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Titelseite




Shayia
Der Tag des ewigen Lichtes





Ein Funke schwebte auf die Erde hinab und an seiner Stelle entfachte ein strahlendes Licht, der alles in seinem Umkreis zum Leben erweckte...




Prolog


Ein letzter Lebensfunke hetzte sie durch die Nacht. Die Verzweiflung loderte unter der schweißnassen Haut, die sich über ihren Wangen straff spannte. Wo war er bloß? Konnte sie es nicht einmal jetzt schaffen, ihn zu finden? Jetzt, da es schon fast zu spät war. Sie muss weiterlaufen. Sie musste es schaffen. Die Schmerzen gruben sich in ihren Körper als schabe man ihr bei lebendigem Leibe das Fleisch von den Knochen. Ein Leben hatte sie verschwendet. Ein Leben, dass nichts wert gewesen war, weil es von Hass durchtränkt und von Gier zerstört worden war.

Eine Veränderung. Der Schmerz in ihrer Schulter brachte sie fast um den Verstand, aber die Wärme ihres Herzens schwemmte ihn immer weiter fort.
Sie konnte ihre Füße nicht mehr spüren, während sie unablässig weiterrannte. Am Ende des Weges musste er sein. Der unebene Boden unter ihren nackten Füßen flog dahin, das spitze Geäst bohrte sich in ihre Sohlen, aber keinen Moment dachte sie daran, stehen zu bleiben. Denn das Leben, das hinter dem nächsten Baum auf sie warten könnte, war so viel wichtiger als ihr eigenes. Das alleine trieb sie an. Keuchend stützte sie sich kurz an einem Baumstumpf ab, bevor sie wieder begann mechanisch einen Fuß vor den anderen zu setzen. Dies war das einzige Geschenk. Ihr Herz schlug heftig hinter ihrer Brust. Es kämpfte noch ein letztes Mal, den schwachen Körper zu tragen, der sich immer weiterschleppte. Sie sah auf.
Ein Licht fiel durch das Gebüsch und warf ihr innerlich einen Rettungsring zu. Entweder zog er sie in noch tieferes Gewässer oder war das Tor zum Paradies. Dann strauchelte sie, ihr Fuß verhakte sich in einer abstehenden Baumwurzel. Sie landete hart auf dem Erdboden, gleißendes Licht stach ihr in die Augen. „Mutter?“ Eine männliche Stimme wandte sich ihr zu, ihr rauer Unterton klang noch jung. Senane schien es gut mit ihr zu meinen, denn das war ihr einziger Wunsch gewesen. Ihr Sohn. Sie hatte ihn gefunden. Jetzt durfte ihr Körper aufhören zu kämpfen. Erleichtert bettete sie ihren Kopf in seine Hände und nahm ihre letzte Kraft zusammen, ein paar Wörter durch die vertrocknete Kehle zu pressen, bevor sie für immer verstummte.

Die Legende


1.Kapitel

Nyjeira Nixa
Eran Erz
Djetu Daltja
Senane Sulight

Die Namen der 4 Gründer unserer Welt, der Erde.
Zu Beginn waren sie sich uneinig, wem welches Stück der Erde zugeteilt werden sollte, doch dann sprach Senane, Engel und spätere Göttin ihrer Ära, mit der Weisheit der Sonne:
>>Wir haben hier keine Macht. Wir, die wir hier versammelt stehen, müssen uns dieser neuen Welt, dieser neuen Zeit unterwerfen. Versteht ihr nicht? Niemand hat hier die Macht, diese Welt zu zerstören, sie grundlegend zu verändern! Niemand kann so etwas alleine bewirken. So streitet euch nicht um das Materielle, denn nur wenn unsere Geister eins sind, sind wir stark!“
So besahen sie alle Senane, die wie eine Mutter unter ihren ungezogenen Kindern richtete, und verbeugten sich vor ihr. „Ihr, die über uns richtet, sollt auch über diese Welt richten wie eine Mutter, auf sie achten und sie beschützen<<, sprach Eran Erz, der Zwerg. >>Aber was geschieht dann mit uns Flossenwesen? Wir brauchen Platz, in dem wir keine Bedrohungen vorfinden; Raum der nur uns gehört! <<, sagte Nyjeira Nixa.
Doch bevor Senane der Nixe antworten konnte, mischte sich der Dämon ein: >>Was versprecht ihr euch gegenseitig? Ihr könnt es sowieso nicht halten: mit den nächsten Sonnenläufen beginnen sich Blutfehden um euch zu ranken, die euch ersticken. Alles wird dazu führen, dass wir uns gegenseitig auslöschen.

Außer natürlich,<< seine Stimme verwandelte sich in flüssige Seide, >> ihr akzeptiert mich als euren alleinigen Herrscher. Ich werde euch Frieden schenken!<<
>>Glaubst du wirklich wir sind naiv genug, um das zu glauben? <<, fragte Eran zornentbrannt.
>>In diesem Punkt rechnete ich fest mit eurer Zustimmung, dachte ich doch, ihr würdet das kleine Fünkchen Intelligenz besitzen, um richtig zu entscheiden. Oder wollt ihr kämpfen bis der letzte fällt?<<
Darauf meldete sich Nyjeira zu Wort: >>Ich stimme Eran zu! Ich finde, diese Welt gehört zu gleichen Teilen uns allen! <<
>>Wenn ihr mir erlaubt mein Wort zu erheben, so kann ich euch versprechen, dass nach meinen Vorschlägen jeder das bekommt, das ihm zusteht. Es ist wohl das Beste, wenn Nyjeira die Wasserwelt erhält, da sie der größte Teil der materiellen Welt ist und für sie keine Gefahren birgt. Und damit du kein Problem hast zu atmen, schenke ich dir die Fähigkeit, Wasser zu Luft zu machen. Hier.<<
Nyjeira griff sich hinter ihre Ohren und fühlte leichte Rillen an ihrem oberen Hals. Erfreut blickte sie zu Senane und verbeugte sich leicht. >>Ihr seid wahrlich eine Göttin. Ich danke euch!<<
Außer sich vor Wut bahnte Djetu sich einen Weg in die Mitte der Versammlung. >>Wieso spaltest du mein Reich? Warum tust du so etwas? Wäre es dir nicht genug gewesen, an meiner Seite zu regieren?<< Seine Worte verhallten, denn niemand wollte ihm darauf antworten. Er schwankte und verzog sein Gesicht zu einer leidenden Maske. >>Nur du und ich könnten die neuen Herrscher dieser Welt sein! Was sagst du dazu? Nimmst du meinen Antrag an?<< Seine Hand streifte zärtlich ihre zartrosa Wange. Senane lächelte, wie sie es immer tat, doch fand er in ihren Augen nicht den Zuspruch, welchen er sich dank seines großzügigen Angebotes erwartet hatte. Sie nahm seine ausgestreckte Hand und drückte sie von sich weg. Vorsichtig wie bestimmt.

>>Aber warum sollte ich so egoistisch sein und alles für mich in Anspruch nehmen, wenn es doch ein viel schöneres Gefühl ist, gerecht zu sein?<<, sagte der Engel, doch Djetu unterbrach sie barsch: >> Wie lächerlich, meine Liebste! Was könnte denn schon schöner sein, als die Macht und die Kontrolle über eine Welt zu haben, die sich freiwillig ergibt? Du weißt doch nicht, was du aufgibst! Deine Ignoranz ist fast noch größer als dein übermächtiger Gerechtigkeitssinn! Dummes Mädchen. Gibst die Welt in Hände, die vorher noch nie in den Flammen gelegen haben. Sie werden sie aufgeben, noch bevor dein Erbe angetreten wurde. Und sie werden dich aufgeben, bevor dein letzter Atemzug diese Welt mit Licht erfüllt hat. Du hast verloren<<
Seine roten krallenartigen Hände begannen zu glühen und er richtete sie auf Senane.
>>Du hast mich verraten und dafür werden du und deine Nachfahren büßen!<< Plötzlich lösten sich Feuerkugeln aus seinen Händen und schossen auf den Engel zu. Gerade noch rechtzeitig wehrte Senane sie mit einem Lichtschild ab. Nyjeira schoss mit einem Wasserstrahl zurück. Auch Eran reagierte und antwortete Djetu mit giftigen Pfeilen.
>>Unsere Mutter bekommst du nicht!<<, schrien die Nixe und der Zwerg zugleich. Die Gegenwehr blieb nicht ohne Folgen und Djetu landete hart. Keine Regung durchzuckte seinen Körper mehr. Senane ging auf ihn zu und berührte seinen Brustkorb: >>So hast nun auch du deinen Platz gefunden. Die Unterwelt wird dein Reich sein und ich verspreche dir, niemand wird es dir nehmen. <<
Eran und Nyjeira sahen zu Senane und dem toten Körper, welcher vor ihnen lag. Kopfschüttelnd und sich am Hinterkopf kratzend blickte der Zwerg auf und wandte sich an das Lichtwesen.
>>Ich möchte weder von Djetu in der Unterwelt versklavt, noch von dir zu sehr beschützt werden. Ich wähle die mittlere Ebene, die Erde.<<
So teilten die vier Götter diese Welt gerecht untereinander auf, bis auf Djetu Daltja, der Feuerdämon, der sich mit seiner Habgier selbst zum Gott der Unterwelt ernannte.

Auszug aus der Schrift „ Die Anfänge unserer Welt“ aus der goldenen
Bibliothek von Tyramar.


Eine Welt steht in Flammen


Kapitel 2

Die Sonne stand weit am Himmel und färbte sich dunkelrot, als das metallische Klirren der Rüstungen Harlocs Worte unterstrich:
>>Ihr habt versagt! Wir müssen es jetzt zu Ende bringen, sonst ist es zu spät!<<

Seine Berater sahen sich gegenseitig an. Der Baron der dunklen Grotte, einer sehr angesehenen Stadt der Unterwelt, trat vor und strich über seinen dunkelbraunen, geflochtenen Bart, der bis auf den Tisch reichte.
>>Eure Majestät, Ihr wisst hoffentlich, dass es nicht nur unsere Schuld ist. Wäre uns diese Kleine nicht in die Quere gekommen, dann…<<, doch Harloc hatte genug von den Ausreden seiner Untergebenen und fiel ihm ins Wort.
>>Mir ist egal, welche Hindernisse ihr alle überwinden müsst und welchen Tribut es zollt! Sie ist Mein und sollte sie sich wehren, so bedeutet das Krieg!<<, sagte er mit einer derartigen Autorität, dass sogar der letzte Berater in der Ecke schluckte.
Jetzt begann ein neues Zeitalter, das wussten sie alle. Er würde sie entführen. Die Tochter der feindlichen Truppen, des feindlichen Königs, die Prinzessin der Lichtwesen und Urenkelin der Lichtgöttin Senane Sulight, und niemand würde ihn mehr aufhalten.
Seit die Königin und er bei einem geheimen Treffen vereinbart hatten, dass er seine Jugendliebe und einzige Frau in seinem Leben bekommen würde, damit er ihr Volk verschonte, seitdem war es um seinen Verstand geschehen. Normalerweise sollte es für einen Dämon kein Problem sein, seine Gefühle im Zaum zu halten, denn außer Rachegelüsten und Aggressionen dürfte ein Schattenwesen kein Gefühlsempfinden haben. Harloc jedoch war einer der wenigen, die Liebe empfinden konnten. Eine Stärke wie eine Schwäche. Aber nun war nicht die Zeit um über seinen Makel nachzudenken.
Sobald er sie in die Hände bekam, war die Welt verloren.

Das Wort Dämon bedeutet nicht, dass er ein Geist war oder, dass jeder, der als Dämon geboren wurde, böse war. Es war nur eine Eigenschaft die vererbt wurde, ein Charakterzug, ein Vorurteil. Einzig die dunkle Aura war es, die vielen unheimlich und böse erschien.
Harloc’s Vergangenheit war geprägt von Leid und Missverständnissen, Ausschlüssen wegen seiner Abstammung und Rassismus, der die Schuldigen in den Tod trieb.
Er hatte sich doch nur gewehrt, war seine Entschuldigung, doch wenn man ihn heute fragte, wie viele Elfen, Menschen und Zwerge er schon getötet hatte, so wüsste er nicht einmal ob es zehn, hundert oder tausende waren. Es war ihm gleichgültig. Für ihn zählte nur seine Religion, seine Rasse, seine Welt. Wer sich dagegen auflehnte, musste aus dem Weg geräumt werden. Er würde sie alle unterwerfen, das hatte er sich geschworen. Alle, die über ihn gelacht hatten, ihre Kinder, ihre Familien, ihre Städte. Jeden Tag betete er zu Djetu Daltja, dass er ihm mehr Kraft gab. Seine Religion sollte die der Welt sein, egal welche Opfer er bringen musste. Seine Frau und seine Tochter waren die ersten gewesen, die seine Klinge zu spüren bekommen hatten. Es wäre unfair, ihm die ganze Schuld an dieser Tragödie zu geben, denn er war zu dieser Zeit schon nicht mehr ganz bei Sinnen gewesen. Etwas vernebelte seinen Geist.

Vor nicht allzu langer Zeit schlug die Pest um sich, man schaffte jedoch irgendwie, sie einzudämmen. Aber nun, da Harloc infiziert war, startete sie eine erneute Angriffswelle. Die Pest war zurück, und nun gab es keinen Weg mehr, sie aufzuhalten. Etwas machte sie unzerstörbar. Es schien fast so, als wäre Harloc einer Seuche zum Opfer gefallen, die sich seine Kräfte aneignete um sein eigenes Volk zu töten. Nicht umsonst gab man ihr den passenden Namen Feuerpest. Viele Alchemisten saßen Tag und Nacht um ein Gegenmittel zu finden, andere trieb sie in den Wahnsinn und manche sind bei den Experimenten umgekommen. Sie war hochansteckend. Sobald man damit in Berührung kam verdrehte sie einem den Kopf, pflanzte Halluzinationen wo sie nur konnte. Sie bohrte sich in den Körper und der brennende Schmerz wurde von Stunde zu Stunde größer. Nicht mehr als einen Tag brauchte sie, um einen gewöhnlichen Bauern zu töten. Dieses grausame Spiel trieb sie mit all ihren Opfern, auch mit Harloc. Die Feuerpest nagte hartnäckig an seinen Kraftreserven und schaffte es mit der Zeit immer öfter, Trugbilder und Halluzinationen in seinen Kopf zu planzen; aber ihn zu töten, dazu war sie noch nicht im Stande gewesen. Er besaß einfach zu viel Macht. Die Zeit würde kommen, an dem er Freund nicht mehr von Feind unterscheiden könnte.
So hatte er auch seine Frau gezwungen einer Sekte beizutreten, die ihr schließlich das Leben nahm und seine Tochter durch seine eigene Klinge sterben müssen. Und nun war er auf dem halben Weg, eine der letzten zu töten, die ihn aufhalten könnte.
Er war nicht mehr der, der er früher einmal gewesen war. Die Halluzinationen wurden immer schlimmer.

Der, mit Reif bedeckte, Boden knirschte unter seinen Füßen. Es war noch vor Tagesbeginn, als sie aufbrachen. Hauptmann Nodal rief die einzelnen Männer, die dafür ausgewählt wurden, rasch auf und jeder schloss sich der Truppe an. Kurz nachdem die jungen Dämonen und Schattenjäger angetreten waren, fuhren auch schon die schwarzen Schwingen aus ihren Körpern. Ein schauriges Schauspiel, dass sich nicht oft bot, denn die meiste Zeit sahen sie aus wie gewöhnliche Elfen.
Die Erlaubnis zu fliegen durfte nur vom Hauptmann oder Harloc höchstpersönlich erteilt werden. Wer sich nicht an die Regeln hielt, wurde verbrannt, gehängt oder auf eine andere grausige Weise um sein Leben gebracht.

Sie erhoben sich mit gemäßigtem Flügelschlag, bis sie die Wolkendecke fast durchbrachen. >>Hauptmann? Wo genau finden wir das Zielobjekt?<<, fragte einer der jungen Männer. Nodal blickte um sich und wandte sich dem Sprechenden zu. >>Da gibt es mehrere Möglichkeiten, aber die Wahrscheinlichste wird wohl Avana sein. Wie ihr wisst, ist die Stadt seit neuestem gut geschützt. Leicht wird es gewiss nicht werden, aber ihr kennt den Auftrag!<<
Bis auf dieses Gespräch, gab es keine Kommunikation mehr während des Fluges.

Die Stadtmauern schienen endlos hoch zu sein. Harloc gab ihnen ein Zeichen und sie schlichen los. Er selbst flog zu einem nahen Stützpunkt, von dem aus er die Mission bestens beobachten konnte.
Alles lief nach Plan, bis sie auf das Schoss zuhielten und sie plötzlich von Speeren und Pfeilen beschossen wurden. Ein Viertel der Männer wurde durch den Hagel getötet und fast genauso viele verletzt. Der Rest eilte weiter in Richtung Tor.
>>Dachtest du, du könntest sie so leicht haben? Dachtest du wirklich, wir wären so naiv, Harloc? Dann hast du dich gewaltig getäuscht!<<, erklang es von allen Seiten. Die Flügel des Schlosses schwangen auf und eine Lawine von Soldaten überrannte die Dämonen. Ein paar schafften es, Schutzzauber zu murmeln, bevor man sie erstach. Einige waren zu langsam und erlagen den Schwertern der Soldaten. Schlag auf Schlag erfolgten die nächsten Minuten. Es wurde gekämpft, fair und unfair, mit Magie und mit Schwertern.
Harloc knirschte mit den Zähnen und zählte mit, wie viele seiner Männer schon gefallen waren.

Mehr als die Hälfte. Das hätte ich wissen müssen. Jetzt habe ich sie in den Tod getrieben.

Er leckte sich nervös über die Lippen. Harloc war nicht der Typ Dämon, dem das Kopfschmerzen bereiten würde, aber beim nächsten Mal sollte er mehr einsparen, dachte er, damit noch Leben überblieben, die er in den Krieg schicken konnte.
Die Lawine der feindlichen Soldaten wollte einfach nicht versiegen und er sah seine Niederlage ein.
>>Rückzug aus dem feindlichen Gebiet, sofort!<<, teilte er den anderen mit.
Gleichzeitig erhoben sich vereinzelt schwarzgeflügelte Wesen und machten sich auf den Weg zurück ins Hauptquartier, welches geschützt in einem Felsen lag.

Geröll donnerte den Berg hinab. Immer mehr Schutt sprengte er aus den Felswänden. Seine Wut war kaum zu beschreiben, sein Zorn ungebändigt. Er jagte auf die Wand zu und trieb seine spitzen Krallen in den alten Fels. Der stechende Schmerz fuhr ihm in die Glieder und seine Hand pulsierte durch die Magie, die er wirkte, um sich selbst wieder zu befreien.
>>Das hätte ich wissen müssen… Warum macht sie es mir so schwer? Will sie denn, dass ich ihr Volk auslösche? Ist sie wirklich so egoistisch?<<, fragte er keuchend, als er sich die blutverschmierte Hand abwischte. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn und er sah zu Boden.
Nodal murmelte zustimmend und klemmte sich hinter das Schreibbrett, wo er Linien zog und die Namen derer durchstrich, die gefallen waren.
>>Wir müssen aufpassen, dass noch genug Reserven für einen möglichen Krieg überbleiben, Majestät. Es sieht schlecht aus. Wir haben nur noch fünfzig Prozent kampffähige Männer. Der Rest ist in den letzten Attacken gestorben oder schwer verletzt worden. Wann habt ihr vor, den Krieg zu beginnen, Herr?<<
Harloc hatte sich auf einen hölzernen Schemel gesetzt und seine Rüstung teilweise abgelegt. Ein blutgetränktes Tuch bedeckte die abgewetzte Stelle, an der die Knöcheln heraustraten. Er sah gedemütigt aus, am Ende seiner Kräfte und zum ersten Mal glänzte auch die Schwäche in seinen Augen.
>>Das weiß ich noch nicht, aber es sind keine schönen Zahlen, die du mir hier vorlegst. Wir werden noch warten was passiert, und erst angreifen, wenn wir unseren Verlust etwas ausgeglichen haben. Schick Boten in die Kampfakademien. Sie sollen die Abgänger auf den Krieg vorbereiten. Wir haben keine andere Wahl als zu kämpfen, Nodal!<<, meinte Harloc und Nodal bildete sich ein, Zweifel in seinen Worten zu hören. Der Seufzer nach dem Befehl bestätigte ihm, dass es nicht gut um seinen Heerführer und Oberhaupt seines Volkes stand.
>>Sehr wohl, Majestät!<<, antwortete er und verbeugte sich. Harloc winkte ihm ab und er eilte aus dem Raum.

Als die dunkle, massive Holztür ins Schloss fiel, atmete Nodal tief durch. Die Wache vor der Tür salutierte ihm angemessen und er nickte. Dann machte er sich auf den Weg zu den Boten. Die Lichtstrahlen, die durch die einzelnen, großen Quarze an der Decke fielen, fluteten den Gang nur mäßig und immer wieder gab es stockdunkle Passagen, die von den hellen Lichtsäulen abgelöst wurden. Nicht einmal nachts war es draußen dunkler, als in den Gefilden der Schattenwesen. So spendeten die Bergkristalle auch dann noch Licht, wenn die Sonne bereits untergegangen war.

Was sollten sie nur tun, dachte Nodal. Zugern nur würde er den Befehlen seines Herrn Folge leisten, aber er war nicht mehr ganz bei Sinnen. Jetzt einen Krieg zu beginnen wäre Selbstmord. Nie und nimmer würden sie so viele Krieger auftreiben können. Er konnte nicht zulassen, dass ihre Kinder und Enkelkinder in einen Krieg ziehen mussten, der von Anfang an zum Scheitern verurteilt war. Niemals. Nicht heute und nicht in hundert Jahren. Wenn er es nur schaffte, seinen Sohn herauszuhalten, war das schon viel Wert, aber er konnte nicht den Tod von Tausenden verantworten, die ihr Leben noch nicht annähernd gelebt hatten. Sein Wahn nach diesem Engel würde sie einmal alle das Leben kosten.
Nodal bog in den nächsten Gang zu seiner Linken. Helles Licht brach durch die Flügeltür, als er den Palast verließ, und er musste kurz blinzeln, bis sich seine Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten. Nachdenklich stieg er die Stufen zu den Unterkünften der Boten hinab. Wind rüttelte an seiner weiß-roten Toga und er hielt sich festumschlossen, als er fröstelte.
Hätte ich die Rüstung doch nur nicht abgelegt, war der erste Gedanke, der ihm durch den Kopf schoss.

Der Winter brach über das Land herein. Wer sich jetzt noch zu einem Krieg entschließen würde, der würde alle Männer in den Tod schicken.
Eine der Lehmhütten schwang auf und ein stämmiger, muskulöser Dämon trat auf ihn zu.
>>Es ist mir eine Ehre, Nodal, dich in meinem bescheidenen Haus begrüßen zu dürfen!<<, sagter er erfreut und umarmte den Hauptmann.
>>Schön dich zu sehen, Aran! Ich muss mit dir etwas besprechen!<<
->>Sicher doch, setzen wir uns hinein!<<
Beide verschwanden in der kleinen Hütte.

