohnsitz dort. Sie sind im Ruhestand und haben schon vor langer Zeit ihre Wohnung in der Stadt aufgegeben. Ihr Ferienhaus haben sie liebevoll zu einer richtigen kleinen Residenz ausgebaut. Im Sommer verbringen sie bei schönem Wetter den ganzen Tag in ihrem gepflegten Garten, meist sitzen sie auf ihrer Hollywoodschaukel mit dem ausgebleichten Blümchenmuster, halten sich bei den Händen und wiegen sanft hin und her.

Schon auf der Fahrt zu meinem Feriendomizil in diesen Sommer, wollte mir dieses Bild nicht aus dem Kopf. Aus irgendeinem Grund freute ich mich darauf, die beiden auf ihrer altmodischen Schaukel sitzen zu sehen, ganz dicht beieinander, seine Hand auf ihrer ruhend. Dieses Bild strahlte so viel Geborgenheit und Sicherheit auf mich aus. Die ganze Welt um uns herum könnte den Bach runtergehen, aber die Kaltenbachs würden vereint auf ihrer Schaukel sitzen und all die Lügen strafen, die behaupten, die Welt sei ein Trümmerhaufen und verloren.

Am späten Samstagabend kam ich an. Nachdem ich meine Koffer abgestellt hatte, öffnete ich die große Flügeltür zum Garten und ließ frische Luft herein, obwohl es fast gar nicht stickig war. Frau Kaltenbach hatte einen Schlüssel und lüftete gelegentlich, und ihr Mann richtete seinen Gartenschlauch ab und zu auf meinen kleinen Garten, wenn er seinen eigenen sehr viel schöneren und imposanteren nässte. Ich trat hinaus und sog gierig die laue Sommerluft in mich ein. Ganz plötzlich überkam mich eine tiefe Müdigkeit und ich beschloss ins Bett zu gehen.