Aran reichte ihm einen Teller mit gebratenem Straußenfleisch und einen mit aufgeschnittenen Früchten. Nodal nahm es dankbar an und griff nach einer Weintraube, die am Rand des Obsttellers Hin und Her rollte.
>>Der Ernst der Lage verschlechtert sich immer mehr! Er wird uns alle ins Chaos stürzen. Jetzt gerade hat er befohlen, dass unsere Kinder in den Krieg geschickt werden. Die wissen ja nicht einmal, dass sie umsonst sterben werden! Derzeit haben wir gegen die Engel keine Chance. Wir müssen etwas unternehmen. Und auch wenn es für ihn unbewusst geschieht. Ich glaube, keiner will sich seinem Befehl widersetzen, deshalb müssen wir es anders lösen<<
Arans Blick verdunkelte sich immer mehr.
>>Dann müssen wir etwas unternehmen. Und das Ganze nur, wegen diesem Engel? Warum das alles?<<, fragte er angespannt.
Nodal zuckte mit den Schultern.
>>Er kennt sie schon seit vielen Jahrzehnten und angeblich, sagte er, waren sie einmal ein Paar, bis sie ohne ein Wort verschwand und nicht mehr kam. Es scheint ihn innerlich aufzufressen, dass er sie nicht besitzen kann. Das ist wohl das Los der Dämonen, die die Gabe haben, Liebe zu fühlen<<
Aran pflichtete ihm mit einem Nicken bei.
Damit war die Unterhaltung beendet. Jeder wusste, was zu tun war. Der Krieg würde kommen, das war ihnen allen klar, aber sie versuchten trotzdem, ihn so lang wie möglich hinauszuzögern.
Sonst waren sie schon verloren, bevor die Schlacht begann.

Als der Himmel die Erde berührte


Kapitel 3

Der Horizont begann golden zu glühen und Wesen mit mächtigen Schwingen traten aus dem Licht. Erst als sie die Stadt erreichten, erkannte man, dass es Engel waren. Ihre Kleider schmiegten sich an ihre leuchtenden Körper und als sie gingen, schien es, als würden sie schweben. Lächelnde Frauen, lachende Kinder und wunderschöne Männer traten auf das einfache Volk von Ceartly Branch zu. Wie als würde die Traumwelt den Spiegel zur Realität zerbrechen und der Schein wie das Sein würden sich mischen. Eine angsteinflößende Situation, wenn man darüber nachdachte. Genau diesen Gedanken hatten auch die Mägde, die Ziegenhirten, die Schmiede und die Bauern, die sich vor dem Wohnsitz ihres Herrschers scharten um den besten Blick auf das Neugeborene zu erhaschen.

König Mauren ging nervös vor der Tür auf und ab. Gelegentlich hörte er Schreie und fuhr bei jedem zusammen. Sein Denken war blockiert. Nicht einen vernünftigen Satz würde er bilden können, sollte ihn jemand ansprechen; so nervös war er. Er hatte es gewusst. Es war ein Risiko. Doch er liebte sie mehr, als sein eigenes Leben und ein Kind würde ihm so viel mehr schenken als nur die Krone über ein Land, dass ihm kein Lachen schenken kann. Aber sie würde ewig nicht so sein wie alle. Dass war das Risiko, auf das sie sich eingelassen hatten. Nun war es zu spät, um darüber zu urteilen. Wenn er dieses Baby einmal im Arm hielt, würden seine Sorgen vergessen sein, so dachte er. Es würde die Verbindung zu den Engeln stärken. Das Bindeglied zwischen den Völkern und einmal Erbe des Vertrauens seines Volkes sein.

Es öffnete sich die Tür und die Hebamme trat heraus. >>Es ist ein Mädchen. Sie dürfen jetzt zu ihr!<< Mauren war schon im Zimmer gewesen, bevor sie den Satz beenden konnte, und gab seiner Frau und der neugeborenen Tochter einen Kuss. Minuten oder Stunden vergingen, er konnte es nicht einschätzen, aber dieser Moment war der schönste seines Lebens. Sie war so wunderschön. Ihre glänzenden Augen betrachteten ihn ohne Vorurteile, ohne von der Welt geprägt zu sein. Dann strich er Selina, der Urenkelin Senanes, durch die Haare und fragte: >>Welchen Namen soll sie tragen?<<
->>Sie soll einen Namen tragen, der ihr Kraft gibt, wenn sie der Mut verlässt, weiterzukämpfen. Weißt du noch, wie meine Eltern meine kleine Schwester Nesma immer gerufen haben?<<
Sie sah ihn glücklich an. Obwohl sie gerade die schlimmsten Schmerzen erlebt hatte, ließen kein Fältchen und kein Schweißtropfen auf ihrer Stirn den Verdacht zu, nur Minuten zuvor einem Mädchen das Leben geschenkt zu haben. Sie sah so makellos aus, wie jeden Tag, wenn sie erwachte, oder wenn sie sich bettete. Sie würde auch mit hundert Jahren noch so schön aussehen wie jetzt.
Und wenn sie an seinem Grab stünde, würden ihre langen, blonden Haare im Wind wehen und sie könnte seine erwachsene Tochter sein. Denn Engel altern nicht so schnell wie Elfen oder Menschen oder jegliches anderes Wesen, bis auf die Schattengestalten.
>>Ja, sie nannten sie Shayia. Hat er eine besondere Bedeutung für dich?<<
Er lächelte und strich ihr über die Stirn.
>>Es bedeutet bei den Engeln Sonnenkind<<

Der riesige Torflügel schwenkte nach außen und der Schreier trat vor die Masse der Wesen, die neugierig auf die Verkündung der Geburt warteten.
„Unsere Königin Selina schenkte dem König eine Tochter! Shayia ist ihr Name!<<
Unter dem Volk brach Jubelgeschrei aus und die Lichtwesen warfen mit Sonnenkugeln, die den Himmel erhellten. Als die Kugeln auf die Erde zurückfielen und auf dem Boden aufschlugen, entfachten sie ein großes, goldgelbes Licht das alles Tote in deren Umkreis zum Leben erweckte. Die abgestorbenen Äste eines toten Baumes begannen wieder auszutreiben und Blätter rankten sich um die dünnen Hölzer. Die schwachen und kranken Tiere wurden geheilt. Dieses Licht nannte man das ewige Licht, geboren aus dem Glück der Engel. Wem das Privileg zuteilwurde, es geschenkt zu bekommen, war mit Gesundheit und langem Leben gesegnet.

Ein Bote der Engel schwebte vom Himmel herab und landete in der Mitte der beiden Völker.
>>Ich entschuldige mich für meine Verspätung aber ich habe eine schlechte Nachricht zu überbringen. Harloc, Heerführer der Dämonen, hat vor kurzem den Lichtwesen den Krieg erklärt!<<
Unter den Engeln brachen Schreie und nervöses Flüstern aus. Einer der Erdenbewohner schrie plötzlich voller Entsetzen heraus: >> Und was wird dann aus unserer königlichen Familie?<<
>>Was soll schon aus ihn werden, sie bleiben natürlich bei uns! Rechtlich gehören sie zu uns!<<
Alle folgten gespannt dem Wortwechsel.

>>Sie darf bleiben! Aber nur unter einer Bedingung. Diese lautet: Falls der Krieg beginnt muss sie uns sofort zu Hilfe eilen. Egal wann und wo sie gerade ist! <<
Die Bürger Avanas schrien empört und ein Zwerg, der aus der Richtung des Schlosstores kam, machte auf sich aufmerksam.
>>Ich bin der Berater des Königs und gesetzlich auch bestimmt über etwas zu entscheiden falls der König ausfällt! Das Volk will eindeutig, dass sie und ihre Tochter bei uns verweilen. Wir nehmen die Bedingung zur Kenntnis und werden uns danach richten, sollte es wirklich der Fall sein<<
Die Engel nickten zufrieden und der Bote notierte sich alles. Dann bat er um eine Unterschrift und löste sich auf. Nach dieser kurzen Sekunde des Unmutes war die überschwellige Freude wieder zurückgekehrt.

Die Mutter Selinas, die Königin des Himmelreiches, schritt durch die Ansammlung von Engeln hindurch, welche ehrfürchtig zurücktraten.
>>Ich möchte meine Tochter und meine Enkeltochter gerne sehen. Wenn Sie so freundlich wären?<<
Der Zwerg verbeugte sich und deutete ihr, dass sie ihm folgen solle.
So trat auch das Erdenvolk beiseite und ließ den Berater und die ihm folgende Königin passieren, die auf das Schloss zugingen.

Vor der Zimmertür angekommen, verbeugte sich der Zwerg wieder.
>> Majestät <<, sagte er, verbeugte sich und klopfte an die Tür.
Dann ging er den Gang zurück, bis er hinter der nächsten Ecke verschwand.
Die Königin wartete noch einen Augenblick, bis die Tür zum Schlafgemach aufging und Dario, ein Diener, sich verbeugte: >>Die Königin von Drayso, Eure Majestät!<<
Mauren sah von seiner Frau auf und erblickte sie.
>> Mir bleibt nicht viel Zeit, trotzdem wollte ich meine Enkelin und meine Tochter sehen<<
Shena, die Engelskönigin, war groß und hatte weißgoldenes, langes Haar, welches bis auf den Boden reichte. Sie bewegte sich anmutig und ihre Augen glänzten in aufgeweckter Neugier, als würde sie zum ersten Mal die Sonne sehen. Die Zeiten waren zweifellos an ihr vorbeigegangen, ohne Schaden oder Spuren zu hinterlassen. Das Alter zu schätzen war schwer. Ihr Blick flackerte zwischen tiefer Seelentrauer, die der einer jahrhunderte alten Trauerweide gleichte, und unersättlicher Neugier, was das winzige Ding betraf, das ihre eigene Tochter im Arm hielt. Wer weiß, vielleicht war sie das. Jahrhunderte alt. Wenn er sie als Mensch sah, hätte er sie auf Anfang vierzig geschätzt.
Mauren stand von dem Stuhl neben dem Bett auf und betrachtete sie.
>>Wusstet Ihr schon länger, dass die Schattenwesen auf Krieg hoffen? Wusstet Ihr, dass Harloc schon in meinem Reich war, weil er auf der Suche nach meiner Frau war? Ihr habt sie ihm als Friedensgeschenk versprochen! Und nach alle diesen Ereignissen traut ihr Euch noch einen Fuß in mein Reich zu setzen? Wie konntet Ihr uns nur so etwas antun? ER ist ein DÄMON! Und sie <<, er deutete auf die schlafende Königin mit Shayia im Arm,>> sind meine Familie. Nur jetzt glaube ich zu wissen, dass Ihr dieses Wort nicht kennt.“
Er wandte sich von ihr ab und ging im Zimmer auf und ab. Als er wieder auf ihrer Höhe war sprach er weiter: >> Ich möchte nicht das meine Tochter jemals etwas mit Euch zu tun hat. Mit Wesen, die sie fast als Ungeborene getötet hätten! Ich verlange von Euch sofort mein Schloss zu verlassen und für immer die Verbindung zu den Erdenwesen zu vernichten! <<
Mit diesen Worten verließ er das Zimmer noch bevor der Engel etwas sagen konnte.
Sie sah ihm mit Verzweiflung nach und blickte noch einmal zurück zu ihrer Tochter.
Die Königin kniete sich neben das Bett und hielt Selinas schlaffe Hand.
>> Wenn du es wirklich so willst, dann werde ich gehen und dich hier lassen. Doch bedenke, dass du nicht nur diesem Volk verpflichtet bist. Ich hoffe, du hast uns noch in deinem Herzen. Wenn der Krieg beginnt, wirst du gebraucht. Ich hoffe du weißt das. Komme nicht meinetwegen, komme der Liebe deines Volkes wegen! <<
Mit Tränen in ihren Augen stand sie auf und verließ auch, wie Mauren vor ihr, das Zimmer und schloss die Tür hinter sich.


Kapitel 4
Die Himmelspforte

Die Sonne erwachte und mit ihr auch die Erdenwesen. Ihre Strahlen glitten über die Landschaft von Ceartly Branch, bis sie schließlich die riesigen Bäume der Mond-Wälder erreichten, danach auch Avana, die Königsstadt, verborgen im Dickicht.

Ein kleines Mädchen, um die sechs Jahre, erwachte in ihrem Bett und rieb sich verschlafen die Augen. >> Mama, wie spät ist es?<<, fragte sie die wunderschöne Frau, die am Schreibtisch gegenüber des Bettes saß. Selina drehte sich lächelnd um und sagte:
>> Zeit zum Aufstehen, kleiner Engel! <<
Shayia gähnte und nickte, rollte sachte die Bettdecke zur Seite und ließ sich vom Bett gleiten. >> Aber wo sind meine Flügel Mama? <<, fragte sie, wie jeden Morgen, als sie aufstand.
Selina stand auf und ging auf die kleine Shayia zu. Auch ihr schlanker, wohlgeformter Körper leuchtete.
Ihre taillenlangen Haare schwankten bei jedem Schritt, den sie machte mit und das reine Weißgold reflektierte sich im Sonnenlicht, welches durch das große Schlossfenster ins Zimmer fiel.
>> Du wirst sie noch früh genug entdecken! Glaube mir mein kleiner Schatz. Aber jetzt musst du dich anziehen, unten in der Empfangshalle wartet schon Elena auf dich. Sie möchte heute mit dir zu ihrer Tante fahren. << Selina gab Shayia einen Kuss und strich ihr über die schulterlangen, blonden Haare.
>> Aber Mama, ich möchte nicht auf meine Flügel warten. Und Elena sagte, dass wir länger dort bleiben, was meint sie damit? Und wo sind deine großen Flügel plötzlich hin? <<
Shayia war ein wenig verzweifelt als Selina zu lächeln begann anstatt ihr zu antworten.
Ja, das ist meine Kleine, dachte sie, immer so viele Fragen.

Sie kniete sich vor Shayia hin sodass sie auf gleicher Augenhöhe waren.
>> Ich kann meine Flügel in Räumen und Gebäuden sozusagen kleiner machen. Sonst würde ich nicht durch Türen kommen und würde alles damit kaputt machen.<<
Doch diese Antwort schien Shayia nicht zu reichen.
>> Mama? Wo ist meine Tasche? Ich finde sie nicht! <<, gab Shayia hysterisch von sich.
Selina lächelte und nahm eine kleine rosa Umhängetasche hinter dem Bett hervor und reichte sie Shayia.
Sie nahm sie flink und lief, so schnell wie sie ihre kleinen Füße tragen konnten, hinaus.
Selina sah ihr nach und wandte sich dann dem hereinbrechenden Licht zu, das durch das große Fenster ins Zimmer leuchtete.

Wie lange werde ich sie jetzt wohl nicht mehr sehen? Was ist wenn ich in den Krieg ziehen muss? Ich habe Angst, nicht um mich, um Shayia. Was passiert wohl mit ihr?
Ich möchte nicht weggehen, sie nicht allein lassen.

Sie setzte sich auf den Fußteil des Doppelbettes, aus welchem Shayia gerade aufgesprungen war. Das Fenster färbte die Strahlen und verlieh der Decke eine schimmernd bunte Oberfläche.
Der Engel strich über das nicht gemachte Bett.
Schritte ließen sie aus ihren Gedanken aufschrecken.
Selina drehte sich um und bemerkte Mauren, der in der Tür stand.
>> Du vermisst sie jetzt schon, hab ich Recht?<<, fragte er mit einem zärtlichen Lächeln.
Selina wandte ihren Blick von ihm auf das Bett, >> Ja tue ich. Ich würde so gern bei ihr sein, solange es noch geht! <<, und das Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht.
Mauren kam zu ihr, strich über ihren Arm und küsste sie am Hals.
„Warum bist du so pessimistisch? Sechs Jahre sind es schon indem sie dich bei uns ließen, also warum sollten sie dich jetzt noch holen?<<
Sie wagte es nicht sich zu ihm umzudrehen.
>> Du hast ja recht, aber, ach…..<<
Selina stand auf und blickte aus dem Fenster auf den Vorhof des Schlosses.
Dann wandte sie sich um: >> Aber ich will auch an ihrem Leben teilhaben! Sie soll nicht alleine sein, so wie ich es war! Ich möchte ihr dieses Gefühl ersparen, diese Leere. Sie soll mir erzählen was sie jeden Tag macht, was ihr gefällt und was nicht. Und wenn wir am Abend essen, kann sie uns von ihren Abenteuern berichten! Abenteuer, die man mir verwehrt hatte. Sie ist meine Tochter, ein Stück von mir lebt in ihr weiter….<<
Und als Mauren antworten wollte, kam es über Selina wie ein Blitz.
Sie rannte hinaus auf den Gang der Gallerie und die Treppen ins Dachgeschoss hinauf.
Wie konnte ich es nur vergessen?, schoss ihr durch den Kopf.
Oben angekommen, schloss sie die Tür auf und begegneter einer steinernen Figur.
Selina zwängte sich durch den kleinen Gang der links und rechts von Dingen umgeben war, die man so gar nicht in einem Schloss erwartete: kleine Spiegelstücke, sehr alte, unheimliche Steinmonster, mit großen Tüchern bedeckte Gegenstände und eine kleine Holztruhe, die, mit einem goldenen Schloss versehen, vor ihr stand.
Selina kniete sich hin und strich den Staub von ihrem schönverzierten Deckel, der unter anderem auch goldene Inschriften enthielt, die jedoch schon so verblasst waren, dass man sie nicht mehr entziffern konnte.

Der Engel hörte die Stimmen in der Diele hallen und wusste es würde knapp werden. Sie suchte rund um sich und die Truhe nach etwas wie einem Schlüssel, doch es waren überall Kelche, Münzen, und sonstige Gegenstände verstreut, dass man den Boden schon nicht mehr sah. Hoffnungslos, dachte Selina und griff nach dem schönen Schloss, welches augenblicklich zu schmelzen begann.

Schade darum

Als sie den Deckel der Truhe anhob, kamen hunderte Briefe zum Vorschein. Sie nahm sie ihn Stapeln heraus, bis sie das fand, nach dem sie suchte
Sie griff nach einem Buch. Es war handlich und kleiner als die anderen Wälzer, die im Dachgeschoss in den Regalen standen und Staub fingen.

Sie ließ alles so liegen wie es war und rannte die Stiegen wieder hinunter, wo Elena und Shayia in Sicht kamen.
„Schatz? Warte noch einen kleinen Augenblick!“, schrie sie durch die gesamte Diele und machte sich auf die letzten Stiegen auch noch hinter sich zu bringen.
Verblüfft sah ihr Mauren nach und musste lächeln.
Die Hofdamen, die am anderen Ende der Halle in ihrem Saal saßen, schnaubten verächtlich und warfen ihr spöttische Blicke zu. Bis auf eine. Sie schien ganz entzückt darüber. Als die anderen das mitbekamen, wurde sie mit Blicken gestraft, die sie augenblicklich zu einem Abziehbild der Menge machte.

„Mama?“, fragte sie während Selina ihr das kleine Buch entgegenstreckte. Es hatte einen dunklen, ledernen Umschlag und sah alt aus.
„Ich möchte, dass du alles hier drin aufbewahrst. Jede Idee, die du hast, jedes Abenteuer, das du erlebst und was du sonst noch für Gedanken hast! Bitte vergiss nicht darauf! Damit dein Vater und ich teilhaben können, Schatz!“, flüsterte Selina.
Shy nickte und steckte es in ihre Tasche. Selina gab ihr noch schnell einen Abschiedskuss und umarmte sie. Dann zog Elena sie an der Hand Richtung Tor.
„Auf Wiedersehen, Mama! Bis bald Vati!“, schrie Shy und war schnell aus dem Blickfeld der beiden verschwunden.

„Es ist schwer, sie gehen zu lassen, nicht wahr?“, sagte Mauren, der nun auch die Stiegen hinab kam. Selina nickte traurig und der König schloss sie in seine Arme. Nur um einen halben Kopf war er größer.

„Du weißt, dass sie eine Ausbildung braucht! Und Adra hat mir versprochen, sich um sie zu kümmern. Es wird alles gut werden! Mach dir keine Sorgen!“, sagte er und versuchte sie aufzumuntern.
„Ja, das weiß ich, aber sie ist erst sechs Jahre, Schatz. Glaubst du nicht, dass…“, setzte Selina an, aber Mauren unterbrach sie, „Shy ist eigenwillig und stark, sie kann das. Es ist dort wunderschön. Bald wird es für sie wie ein zweites Zuhause sein. Und nichts ist mir wichtiger, als dass mein kleines Mädchen gut aufgehoben ist!“
Sie nickte wieder, doch noch immer schimmerten ihre Augen, kleine nasse Perlen bahnten sich ihren Weg über die Wangenknochen.

„Adra wird dich nie ersetzen, Selina, und das weißt du auch!“, sage Mauren und drückte seine Frau an sich. Er beantwortete damit ihre Selbstzweifel in ihren Gedanken.
„Wir können sie ja immer besuchen, wenn wir wollen!“ Mauren strich ihr über ihre weißgoldenen, schönen Haare.
„Ich liebe dich, Mauren!“, sagte Selina.
Der König spürte plötzlich wie sie unter seinen Armen hinweg zu gleiten drohte, und wollte sie fester halten. Aber sie entfernte sich nicht von ihm, sondern löste sich auf.
„Es ist Zeit, Schatz. Sie rufen mich. Der Krieg hat begonnen!“
„Nein, nein, bleib da, geh nicht! Komm mit, ich halte dich! Bitte verlass mich nicht! Selina“, schrie er aus Leibeskräften und Wachpersonal kam schon zu ihm gerannt, aber das bemerkte er nicht. Einzig ihre himmelblauen, leuchtenden Augen und ihr aufmunterndes Lächeln gruben sich in seinen Geist, bis er nur noch an die Decke starrte.
Sie war fort. Zuerst musste seine Tochter gehen und jetzt auch noch seine Ehefrau, die er vielleicht nie mehr wieder sehen würde.
Verzweifelt, den Kopf in den Händen vergraben, kniete er am verfliesten Steinboden und schluchzte. Rund um ihn stand der ganze Hofstaat, trauernd und hoffnungslos. Sie alle waren Zeugen des Abschieds ihrer Königin geworden.

Aufzeichnungen von Shayias Tagebuch


Kapitel 5

1. Eintrag:


Legende

Heute schien die Sonne wieder so wie ich es liebe. Die ersten Strahlen des Frühlings. Die Gruppeneinteilung ging relativ rasch vor sich. Elena, Nathalia, Klatus und ich waren zu einer berufen worden. Aber nun zu anderem:
Ich fand heute dieses Tagebuch.
Es war leer. Ich weiß nicht mehr, seit wann ich es habe, oder von wem, aber ich spüre, dass ich eine besondere Beziehung dazu habe.
Es lag in meiner alten, kleinen Tasche die ich fand als ich im Keller der Schule nach Elenas Katze suchte. Mimba war ihr weggelaufen. Als ich sie fand, saß sie neben einem schmutzigen Stück Stoff, der, wie ich später erkannte, meine Tasche war, mit der ich auf das Internat kam.
Ich erinnerte mich nur noch sehr schwach die Zeit davor. Es kommt mir vor wie ein Traum, wenn ich daran denke.

Doch immer wieder, wenn ich kurz davor bin herauszufinden, was dieses Loch in meiner Erinnerung ist, wird mir schwarz vor Augen. Ich erinnere mich an eine Legende.
Eine Legende von einem Engel, der an der Seite des Königs regierte.
Mein Vater sagt mir nichts darüber. Herlana lenkt auch davon ab, aber ihr traue ich nicht. Morgen frage ich Elena ob sie etwas darüber weiß, aber ich habe keine großen Erwartungen.



2. Eintrag:


Lady Sierra

Elena kannte die Legende auch, aber sie hat sich noch nie sonderlich für so etwas interessiert.
Heute kam auch ein neuer Schüler an unsere Schule. Es hieße, man hat ihn mitten im Wald bewusstlos gefunden. Er hieß Naab und war Schülern während einer Übung aufgefallen. Die Lehrer haben ihn noch im Heilsaal. Was er hier macht, oder von wo er kommt weiß ich nicht. Es kann sein, dass er vielleicht aus Hexron kommt. Es spricht sich herum, dass er das Djetumal hat. Aber es ist noch zu früh, um so etwas behaupten zu können.

Elena schläft schon über mir und ich muss bald das Licht ausmachen, sonst kommt Lady Sierra. Sie ist eine sehr strenge, alte Frau mit einem Dut und einer Sehhilfe, die größer ist als das Monster auf ihrem Kopf. Morgen werde ich hier alles eintragen was ich über Naab bei Madam Adra, unsere Direktorin, erfahre. Ich habe vor, nach dem Unterricht zu ihr zu gehen und sie über diese Legende zu befragen. Auf irgendeine komische Weise fasziniert es mich.

3. Eintrag:


Naab

Madam Adra erzählte mir nicht viel. Sie meinte, dass sie es nachholen würde, wenn ich soweit sei. Ich weiß aber nicht was sie damit gemeint hat.
Am späten Nachmittag schlich ich mich aus dem Speisesaal unseres Internates und verschwand hinter der Tür des Heilsaales. Ich war immer schon sehr neugierig gewesen und es bat sich heute einfach an. Lady Sierra und Madam Adra waren auf einer Reise nach Dragons Faith und eine andere Aushilfekraft betreute meine Gruppe im Speisesaal.
Als ich die Tür hinter mir geschlossen hatte, fragte schon eine Jungenstimme, wer hier sei.
Ich ging langsam auf sein Ruhebett zu und deutete ihm leise zu sein.
Er war groß, ungefähr so alt wie ich, und hatte braunes, kurzes Haar. Seine braunen Augen sahen mich an. Er fragte mich, was ich hier mache und wer ich sei. Als wir diese Fragen endlich geklärt hatten, erzählte er mir, dass er nicht mehr wisse wo genau er herkam und was jetzt mit ihm geschehen würde.
Naab kam mir ein bisschen verunsichert vor.
Und als ich erfuhr, dass er mit Nachnamen Araxo hieß, fiel mir ein warum er es nicht mehr wusste.
Sein Name, Araxo, stammt aus Hexron, dem Exil. Diese Form des Namens hatten wir erst vor kurzem kennengelernt. Verräter, Verbannte und Betrüger wurden vor Jahrhunderten dort hin verbannt und durften nie wieder zurück. Alle trugen das so genannte Djetumal an sich. Egal, was er gemacht hatte, es musste für seine Familie das Schrecklichste der Welt gewesen sein. Sonst hätten sie ihm nicht so etwas angetan.
Ich sprach mit ihm darüber und plötzlich war die Blockade verschwunden. Er begann mir ein paar Sachen zu erzählen, als der Torflügel aufging und Lady Sierra hereintrat.
Ich versteckte mich hinter seinem Holzbett. Ganz knapp nur entging ich ihrem Blick. Danach flüchtete ich und musste Naab versprechen, wiederzukommen. Er kannte niemanden und sagte, dass ich die war, die bis jetzt am meisten mit ihm gesprochen hatte. Also werde ich mich morgen wieder auf den Weg zu ihm machen. Natürlich ohne, dass jemand etwas davon weiß. Ich glaube, ich werde es nicht einmal Elena erzählen. Immerhin ist sie die Nichte Lady Sierras. Das wäre nur ein unnötiges Risiko.

Die einzigen erhaltenen Schriften von Shayia Sulight
Aufzeichnungen werden in der Bibliothek von Ceartly Branch aufbewahrt.


Unerwartete Kraft


Kapitel 6

Naab wurde am nächsten Tag, nach einer gründlichen Untersuchung, aus dem Heilsaal entlassen und in Shayias Gruppe versetzt.

Die Sonne stand schon weit am Himmel, als die Schüler endlich aus dem Unterricht entlassen wurden und Naab auf Shy zuging.
„Wie geht es dir heute?“, fragte er, während Elena sie ungläubig anstarrte. Bevor Shy antworten konnte, zog Elena sie an ihrem Ärmel um die nächste Ecke.
„Woher kennst du ihn? Und warum spricht er in so einem vertrauten Ton mit dir?“, fragte sie aufgebracht. Shy wollte ihr eigentlich nichts von ihren geheimen Ausflügen zu Naab erzählen, also musste sie lügen. Und zwar gleich.

„Ach Elena, warum machst du daraus so ein Problem? Ich habe ihn schon öfters hier gesehen. Jetzt fragte er mich, wie es mir geht. Was ist daran so schlimm?“, sagte Shayia und versuchte Elena zu beruhigen.
„Merkst du es nicht? Er ist der Feind! Ich weiß nicht, warum Lady Sierra so etwas zulassen konnte. Er ist nicht normal. Er hat das Djetumal!“
Shy packte die Wut, denn was Elena sagte, passte so gar nicht zu ihr. Von einer Sekunde auf die andere war sie zu einer arroganten Rassistin geworden. Fast schon so schlimm wie ihre Tante.
„Ich merke an deinem Ton, dass du nicht du selbst bist. Beruhige dich. Ich werde so tun als ob du das nie gesagt hättest!“, meinte Shayia und verließ Elena die, mit Zornesröte im Gesicht, dastand und ihr nachsah.

Als Shy um die Ecke zu Naab bog, war er weg. Suchend blickte sie sich um, aber zwischen den Schülern, die sich auf dem Hof tummelten, konnte sie niemanden erkennen.

Shy verschwand in den Heilsaal und wollte von dort aus eine Abkürzung zu den Zimmern nehmen, als sie plötzlich vor Lady Sierra stand. Diese rückte ihre Brille zurecht und setzte sie soweit auf die Nasenspitze, dass man glaubte, sie würde herunterfallen. Die Kette, die an den Brillenenden befestigt war und ihren Hals zierte, war aus kleinen, goldenen Kristallen und Perlen, die klimperten, wenn ein Lufthauch an ihnen rüttelte.
„Junge Dame?“, zischte sie.

Shy sah sich um und bemerkte, dass sie bei Naabs altem Bett gewesen sein musste. Prüfend blickte sie von einem Bettende zum anderen und prüfte ob etwas fehlte.
Und tatsächlich fehlte seine Tasche, die er ihr gestern noch gezeigt hatte.
Wie loderndes Feuer brannte der Zorn in ihr. Lady Sierra hatte seine Sachen durchstöbert.
„Ich soll Naab seine Tasche bringen!“, sagte sie mit zusammen gebissenen Zähnen. „Wo ist er?“
Lady Sierra ließ die Tasche leise aufs Bett zurückfallen und antwortete dann: „Noch bei der Direktorin, aber wenn du willst, bringe ich sie ihm.“

„Nein danke, das mache ich schon selbst!“, entgegnete sie und nahm Naabs Tasche. Dann öffnete sie die Tür zum Hof und ließ Lady Sierra mit bösem Blick stehen.
Gerade, als sie den Weg zu den Mädchenzimmern entlang ging, merkte sie, dass jemand hinter ihr war und sah über ihre Schulter.

„Was ist denn noch?“, fragte Shy genervt und wandte sich erst gar nicht zu Elena um.
„Es tut mir leid, was ich vorhin gesagt habe…“, begann sie und Shy wandte sich überrascht um, “…aber es ist nun mal die Wahrheit, Shayia. Er ist ein Verräter!“
Shy konnte einfach nicht fassen, was aus Elena wurde.
„Warum bist du so arrogant? Was, wenn er nicht mal etwas dafür kann, dass er eines hat? Und warum sollte er freiwillig seine Familie zurücklassen? Nur um zu einer Art von Wesen zu gehören, die ihn ausstößt? Hast du darüber schon einmal nachgedacht?“, schrie Shy und war sich sicher, dass es die ganze Schule mitbekommen hatte, “Du bist wie Sierra!“
Mit diesen Worten verließ sie Elena, die ihr zornig und etwas verunsichert nachsah.
„Was soll das heißen? Meine Tante ist ein Vorbild. Sie ist eine echte Elfe. Nicht so wie du…“, schrie sie ihr selbstzufrieden nach. Shayia traf es wie einen Fausthieb in den Magen. Was hatte Elena gerade gesagt? Wusste sie etwa die ganze Zeit was oder wer ihre Mutter war?
Sie blieb wie angewurzelt stehen und beobachtete die Regungen der Blätter im Wind.
„Du kanntest meine Mutter, nicht wahr? Du hast nie etwas gesagt! Warst du jemals meine Freundin?“, fragte Shayia und hob ihren Kopf.
Dann drehte sie sich um und sah Elena an.
„Wie meinst du das? Ich war deine Freundin, und zwar immer, aber jeder kannte deine Geschichte. Nur du nicht. Jeder wollte dich beschützen. Nur jetzt ist es an der Zeit, dir die Wahrheit zu sagen. Ich werde es nicht tun…“, sagte sie langsam und ohne eine Emotion.
„Ja, du warst meine Freundin…“, antwortete Shayia.
Shayia war wütend und ihre inneren Flammen loderten so stark, dass sie glaubte, selbst zu brennen. Sie wollte eigentlich nur auf Elena deuten, um ihre Aussage zu verstärken, aber plötzlich erstarrte diese vor Angst.
Von einer Sekunde auf die andere tauchten taubenähnliche, riesige Schwingen hinter ihr auf, die von kampfeslustigem, hellem Feuer umschlossen waren. Shayia selbst begann zu glühen und die Flammen züngelten an ihr. Elena wusste nicht wie ihr geschah. Vor Shayias Zeigefinger, der ausgestreckt Elena verurteilte, wurde die Luft zäh, sie bewegte sich in einem Rhythmus, den nur sie selbst kannte, und schloss sie von allen Seiten ein. Es währte nur für wenige Augenblicke, aber die Zeit schien still zu stehen. Wie als hätte Shayia mit ihrer Hand und der Macht in ihr eine Barriere durchstoßen, als sie auf Elena zeigte, und ihr goldenes Feuer den Körper anzündete und ihr Flügel verlieh. Ihre Haare wurden von der Macht dieses Geschehens zurückgeweht, als würde ein imaginärer Wind sie umgeben. Ihre ausgestreckte Hand spielte mit den Flammen, die sich wie Schlangen um ihre Gliedmaßen rankten.
„Du hast mich belogen Elena. Und ich dulde keine Lügner!“, war das einzige, was sie von sich gab. Ihre Stimme war tiefer und maskuliner als ihre eigene.
Dann machte sie eine schwungvolle Handbewegung und Elena wurde von einer Feuerkugel getroffen.
Sie fiel bewusstlos zur Seite und Shayia blieb noch einen Moment selbstzufrieden stehen, bevor das helle Feuer erlosch und ihre Flügel verschwanden. Wie wenn man einer Marionette die Bänder abschnitt, die ihr Halt gaben, so sackte auch Shayia ohnmächtig auf dem Boden zusammen.

„Shy? Shayia? Wach auf!“, sagte eine Stimme zu ihr, als sie kurz darauf um Luft rang.
„Du hast mir echt einen Schrecken eingejagt! Bitte mach das nie wieder!“, sagte er lächelnd zu ihr.
Shayia sah auf und blickte in die wunderschönen Augen von Naab. Sie hätte ihn gleich an seiner weichen Stimme erkennen müssen.
Erst als sie sich aufsetzte, begann ihr der Kopf zu schmerzen.
„Elena ist schon weg. Vier ihrer Freunde haben sie gefunden. Anscheinend hatte sie eine große Brandwunde. Sag mir nur eines: Was ist hier geschehen?“, fragte Naab, mit einem Lächeln auf den Lippen, als er neben ihr in die Hocke ging. Shy rieb sich die Stelle, auf die sie gefallen war, und wandte sich dann Naab zu.

„Ich habe keine Ahnung! Das einzige, an das ich mich erinnern kann, ist, dass ich einen sehr komischen Traum hatte. Ich war Außenstehende und beobachtete mich selbst, wie ich Elena mit Feuerkugeln beschoss! Aber das Erschreckendste waren die Flammen, die mich einschlossen. Und riesige Schwingen ragten aus meinem Körper!“, sagte Shy bestürzt und sah Naab unsicher an.

„Das war nur ein Traum, Shy! Aber das hätte ich gerne gesehen!“, sagte er lachend und half Shy auf die Beine, “Nur irgendwas musste Elena doch getan haben, dass du so aggressiv geworden bist, oder?“
Doch Shayia konnte sich einfach nicht mehr daran erinnern. Als beide sich auf den Weg machten, den Shayia schon vor der Auseinandersetzung gehen wollte, brach die Dämmerung gerade auf sie beide und die Umgebung herein.
Es war ein langer Kiesweg, der hinter den Mauern des Schulflügels des Internates vorbeiführte. Ein Fluss plätscherte neben ihnen sanft die Hügel hinab.

„Stimmt es“, begann Shy leise, “ dass du das Djetumal hast? Ich meine, Elena erzählte es so.“
Naab sah auf den Kiesweg und überlegte kurz, was er antworten könnte, als er dann einfach schwieg und stehen blieb.
„Ja, auf meinem Schulterblatt, wie jeder Verräter!“, meinte er traurig und wütend, “ Hier, sieh’s dir selbst an! Wie oft kommt man so nahe an einen Verbannten heran?“
„Das bist du nicht! Hör auf so was zu sagen!“, entgegnete Shy. Als er sein dünnes Hemd auszog und sie das Mal erblickte, blieb ihr zuerst die Luft weg. Ein kirschgroßer, schwarzer Kristall war in seine rechte Schulter gebrannt. Schon als sie es sah, konnte sie seine Schmerzen nachempfinden.
Ein Zeichen, oder auch Mal genannt, welches nur Verräter in Verließen oder Verbannte bekamen. Somit konnten sie Ceartly Branch nicht mehr betreten ohne höllische Qualen zu erleiden. Der Kristall würde die Magie des Landes spüren und sofort beginnen sich zu wehren, beginnen zu glühen. Doch Naab selbst lieferte keine Anzeichen, dass es ihm schlecht ging.

Shy strich über den verkohlten Rand der Haut und dann sanft über den Kristall. Er zuckte kurz zusammen und seine Nackenhaare sträubten sich.
„Warum tut es dir nicht weh?“, fragte sie, als er sich wieder sein Hemd anzog.
„Mein Kristall wurde innerlich zerstört, als meine Mutter starb. Sie hat sich zuletzt gewünscht, dass mein Leben besser sein soll als ihres und starb, als sie mich befreite. Deshalb hasst mich mein Vater“, erzählte Naab Shayia, als sie angekommen waren.
Plötzlich drehte er sich zu ihr um.
„Wie konnte ich das nur vergessen!“, meinte er plötzlich lauter.
„Was?“, fragte Shy beiläufig.
„Meine Familie hasst mich dafür, dass Mutter starb. Deshalb verschleppten sie mich hier her. Sie mussten glauben, es würde mir höllische Schmerzen bereiten, abgesehen das sie gelitten haben mussten … außer“, begann er aufgebracht.
„Außer was?“, fragte Shayia neugierig.
Naab sah sie verärgert an und sprach weiter:“ Außer sie haben eine Manniqan entführt. Solche Monster! Dafür werden sie bezahlen!“, schrie er jetzt und schlug auf die Holzbretter, die an der Fassade des Jungenhauses gestapelt waren. Einige fielen zu Boden, das Oberste zerbarst.
Shy verstand die Welt nicht mehr.

„Was sind diese Mannidingsis?“, fragte sie verständnislos.
„Manniqans sind kleine feenartige Wesen, die das Tor zu Ceartly Branch sozusagen bewachen. Sie bleiben jedoch dabei immer auf eurer Grenze. Sie können sich zu verschiedenen Plätzen wünschen. Wenn man einen gefangen nimmt und sich an einen Platz wünscht, so muss er dem Wunsch folgen, ob er will oder nicht. Denn sie haben eine angeborene Schwäche: Sie müssen Folge leisten. Aber dabei wird so viel Magie verbraucht, dass der Manniqan danach stirbt“, sagte er traurig und aufgebracht.
Shayia schien, als würde sie begreifen und alles was sie bis jetzt gehört hatte zusammensetzten, aus dem sich jetzt endlich ein Gesamtbild ergab.
„Woher weißt du das alles?“ Shy kam aus dem Staunen nicht mehr heraus.

„So hat es mir immer Alfraed erklärt. Er war auch ein Manniqan und mit ihm habe ich oft Zeit verbracht. Ich war nie so wie die anderen in Hexron. Alle dort hatten keine richtigen Freunde. Meine Eltern waren Hochverräter an deinem Vater, wurden deswegen mit dem Mal gezeichnet und dorthin geschickt. Seitdem übermannen das Stück Land der Ausgestoßenen immer wieder Machtkämpfe um den Thron“, er seufzte, “Sie waren sehr hohe Tiere in Hexron und öfters fast an der Macht, da wurde es mir schon früh zu blöd, jeden Kampf mitzumachen. Diese Saufgelage und Massenmörder waren nicht meine Welt. Deshalb rannte ich von meinen Eltern davon und baute mir mein eigenes Leben, neben der Grenze zu Ceartly Branch, auf. Da lernte ich Alfraed kennen. Er war mein bester Freund. Das einzige normale Wesen, das in meiner Umgebung lebte. Doch uns trennte die unsichtbare Mauer.
Als meine Mutter kam, ausgelaugt, verstört und am Ende ihrer Kräfte, sagte sie mir, sie habe begriffen, dass das Leben, so wie sie es führte, nicht das Erfüllteste war, und ich ein besseres haben sollte.
Dann, als sie starb, wünschte sie sich, ich solle frei sein. In dem Augenblick spürte ich eine angenehme Berührung und der brennende Schmerz, den ich seit dem Umzug zu der unsichtbaren Mauer empfand, war wie weggeweht.
Nach diesem Ereignis suchte und fand mich meine Familie. Und jetzt lebe ich schon seit ein paar Tagen hier als Ausgegrenzter. Ich habe mich sehr über deine Besuche gefreut. Du warst die Einzige, die sich Gedanken um mich gemacht hat! Und jetzt kennst du meine Geschichte. Sie ist nicht die Spannendste, aber ab heute hat mein Leben einen Sinn.“

Das war das Letzte was er zu ihr sagte, bevor er sie mit ungläubigen und traurigen Blick vor dem Jungenhaus stehen ließ, und sich die Treppen hinauf schleppte.
„Gute Nacht Naab.“, schrie sie ihm hinterher, ohne darauf zu achten ob er antwortete.
„Ich hoffe, ich sehe dich morgen, Shy!“, antwortete er aus seinem Fenster und hatte wieder ein angedeutetes Lächeln auf seinen Lippen.
Mit einem Gefühl von Wärme und Akzeptanz verließ sie den Platz und kehrte in ihr Zimmer zurück. Es war das erste Mal, dass Shayia dieses Gefühl empfand, ein Gefühl der Geborgenheit und der Liebe, der Familie.

Offenbarung der Macht


7. Kapitel


Shayia


Heute war ein schlimmer Tag. Elena hetzte ihre Tante auf mich und dann musste ich eine halbe Ewigkeit auf Direktorin Adra warten. Immer wieder sah ich hinaus aus dem Fenster, ins Freie, und hoffte, dass das Warten jede Sekunde vorbei sein und ich endlich rausgehen könnte. Doch seit diesen Gedanken waren wieder drei Stunden verstrichen. Gelangweilt saß ich auf der ungemütlichen Holzbank im Vorraum der Direktion und spielte mit einer Münze.
Erst nach dieser endloslangen Zeit ging die Tür zu ihrem Büro auf und Adra bat mich herein.
„Hallo Shayia! Setz dich bitte!“, sagte sie.
„Warum wollten sie mich sprechen?“, fragte ich.
„Es ist mir etwas zu Ohren gekommen, dass ich sehr eigenartig finde. Was war gestern am späten Nachmittag zwischen Elena und dir?“, fragte sie und achtete genau auf meine Körpersprache. Dabei huschten ihre grünen Augen zwischen meinen Händen und meinem Gesicht Hin und Her.
Sie strahlte ein ungeahntes Maß an Ruhe und Zufriedenheit aus. Ich holte tief Luft und begann, ihr alles zu erzählen, an das ich mich erinnern konnte:
„Ich weiß es wirklich nicht. Ich kann mich nur daran erinnern, dass wir uns heftig gestritten hatten. Dann wachte ich auf und sie war weg! Naab sagte mir, Freundinnen hätten sie gefunden“
Sie musterte mich und nickte kurz, schlug ein Buch auf und blätterte bis zu einer bestimmten Seite. Dann begann sie zu lächeln.
„Das war genau vor zwölf Jahren. Leider ist es schon so lange her. Erkennst du jemanden?“, fragte sie mich und zeigte mir das Bild. Es war für sie etwas Besonderes. Woran man das erkannte? Nun ja, das Foto hatte gestrahlt und war goldumrandet gewesen. Wenn es schon so alt war und noch immer aussah als wäre es gestern geschossen worden, so musste es jemanden am Herzen liegen. Es war ein magisches Bild, denn wenn man es berührte, empfand man den Moment noch einmal, an dem es gemacht wurde. Man roch dann wieder den Duft, der in der Luft lag und spürte die Berührung der Person neben einem.

„Berühre es!“
Langsam näherte ich mich dem Bild und strich über die Oberfläche. Dann zwang es mich die Augen zu schließen. Es roch nach frischer Jasmin und es war etwas laut, weil alle durcheinander redeten.
Eine große Ansammlung von Elfen, Zwergen und anderen Wesen, die lachten, schrien und redeten während sie eine Gruppe bildeten, standen plötzlich hinter mir. Ich spürte auf meiner rechten Schulter eine Hand, und eine sanfte, wohlklingende Stimme redete mit mir.
„Ganz ruhig! Das ist nur ein Foto. Du brauchst keine Angst zu haben!“
Die Hand dieser Frau strich über meine Haare, wie als ob sie bemerkt hatte, dass mein Herz schnell pochte.
Ich selbst konnte nicht beeinflussen, ob ich lachte, weinte oder Angst hatte. Wie, als wäre ich in diesem Körper nur der Gast wäre, um das Geschehene zu beobachten.