Am nächsten Tag erwachte ich spät, die Sonne stand bereits hoch am Himmel. Aber ich fühlte mich, als ob ich Bäume ausreißen könnte, mir gehörte die Welt, zumindest für die nächsten vier Wochen. Voller Tatendrang ging ich zu Ilse Muh, um ein paar frische Lebensmittel einzukaufen. Das war nicht ihr richtiger Name, aber jeder hier nannte sie so, ich wusste nicht warum. Hier schienen all die strengen Gesetze, die sonst mein Leben in der Stadt bestimmten, außer Kraft zu sein. Bei Ilse Muh konnte man auch spät abends oder sonntags einkaufen. Ich brauchte nur auf die altmodische Klingel neben dem Schild ‚Laden’ zu drücken. – Kurz darauf konnte ich bereits das Klicken des Schlüssels im Schloss hören.
Schwer bepackt und voller Ungeduld machte ich mich auf den Heimweg. Wieder wollte mir das Bild, das mich schon auf der Hinfahrt erfüllt hatte, nicht aus dem Sinn. Ich konnte es kaum erwarten, über den Gartenzaun zu spitzen und auf die vertraute Szenerie zu schauen.
Als es endlich soweit war, stellte ich enttäuscht fest, dass die Hollywoodschaukel kaum noch zu sehen war – ein neuer, großer Sonnenschirm versperrte mir die Sicht. Während von Frau Kaltenbach noch die linke Hälfte herauslugte, wurde ihr Mann davon nahezu vollständig verdeckt.
Ich rief: »Hallo Frau Kaltenbach, ich bin wieder da!«
Sie setzte sich auf und winkte mir zu, dann sah sie besorgt zu ihrem Mann, der sich offenbar nicht bei seinem Mittagsschlaf stören ließ. Mahnend hielt sie den Finger vor den Mund, lehnte sich wieder zurück und stieß die ins Stocken geratene Schaukel vorsichtig mit dem Fuß an. Sonst kamen die beiden gern mal auf ein Schwätzchen an den Gartenzaun, aber die brennend heiße Mittagssonne schien sie zu lähmen, wie auch alle anderen hier. Anscheinend war ich die Einzige, die den Drang verspürte, etwas zu unternehmen. Nachdem ich mich abgewandt hatte, fiel mein Blick auf die vertrockneten Blätter meines Rhododendrons, ich folgte den tiefen Furchen im Boden. Erst jetzt fiel mir auf, dass mein Garten völlig ausgedörrt war. Warum hatte Herr Kaltenbach ihn nicht genässt, wie sonst? Ich sah noch einmal zu meinen Nachbarn, aber auch Frau Kaltenbach schien jetzt zu schlafen, und so beschloss ich einen Wiederbelebungsversuch an meinen Pflanzen zu unternehmen.
Ich schleppte bereits die zehnte Gießkanne mit Wasser die schmale Treppe hoch. Ohne Schlauch war es sehr mühselig einen Garten zu nässen, selbst wenn er so klein wie meiner war. Bisher hatte ich ja keinen gebraucht. Der staubtrockene Boden sog die Flüssigkeit wie ein Schwamm auf. Ich sah auf die mir unmöglich erscheinende Aufgabe und wischte mir den Schweiß von der Stirn. Zu allem Übel kam von irgendwoher ein betäubender Geruch. Wenn es so heiß war, stanken die Tonnen meist schon drei Tage bevor die Müllabfuhr sie leerte.
Am frühen Abend wiederholte ich den Versuch mit Kaltenbachs ins Gespräch zu kommen. Ich lugte über den Gartenzaun und hob die Hand zum Gruß.
»Eine unglaubliche Hitze«, rief ich.
Dieses Mal stand Frau Kaltenbach auf und kam, nachdem sie einen Blick auf ihren schlafenden Mann geworfen hatte, zu mir an den Zaun. Während sie sich mit sorgsam gesetzten Schritten auf mich zu bewegte, fiel mir auf, dass auch der Garten meiner Nachbarn etwas Wasser vertragen konnte. In mir kam die Befürchtung auf, dass Herr Kaltenbach krank sein könnte.
Als Frau Kaltenbach vor mir stand, legte sie den Zeigefinger auf ihre Lippen und flüsterte: »Mein Mann schläft!«
Ich fragte sie direkt, so war es nun mal meine Art, ich konnte nicht gut drum herumreden: »Ist Ihr Mann krank?«
Sie strich sich die grauen Haare aus dem Gesicht: »Es geht ihm derzeit nicht besonders, aber das wird schon wieder. Leider konnte er Ihren Garten auch nicht...«
»Das macht doch nichts«, schnitt ich ihr das Wort ab. Die beiden alten Leutchen waren immer so nett zu mir, dass es mir grotesk vorkam, wenn sich Frau Kaltenbach bei mir entschuldigte, weil ihr kranker Mann den verwahrlosten Garten einer gestressten Städterin nicht gesprengt hatte. Ich fühlte mich in ihrer Schuld und bot ihr meine Hilfe an. Sie lehnte ab. Sie schien nervös und wollte so schnell wie möglich zurück zu ihrem Mann.
Nachdem ich meinen Garten verloren gegeben hatte, verbrachte ich den Rest des Tages lesend im Liegestuhl. Ab und zu hielt ich inne, um zu horchen, aber kein Laut drang von der anderen Seite herüber. Inständig hoffte ich, die Müllabfuhr würde bald kommen, der Gestank wurde immer unerträglicher. Irgendwann ging ich ins Bett.