Ohne, dass ich es wollte, sagte ich etwas zu ihr, mit einer kindlich hohen Stimme und sie kniete sich noch schnell vor mich. Sie leuchtete hell und ihre langen, blonden Haare fielen ihr über die Schulter.
Wie die Sonne selbst reflektierten sie die Strahlen, die an diesem herrlichen Tag auf die Anhöhe der Wiese schienen, und ihre hellblauen Augen waren so schön wie der Horizont, an dem sich ihre Patin, die Sonne, mit dem Mond, ihrem Gatten, traf.

„Mama? Lass mich nicht allein, bleib da!“, sagte ich ohne es zu steuern.
Das Mädchen musste die Tochter von ihr sein. Die Tochter dieser engelsgleichen Gestalt. „Ich bin ja da, Schatz! Immer wenn du mich brauchst!“, tröstete sie mich, das kleine verstörte Mädchen vor ihr, und gab mir einen Kuss auf die Wange. Dann blitze ein helles Licht auf und ich wollte sie wieder sehen, diese Frau, doch diesmal gab etwas die Sicht nicht mehr frei und es wurde finster. Alles war verschwunden und ich saß wieder vor der Direktorin auf dem Stuhl.

Ich weinte bittere Tränen. Adra hatte sich zu mir gesetzt und mich getröstet. Ihre Berührungen waren wie die Seile, die mich hielten, bevor ich in eine endlos tiefe Schlucht stürzte. Das war der Augenblick in dem ich die Welt, in der ich bisher gelebt habe, anzweifelte, einfach, weil ich es nicht fassen konnte.
Es war meine Mutter gewesen.
Ihre weiche Stimme war die gewesen, die manchmal in meinem Kopf herumschwirrte. Bisher hatte ich mir deswegen nicht so viele Gedanken gemacht, doch jetzt schien es mich zu zerfressen.

„Shayia, das bist du auf dem Foto! Und die große, wunderschöne Frau hinter dir war Selina, die Königin von Avana und Ceartly Branch. Und sie war deine Mutter.“

Das Foto hatte ich nie aus den Augen gelassen, weil ich Angst hatte, dass man mir diese eine Erinnerung wieder nahm.
Der einzige Moment, den ich mit ihr verbrachte und den ich miterleben konnte. Meine ganze Vorgeschichte vor der Akademie, meine Kindheit, von meiner Geburt bis zur Ankunft hier, hatte ich mir nichts über sie gemerkt. Ich hatte einfach alles vergessen. Dafür würde ich mich aus Verzweiflung selbst schlagen. Warum? Ich wollte es doch nicht; nie hätte ich die Gedanken und Eindrücke von und über sie verdrängen wollen. Doch es war geschehen.
Und dann hatte ich dieses Foto gesehen, die Liebe, die sie ausstrahlte, die Geborgenheit, die ich gefühlt hatte, als ich sie sah. Ich wusste im Herzen, dass sie es war. Und von ihrem Antlitz hatte ich in mein eigenes gesehen. Das glückliche Kind, das vorher noch Angst gehabt hatte und nun lächelte.
Sie musste wunderbar als Mutter gewesen sein.

Eveluna


8. Kapitel


„Ich glaube, dass bei emotionsgeladenen Situationen, der Engel in dir erwacht!“, sagte sie und drehte sich zu ihrem Regal um. „Aber warum nur dann? Ich meine warum bin ich nicht auch so ein Engel?“, fragte Shayia ein wenig eingeschnappt.
Adra suchte nach etwas während der Wind mit ihren schulterlangen, haselnussfarbenen Haaren spielte.
„Das weiß ich leider nicht“, gab sie ihr als einfache Antwort. Noch immer stand sie vor dem Regal, mit dem Rücken zu Shayia, und kramte nach etwas.

Enttäuscht blickte Shayia auf den Boden. Da fiel ihr ein, dass sie Naab die Tasche noch immer nicht gegeben hatte. Sie hob die Ledertasche auf und legte sie auf ihren Schoß. Dann öffnete sie sie. Shayia wusste, das es Unrecht war, trotzdem entschloss sie sich nachzusehen. Sie öffnete den Lederbund und schlug den oberen Teil über die Tasche. Zum Vorschein kamen ein Buch und etwas zu essen, dass jedoch schon längst verdorben sein müsste.
Sie öffnete den blauen Schutz der Nahrung und Shayia sah einen unversehrten Leib Brot.

Nebelglockenblumen. Woher wusste er das? Das haben wir erst in Magischer Kräuterlehre durchgemacht. Die machen alles über mehrere Monate haltbar.

Verwundert sah sie es an und legte es dann beiseite,
„Hier habe ich ein Buch, das eine meiner früheren Schul- und Studienkolleginnen geschrieben hat. Der Titel des Buches ist Eveluna. Vielleicht kennst du es ja schon, so lang wie du immer in unserer Bibliothek gewesen bist!“, sagte Adra und hielt ihr das Buch hin. Es hatte einen violetten, samtenen Einband und eine goldene, verschnörkelte Schrift auf der Vorderseite, auf der geschrieben stand:

Eveluna
von Nanami Zuzoki

„Nein tut mir leid, das kenne ich noch nicht. Sollte ich?“, fragte Shy und sah Adra an, die sich nun gegenüber von ihr hinsetzte. „Nein, es ist keine Schande, aber gerade für dich wäre es vielleicht interessant, es zu lesen. Nanami hat sich auch Notizen in das Buch gemacht. Es war ihres“, erzählte sie und räumte ihren mahagonifarbenen Schreibtisch auf. „Sie war auch ein zwiespältiges Wesen, so wie du, zwischen den Welten Zuhause, keine richtige Heimat. Alles, was sie damals empfand, schrieb sie auf und das hier“, sie zeigte auf das Buch, “ ist ihre Geschichte.“

Shayia sah es sich voller Erstaunen an und nickte dann.
„Ist sie schon gestorben?“, fragte Shy, weil sie sich nicht sicher war.
„Nani wurde umgebracht. Es war ein sehr trauriger Tag für uns alle, auch für deine Mutter. Wir waren damals, als wir so alt waren wie du, vielleicht auch ein bisschen älter, unzertrennlich. Es brach uns das Herz, sie sterben zu sehen.“, erzählte ihr Adra und seufzte.
Verstört blickte Shy von Nanis Buch zu Adra, und wieder zurück.
„Aber wie konnte sie es damals fertig schreiben? Wenn sie schon gestorben war?“
-„Deine Mutter und ich ergänzten die letzten Seiten, die fehlten.“

Als man ihre Frage beantwortet hatte, schien sie als würde sie noch etwas quälen. „Nur wer hat oder warum wurde sie…? Hatte sie etwas falsch gemacht? Jemanden beleidigt? Gegen ein Gesetz verstoßen?“, fragte Shayia. Adra schüttelte leicht den Kopf.
„Nein, sie war immer die Stillste von uns“, sagte sie und lächelte gequält um ein paar Tränen zu überspielen, “Als wir sie fragten, sagte sie nur, das es an ihren Eltern liege. Schattenwesen und Erdenelfe vertrage sich nicht sonderlich.“, antwortete sie auf Shys Frage, „Nur damals haben wir darüber gelacht, jetzt verstehe ich sie. Ihre Mutter war nach ihrer Geburt in eine Sekte im Schattenreich eingetreten. Dort verlangte man, dass sie für immer in der Unterwelt bleiben musste und somit Nani zurücklassen.
Aber das wollte sie nicht. Sie flüchtete zurück nach Ceartly Branch, doch man fand sie und Nani.
Hier, in diesem Zimmer, starb ihre Mutter durch die Klinge ihres Mannes. Man sagte, er stand unter einem Bann. Und als Nani in ihr Zimmer ging, wurde sie auch von ihrem Vater ermordet“, seufzte Adra, „Deine Mutter und ich waren direkt nebenan gewesen. Wir hätten sie retten können, aber als wir sie schreien hörten, war es zu spät.“

Shy sah das Buch an, während Adra mit ihr sprach. Sie merkte, dass sie abschweifte und plötzlich saß sie auf einem alten Stuhl an einem veralterten Schreibtisch, auf dem eine Kerze flackerte, die ganz allein den großen Raum erhellte.
Das Buch, welches sie vorher noch in den Händen gehalten hatte, lag vor ihr.
Draußen war es schon dunkel geworden und die Kerzenflamme flackerte kurz heftig auf und dann wurde sie klein. Die Tür war aufgeflogen und ein muskulöser Mann stand vor ihr und hielt ein schwarzes Schwert in der Hand. Es triefte vor Blut, Blut ihrer Mutter, das Nanis Zimmerboden befleckte.
Aus Shys Mund kam, wie auch schon bei dem magischen Bild, Wörter, die ganz von allein aus ihr drangen, mit einer völlig fremden Stimme.
„Vater? Was machst du hier? Vater?“, fragte sie, zuletzt schon ein wenig verängstigt, doch er antwortete nicht.
Sie schrie um Hilfe, doch es kam niemand. „Nanami, komm zu mir!“, sagte er, aber es war unecht, doch Nani schien erleichtert und ging auf ihn zu um ihn zu umarmen. In diesem Augenblick zückte er sein Schwert und rammte es ihr, während ihrer Umarmung, in den Bauch. Plötzlich wechselte Shys Sichtweise und sie stand neben dem Monster. Nanis Augen wurden leer und ihr Griff erschlaffte. In dem Moment flog die Tür hinter ihm auf und die junge Adra und Shys Mutter Selina stürzten ins Zimmer und sahen sie auf dem Boden liegen.

Ihr Vater hatte sich schon längst aufgelöst. Ihre letzten Wörter, die Nani erstickt flüsterte, waren: „Warum, Vater?“.
Dann starb sie in den Händen der zwei jungen Mädchen.
Das war die letzte Szene die sie noch sah, dann landete sie auf Adras Stuhl und sah verschreckt auf.

„Ich wollte ihn aufhalten, aber ich konnte nicht“, stammelte Shy und weinte.
Adra blickte sie an und schlug die Hände ineinander.
„Wie wolltest du sie aufhalten? Es ist mindestens schon 30 Jahre her, wenn nicht länger!“
Shy sah sie nicht an, sondern blickte auf den Boden.
„Warum hat er sie getötet? Ich meine, welcher Bann ist so stark, dass er die Vaterliebe erlöschen lässt und ein Monster aus einem macht?“
Eine kurze Stille, bis Adra das Wort ergriff.
„Er war immer ein Monster gewesen, Shayia! Doch er hatte einen Makel, den ihm nie jemand verzieh. Er konnte lieben. Normalerweise können das Schattenwesen nicht. Nur jeder hundertste ist dazu in der Lage. Durch den Eintritt seiner Frau in diese Sekte, hat man ihn als ganz und vollwertig akzeptiert. Nur deswegen ist Nanis Mutter in diese Sekte eingetreten! Um ihm zu helfen. Doch das kostete sie und ihrer Tochter das Leben.“

„Aber warum? Ich meine, jetzt tut er schon alles, um so zu sein wie alle anderen und dann löscht er seine Familie aus! Das verstehe ich nicht!“, sagte Shayia.
„Wer versteht schon Schattenwesen, außer ein Schattenwesen selbst?“, fragte Adra bitter.
Shy überlegte kurz, entschloss sich dann, es ihr zu erzählen.
„Ich dachte, zuerst bei dem magischen Bild, das es normal ist, den Moment noch einmal zu sehen, doch als ich das Buch in den Händen hielt, sah ich den Moment, in dem Nani starb. Ich stand neben ihr! Das ist mir noch nie zuvor passiert. Zuerst dieses Bild, in dem ich zum ersten Mal meine Mutter sah und dann unwillkürlich diese grausame Szene. Was passiert mit mir?“, sagte sie mehr zu sich selbst als zu Adra.
Ihre Direktorin sah sie nur nachdenklich an, wartete aber noch, als ob sie wüsste, dass Shayia noch etwas sagte.
„Kann es sein, dass es deswegen passiert, weil ich zur Hälfte ein Engel bin?“, meinte sie und in dem Moment, als sie es ganz aussprach, nickte Adra.
„Ja, es hat sehr wohl etwas damit zu tun. Engel sind die Nachfahren von den Boten Gottes, und besitzen Kräfte, die es ihnen ermöglicht, die Hintergründe eines Wesens oder Gegenstands zu erforschen, wenn sie es wollen. Dinge, die anderen Wesen verborgen bleiben, kann ein Engel mit seinen Kräften für sich sichtbar machen. Anscheinend warst du gerade sehr neugierig und das Buch offenbarte dir alles“, erklärte Adra und hatte Richtung Ende ein Schmunzeln auf den Lippen.

„Woher wissen Sie das alles? Sind Sie etwa ein Engel?“, Shayia wäre erstaunt, wenn dies der Fall wäre.
Doch Adra war wieder in ihren eigenen Gedanken versunken und zündete die Kerze vor ihnen an. Der Raum hatte sich in kürzester Zeit verdunkelt, oder kam es ihr nur so vor? Sie musste schon Stunden hier sitzen und mit Adra reden. Aber sie hatte Naab versprochen mit ihm Abend zu essen.
„Du musst gehen, nicht wahr? Die starken Schwingungen, die von dir ausgehen, sind nicht zu übersehen.“, sagte Adra, ohne sie einmal anzusehen. Shayia nickte, gab aber keinen Laut von sich und stand auf.
„Meine Tür steht immer offen, wenn du noch Fragen hast.“

Erinnerung


9. Kapitel

Erst, als sie die Tür von der Direktion schloss, merkte sie, wie höllisch ihr Kopf schmerzte. Es pochte so stark, dass sie sich an einer der nächsten Säule stütze, die den Weg zum Schulhof säumten.
Doch anstatt der Erleichterung durch das kurze Anlehnen, fiel sie plötzlich in ein schwarzes Loch, in ihre Gedanken.

Nein nicht jetzt! Genug für heute! Lass mich, ICH BIN NICHT NEUGIERIG!



Schrie sie in Gedanken, doch es half ihr wenig.
Es gab hier wohl etwas Wichtiges zu sehen, doch ihre Gedanken waren zu verschlossen und zu versteift darauf freizukommen, als dass sie sich darauf einlassen konnte.
Deshalb fiel sie und fiel, es schien wie ein dunkles Fass ohne Boden. Dann rang sie sich durch, sich noch einmal zu konzentrieren. Auf einmal stand sie and der gleichen Stelle wie vorhin, doch es war taghell und dieser Mann, von vorhin, stand nun neben ihr und hielt ein kleines Kind fest. Es war das Mädchen aus dem Foto.
Erst auf den zweiten Blick erkannte sie sich selbst. Nur warum erinnerte sie sich nicht daran, dass dieser Muskelprotz mit den riesigen, schwarzen Schwingen und den schwarzen Schwert vor ihr stand und sie festhielt?
Sie kochte vor Wut, wollte ihn anschreien, schlagen, verscheuchen, doch er machte keine Regung, nahm sie nicht wahr.
„Lass mich! Was willst du? Mama!“, schrie die Kleine und das Shy nur zusah und nichts tun konnte, machte sie noch wütender. Sie schrie, dass der Dämon sie in Ruhe lassen soll, doch wieder hörte er sie nicht.
„Schrei nur nach deiner Mutter, das ist das Letzte was du tun kannst, kleine Prinzessin!“, sagte er Dämon mit einem selbstgefälligen Grinsen auf den Lippen, als er ihr die riesige Krallenhand auf die Stirn legte.

Rote Stahlen umschlungen das kleine Mädchen und sie ließ ihre Arme sinken.
„Wenn du stirbst, geht deine Mutter mit unter!“ , sagte er ihr ins Gesicht und genoss, wie die sie starb.
Shayia rastete aus, Zornestränen stiegen ihr in die Augen und sie schrie, schrie sich die Seele aus dem Leib. Es solle doch wer kommen, schrie sie.
Genau in dem Moment, als ob sie jemand gehört hatte, kam eine junge Frau auf sie zugerannt und der Dämon verschwand in einer Rauchwolke.
Die Kleine war schon bewusstlos geworden, als die junge Frau, die sich als Adra herausstellte, sie aufhob und wegtrug.

Shy dachte, es wäre nun zu Ende, aber einen Moment später stand sie im Heilsaal vor Klein Shayias Bett, bei dem auch Adra saß und ihre Hand hielt.
Als die Kleine die Augen öffnete, lächelte Adra und ging zu Lady Sierra, die damals noch Betreuerin der Kranken war.
„Wo bin ich?“, fragte die Kleine.
Und Shayia begriff, dass er ihr, Shys früheren ICH, die Erinnerung gestohlen hatte. Ob Absichtlich oder nicht, es war geschehen.

Aber wie alt war die Kleine? Lebte ihre Mutter damals noch? Was war geschehen?

„In ihrem jetzigen Zustand ist es wohl besser, wenn sie noch eine Weile hier bleibt und dann sofort nach Hause geschickt wird. Hier ist sie nicht sicher!“, sagte Adra zu Lady Sierra gewandt.

Die Betreuerin nickte und verschwand in der Tür zu den Medikamenten und Tränken. Adra kam nun wieder zu klein Shy zurück und setzte sich zu ihr. Shy sah wie rührend sich Adra damals um sie gekümmert hatte und fragte warum sie sich nicht daran erinnerte.
Etwas müde setzte sich Shayia auf den Stuhl neben ihrer kleinen Ausgabe

Die Tür ging wieder auf und Sierra kam mit ein paar kleinen Fläschchen zurück, worauf die kleine ängstlich drein sah, doch Adra lächelte wieder freundlich.
„Es wird dir nichts passieren! Wir wollen nur wissen ob es dir wirklich gut geht!“, sagte sie freundlich.

Gespannt sah auch Shayia dem Ganzen zu. Sierra öffnete ein kleines dunkles Fläschchen und träufelte etwas von dem lilafarbenem Inhalt auf ein Tuch. Es sah nicht gerade vertrauensselig aus als Sierra es auf die Schläfen der Kleinen einmassierte. Nach einem kurzen Moment, indem die Kleine in ihren Träumen versank, stoppte Sierra die Bewegung und blieb ganz ruhig.
Auch sie hatte gerade die Augen geschlossen.
Das Bild sah etwas merkwürdig aus und Adra wirkte wie eine Vertraute, eine Mutter, die bekräftigend an ihrer Seite saß.
Immer wieder musste ich gähnen, es passierte fast nichts außer wenn sich das kleine Mädchen, das neben mir lag, manchmal in der Schlaftrance bewegte. Nach einiger Zeit, die ich auf eine halbe Stunde schätze, ließ Sierra von ihr ab und stellte sich an ihr Bettende. Jetzt sah sie aus, wie eine Ärztin in der Stadt, die sich gerade die Werte ihrer Verletzung durchlas.

Sie sah etwas benommen drein, als sie sich von Adra zu ihrer Rechten und klein Shy zu ihrer Linken wandte.
„So wie ich das sehe, stahl er ihr jegliche Erinnerung an ihr Heim, vor allem an Selina. Ich konnte nichts entdecken was für sie Nachwirkung haben sollte, aber auch keinen Gedanken oder Zweige, die mit ihrer Mutter verbunden waren. Anstatt dessen hat er ihr falsche Erinnerungen in den Kopf gesetzt. Genau kann ich es nicht sagen, aber alles was mit den ausgelöschten Erinnerungen verbunden war ist nun unwiederbringlich verloren! Wenn sie aufwacht, wird sie glauben, sie ist Halbwaise! Aber was mich mehr beschäftigt ist, wer oder was das war und warum er ihr nur diese Erinnerung entrissen hatte. Das Wesen hätte sie genauso gut umbringen können!“
Verzweifelt sah Sierra Adra an.
„Es ist Krieg, meine Liebe. Da passieren die Schlimmsten Dinge ohne Grund.“, antwortete Adra knapp.
„Das heißt wir schicken sie ohne Erinnerung nach Hause?“, fragte Sierra emotionslos. Adra nickte und stand auf.
„Das kann gefährlich für ihre Familie sein, Adra! Das weißt du so gut wie ich. Wir sollten sie hier behalten und ihr wenigstens zeigen, wer ihre Mutter ist. Wenn sie nicht einmal weiß, wie sie aussieht?“, schrie ihr Sierra hinterher. Doch diesmal hatte Shayia das Gefühl, das sie es wirklich bedrückte.
„Sierra, ich weiß das du immer nur das Beste für sie willst, aber sie braucht ihre Familie jetzt umso mehr! Wir schicken sie zurück nach Avana! Ich wünsche dir noch einen schönen Tag!“, sagte sie bestimmt und freundlich zugleich. Sie war so wechselhaft wie das Herbstwetter, dachte sich Shayia.
Sierra legte ihre weiße Schürze ab und verließ den Raum durch die Tür, hinter dem Vorhang.
Jetzt waren sie allein, die Kleine Shy, die ruhig in ihren Träumen schlummerte und die 15 jährige die entsetzt da saß und versuchte, zu verkraften, was sie gerade gehört hatte.

Die Ruhe vor dem Sturm


10. Kapitel

„Ich habe sie gekannt! Und ich machte mir immer Vorwürfe, aber auch wenn ich es ändern wollte, könnte ich es nicht. I ich, Naab, ich kann das einfach nicht fassen!“, schrie sie hysterisch in Naabs Zimmer, als sie auf und ab ging, während er vor ihr am Bett saß.
„Cool down, Shy. Was geschehen ist, ist, leider, geschehen. Keiner von uns kann es jetzt noch ändern.“, sagte er in ihre Richtung, als sie wieder am Fenster vorbeiging, um sie zu beruhigen.
„Nein, das kann ich nicht! Eigentlich hast du ja Recht, aber ich weiß nun wer uns das angetan hat. Und ich werde meine Mutter rächen. Sie ist nicht umsonst gestorben! Ihr Tod soll zum Frieden der Völker führen, das weiß ich! Und wenn es sonst keiner tut, dann bringe ich alles wieder in Ordnung! Kannst du denn nicht verstehen, wie es mir geht?“, fragte sie plötzlich traurig, ohne dass Naab sich darauf einstellen konnte und ließ sich auf das Bett, neben ihm, fallen.
Er antwortete nicht, sondern sah aus dem Fenster und beobachtete wie die Sonne hinter den Hügeln wieder langsam in den Himmel stieg. Er war müde gewesen als Shy ins Zimmer stürmte und ihm ihr Herz ausschüttete, doch jetzt würde er kein Auge mehr zubekommen.
Er sah sie an und beobachtete wie sich ihr Brustkorb regelmäßig hob und senkte. Sie war eingeschlafen.
Naab musste lächeln. Es war mucksmäuschenstill im Zimmer geworden, als einzelne Strahlen durch das Fenster ins Zimmer fielen und es erhellten. Naab stand auf und öffnete es leise, um sie nicht zu wecken, setzte sich auf das Sims und betrachtete die Vögel und Schmetterlinge. Sie zogen ihren weg durch den Wald, der sich vor ihm erstreckte. Es war ein wunderschöner Samstagmorgen, schon der zweite, den er hier verbrachte. Er fühlte sich zwar nicht von allen akzeptiert, aber er war unglaublich froh, schon jetzt so jemanden wie Shayia kennen gelernt zu haben.
Ja Shy, die sich für ihn sogar gegen ihre beste Freundin stellte.
Ich kann sie verstehen. Mir geht es genauso! Aber ich hatte nie so eine Familie, die mir alles geben konnte, was ich wollte.
Naab seufzte.
Sie wird ihn jagen, womöglich auch töten. Und was passiert während dem? Lässt sie alles im Stich? Ihre Heimat, ihre Familie, ihre Freunde? Ich mache mir Sorgen um sie!