Am nächsten Morgen erwachte ich früh um neun. Ich ging in den Garten und sah über den Zaun. Undeutlich konnte ich Herrn Kaltenbach unter dem bereits aufgespannten Sonnenschirm erkennen, eigentlich sah ich nur seine Beine, die sorgsam in eine rot-braun karierte Decke gehüllt waren. Die andere Seite, die nicht vom Schirm verdeckt wurde, war noch leer. Es war mir weh ums Herz ihn so zu sehen. Also machte ich mich auf den Weg zu Ilse Muh. Ich wollte sehen, ob ich dort eine hübsche, verstaubte Pralinenpackung fand, mit der ich Herrn Kaltenbach eine kleine Freude bereiten konnte.
Katzenzungen, diverse Gebäckmischungen… aber keine erlesenen Tropfen in Nuss oder etwas Vergleichbares. So heimelig Ilse Muhs Laden auch war, das Sortiment ließ schon zu wünschen übrig.
»Suchen Sie was Bestimmtes, Fräulein Kant?«
Hier nannte man mich tatsächlich noch so. In der Stadt hätte ich jedem dafür die Augen ausgekratzt; hier tolerierte ich es, es hatte so etwas Nostalgisches. »Ich suche eine hübsche Schachtel Pralinen, etwas Besonderes.«
Ilse Muh verließ ihren Platz hinter der Ladentheke und verschwand gemächlich hinter dem Vorhang aus derbem, dunkelbraunen Stoff. Kurze Zeit später kam sie mit zwei glanzfolienverzierten Schachteln zurück. Ich entschied mich für die Trüffelvariationen. Ich hätte nicht gedacht, so etwas hier zu finden, allerdings war auch der Preis astronomisch: vierzehn fünfzig. Egal, entschied ich, schließlich war es für einen guten Zweck.
Während Ilse Muh den Betrag mit ihren knochigen Fingern in die Kasse, die auch gut und gern in einem Antiquitätenladen hätte stehen können, eintippte, griff ich in das große Glas mit den bunten Fruchtgummitieren und angelte mir eine rote Giraffe, zwei grüne Löwen und eine gelbe Kuh heraus.
»Machen Sie die noch mit dazu«, nuschelte ich, während ich bereits auf der Giraffe herumkaute.
Ilse Muh nickte. Nachdem Sie die letzte Zahl eingetippt hatte und die Ladenkasse mit einem lauten, metallischen Geräusch aufgesprungen war, verkündete sie: »Das macht dann Fünfzehn fünfzig.« Sie hielt mir die flache Hand hin und fragte gleichzeitig: »Wer darf sich denn darüber freuen, Fräulein Kant?«
Ich drückte ihr einen Zwanziger in die Hand und antwortete undeutlich: »Ein Genesungsgruß für Herrn Kaltenbach.«
Ilse Muh sah mich verwundert an, sie schien nicht zu verstehen.
»Ach, Sie wissen gar nicht, dass Herr Kaltenbach krank ist? Seit Tagen sitzt er nur noch auf seiner Schaukel und gibt keinen Mucks von sich.«
Ilse Muh sah mich an, als ob ich ein Geist wäre und nicht eine fruchtgummischmatzende Großstädterin. Fast glaubte ich zu sehen, wie sich ihre Haare etwas stellten. »Sie müssen sich irren, Fräulein Kant, es kann nicht Herr Kaltenbach gewesen sein!«
»Wieso?« fragte ich ahnungslos.
»Herr Kaltenbach ist vor zwei Wochen ganz plötzlich an einem Herzinfarkt gestorben letzte Woche war die Beerdigung!«
Die Giraffe blieb mir im Halse stecken, meine Augen wurden groß, ich schnappte nach Luft. Dann lief ich aus dem Laden, die Pralinen ließ ich liegen. Wie hatte sie bloß die Leiche vor der Beerdigung aus dem Sarg geschafft? Ich erinnerte mich, dass hier auf dem Land die Toten noch zu Hause aufgebahrt wurden. Völlig außer Puste kam ich schließlich am Haus der Kaltenbachs an. Ich schlich mich von hinten in den Garten. Der Gestank raubte mir fast den Atem. Plötzlich bemerkte ich, dass die alte Vogelscheuche fehlte und auch ein paar Begrenzungssteine des Kräutergärtchens. Komisch, dachte ich, wie sich so eins zum anderen fügt. Mittlerweile hielt ich meine Hand dicht vor Mund und Nase gepresst, sonst wäre es nicht auszuhalten gewesen. Mit zittrigen Fingern zog ich die Decke, die auch über Herrn Kaltenbachs Gesicht gebreitet war, zurück. Die bereits stark fortgeschrittene Verwesung entstellte ihn auf grausame Art und Weise. Ein Hirschkäfer mit prächtigem Geweih krabbelte aus seiner linken Augenhöhle und machte sich dann emsig an der Nase oder dem, was davon übrig war, zu schaffen. Ich ließ den Zipfel der Decke, den meine Hand immer noch umklammert hielt, los und begann zu würgen. Ich fürchtete, mich übergeben zu müssen. Dabei merkte ich zunächst gar nicht, dass Frau Kaltenbach neben mich getreten war. Plötzlich aber hatte ich das untrügliche Gefühl beobachtet zu werden. Ich drehte mich um und sah sie mit entsetzten Augen an.
Sie lächelte. »Wissen Sie, Fräulein Kant, ich könnte ohne meinen Mann nicht leben, wir sind wie das Licht und die Sonne – ohne das Eine kann es das Andere nicht geben!«

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Tag der Veröffentlichung: 18.01.2009

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