Und das war der Punkt, an dem Naab endlich bemerkte das sein Leben nicht sinnlos war und das erste Mal an dem er Gott dankte. Den gleichen Gott, den er bisher nur beschimpft und verachtet hatte.
Shayia wusste ja gar nicht, wer er wirklich war, wie sein Leben bisher gewesen war. Und so sollte es auch bleiben, denn er hatte nicht vor, es ihr zu erzählen.
Nach diesen Gedanken, die er nun verdrängte, war die Sonne schon so intensiv auf seiner Haut, dass er sich vom Fenstersims abwandte und das Zimmer verließ.

Christobal, ein Junge mit schwarzem, längerem Haar, stand im Hof und hatte sich mit geschlossenen Augen gegen die Hauswand gelehnt. Ein Fuß gegen die Fassade gestemmt, die Hände in den Taschen des schweren schwarzen Mantels, stand er da, als wäre er frisch vom Kopfgeldjäger Basar.
Naab polterte neben ihm die Stiegen vom Jungenhaus hinunter und nahm ihn nicht wahr.
„Hey Nääsly! Schon wach?“, fragte er ihn gehässig.
Naab warf ihm einen verächtlichen Blick zu und antwortete: „Nenn mich nicht so! Ja, falls du nichts dagegen hast!“
Seine Stimme war voller Zorn und Hohn.

Christobal zog eine Augenbraue in die Höhe. „Wie soll ich dich denn nennen? Naab? So wie deine kleine Freundin Shayia?“, setzte er an, aber da war Naab schon in einem Waldweg verschwunden. Der dunkelhaarige Junge mit den düsteren Gewand sah sich um, akzeptierte die Tatsache, dass er schon weg war, lehnte sich wieder gleichgültig gegen die Hausfassade und schloss die Augen.

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Die Luft heizte sich auf und ein großer Lichtstrahl fiel auf Shy, die noch über die Breite von Naabs Bett lag und schlief. Ihre Wimpern zuckten bis sich dann das Lid anschloss und sie schließlich die Augen öffnete. Shy musste ein paar Mal blinzeln bis sie sich aufsetzte und verschlafen drein sah. Dann bemerkte sie, dass das nicht ihr Bett war und dass sie allein war.
„Hey? Ist noch wer hier? Naab?“, fragte sie schüchtern und stand auf. Kurz war ihre Sicht verschwommen aber dann erkannte sie Naabs Zimmer.
„´morgen Langschläfer!“, sagte eine vertraute Stimme außerhalb des Zimmers. Als Shy sich zur Tür wandte, ging sie auf und ein junger Elf stand in ihr.
„Christobal! Was willst du hier?“, fragte sie genervt.
Er trat einen Schritt in den Raum.
„Nur nicht zickig sein, Shy!“, sagte er und schlug die Tür hinter sich zu. Automatisch ging Shayia ein paar Schritte zurück, bis sie mit dem Rücken am Fenster anstieß.

„Hast du meine Frage nicht verstanden, Chris?“, fragte Shayia schon ernster und grub die Fingerspitzen ins Fenstersims. Christobals dunklen Haare umspielten sein ausgemergeltes Gesicht und ließ trotzdem erkennen, dass er einige Jahre älter war als sie.
„Gute Frage. Ich dachte, du bist vielleicht einsam.“, antwortete er ihr und kam ihr aufdringlich nahe.
„Und wie kommst du darauf?“
„Ich habe gesehen wie Nääsly die Stiegen hinunter rannte und dachte er wäre vielleicht zornig. Als sich ihn fragen wollte, war er ein bisschen gereizt. Dann verschwand er im Wald. Konnte ja sein, dass du getröstet werden willst. Jetzt bin ich hier.“, flüsterte er ihr ins Ohr. Shy wollte sich wehren aber sie konnte nicht, weil er ihre Handfesseln fest hielt.
„Wir würden uns nie streiten, haben wir auch nicht! Und von DIR will ich gar nichts außer dass du, “ begann sie aber er hielt ihr den Mund zu.
„Leise kleine Prinzessin, sonst hört dich noch wer!“
Sie wollte sich aus seinem Griff befreien, aber er war stärker. Plötzlich flog die Tür auf und Naab stand fassungslos im Zimmer. Shayia nutzte den Augenblick der Ablenkung und befreite sich aus seinem Griff, trat ihm auf den Fuß. Als er seinen Kopf vor Schmerzen senkte, brach sie ihm die Nase mit ihrem Knie.

Wut bäumte sich in ihm auf und er zerrte Christobal von Shy weg, die ängstlich nach Luft rang. Naab kämpfte mit Chris und schwächte ihn mit jedem Hieb, der ihn in die Nieren traf. Dabei musste er selbst viele Schläge einstecken. Shayia war geschockt von der Tatsache, dass Christobal so etwas tat und von dem aggressiven Naab, der vor ihren Augen auf Chris einschlug. Sie setzte an und rannte, mit den Tränen kämpfend, aus dem Jungenhaus direkt in den Wald. Nach den stacheligen Rosensträuchern, von denen sie sich die Arme blutig zerkratzte, hörte sie das beruhigende Plätschern des nahen Flusses. Er floss neben dem Weg zur Schule entlang. Verstört kletterte sie den kleinen Abhang hinunter und setzte sich unter einen großen, Schattenspendenden Zweig. Seine saftig grünen Blätter hielten das Sonnenlicht ab.
Sie sah die immer währenden Bewegungen des Flusses. Wie er an ihr vorbei floss.
Tränen kullerten ihre Wangen hinab und befeuchteten ihr weißes Blusentop.

Was ist nur mit ihm? Warum tut er Christobal so etwas? Wo war er? Warum quälen mich diese Fragen nur so? Vielleicht, weil niemand hier ist, um sie mir zu beantworten. Niemand dem ich es erzählen kann. Außerhalb von hier bin ich sowieso nur eine Puppe. Was mache ich mir vor? Meinem Vater bin ich seit der Ankunft von Herlana egal, sein neues Liebchen ist seine Stieftochter Quinn. Ich bin nur dort, um anwesend zu sein und ein schönes Kleid zu tragen. Die einzigen die davon profitieren, sind die Hofschneider, deren Einnahmen steigen, wenn ich ihre Kleider trage. Also wo glaube ich immer zu stehen? Meine einzige Familie war Elena, die ich nun auch verloren habe.

Sie weinte und schloss die Arme um ihre Knie. Der Fluss war das einzige, was sich bewegte. Abgesehen von ein paar Blättern in den Baumkronen über ihr, wo eine Böe an ihnen zog.

Du bist wie die Zeit. Du fließt, bleibst nie stehen und wer versucht gegen den Strom zu schwimmen, wird ertrinken. Ich muss mit dir ziehen. Aber wohin führst du mich?

Sie blickte auf. Hinter ihr rannte jemand den Weg zu den Schulflügeln entlang. Sie drehte sich um und drückte leise einen Ast vor ihr zur Seite, der die Sicht auf den Kiesweg versperrte. Ein groß gewachsener Elf mit einem schwarzen Mantel bog in den Schulhof und verschwand aus ihrem Blickfeld.
Voller Hass und Verachtung drehte sie sich wieder um und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Rot und verweint saß sie da, beobachtete einzelne kleine Vögel, die spielend von Blätterdach zu Blätterdach flogen.
Langsam beruhigte sie sich und bemerkte, dass ihre Arme stachen und brannten. Blut tropfte auf den Erdboden. Einzelne rote Flecken zierten auch ihr Gewand. Aber es war ihr egal. Ein paar zerbrochene Hölzer, die den Boden bedeckten, zerbarsten. Naab kam humpelnd den Weg entlang und stöhnte leicht bei jedem Schritt. Bevor er an Shayia vorbei war, wollte sie den Ast wieder zur Seite schieben, doch diesmal brach er entzwei.
Shy regte sich nicht, aber Naab hatte sie schon entdeckt. Sie stand auf, bereit zu laufen, doch ihre Füße wollten sie nicht tragen. Als Naab kurz vor ihr war, bemerkte sie erst, wie zugerichtet er war. Sein Arm sah aus, als wäre er ausgekugelt, sein Nasenbein gebrochen und sein Gesicht bis über beide Wangen blutig.
„Es ist alles in Ordnung, Shy!“, sprach er mit sanfter Stimme. Sie blieb stehen und begann zu schluchzen. „E-es ist alles meine Schuld! E-es tut mit so leid!“, stotterte sie und wieder begannen sich ihre Augen mit Tränen zu füllen. Er ging auf sie zu und schloss sie in seine Arme. „Das Wichtigste ist, dass dir nichts passiert ist! Ich hätte das nie von ihm gedacht! Das ist so, als wäre ein Bett plötzlich aus spitzen Steinen. So schnell kann man sich täuschen!“, sagte er und hielt sie fest.
„Ich werde dich beschützen!“, flüsterte er ihr ins Ohr, „ Du bist die einzige Familie die ich noch habe. Die ich jemals hatte!“
Shy nickte und ihre Tränen versiegten langsam.
Dann ließ sie von ihm ab und wischte sich die nassen Spuren endgültig aus dem verweinten Gesicht.
„Wir müssen uns beeilen! Wenn er Lady Sierra Bescheid gibt, was passiert ist, dann bist du dran!“, meinte Shy. Naab verstand kurz nicht was sie meinte und sah verwirrt drein.
„Sie ist rassistisch und feindlich gegenüber Mischblütlern oder Evelunas. Glaub mir, wenn wir beide da drin hängen, wird sie es nicht als Rauferei abtun. Sie wird daran herumzerren, bis wir alt sind!“, meinte sie außer Atem, als sie zum Schulhofeingang rannten, „Wir haben noch ein wenig Zeit. Deine Verletzungen sollten untersucht werden!“, sagte sie leise. Beide schlichen keuchend zum Eingang und blickten langsam in den Hof. Niemand war dort. Dann drehte sich Shy zu Naab um, der hinter ihr stand und sich seinen pochenden Arm hielt.
Der Schmerz war ihm ins Gesicht geschrieben.
„Shayia?“, fragte er, um ihre Aufmerksamkeit zu bekommen, „Meinem Arm geht es gut. Hier können wir nicht bleiben, dass weißt du. Und Christobal wird im Heilsaal sein, also kann ich mich hier nicht behandeln lassen. Geh hinauf und pack deine Sachen zusammen. Nur das Nötigste, dann lass uns von hier abhauen.“, sagte er und sah ihr tief in die Augen. „Es muss sein!“
Sie sah zu Boden, ihr Blick verfinsterte sich und sie stimmte zu.
Nach diesem Gespräch teilten sich ihre Wege:
Naab, der seine einzige Tasche aus seinem Zimmer holte und Shayia, die schnell die Stiegen im Mädchenhaus hinauf rannte und ihre Sachen zusammen packte.
Sie war verwirrt und ein bisschen spürte sie Angst in ihr aufkeimen. Sie wusste nicht, wohin sie jetzt gehen sollten oder was jetzt passieren würde. Diese Ungewissheit war erdrückend. Schnell, dachte sie, während sie Gewand in eine Tasche stopfte, schneller, wir haben keine Zeit. Dann hängte sie sich die Tasche um und verließ ihr Zimmer. Einen Blick noch wagte sie in ihren Schlafraum, wo sie selbst schon so viel erlebt hatte. Die vielen Abende mit Elena, die ausgelassenen Geschichtestunden. Das alles und noch viel mehr würde ihr fehlen. Aber wo war Elena hin verschwunden? Ihr Charakter hatte sich im Grundstein verändert, und somit auch die Beziehung zu Shy. Es war vorbei. Dieser Ort war nicht mehr ihr Zuhause. Vielleicht war es nicht ganz Naabs Schuld, denn diese Veränderung hatte Shayia schon früher gespürt. Sie hatte gewusst, dass etwas geschehen würde. Doch dass es ihr Leben so sehr beeinflussen würde, hätte sie nie gedacht.
Auf Wiedersehen, war ihr letzter Gedanke, als sie die Zimmertür schloss.

Die Flucht


11.Kapitel

Shayia warf alle Sachen um sich, riss die Gewänder aus den Kommoden und suchte nach etwas. >>Wo ist sie? <<, fragte sie verzweifelt als sie auf eine etwas kleinere Tasche am Boden des großen Holzschrankes stieß.

Sie atmete erleichtert auf und ein Lächeln huschte über ihre Lippen. Sie wandte sich ihren Schubladen zu, riss sie auf und warf alles hinaus, dass sie zu greifen bekam. Unter anderem auch das Buch, das ihr Adra gegeben hatte. In ihrem Kasten, der rechts daneben war, zog sie ein duzend, in Nebelglockeblumen gehüllte Brote heraus und packte sie, mit dem dicken Buch in die Tasche. Es war eigentlich ein Wunder, das dort alles hineinpasste. Dann sah sie sich noch einmal um, packte ihren dunkelbraunen Umhang und befestigte ihn mit zwei silberfarbenen Spangen an ihr dunkelgrünes Jagdkleid. ’Das wird wohl das Beste sein.’, dachte sie und verließ das Zimmer zügig. Langsam und behutsam schloss sie die Zimmertür hinter sich und schlich das Stiegenhaus hinunter. Als sie unten angekommen war und sie umsah, bemerkte sie Naab, der an der Hausecke stand und auf sie wartete.

>>Du warst aber schn-<<, sagte Shy doch Naab unterbrach sie und zog sie an der Hand weg. >>Wir haben keine Zeit! <<
Hinter ihnen hörten sie kurz darauf Geräusche, die sie zu Eis erstarren ließ. Türen flogen auf und Elfen schrien ihre Namen zwischen Gesprächsfetzen die etwas mit finden und einsperren zu tun hatten.
Naab sah sich um während Shy nur im sich blickte und nach einem Ausweg suchte.
>>Steig auf, schnell! <<, schrie ihr Naab hinter der nächsten Ecke zu. Sie lief zu ihm und sah wie er auf ein Pferd aufsaß, weder mit Sattel noch mit Halfter. Sie schluckte, weil sie wusste, dass das ein unangenehmer Ritt werden würde. Doch als die Stimmen hinter ihnen lauter wurden, verwarf sie die Gedanken und sprang auf eine Holzkiste neben ihnen und dann weiter auf den Rücken des Pferdes.
>>Ich hoffe doch du kannst reiten! <<, sagte sie ängstlich als sie realisierte, das es zum Erdboden ungefähr eineinhalb Meter waren. Schwer schluckte sie, denn sie hatte Höllenangst.
Naab klammerte sich an die langen Haare des Hengstes und gab ihm mit den Stiefeln einen kleinen Klaps in den Rumpf. Shy hatte keine Zeit sich auf den Start einzustellen, da er galoppierte.
In die entgegengesetzte Richtung ihrer Verfolgern. Einen halben Tagesritt von hier entfernt lag das kleine Dorf Weißenstein. Dort würden sie Rast machen, aber jetzt zählte nur der Gedanke, zu entkommen.
Shy hielt sich fest an Naabs Taille gedrückt und duckte sich um nicht mehr Windwiderstand zu haben.

>>Wohin hast du vor zu flüchten? <<, fragte Shy ihn nach einer Stunde, als sie einen kleinen Bach erreicht hatten, an dem sie Goliath, das Pferd, trinken ließen. >>Ich dachte, vielleicht kannst du mit deinem Vater reden um etwas mehr heraus zu finden? Über deine Mutter!<<
Shy blickte ihn nur verächtlich an. >>Seit Herlana aufgetaucht ist, bin ich ihm so gut wie egal! Ich hoffe er empfängt uns überhaupt! <<, sagte sie.
Naab ging, als ob man ihm einen Tritt in die Lenden verpasst hätte.
>>Das Erste, das ich in Weißenstein kaufe, wir ein angenehmer Sattel sein. Das ist ja nicht zu ertragen! <<
Shayia verkniff sich ein Lächeln und trank auch aus dem glasklaren Bach. >> Warum sollte er dich nicht sehen wollen? <<, fragte Naab, als ob er es erst jetzt gehört hätte, >>Du bist seine Tochter! <<
Shy verschluckte sich und ließ ein zu künstlich klingendes Lachen los, das fast schon erschreckend war.
>>Ich WAR seine geliebte Tochter. Jetzt wurde ich durch Quinn ersetzt. Irgendetwas hatte ihn verändert seit Herlana. Früher war er nicht so arrogant und eiskalt.<<

Als sie die Mondwälder hinter sich ließen, und die Sonne ihren Weg bald beendete, kam eine kleine Stadt in Sicht. Sie war nicht so, wie eine Stadt normal war. Eine kleine, aus weißem Marmor gefertigte Mauer umgab sie und aus der Mitte ragte eine riesige Kirchenkuppel. Mit Abstand die Größte, die Shayia ja gesehen hatte. Im Wald vorhin, war Naab langsam geritten. Sie hatte es genossen, den Wind in ihrem Haar zu spüren. Die Angst vom Pferd zu fallen, war noch in ihrem Unterbewusstsein, aber das Problem hatte sich schnell gelöst. Der starke Föhn trocknete ihr sosehr die Augen aus, dass sie sie einfach geschlossen hatte. Das Lichtspiel im Wald, zwischen Sonnenschein und Schatten, machte sie ganz wirr und es erschien ihr alles wie in Trance. Als ob die Götter ihren Augen Streiche spielten. Und als sie daran dachte, wie schlimm es Naab gehen musste, der ja immerhin vorne saß, und dabei auch noch konzentriert sein musste, fühlte sie sich schlecht.
Wäre sie doch nur nicht bei ihm eingeschlafen, oder gleich verschwunden, als sie aufwachte. Das alles war nur ihre Schuld. Sie klammerte sich fester an Naab, der sich nun aufgesetzt hatte. Sie wurden langsamer. Goliath trabte gelassen den Waldweg entlang und Naab berührte Shayias Hände.
„Pass auf, dass du mich nicht zerdrückst!“, war das einzige, was er sagte. Aber anstatt ihre Umklammerung zu lösen, hielt er sie fest an sich gedrückt. Shy wollte zu einem kecken Antwortspruch ansetzen doch Naab deutete ihr leise zu sein. Woher hat er das gewusst? Oder war es einfach nur Zufall? Den Gedanken daran, dass Naab ihre lesen konnte, verwarf sie rasch.
Der einzige Weg, um in die Stadt zu gelangen, war durch das Stadttor, das genau vor ihnen in die Höhe ragte. Sie musste viel Gold besitzen, dachte Shy, nachdem sie die wunderschönen Schnitzereien an den Torflügeln betrachtete. Sie zeigten einige religiöse Bilder, Szenen, die auch im Antario vorkommen, dem Buch der Götter.

Etwas stimmte nicht. Bevor sie nahe genug waren um die Inschriften lesen zu können, waren noch laute Trommeln zu hören gewesen. Es war ein Fest im Gange, hatte sich Shy gedachte.
Doch nun waren sogar die Vögel verstummt.
Naab befreite sich aus Shys Umklammerung, als Goliath zum Stehen gekommen war. Shy war nun etwas wackelig auf dem Pferderücken gefangen.
Eine Gestalt kam auf sie zu und bevor sie reagieren konnten, wurden sie von Pfeilen getroffen. Naab blinzelte und krallte sich in die Mähne von Goliath um nicht den Halt zu verlieren.
Shayia hingegen traf es schlimmer. Sie kippe seitwärts vom Pferd und fiel in einen Busch, der am Wegrand wuchs. Die Gestalten wurden plötzlich mehr und kamen näher, da die zwei Elfenkinder betäubt dalagen.
Sie trugen dunkle Körperbemalung, Federschmuck und Lendenschurze aus Leder. In ihren Händen hatten sie Spuckrohre, aus denen die Pfeile gekommen waren, die Naab und Shayia getroffen hatten.
Sie schlichen wie Raubtiere und das Gras unter ihren Füßen schien unberührt. Goliath wurde nicht getroffen und doch erschraken sie ihn nicht.
Ruhig stand er da, Naab lag auf seinem Rücken und Shayia hinter ihm am Boden. Friedlich sah sie aus, wie als ob sie schlief.
Die Eingeborenen eilten zu ihnen, strichen Goliath über die Flanke und hoben Shy behutsam auf. Leise führten sie das Pferd durch das dichte Geäst und verschwanden mit Naab und Shayia.

Malauki?!


12. Kapitel

>>Aa es ukea na? <<
Trommelklang und lautes Gebrüll heulten durch die Nacht.
>>No no<<

Ein großes Feuer brannte am Hauptplatz, die Zelte waren rund herum aufgeschlagen und der Rauch färbte den, normal so klaren, Nachthimmel grau.
Eine leichte Windböe trug den Duft von verbranntem Bärlauch an Shayias Lager heran und war so intensiv, dass sie begann zu husten. Sie schreckte aus dem Schlaf und krallte sich in die Felldecke, auf der sie lag, als sie die vielen Gesichter bemerkte, die sie anstarrten.
>>Wo bin ich? << war das Erste, dass sie zwischen den Lippen herauspressen konnte.
Die Angst stand ihr ins Gesicht geschrieben. Alle, die um sie standen, begannen nun heftig miteinander zu diskutieren. In einer Sprache, die Shy leider nicht verstand.
>>Wo ist Naab? << war ihre nächste Frage, aber plötzlich bewegte sich etwas hinter ihr im Zeltlager. Erfreut ihn wieder zu sehen drehte sie sich um, doch da war nur wieder so ein Jüngling voller Asche im Gesicht. Erschöpft und mit dröhnenden Kopfschmerzen legte sie sich wieder auf ihr Fellbett und versuchte sich zu beruhigen. Der Zelteingang schwang auf und eine bedrohliche Silhouette stand vor ihnen. Das Feuer hinter dem Umriss verbarg die Einzelheiten an seinem Körper, und doch schien ihm das Schwarz zu schmeicheln.
Alles was Shy erkennen konnte war, dass er die Hände vollgepackt hatte.
>>Kes a nana! << sagte die Person. Shy konnte ihn schlecht hören. Die Eingeborenen mussten etwas mit ihren Ohren gemacht haben.
Sie ließen ihn hindurch und nicht einmal jetzt, wo er genau vor ihr stand, konnte sie ihn erkennen. Der Kontrast zu dem hellen, flackernden Feuer hinter ihm war zu groß.
>>Du hast keine schweren Verletzungen. Komm mal mit! << Shy verstand die Hälfte nicht. Jedes Wort, das er sagte, war von einem Brummen begleitet. Sie stand auf und tappte unsicher auf dem Erdboden, der durch die Schattenspiele aussah wie ein Tier.
>>Es sind Malauki, Shy<<, sagte die Gestalt, die sich plötzlich als Naab herausstellte. Das Gift auf den Pfeilen machte ihr immer noch zu schaffen. Sie war sicher, die große Leere, die bis jetzt da war, war wieder gefüllt und sie fiel ihm um den Hals. Sie spürte seinen warmen Atem auf ihrem Gesicht und fühlte sich Zuhause.
>>Du meinst das sind die Eingeborenen? Wie hast du sie gerade genannt? Malu-Mali?<<
Naab nickte.
>>Malauki. Warum?<<
Shayia fühlte sich die ganze Zeit schon nicht gut und jetzt auch noch unwissend. >>Was bedeutet der Name? Ich habe ihn noch nie gehört<<
Sie klang verstört, obwohl sie selbst nicht wusste warum. Naab lachte kurz auf, wurde dann aber wieder ernst. >>Wo du aufgewachsen bist, ist es nicht üblich diesen Namen auszusprechen. Man sagt dann nur Eingeborene, falls man sie überhaupt benennt<<
Sie begriff und schrieb das Thema ab. Eigentlich hatte Shayia nicht vorgehabt, das heute noch anzusprechen. Wieder flimmerten die Bilder der wütenden Elena in ihrem Kopf auf und die von Lady Sierra, Adra und ihrem Vater. Was er wohl zu dem Ausbruch von ihr sagen würde? Vielleicht, dass sie nicht ganz bei Trost sei. Oder Christobal hat alles unvorteilhaft geschildert, und anstatt ihm, wird nun sie als schuldig bezeichnet. All das und noch vieles mehr tauchte aus den Tiefen ihrer Gedanken auf, nur darauf wartend, von ihr wahrgenommen zu werden.

>>Warum tanzen sie um das Feuer? Ist das ein Ritual? <<
->>Nein, sie feiern. Das Fest des Mondes<<, sagte er.
>>Woher weißt du das? Du kannst doch ihre Sprache…<<, fragte sie aufgebracht. Als sie den Satz abbrach, war sie selbst darüber erschrocken, wie sehr sie ihn angeschrien hatte.
>>Es tut-t…<<
->>Macht nichts! Dein Giftpfeil hatte mir gegolten. Es war der Stärkere. Da kann es passieren, dass es Nachwirkungen gibt<<, antwortete er und lächelte, was Shy aber noch nicht erkannte.
>>Sie feiern Feste, sie haben eine Kultur, aber warum haben sie uns hierher gebracht? <<
->>Das weiß ich leider nicht. Ich kann, erstens ihre Sprache nicht sehr gut und zweitens, haben sie mir gegenüber den Grund noch nicht genannt. Ich weiß nur, dass sie uns nichts Böses tun wollen. Das ist das Einzige, was ich bis jetzt herausgefunden habe << Naab nahm sie an der Hand und zog sie mit sich. Shy stolperte ihm hinterher aus dem Licht des Feuers. Und als die Bäume ganz die Sicht verdeckt hatten, sah sie ihre Hand vor Augen nicht mehr. >>Naab, wohin gehen wir? <<, fragte sie unsicher. >>Weißt du wo wir sind? <<
Das Rascheln der Blätter im leichten Wind und zirpen der Grillen war beruhigend. Die Eulenfamilien, die im Dickicht lebten, erwachten und laute Schreie erfüllten die Finsternis. Der Mond schien hell und plötzlich tauchte ein zweiter vor ihr auf, der ihre Sicht um einige Meter erweiterte. Langsam, in rhythmischen Wellenbewegungen, tanzte er in der Nacht.

>>Das, Shy, ist der schönste Ort von Ceartly Branch! <<
Er hielt ihre Hand fester und sie spürte seine Freunde. Shy blickte sich um und von einem Mal zum anderen sah sie deutlicher, was Naab gemeint hat. Der Mond, der vor ihr am welligen Boden schwamm, war nur das Spiegelbild des echten. Langsam löste sich auch das dumpfe Gefühl aus ihren Ohren und sie nahm ein sanftes Plätschern war. Ein kleiner Wasserfall mündete in einen großen See vor ihnen.
Gesäumt von dunklen, bedrohlich wirkenden Bäumen, die haushoch in den schwarzen Nachthimmel ragten. Soweit Shy das erkennen konnte, verblüffte es sie zutiefst.

>>Diesen Ort umgibt eine magische Aura, die sogar Hexron nicht zu brechen vermag. Wie hast du ihn gefunden? << Erleichtert stellte sie fest, dass sie ihn jetzt endlich vor ihr erkennen konnte.
>>Na ja, ich war schon einige Stunden länger wach. Da habe ich die Gegend ausgekundschaftet. Wir sind hier wirklich schon sehr nahe der Grenze. Wir sollten uns in Acht nehmen, in allem was wir tun! <<
Er setzte sich auf den großen Steinblock, auf dem sie standen und fühlte nach der Beschaffenheit. Shy tat es ihm gleich.

Ein beschämendes Gefühl stieg in Shayia auf. War sie wirklich so schwach, um nicht einmal gegen einen Betäubungspfeil anzukommen? Ja, vielleicht stimmte es wirklich, was Naab gesagt hatte. Aber wie sollte sie es dann jemals gegen ihre Feinde schaffen? Egal was es war, sie fühlte sich schwach gegenüber ihm. Es musste noch hell gewesen sein, als er aufgebrochen war. Sie biss sich auf die Lippe, um ein Seufzen zu unterdrücken. Wärme tastete nach ihrem Kinn und sie schmeckte Blut. >>Verdammt<< sagte sie zu sich selbst, aber Naab hatte es gehört. Sie wollte sich gerade wegdrehen und aus Reflex schnellte auch ihre Hand in die Höhe um die Blutung zu stoppen, aber Naab hatte es schon bemerkt.
>>Du blutest<<, sagte er in einem fürsorglichen Ton. Sofort zog er ein Tuch aus den vielen Sachen, die er seit dem Lager der Malauki mitgeschleppt hatte, die jetzt neben ihnen am Boden lagen.
Er tupfte ihr sacht das Blut von der Lippe. >>Halt bitte still, ich will dir nicht wehtun. <<
Shy spürte wie das warme Blut verschwand und das weiche Tuch ihre Lippe streifte. Sie nahm Naabs Hand und drückte sie weg von sich. >>Es geht mir gut! <<
Sie lächelte ihn gespielt an. Er zog seine Hand zurück und streckte das Tuch weg.

>>Ich bin froh, dass es dir wieder besser geht! Deine Verletzungen sahen schlimm aus, nachdem…<<, sagte Shy, doch stoppte und versuchte es zu umschreiben, gab es aber bald darauf auf. Naab sah auf, als begriff er erst jetzt, was sie sagen wollte.
>>Ja, ein paar der Schamanen haben mich verarztet und als ich aufgewacht bin, war meine Schulter eingerenkt und meine Wunden verheilt. Anscheinend besitzen sie so etwas wie magische Fähigkeiten. Anders kann ich mir es nicht erklären<<
Shy seufzte und deutete ein Lächeln an, das aber sofort wieder verschwand.
Naab sah vom See auf und wandte sich ihr zu.
>>Sie haben mich mit diesen Dingen überhäuft. Ich wusste nicht, was ich damit anfangen sollte, aber sie meinten, wir brauchen es gegen den Fürsten einer Kanne. Keine Ahnung, was sie meinten, aber sie haben Angst davor. Ich hab den Namen wiederholt und sie sind alle zusammengefahren <<

Shayia sah ihn das erste Mal seit der Flucht aus dem Internat wieder in die Augen. Er spürte ihre Zweifel und sah ihr den Kummer an, den alles verursachte, was bisher geschehen war.
Ohne dass sie etwas sagte, wusste er, was sie dachte.
>> Hey, aber Shy, du kannst mal raten was bei den vielen Sachen dabei war! <<, fragte er fröhlich und grinste in die Nacht.
>> Ein Sattel?<<
- >> Mhm, ja sogar ein sehr guter! Dick und weich! <<, antwortete er ihr lachend.
Sie saß neben ihm, als er seine Arme um sie schloss.
>>Verzweifle bitte nicht an diesen ganzen Dingen. Ich weiß, es muss schwer sein, aber lass dass alles nicht so nahe an dich. Du zerstörst dich nur selbst damit<<, sagte er.
Shayia sah zu Boden und wusste nicht was sie sagen sollte. Es waren Dinge, die wichtig waren, die ihr etwas bedeuten. Wie konnte sie die da nicht an sich heran lassen?

Ich hasse dich dafür, dass du alles so schwer machst. Alleine wäre ich noch im Internat und hätte mich nie mit Elena gestritten. Ich wäre nicht geflüchtet und vielleicht einmal am Thron gelandet. Und wo bin ich jetzt? In einer Sackgasse… Ich habe alles verloren was mir jemals wichtig war. Meine Kindheit habe ich dort zurückgelassen. Bald ist mein sechzehnter Geburtstag und ich kann ihn nicht einmal an dem Ort feiern, den ich so sehr liebe.



Aber sie wusste, dass das nur die halbe Wahrheit war. Denn mit Naabs Ankunft im Internat hatte sie sich selbst entdeckt, herausgefunden wer ihre Mutter wirklich war und was sie zu tun hatte. Dennoch, wenn es nach Shy ging, war es falsch wegzulaufen. Aber wäre sie wirklich geblieben wenn sie allein gewesen wäre? Hätte sie sich dem Urteil ihres Vaters gestellt und sich vielleicht gegen Quinn austauschen lassen?
Es waren einfach zu viele Fragen, die sie bedrückten. Eine Last sie alle zu tragen, die sie manchmal auf die Knie zwang. Aber was sollte sie tun. Naab verstand das nicht. Sollte sie versuchen ihm zu erklären, was in ihr vorging? Irgendwann…

>>Kennst du die Geschichten von Ceartly Branch, Naab? Die Legenden?<<
Er schüttelte den Kopf. >>Ich kenne nur ein paar aus Hexron. Aber das sind keine schönen Geschichten. Erzähl mir eine <<, antwortete er ihr.
Sie begann ihm zu erzählen, wie die vier Götter sich die Welt aufgeteilt hatten und warum die Bewohner von Avana deshalb so eine Ablehnung gegen Hexaner hatten.

Er fragte sie nach noch mehr Geschichten. Ihm gefielen diese magischen Erzählungen sehr und so verging Stunde um Stunde, wo sie am Seeufer saßen, und Shy ihm Legenden aus längst vergessenen Zeiten erzählte. Immer wieder fragte er nach, warum es so geschehen ist. Oder bei der Geschichte des Luftprinzen Oyin. Wie er für sein Leben und seine Liebe kämpfte. Naab war so fasziniert von dieser Traumwelt, dass sie für ein bisschen Zeit all ihre Sorgen vergaßen. Und so leuchteten die Sterne in dieser klaren Nacht und lauschten all den wundervollen Legenden, die die Mütter in Avana ihren Kindern vor dem Schlafengehen erzählten. Jeder kannte sie. Und so bereitete es Shayia viel Spaß, ihm mehr über das alles zu erzählen, was er nicht kannte.

Shayia


13. Kapitel


Shayia


Es lag Stille in der Luft, obwohl die Vögel in den Mondwäldern niemals die Melodie des Tages unterbrachen. Aber das sind nicht mehr die vertrauten Wälder meiner Kindheit.
Der Geruch des Morgens stieg mit dem Nebel vom Boden auf. Es war kühl, als ich das Lager verließ. Naab schien noch zu schlafen und die Ureinwohner von Ceartly Branch waren schon auf der Jagd.

Leise folgte ich einem Waldweg, bemerkte kleine Vögel, die auf der Wiese herum hüpften und Hasen, die friedlich in den Büschen lagen und schliefen. Warum schrecken sie nicht auf? Störe ich sie nicht? Normalerweise müssten sie flüchten und sich verstecken.
Ich ging langsam weiter und immer mehr Waldbewohner zeigten sich. Die Lücken zwischen den großen Nadelbäumen füllten sich so geschwind, das ich nicht einmal mitbekam das ich schon von hunderten von Augenpaaren beobachtet wurde. Ich blieb stehen und plötzlich hörte ich zirpen, heulen, scharren von Hufen, gackern und viel mehr Laute, die die Menge neben mir von sich gab. Als ich bemerkte, wie alle Augenpaare mich anstarrten, erschrak ich. Dann löste sich aus der Finsternis des Waldes ein riesiges Geweih und ein prachtvoller Hirsch trat hervor. Der Einzige in den Reihen. Voller Anmut hob er seinen riesigen Kopf und blickte der Sonne entgegen, wie als würde er sie begrüßen. Dann wandte er sich mir zu. Ich kam mir vor wie eine kleine Maus. Ich schluckte schwer.
Eigentlich wollte ich etwas sagen, aber meine Stimme versagte mir den Dienst. >>Wir heißen dich willkommen, Sonnenstrahl, Urenkelin unserer Erdenmutter Senane. Deine Aura ist die eines Engels. <<
Verdutzt schaute ich ihn an. Ich verstand zwar jedes Wort aber es war absurd, dass ein Hirsch mit mir sprach. Diese Vorstellung wollte einfach nicht in meinen Kopf. Ich hörte was er sagte, aber mein Verstand wehrte sich gegen die Vorstellung, dass Tiere sprechen konnten. Jedes Wort schien sich eigenartig anzuhören, obwohl er mit einer Stimme sprach, die den besten Barden eifersüchtig machen würde.
>>Ich heiße Shayia. Ich bin nur zur Hälfte ein“, begann ich zu stottern.
>>Das wissen wir. Du musst keine Angst vor uns haben. Wenn ich mich vorstellen darf, mein Name ist Palos Linea. Ich bin das Oberhaupt des Orakelwaldes von Kín. <<

Noch immer war es etwas eigenartig ihm zu folgen. Ich beobachtete seine Augen, die so menschlich wirkten, dass mir ein kalter Schauer über den Rücken jagte, und seine Halsmuskeln traten hervor, wenn er seinen Kopf bewegte. Nicht nur seine Augen waren es, die eine gewaltige Macht auf mich wirkten, es war auch seine Aura. Noch nie hatte ich soviel Respekt vor einer Person oder einem Wesen empfunden. Es war als würde man einem Gott gegenüberstehen, ohne daran zu glauben, dass es ihn wirklich gibt. Diese Angst, erwischt zu werden, dass man nicht an ihn glaubt, übte einen starken Druck auf einen selbst aus.
Ich konzentrierte mich auf meine Gedanken und auf das, was er mir sagte.

Orakelwald?
Ich habe schon einmal davon gehört. Sagte Maria nicht, dass es nur eine Legende sei? Dass es so etwas nicht gibt? Sogar Adra hatte es behauptet: ‚Man erzählt sich, dass es diesen Wald wirklich gibt, aber es gab noch keine Beweise dafür. Also solltet ihr wirklich verzweifelt sein, vertraut euch jemandem Realem an. Wer glaubt schon an Magie? ‘

Und mir wurde kalt und warm zugleich, als ich mir Adras Sätze noch einmal durch den Kopf gehen ließ.
Sie hatte mir zugezwinkert als sie das Klassenzimmer verlassen hatte. Bisher dachte ich, das hätte nicht mir gegolten. Es war eine Botschaft.

>>Was lehrt man an den Schulen? Das es uns nicht gibt! Oder sind wir alle Luft<< fragte der Hirsch.
Verwirrt darüber, dass der Hirsch wusste was ich dachte, sah ich ihn an.
>> I-ihr könnt meine Gedanken le-<< fragte ich, als der Hirsch mich unterbrach.
>>Wir können sie alle hören, ja, wenn das deine Frage beantwortet.<<
Ich sah die anderen Tiere an, um in ihren Gesichter zu lesen, was sie dachten.
Was denke ich mir? Wie soll ich wissen, was sie denken? Woher soll ich wissen, wie Tiere denken? Das ist gerade sehr verrückt.

Kurz, glaubte ich, eine Regung in Palos Gesicht zu sehen. Etwas, wie der Ansatz eines Lächelns, aber das konnte ich nicht genau definieren.
Dennoch fühlte ich mich in seiner Gegenwart sicher, gefeit vor jeder Gefahr die hier lauern könnte. Ich aber glaubte sowieso, dass sich kein Tier gegen ihn auflehnen würde, wäre es noch so groß. Es hätte keine Chance gegen ihn. Und falls es kein Tier sein sollte, so hätte ich auch keine Angst. Die Magie, die Palos ausstrahlte, könnte es mit der von zehn der besten Magier meines Vaters aufnehmen.

>>Sonnenstrahl, wir bekamen einen Auftrag von deiner Mutter. Sie hat uns vor vielen Jahren gebeten, über dich zu wachen und dir in Notsituationen zu helfen. Nachdem dies jetzt eingetreten ist und es sehr merkwürdig sein würde wenn dir plötzlich hunderte Tiere über den Weg laufen, hatten die Malauki den gleichen Auftrag. Sie sollten euch nur solange beschützen, bis ihr nah genug wart, um euch zu uns zu holen. Bevor wir dir weiteres offenbaren, lege ich dir noch etwas ans Herz.
Hüte dich davor, Menschen zu vertrauen, du hast sicher bemerkt, was dir das bringt.
Ein Kampf steht bevor, das spüren wir. Nichts kann ihn verhindern. Das ist leider eines der Dinge, die wir Tiere erst in gemäßigtem Alter begreifen. Man kann nicht jedes Unheil verhindern. Und manchmal, ja manchmal, ist es Teil des Schicksals.
Die Tiere dieses Waldes waren schon immer das Orakel der Könige.
Das wirst du brauchen<<, sagte er zuletzt, dann trat die Rehkuh vor, die neben ihm gewartet hatte, und blieb vor mir stehen. Ein einfacher, hölzerner Bogen lag auf ihrem Rücken.

>>Dein Herz wird die Sonne sein, der Bogen deine Macht.
Er wird dir stets treu sein, bis zur letzten Schlacht. <<

Dann verbeugte sie sich vor mir, so dass ich ihn nehmen konnte.

Als ich den Bogen berührte, durchfuhr mich eine Energie, die mir die Kraft zu geben schien, einen ganzen Berg zu tragen. Aus meinem Rücken fuhren die riesigen Schwingen hervor und das grelle Licht, das auch schon Elena geblendet hatte, leuchtete wieder. Das geschah alles so schnell, das man im Nachhinein nicht mehr wusste, ob es real oder nur Einbildung war.

Der Bogen absorbierte meine Magie und seine Erscheinung änderte sich. Nicht etwa zum Schlechten, nein, ganz im Gegenteil. Er wurde länger, von innen heraus golden und Verzierungen rankten sich um ihn. Nun sah er aus, wie einer der Waffen der alten Zeit, die im Schloss aufbewahrt wurden. Sie waren wunderschön und schrecklich zugleich.

Wenn ich ihn ansehe, dann fühle ich, dass er mir sagt, was ich zu tun habe. Und nicht das ich ihm Befehle erteilen kann. Ich spüre, dass er es nicht zulässt dass ein Pfeil sein Ziel verfehlt oder dass er mir weggenommen wird. Wie als könnte er denken…

Ich griff nach ihm und spürte, wie gut er in ihrer Hand lag. Für seine massige, prunkvolle Erscheinung war er verblüffend leicht.
>>Aber woher habt ihr diesen Bogen? Und w-warum ich? <<, fragte sie verwirrt.
Der Hirsch beugte sein Haupt vor, so dass sein mächtiges Geweih den Boden streifte.
>>Weil es der Wille Eurer Mutter war. Dies ist der Bogen der Göttin Senane. Durch Eure Großmutter weitergegeben, im Besitz Eurer Mutter stolz seinen Dienst getan und nun Euch überreicht, um Euch zu beschützen. <<

Mich interessierte es sehr, was Palos erzählte. Eines machte mich auch noch sicherer. Er konnte nur die Wahrheit mitteilen. Seine Zunge ließ es nicht zu, Lügen zu verbreiten. Er war das einzige Wesen der bekannten Welt, das dazu verdammt war, immer nur die Wahrheit zu sprechen. Das war auch einer der Gründe, warum er Oberhaupt des Orakelwaldes von Kín wurde.

Bevor Palos ein weiteres Wort sprechen konnte, zerbarst in der Nähe der Versammlung ein Ast. Es war schon so ruhig geworden gewesen, das es unnatürlich laut geklungen hatte. Die Tiere erschraken, viele flüchteten sich in den Wald. Nur der Hirsch blieb stehen, streckte die Ohren, um zu lauschen und wartete ab. Ein Gebüsch raschelte in der Richtung, aus der ich gekommen war, und Naab trat hervor.
>>Shy? Was machst du schon so früh auf? <<, fragte er und bemerkte zuerst das riesige Geweih nicht, das zwischen den Bäumen hervorragte. Erst, als er kurz vor mir zum Stehen kam, fuhr er erschrocken herum. Der Hirsch beobachtete das Geschehen still. Seine Augen waren das Einzige, das sich zwischen uns hin und her bewegte.
>>Ich musste einfach mal raus und spazieren gehen. <<
Ich hielt noch immer den Bogen in der Hand. Mit jedem Gedanken, den ich an den Grund des Treffens verschwendete, pulsierte der Bogen mehr in meiner Hand. Wärme und Energie durchfuhren mich und instinktiv wollte ich ihn spannen und auf etwas schießen.

Naab starrte noch immer auf den Hirschen und brachte kein Wort heraus. Der Hirsch trat aus dem Schatten der Bäume auf ihn zu. Seine Hufe scharrten am Boden, zerdrückten die noch weiche Erde und die Blätter, die, rotgetunkt, den nahen Herbst ankündigten.
>>Du bist nicht böse, wie deine Familie. Und doch trägst du die Male eines Verurteilten. Ich erkenne keinen Gedanken, der mir vielleicht verrät, dass du etwas Derartiges verbrochen hast. Du bist jemand, der am falschen Ort geboren wurde. Willkommen bei uns, Naab Araxo.<<
Palos trat vor und berührte mit seiner Schnauze seine Stirn. Naab wehrte sich nicht und er fühlte sich gut dabei, erkannt zu werden.
>>Du bist ein Freund, nicht wahr? Ich erkenne an Sonnenstrahls Gedanken, dass ihr beide verbunden seid. <<
Naab sah zu mir und lächelte milde. Ich lächelte zurück.
Die pulsierende, mächtige Aura des Hirsches spürten wir stark und eine gewisse Autorität war plötzlich da.

>>Woher hast du den Bogen? Der sieht aus wie die der Götter…<< sagte Naab plötzlich.
Der Hirsch nickte und sprach:>> Er ist das Geschenk ihrer Mutter an sie. Und für dich hat auch jemand etwas hinterlassen, Naab Araxo! <<
Erstaunt darüber, dass jemand sich um ihn kümmerte oder gar etwas für IHN hatte, blickte er den Hirsch gespannt an.
>>Ich habe vor mehr als 150 Jahren eine Gabe von einem großen Heerführer bekommen. Ich sollte sie seinem Enkel aushändigen, sobald dieser die Wahrheit und den Sinn des Lebens erkannt hat. Und du, Naab Araxo, erfüllst genau diese Ansprüche. Es war Leutnant J. Araxo der damals zu mir kam, weil er wusste, dass du ihn brauchen wirst. <<
Naab sah Palos erwartungsvoll an und ich konnte mir ein Staunen auch nicht verkneifen, als ich fühlte, wie die Luft um uns herum sich mit elektrisierender Spannung auflud. Naab griff vor sich und zuckte leicht zurück, als ihn ein Schlag traf. Als er wieder hin tastete, begannen seine Hand und die Luft, die er zu greifen versuchte, zu glühen und im nächsten Moment hielt er ein prachtvolles Schwert in seiner Hand. Er hielt es mit beiden Händen und seine Augen waren auf die Klinge fixiert.
Nie soll eine Waffe dich verletzten, die deines Feindes Hilfe war, war auf der Schneide eingraviert.
Dann wandten seine Augen sich mir zu, und ich sah wie sie funkelten, und ich wusste, es war das erste Mal, dass er etwas so mächtiges und einzigartiges in den Händen hielt, das ihm gehörte. Für ihn bestimmt. Ihn allein.

>>Ich werde diesen Platz wieder verlassen. Die Bäume der Orakelwälder werden euch immer willkommen heißen, wenn ihr den Wunsch verspürt, uns aufzusuchen. Wir wissen alles was auf dieser Welt Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft bedeutet.
Jedoch hütet euch vor falschen Hoffnungen! Die Tiere dieses Waldes besitzen zwar die Gabe, das Wissen zu entschlüsseln und euch preiszugeben, aber wenn es um die Zukunft geht, so können wir euch immer nur einen Weg zeigen. Einen von Tausenden, wie die Wahrheit aussehen könnte. Denn jeder Schritt und jede Entscheidung verändert auch eure Zukunft! << Und der nächste Windstoß löste ihn auf. Alle Tiere waren plötzlich verschwunden und der Wald hatte seinen Glanz verloren.

Ich legte mir meinen Bogen seitlich um meinen Oberkörper und fädelte mich zwischen Sehne und Holzgriff ein.
Langsam rieb ich mir die Augen und versuchte mir einzureden, dass das gerade wirklich geschehen war.

>>Es ist mein Schwert, Shy. <<, sagte Naab fassungslos. Ich blickte von ihm, zu dem neuen Schwert und wieder hinauf.
>>Ich weiß. <<
>>Nur für mich. Es gab jemanden, der sich um mich kümmerte. <<, erklang es wieder aus seinem Mund und es hörte sich so fremdartig an, dass ich nicht wusste, wie ich reagieren sollte.
Als er mich anblickte, weil ich ihm nicht antwortete, schenkte ich ihm eines dieser Lächeln, die einzigartig waren und aus dem Moment geboren, an dem man sich nicht kontrollierte und nur die Gefühle einen übermannten. Er zuckte mit den Winkeln seiner Lippen und ich wusste, er war zu konzentriert, um zu lächeln.

Das Gras zu meinen Füßen wiegte sich sanft in einer Brise, die über die Wiese zog. Zögerlich hob ich einen Fuß und trat auf die weiche Erde in Richtung Naab. Dann noch einen und noch einen, bis ich bei ihm angekommen war.
Er stand noch genauso da, wie vor zehn Minuten, als er das Schwert aus der Luft nahm.
>>Wir sollten aufbrechen. <<, begann ich sanft.
>>Das sollten wir gewiss. <<
>>Dann lass uns zurück ins Lager gehen und Goliath satteln! <<
Verdutzt sah er mich an. >>Du willst jetzt schon gehen? Wohin? <<, fragte er neugierig.
Ich sah zu den Tannen, die die Zelte der Ureinwohner verbargen und überlegte kurz. >>Wenn wir jetzt nahe der Grenze zu Hexron sind, dann müssen wir nach Norden, um nach Avana zu kommen. <<
So sah zumindest mein Plan aus.
>>Zurück, wo das lauert, vor dem du Angst hast? Vor dem wir geflüchtet sind? Willst du das wirklich? << Verstört und mit zusammengezogenen Brauen sah er mich durchdringlich an und schob das Schwert in einen behelfsmäßigen Schwertgurt.
>> Ich will nur richtigstellen, was falsch ist. Sie haben uns sicher in den Dreck gezogen und die Schuld für Chris Verletzungen gegeben. Vielleicht sind sie auch schon auf der Suche nach uns, um uns einzusperren. Meine kranke Stiefmutter würde nichts mehr freuen, als mich leiden zu sehen. <<
Verärgert darüber, dass er es zulassen würde, dass wir gejagt würden, stapfte ich schnellen Schrittes zurück ins Zelt.
>>Warte Shy! Es war nicht so gemeint! Ach…ich weiß nicht wie es gemeint war! Es tut mir leid! <<, schrie er mir nach und holte mich wieder ein. >>Es tut mir wirklich leid! Aber du weißt, wie ich darüber denke. Alles was dich in Gefahr bringen könnte, ist für mich keine Lösung. Ich will nicht schonwieder einen Menschen verlieren, der mir nahe steht. <<
Ich sah ihn kurz an, dann ging ich weiter.
>>Wie du willst. Dann reiten wir eben zurück. Aber warum sind wir dann überhaupt abgehauen? <<, fragte er zornig.
Ich beachtete ihn nicht. Das lag nicht nur daran, dass ich nicht wusste, was ich ihm antworten sollte. Denn ich kannte die Antwort selbst nicht.
Vielleicht hätten wir wirklich bleiben sollen und mit meinem Vater reden. Er hätte es vielleicht auch verstanden. Aber es war schon zu spät um sich eine Scheinwelt vorzustellen, wo jeder Satz mit „Was wäre wenn…“ begann.
>>Vielleicht war es ja ein Fehler abzuhauen. Das hätten wir vorher regeln sollen. Jetzt ist es zu spät. Aber ich werde sicher nicht zulassen, dass einer von uns bezahlen muss, nur, weil wir nicht dort waren, um uns zu verteidigen. <<
Er ging immer noch neben mir. Verblüfft stellte ich fest, dass er ohne Schnaufen mit mir Schritt hielt.
>>Stimmt, dafür ist es zu spät. Willst du einfach vor deinen Vater treten und mit ihm reden? Ich meine, wann warst du das letzte Mal im Schloss? <<, fragte er als er sich wieder beruhigte.
Ob er wusste, dass er meinen wunden Punkt getroffen hatte?
Ich biss mir auf die Lippe. >>Ist schon länger her<<, nuschelte ich dahin.
Das konnte ja heiter werden.

Hass und Eitelkeit


Kapitel 14

>>Sagte ich, du sollst ihn jetzt schon servieren? <<
Die Magd verstand nicht, sah beschämt zu Boden und antwortete:
>>Ihr sagtet, wenn Ihr mir Bescheid gebt, Prinzessin. <<
Quinn sah sie verächtlich an und zupfte dann ihr Kleid zurecht.
>>Und, habe ich das? <<, fragte Quinn, die von ihrem Schreibtisch aufstand und sich zur Magd um drehte. Zitternd hielt sie das Tablett mit der schönen, dampfenden Porzellankanne in den Händen.
>>N-nein, aber ich dachte…<<, begann sie.
>>IHR habt nicht zu denken, nur zu gehorchen! <<, schrie Quinn und ging einen Schritt auf sie zu, so das die beiden nur noch eine Fingerlänge trennten. Sie war sich ihrer Macht bewusst. Voll und ganz. Genau das genoss sie auch so sehr. Es war ihr gleich, wie sehr die anderen unter ihr litten. Solange sie bekam was sie wollte, und das war immer so, war ihr alles andere egal.

Eines kann ich aber doch nicht verstehen: seit acht Jahren spiele ich die brave Stieftochter, mache alles was mein beschränkter Stiefvater will, damit meine Mutter bekommt, was sie will. Aber wo bleibe ich? Ziehe ich einen Nutzen daraus, wenn ich lüge, damit Mutter ihn weiter verhexen kann? Vielleicht würde er mich so auch lieben? Papperlapapp… Was mache ich mir vor. Ich werde ewig in der Thronfolge hinter seiner Tochter stehen.

Die Magd war schluchzend aus dem Zimmer gerannt.
Quinn wollte die Tür zuschlagen, als Mauren plötzlich vor ihr stand.
„Vati! Brauchst du etwas?“, fragte sie süßlich. „Nein, Schatz. Ich wollte nur nach dir sehen. War Pínta schon da?“, fragte er besorgt als er sich im Zimmer umsah, “Ich hatte sie zu dir geschickt mit Tee.“

Quinn drehte sich mit ihm und kurz flammte in ihr ein Anflug von Schuldgefühlen auf, der aber sofort wieder erlosch. Bevor sie überhaupt begann zu denken, dass es unrecht gewesen war, fand sie für sich selbst wieder eine Ausrede. „Nein, diese neue Magd hat kein Gefühl für Zeit. Ich hätte mich sehr über den Tee gefreut“, sagte sie traurig. Sie wusste genau wie pünktlich Pínta normalerweise war, aber es bereitete ihr Vergnügen, sie leiden zu sehen.
„Ich wollte dich nur darauf hinweisen, dass wir heute wichtige Gäste empfangen. Von deiner Mutter kommt der Befehl, genau zu Sonnenuntergang nach unten zu kommen. Sie schickt dir davor noch zwei Hofdamen, die dir helfen werden, dich anzukleiden.“
Dann gab er ihr einen Kuss auf die Stirn, verließ ihr Zimmer und trottete den Gang an der Galerie entlang.

„Alter Narr“, murmelte Quinn und schlug die Tür zu. Der Kristallleuchter an der Decke bebte und die vielen Bilder an den Wänden zitterten bedrohlich.

Sie ließ sich auf ihr Bett fallen und atmete aus.
Schon wieder ein Fest. Fast jeden Tag musste sie sich schön machen und diesem Treiben beiwohnen. Sie würde es verstehen, hätte man sie schon zur rechtmäßigen Thronerbin ernannt. Nur noch ein einziger Name trennte sie von der Krone. Shayia. Warum dieser noch nicht durch ihren ersetzt wurde, verstand sie nicht.

Seit mehr als acht Jahren war jeder Tag die gleiche Mühsal:
Aufstehen, Frühstück, Unterricht in Latein und den Akzenten der verschiedenen Länder - die Ceartly Branch umgaben – und Benehmen, Mittagessen mit dem König, Nachmittagsunterricht bis zum Abendessen in Geschichte des Landes und der Welt, Mythologie, Wissenschaft und Verhandlungswesen, Abendessen, eine Pause, die nicht länger als eine halbe Stunde betrug, und dann das ewige Empfangen wichtiger Gäste.

Somit war bisher noch kein Tag vergangen, an dem sie ruhig im Zimmer gesessen hatte, spielte oder etwas anderes tat, was normale Teenager tun würden. Geschweige denn, den Freunden die sie hatte. Alles nur Speicherllecker, die ihr nachliefen wie streunende Hunde, die an ihr etwas zu essen rochen.
Wie konnte sie sagen, dass das Leben, welches sie führte, annähernd das war, was sie wollte? Niemals.
Dennoch genoss sie den Respekt, den ihr die Leute gezwungenermaßen entgegenbrachten, die Kleider, die sie besaß, die Privilegien, die sonst niemand hatte.
Außer… Shayia.

Warum sie immer auf diesen abscheulichen Gedanken zurückkommen musste, war ihr unklar. Aber sie war ihr ein Dorn im Auge. Seit nicht weniger als den Jahren, die sie nun hier lebte, war sie die zweite Tochter, die angeheiratete Tochter, an letzter Stelle. Das muss sich ändern, dachte Quinn als sie auf dem Bett lag.
Was tat Shayia schon groß, um den Titel Prinzessin zu tragen? Zwang sie sich jeden Tag in Corsagen und schnürte sich damit willentlich selbst ab? War sie es, die immer gehorchen musste? Nein, sie saß gemütlich in ihrer Akademie, genoss jede Minute in der Freiheit, hatte wahrscheinlich unendlich viele Freunde, vielleicht sogar echte und durfte machen, was sie wollte.
Das war das Leben, das für sie bestimmt war, dachte Quinn. Zornig schlug sie einmal in die Bettdecke.
Wann war sie ihr das letzte Mal begegnet? Erst einmal. Das hatte sie glücklicherweise ihrer kaltherzigen, skrupellosen und selbstsüchtigen Mutter zu verdanken.
Was Shayia anging, fragte sie sich schon eine Ewigkeit, warum sie noch die Erbin und Thronfolgerin war. Nie hatte sie Anstalten gemacht, ins Schloss zu kommen oder sich um ihren unterentwickelten Vater zu kümmern. Und doch war sie das geliebte Kind, die Prinzessin der Herzen. Sie wurde deutlich bevorzugt, dass störte Quinn am meisten von allem. Die perfekte Tochter eines Königs. Anständig, nie auch nur einen Gedanken ans Rebellieren verloren. So sollte sie sein, dachte Quinn, wenn es nach allen hier ging.
Nie würde sie es ihnen so leicht machen, über sie zu bestimmen. Schrieb ihr jemand etwas vor, so machte sie das Gegenteil. Musste sie etwas essen, das ihr nicht schmeckte, so schoss sie es dem Diener ins Gesicht. War das Kleid, welches ihr Vater gekauft hatte, nicht die Farbe, die sie wollte, so trampelte sie darauf herum, bis es kaputt war. Egal, wie viel es gekostet hatte. Sie war stolz, anders zu sein. Eitel und verlogen. Gebieterisch und mächtig.
Der Tag der Vergeltung rückte immer näher. Shayias Volljährigkeit stand ins Haus und damit auch die Krönung zur offiziellen Nachfolgerin des Königs. Es war eher so etwas wie eine Formalität. Der Thronerbe war ja dasselbe wie der Nachfolger. Um es aber im ganzen Land zu verbreiten, feierte man ein Fest. Dazu benötigt man die Einwilligung des Königs und des Nachfolgers. Die Zeremonie wurde auf dem höchsten Berg in Ceartly Branch abgehalten, wobei die Priesterin meist eine Tante bzw. Familienangehörige war.
Das waren schon die ersten Probleme. Es gab weder den Zuspruch des Königs, für die Benennung von Shayia zur Thronerbin, noch die von Shayia selbst, weil sie nie im Schloss verweilte. Des Weiteren war da noch das Problem der Priesterin. Keine Tante mütterlicherseits war bekannt und väterlicherseits, gab es niemanden, der nicht auch unter Herlanas Bann stand.
Zumindest war sicher, dass es in den nächsten Monaten keine Krönung von Shayia zur Nachfolgerin geben würde.
Mit diesem guten Gedanken und dem Optimismus, der jetzt wieder in ihr aufflammte, raffte sie sich auf und begann sich ein Kleid aus dem massiven Eichenholzschrank zu suchen.

Des einen Freud, des anderen Leid


Kapitel 15

Im Schlosssaal herrschte reges Treiben. Diener, Mägden und Dekorateure rannten wild durcheinander. Jeder hatte seinen eigenen Auftrag und den musste er erfüllen. Die kahlen, weißen Wände des Festsaals wurden geschmückt und eine Tafel, mit vielen Sesseln, gedeckt. Heute wurde das Fest zur Vereinigung von Ceartly Branch gefeiert. Viele Generäle, Lehnsherren, Landesvorsteher und hohe Adelige waren eingeladen um sich in diesem Stelldichein zu präsentieren.
Von der Organisation eines solchen Events her, war es kein Kinderspiel und so vertraute die Königsgattin niemandem diese Position an. Anstatt dessen stand sie jetzt selbst hinter dem Aufgabenbrett und erteilte Kommandos. Diese waren nicht freundlich und durch ihre Erscheinung verängstigte sie nur noch mehr alle ihre Angestellten.

Sie war wie ihre Tochter. Gemein, hinterlistig und verachtenswert. Das lange, dunkelblaue Kleid schlug Falten als es an ihrem zerbrechlich scheinenden Körper herunterfiel. Doch sollte man sich dadurch nicht täuschen lassen. Ihre Augen waren dunkel. So dunkel, dass man nicht mehr wusste, welche Farbe sie eigentlich hatten. Manche munkelten dunkelbraun, andere wieder schwarz wie die eines Vampirs. Und doch faszinierte ihr Gesicht jeden Betrachter. Es war so sinnlich, das die Gemahlinnen der einflussreichsten Herren im Land sich nicht trauten, sie allein mit Herlana zu lassen. Die leicht rötlichen Wangen und die vollen Lippen erfreuten jeden Mann, der sie erblickte. Doch das allerschönste waren ihre Haare. Leicht gelockt fielen sie über ihre Schulter und wippten bei jeder Bewegung mit.
War man von dieser Erscheinung beeindruckt, so ließ das sofort nach, wenn man einmal ihre schrille Stimme hörte.
Nicht das Einzige an ihr, das einen in Schrecken versetzte. Ihr Charakter war durchzogen von Eitelkeit, Größenwahnsinn, Gier, Gnadenlosigkeit und Grausamkeit. Sie würde töten um an ihre Ziele zu gelangen. Skrupellos saß sie an der höchsten Stelle. Niemand konnte ihr etwas anhaben, solange sie den König an ihrer Seite hatte. Dieser tanzte sowieso nach ihrer Pfeife, war ihre Marionette.

>>Du da, worauf wartest du eigentlich? Hier wird nicht in die Luft gestarrt! Trag den Tisch dort weg! <<, schrie sie durch den Saal. Der markerschütternde, zittrige Ton war fast unerträglich.
Langsam nahm ihre Vorstellung der Dekoration Gestalt an. Fröhliche Girlanden zogen sich von einer Lichtsäule zur Nächsten. Die Tafel war mit Tischdecken aus Spitze verziert und Rosenblätter schmückten die Ränder der Obstschalen, die prächtig aufgebahrt, zum Naschen und Träumen einluden.
Immer mehr Punkte konnte sie auf Ihrer Liste abhaken und war erleichtert, als sie wenige Minuten später den Saal verlassen konnte.
Gerade, als sie das Schreibbrett einer Magd übergab, eile ein Bote bei der Tür herein.
>>Ich überbringe eine Nachricht an Ihre Majestät, den König von Ceartly Branch. <<, sagte er mit kräftiger Stimme.
Einer der Diener lief die Stiegen hoch und direkt in das Arbeitszimmer von Mauren. Dort verbeugte er sich einmal bevor er eintrat.
>>Herein.<<
Der Diener wartete noch kurz, dann öffnete Dario die hohe, massive Holztür. >>Ein Bote bringt eine Nachricht für Sie, Majestät. <<, teilte er ihm gleichgültig und objektiv mit. Wie man es von einem routinierten Angestellten verlangte.
Mauren nickte und schob den schweren Fauteuil zurecht. >>Bitte schicken Sie ihn hinauf zu mir. <<
Der Bote verbeugte sich noch einmal steif, dann ging er rückwärts zur Tür hinaus und deutete dem Boten zu ihm zu kommen.

Der Bote betrat das Arbeitszimmer des Königs und verbeugte sich vor Mauren. Dann begann er zu berichten.
>>Ich wurde von Adra und Lady Sierra geschickt. Sie haben schlechte Nachrichten, was den Aufenthalt von Prinzessin Shayia im Internat betrifft. <<
Herlana griff sich an die Schläfen und spürte wie seine Aura pulsierte. Etwas hat ihn im Grundstein seiner Seele verletzt. Er würde sich zurückziehen können, ihre Magie wäre nutzlos. Sie musste handeln.
Die Tür des Arbeitszimmers ging auf und der Bote trat heraus.
>>E-Es tut mir so leid<<, waren seine letzten Worte. Dann verschwand er durch das Schlossportal.
Die Anwesenden sahen sich gegenseitig an und richteten ihre Blicke dann wieder auf die Tür, aus der der Bote herausgetreten war.
>>Herlana<<, rief Mauren so laut, dass die Mägde zusammenzuckten und sich sofort wieder an die Arbeit machten.
Langsam, bedacht darauf was sie jetzt tun sollte, stieg sie eine Stiege nach der anderen hinauf.
>>Ja, Gemahl? Was ist passiert? <<
Mauren sah sie versunken an, dann wich der milde Blick einem tiefen, zerstörerischen Funkeln und er hieb mit der Faust gegen die hölzerne Tischplatte.
>>Sie ist fort… entführt… ein Verbannter…meine Tochter! <<, sagte er mit, vor Zorn zitternder Stimme. Er presste einzelne Wörter zwischen seinen Lippen hervor. Herlana bemühte sich alles zu verstehen und am Schluss sah sie ihn verdutzt an. Sie hoffte, dass er ihr nicht ansah, wie aufmunternd die Nachricht war. Endlich war sie beseitigt. Doch was sollte sie jetzt dem König sagen?
>>Das ist eine Tragödie! Ich habe sie doch so geliebt<<, log sie leicht vor sich hin und versuchte überzeugend zu wirken. >>Wir müssen sie suchen! <<
Mauren hatte seinen Kopf in seine Hände vergraben. Er blickte kurz auf und sah sie an. >>Glaubst du denn wirklich, es gibt noch eine Chance für meinen Schatz? <<, fragte er niedergeschlagen.
>>Sicher! Sie ist stark. Sie wird das schaffen! Und wir werden überall nach ihr suchen und erst ruhen, wenn wir sie gefunden haben! <<, antwortete sie ihm aufmunternd.
Doch, was der König nicht wusste, war, dass der Hauptmann der Armee auf ihrer Seite stand. Das heißt, hätte Shayia auch nur eine geringe Chance, dass sie gefunden wird, würde sie es nicht überleben. Der Gedanke daran, dass ihr Ableben so gut wie sicher war, machte sie optimistisch.
>>Dennoch Gemahl, wir sollten daran denken, was passiert, wenn wir sie nicht rechtzeitig finden. Was wird dann aus eurer Nachfolge? <<, fragte sie behutsam.
>>Das will ich mir nicht einmal vorstellen! <<, gab er ihr verärgert zurück.
>>Aber euer Erbe ist noch nicht gesichert! Die Zeremonie zur Einweihung des Nachfolgers wäre erst in ein paar Wochen. Noch ist niemand wirklich daran gebunden. Solltet ihr da nicht schon überlegen, wer in Frage käme? << Sie schob ihm die Antwort fast schon vor die Nase. Er musste sie nur noch Aussprechen und das ganze Getue Wir-sind-deine-Familie-und-lieben-dich hätte endlich ein Ende.
>>Ich weiß nicht…ich…will nicht darüber nachdenken. Natürlich müssen wir uns Gedanken machen, aber meine größte Aufmerksamkeit gilt jetzt meiner Tochter Shayia. <<
Das war es. Zu spät. Heute würde sie ihn nicht mehr überzeugen können, dass wusste sie.
>>Wie ihr meint, Gemahl. <<, sagte sie steif und stand auf.
>>Sagt meinen Männern Bescheid. Sie sollen sich fertig machen. Wir dürfen keine Zeit verlieren. Sobald alle versammelt sind, brechen sie auf, und wenn es heute Nacht ist. <<, befahl er. Seine Stimme war wieder rau und hart geworden.
Herlana sah in skeptisch an, aber so, dass er es nicht bemerkte. Langsam begann sie eine Sorge einzuhüllen. Was, wenn ihr Zauber diese starken Gefühle nicht aushielt? Wenn sie stärker waren, als die magischen Formeln.
Sie wollte gerade durch die Tür treten, die Dario ihr öffnete.
>>Eines noch, Liebste. <<, begann er und zögerte ihr Verschwinden hinaus.
>>Ja?<<
>>Ich danke dir von ganzem Herzen, dass du mir hilfst. Ich weiß, die Beziehung zwischen Shayia und dir ist nicht die Beste, aber deshalb danke ich dir noch viel mehr! <<, sagte Mauren und seine Stimme hatte sich gewandelt. Das raue, mechanische war verschwunden, stattdessen sprach er hoffnungsvoll.
Herlana nickte und machte einen Knicks vor ihm, dann trat sie durch die Tür auf die Gallerie.
Ihr war nicht zum Lächeln zumute. Gerade eben hatte sie ihm Hoffnung gemacht, sie zu finden. Das würden sie wahrscheinlicher, als sie lebendig zum Schloss zu bringen.
Kurz musste sie ihr Gewissen hinunterschlucken, dann ging es wieder. Ja, sie war böse. Aber manchmal musste sie mehr mit sich selbst kämpfen, als ihr lieb war. Was sollte sie sonst tun? Falls sie das Schloss lebendig erreicht, wäre jede Hoffnung auf den Thron zunichte gemacht. Sie musste sterben, egal wo. Für nichts betete sie mehr, als dafür, dass die Wildnis sie unter sich begrub, oder dass ihr Entführer ihr das Leben nahm.
Was sollte sie sich sonst auch wünschen? Das war die Gelegenheit.
Außerdem bestand kein Zweifel daran, dass es ihr Bruder zulassen würde, wenn sie Shayia verschonte. Harloc war krank. Im wahrsten Sinne des Wortes. Die Pest machte ihm zu schaffen und manchmal hatte sie selbst schon Angst, ihm zu nahe zu kommen. Würde er sie einsperren lassen, wenn sie Shayia am Leben ließe? Oder gar töten?
Schnell verwarf sie den Gedanken. Er hatte begonnen, das Erdenreich zu bekriegen. Zwar war es damals nicht um des Erdenreichs Willen geschehen, aber er hatte es miteinbezogen. Ihr Bruder hat es damals angefangen.
Aus. Schluss. Basta.
Aufgeben kam für sie nicht in Frage. Sie waren schon soweit voran gekommen. Es fehlten nur noch ein paar Schritte und dann hätten sie den Thron erreicht. Einen von vielen.
Herlana hatte, seit ihrer Zeit als Königin, viel von den Beziehungen zu den anderen Kontinenten und Ländern mitbekommen. Sie war sich sicher; Das war ihre Chance auf all die Länder. Würde nun das Erdenreich auch fallen, würden sie herrschen.
Sie wandte sich dem Ölgemälde ab, welches auf der gegenüberliegenden Steinwand hing. Es füllte die ganze Fläche und endete erst beim Zugang zum Speisesaal, der direkt neben dem Festsaal lag. Unbewusst hatte sie Shayia beobachtet, ihr kleines, zierliches Gesicht betrachtet. Sie saß auf dem Schoß ihrer Mutter, einer wunderschönen Frau. Ihr Aussehen war gottesgleich und ihr Gesicht spiegelte das Sinnbild einer Frau dar. Die Lippen leicht geöffnet, mit einem Lächeln versehen und unwiderstehlich gemacht. Hinter ihr stand Mauren. Er hatte seine rechte Hand auf ihre Schulter gelegt. Die Linke berührte die Kopfstütze des Throns, auf dem die frühere Königsgemahlin saß. In ihren Händen hielt sie, zerbrechlich und fast genauso wunderschön, Shayia, die damals noch nicht einmal ordentlich gehen konnte. Sie wirkten so glücklich. Ein Glück, welches nicht von Dauer gewesen war.
Ihre eigenen Schritte dröhnten durch die Halle. Es war still geworden. Nirgendwo waren Angestellte zu sehen. Verwundert, dass ihre eigenen Schritte sie so schrecken konnten, sah sie sich um. Die große, ausladende Treppe, die kurz vor dem großen Tor endete, wirkte endlos. Sie strich über den kalten, marmornen Handlauf. Ihre Schritte wurden durch den roten Samtteppich gedämpft, der die Mitte der Stiegen hinunterlief. Sie nahm eine Stiege nach der anderen und sah sich aufmerksam um. Noch nie waren ihr soviele Einzelheiten in der Halle aufgefallen.

Die Sonne war nur noch eine dünne Scheibe am Horizont. Der Wind wehte den Duft von frisch gebratenen Hühnern und Schweinen durch die Schlossgefilde. Hungrige Katzen kratzen an der Tür zur Küche, aus der laut die Stimmen der Köche drangen.
>>So, gleich ist es soweit! Sie wird hier herein stürmen und uns hysterisch anschreien. Seid ihr bereit? <<, fragte eine weibliche Stimme, die durch das Fenster in den Garten drang. Einige Köche blickten sich hilflos an, dann sah einer aus dem Fenster.
>>3…2…1…<< Die Doppeltür schwenkte nach innen und Herlana kam in ihrem Abendkleid herein gerauscht. Sie sah überirdisch schön aus. Ihre fliegende Haarpracht und das, im gleichen Farbton gehaltene, Abendkleid ließen für einen Moment alle Köche erstarren.
>>Was steht ihr hier so unfähig herum? Sie werden gleich alle eintreffen. Ihr macht euch bereit. Sobald der Pianist beginnt zu spielen, wird das Essen serviert. Habe ich mich klar und deutlich ausgedrückt? <<, sagte sie mit gereizter Stimme.
Alle Angestellten, die anwesend waren, nickten knapp.
Sie schien das als genügend aufzufassen. Dann wandte sie sich wieder ab und stolzierte aus der Küche.
>>Das hätten wir schon einmal geschafft. Ihr müsst aufpassen. Nichts darf jetzt schiefgehen, verstanden? Sobald der erste Ton erklingt, werden die Vorspeisen serviert. Danach folgt der Hauptgang. << Der Mann, der aus der Menge trat, war gerade Mitte dreißig und sah jung aus. Er wandte sich dann der Gruppe Frauen zu, die rechts neben ihm stand. >> Wenn er eine Pause macht, dann bringt ihm auch etwas. Sicher ist die Stimmung dann aufgelockert und nicht mehr so steif wie jetzt am Anfang. Schenkt so oft nach wie ihr könnt. Die Leute wollen ein Fest feiern. Bietet ihnen oft alkoholische Getränke an. Wir haben genug Schnaps, um ganz Ceartly Branch ein Jahrhundert zu versorgen. <<
Sie nickten, dann machten sie ihm den Weg frei. Er ging an den Serviermädchen vorbei, inspizierte die Speisen, ließ sie schließlich passieren.
>>Die Nachspeisen werden erst sehr spät hinausgebracht. Das besprechen wir später. Dafür bleibt noch ausreichend Zeit. <<
Dann hörten sie das schrecklich hohe Kreischen Herlanas, als sie nach ihrer Tochter schrie. Es begann.

Ein stilles Bekenntnis


16. Kapitel

Gemächlich trabte Goliath einen Feldweg entlang, der von hohen Sträuchern gesäumt wurde. Die Sonne strahlte vom Himmel. Eigentlich war es ein schöner Tag. Nichts war auffallend, unheimlich oder, auf irgendeine Weise, interessant. Goliath schien das auch zu spüren und beutelte seine Mähne in einer Luftbrise, die mit ihren kühlen Klauen nach ihnen griff. Shy kicherte und gab Naab einen Stups. Er ließ die Zügel lockerer und seufzte.
Der Weg schien endlos lang zu sein, genauso weit entfernt fühlte sich auch die Erinnerung, an ihren Zwischenstopp bei den Ureinwohnern, an.
Schön langsam fragte sich auch Shy, ob das alles nicht nur ein Traum gewesen war. Sprechende Hirsche, gedankenlesende Tiere und ein uraltes Volk von dem die Existenz nie ganz bewiesen worden war. Es begann in ihrem Kopf zu pochen, als sich ein Gedanke in den Vordergrund drängte. Eine Geschichte. Hunderte Male schon erzählt, in vielen Mündern verwandelt. Das Nebelvolk, die Dämmerungskrieger oder auch Windmenschen. So oft hatte Shy schon von ihnen gehört gehabt, als Naab ihr dann ihren richtigen Namen nannte: Malauki.
Waren sie die mächtigen Beschützer des Waldes, deren Geist noch über den Tod hinaus in Tieren weiterlebte? Warum hatten sie nicht früher auch schon darüber nachgedacht?
Leicht strich der Wind über die Laubbäume, die ihre Äste schützend über die beiden gestreckt hatten. Seit sie sich entschlossen hatten, na gut wohl eher, seit Shy sich entschlossen hatte, nach Avana und ihrem alten Leben zurückzukehren, waren schon zwei Tage vergangen. Zwei Tage voller Nichts. Keine anderen Lebewesen, so weit das Auge reichte. Sie könnten genauso gut in einer Wüste gelandet sein, und das war ein Gedanke, den die beiden schon aufgegriffen hatten, wären da nicht die Bäume und Pflanzen auf ihrem Weg, die in voller Pracht erblühten. Wo waren sie? Hatten sie den richtigen Weg genommen?
Die Sonne brannte vom Himmel, als wünschte sie sich, die Erde würde zu einem Spiegelei zerlaufen. Shy rutschte im Sattel unruhig Hin und Her. Obwohl sie zu zweit auf Goliath dahin trabten, war ihnen langweilig. Sie hatten schon über alles geredet und jedes Thema aufgegriffen, dass sich hier bot. Beide aber vermieden es, über unangenehme Dinge zu sprechen, wie Shayias Zusammenstoß mit Christobal und die anstehende Aufklärung in Avana. Naab rutschte vor Shy nach links und sie bekam es schon mit der Angst, dass er vielleicht hinunterfallen würde, als er vor ihr auf den Boden sprang.
>>Goliath ist bei dem Wetter echt arm dran. Lieber einer weniger, den er tragen muss, als einer zu viel. Außerdem will ich mir eh die Füße vertreten<< antwortete er auf Shayias fragenden Blick.
>>Na gut, dann werde ich auch gehen<<, sagte Shayia und klopfte leicht auf Goliaths Rumpf. >>Nein, wirst du nicht. Du bist erst gegangen. Lass mich diesmal<< entgegnete ihr Naab. Shy sah ihn schief an und verkniff sich ein Lachen.
>>Lass nur mal, Naab, ich werde schon nicht zerbrechen an den Schritten<<, antwortete sie ihm. Er wollte etwas dagegen sagen, aber ihm viel nichts mehr ein. Sie war so stur. Sagte man bleib sitzen, stand sie auf. Hieß es warm, antwortete sie kalt.
Nach wenigen Schritten, die Shayia nun neben Naab gemacht hatte, blieb sie abrupt stehen. >>Was ist los? Ist dir nicht gut? Ich sagte doch, du soll-<<, sagte er aber Shy legte ihren Finger auf ihre Lippen. Er war sofort still. Hinter einem der Bäume raschelte etwas.
>>Hörst du das? <<, fragte Shy flüsternd. Naab nickte, zog langsam sein Schwert und ging auf den Baum zu.
>>Warte! <<, rief Shy ihm hinterher, aber da war auch schon ein Elf aus dem Gebüsch gerannt und hatte begonnen, Naab anzugreifen.
>>Nimm Goliath und verschwinde! Jetzt sofort! <<, schrie er ihr zu, während er die Angriffe des Fremden abblockte. Aber sobald Shayia sich auf Goliath gesetzt hatte und umschwenkte, um in die Richtung davonzureiten, aus der sie gekommen waren, ließ auch der Angreifer von Naab ab und lief Shayia hinterher.
>>Was willst du? <<, schrie Naab, um den Elf von Shayias Spur wegzubekommen. >>Prinzessin Shayia. Ich habe den Auftrag sie zu töten. Lass mich gehen und ich werde dein Leben verschonen, schwacher Elf<<, antwortete ihm der Fremde.
>>Nein, werde ich nicht. Vorher musst du mich töten<<, sagte er angriffslustig und streckte ihm sein Schwert entgegen.
>>Wer bist du, Kleiner? Dass du dich anmaßt, mich herauszufordern! Gleich wirst du nicht mehr so vorlaut sein<<, sagte der Fremde und drehte sich zu Naab um. Er schien zu glauben, er könnte ihn einfach töten, bevor er Shayia folgte. Er zog sein Schwert und ließ es auf Naab hinab sausen, dieser blockte ab und setzte zum Gegenangriff an. Aber der fremde Elf war gerissen und hüpfte sacht zur Seite, wich aus und griff noch einmal an. Nach einigen Schlägen, die beide abblockten, wurde Naab müde. Er war es nicht gewohnt länger zu kämpfen.
>>Du wirst müde, dass sieht man dir an. Sei klug und gib auf. Ich werde dir deinen Tod ohne Schmerzen gewähren! <<, säuselte der Elf. Doch Shayia hatte mit Goliath nicht die Flucht ergriffen. Sie war abgesprungen und zu ihnen geeilt. Bevor der Elf sich noch umdrehen konnte, sprang sie auf seinen Rücken und hielt einen Dolch an seine Gurgel.
>>Wer schickt dich? Antworte oder du wirst sterben! <<, schrie sie ihm ins Ohr. Der Fremde lachte nur lauthals los, als hätte einer der beiden gerade einen Witz erzählt. Dann sah er zu Naab. >>Wenn ich der Königin berichte, wie lächerlich eure Kampfkünste sind, Prinzessin, wird es sie gewiss amüsieren<<, antwortete er und wurde dabei immer leiser. Naab, der das Szenario mit Zähneknirschen beobachtet hatte, wollte vorstürmen und ihn enthaupten, aber der Fremde reagierte so schnell, dass beide überrascht waren. Er zog an Shayias Arm, der seine Gurgel umschlossen hatte, und hob sie über sich, so dass sie vor ihm am Boden aufprallte. >>Das hättest du dir so gedacht, Prinzesschen. Und nun hoffe ich, du hattest in deinem kurzen Leben nicht viel geplant, denn ich werde es dir jetzt neh-<<, sang der Fremde vor sich hin, als ihm Naab mit der flachen Seite seines Schwertes fest auf sein Genick schlug. Bewusstlos fiel er zur Seite und rührte sich nicht mehr. Shayia, die noch immer am Boden lag, keuchte vor Schreck auf und stupste ihn an. Keine Reaktion.
>>I-ist er t-tot? <<, fragte sie Naab ungläubig.
>>Nein, nur bewusstlos. Puh, das war knapp, meinst du nicht? Also ich weiß nicht, was du dieser Königin angetan hast, aber sie muss es dir ziemlich übel genommen haben<<, antwortete er und stieß mit seinem Stiefel nochmal gegen den Fuß des bewusstlosen Elfen. Dann streckte er Shy seine Hand entgegen und half ihr auf. Sie klopfte den Schmutz von ihrem Jagdkleid, strafte ihn mit einem Ach-halt-doch-den-Mund-Blick und ging zu Goliath zurück, den sie an einen Baum gebunden hatte.
>>Was machen wir mit ihm? Ich meine, so liegen lassen können wir ihn auch nicht, oder? <<
Sie strich über Goliaths Flanke.
>>Naja, wir könnten ihn mitnehmen und, nachdem wir ihn ausgequetscht haben, irgendwo anbinden<<, antwortete Naab selbstgefällig. Shayia kam mit dem Hengst zurück und schüttelte den Kopf.
>>Mich würde interessieren, wer er ist und wer genau ihn geschickt hatte. Ich kenne nicht viele Leute außerhalb des Internats und schon gar keine Königinnen. Außer vielleicht … nein, das kann nicht sein … ich meine, hat sie sich jetzt selbst dazu ernannt …hm, das könnte man ihr schon zutrauen<<, redete Shayia vor sich hin, als Naab ihr dazwischen redete.
>>Ich will dich ja nicht unterbrechen, aber von wem redest du? Ich konnte dir bis zum Internat noch folgen, aber ab dann hast du nur noch unverständliches Zeug gefaselt<<, unterbrach er sie.
>>Na, wen werde ich wohl meinen? Herlana natürlich! Dann war das einer ihrer Boten. Sie ist so ein hinterlistiges, fieses Miststü-<<, entgegnete sie ihm sarkastisch. Aber als sie merkte, was sie da gerade sagte, stoppte sie sofort mit der Schimpflawine und sie spürte wie ihre Wangen begannen zu glühen.
>>Ich dachte, da kommt jetzt irgendeine Aneinanderreihung von Wörtern, die Menschen in deiner sozialen Schicht normalerweise nicht benutzen, aber da hab ich mich wohl wieder getäuscht<<, sagte er zu ihr und gab ihr einen Rempler. Sie sah beschämt zu Boden und versteckte ihr Gesicht hinter ihren langen, blonden Haaren.
>>Was ist mit dir los? Hat’s dir die Sprache verschlagen? Zunge verschluckt? Lass mal sehen<<, fragte er sie und drehte sich zu ihr um. Shayia drückte seine Hände von ihrem Gesicht weg, die gerade versucht hatten, ihre Haare wegzustreichen.
>>Lass das! Ich wollte einfach nicht vor Personen, die ich schätze, so abfällig werden. E-es gehört sich einfach nicht. Das ist mir jetzt ganz schön peinlich<<, antwortete sie ihm und beschleunigte nun ihre Schritte und zog den Hengst hinter sich her. Naab sah grinsend zu Boden, musste sein Lachen hinunterschlucken und nahm dann die Geschwindigkeit mit ihr wieder auf.
>>Das kann schon mal passieren, mach dir nichts draus! He, vor mir braucht dir das nicht unangenehm zu sein. Ich hab dich-, ach passt schon<<, redete er gegen ihr Gesicht, dass sich ihm nicht zugewandt hatte, aber bei den letzten Wörter wieder seinen Glanz bekam.
>>Na also, so kenn ich dich<<, sagte er lächelnd zu Shy. Sie lächelte zurück und gab ihm einen Stups.
Währenddessen räkelte sich der fremde, jetzt nicht mehr bewusstlose Elf auf Goliaths Rücken und griff sich an den Kopf. Dröhnende Schmerzen ließen ihn zusammenzucken. Aber er machte keine Anstalten um auf sich aufmerksam zu machen. Er wollte wissen, wo es hinging und spätestens bei der nächsten Rast würde er wieder zuschlagen.
>> Wie war das Internat eigentlich so, bevor ich gekommen bin? <<, fragte Naab, als Shayia auf die andere Seite von Goliath wechselte. Sie schloss ihre müden Augen kurz. Egal wie müde sie war, sie würde Naab nicht den Triumph ihrer Schwäche gönnen.
>>Es war mein Zuhause. Die einen Sachen gefallen einem mehr, die anderen weniger. Aber am meisten hat mich Elenas Verhalten gestört. Wie als wollte man ihr wehtun, wenn sie dich ansieht. Oh tut mir leid<<
Naab hatte ein langes Gesicht gezogen.
>>Ach macht nichts <<, sagte er und spielte ein unechtes Lächeln, dass, relativ zu seiner anderen Mimik, sehr gequält aussah, >>Du kannst ja nichts dafür. Es ist nur… wäre ich nur in Ceartly Branch geboren. Weißt du, es ist unfair, so knapp an einem normalen Leben vorbei zu schlittern<<
Shayia sah ihn an und wusste kurz nicht was sie sagen sollte, als sie ihren Mut zusammen nahm und ihm antwortete.
„Würde ich es mir aussuchen können, würde ich lieber von den Menschen verachtet werden, als von ihnen verehrt zu werden. Sieh dir nur, wie viel das einem bringt“, meinte sie und zeigte auf den Fremden. Naab zog eine Augenbraue hoch.
„Als ob man es als Verachteter leichter hätte. Da hast du gar keine Chance zu überleben wenn du untertauchst, denn ALLE wollen dich töten“, feixte er zurück.
Shayia sah ein, dass sie sich ein bisschen zu weit aus dem Fenster gelehnt hatte und sagte nichts mehr. Nach einem Augenblick der Stille, versuchte sie wieder auf das ursprüngliche Thema zurückzukehren.
„Es war langweilig mit der Zeit und ich war allein. Nicht allein gelassen, aber ich konnte mit niemanden über die Sachen reden, die mich wirklich beschäftigten und musste immer hinter einer Maske bleiben. Du hast ja gesehen, was passiert, wenn ich mal ich selbst bin. Meine beste Freundin hat mich verlassen. Und als ob das nicht schlimm genug ist, kann ich mich in meinem Zuhause dafür rechtfertigen. Also geht es mir jetzt eigentlich besser als zuvor“, redete sie so vor sich hin und achtete gar nicht mehr darauf, dass Naab sie entgeistert ansah.

„Du würdest das hier doch nicht deinem alten Leben vorziehen, Shayia, ich bitte dich. Das kann nicht dein Ernst sein. Was hast du hier schon, dass du vorher nicht hattest?“, schnaufte er verächtlich und drehte sich von ihr weg. Eigentlich war das eine rhetorische Frage gewesen, aber Shy antwortete darauf.
„Meinen besten Freund“, sagte sie mit all der Ehrlichkeit, die ein Wesen in drei Worte legen kann und ging weiter. Er sah ihr nach und verstand sie nicht. Naab wollte sie davon überzeugen, dass das ein Unsinn war, dennoch fühlte er etwas in seiner Brust, dass ihn davon abhielt. Es fühlte sich schwer und unerträglich an. Ein Gefühl, dass er bis dahin noch niemals gefühlt hatte. Am liebsten würde er jetzt schreien und lachen gleichzeitig. Unmöglich zu definieren, was er fühlte, aber es war … schön.

Schon einige Stunden später erreichten sie eine Stadt, die aussah wie ein zu groß geratenes Dorf. Ställe waren überall wo sie hinsahen, es gab nur zwei Gasthäuser und eine Hauptstraße. Trotzdem waren sehr viele Leute unterwegs. Manche spazierten langsam vor sich hin und genossen die letzten Sonnenstrahlen, andere hatten es eilig noch letzte Lebensmittel zu besorgen. Shayia war froh, in ein so reges Treiben hinzukommen, da es hier viel schwerer fiel, sie zu erkennen, als auf einer leeren Straße.
„Wollen wir hier übernachten?“, fragte Shayia und zeigte auf ein Schild, wo ein Bett mit Gabel und Messer aufgemalt war, dass über einer Tür hing. Naab nickte und ging mit Goliath um die nächste Ecke und fand den dazugehörigen Stall. Er band Goliath an dem hintersten Holzstamm an. Dort waren schon Karotten, Hafer und Wasser bereitgestellt worden.
„Gute Nacht, alter Junge“, sagte Naab noch abschließend und zerrte den Fremden von dem Rücken des Hengstes.
„Du folgst mir jetzt ohne einen Mucks. Sonst war es dein letzter! „, flüsterte Naab ihm ins Ohr. Dann zog er an seinem Oberteil und ging zurück zu Shayia. Die hatte vor dem Eingang gewartet.
„Übernimmst du das mit dem Reden? Buch es auf den Namen Aleycander Kane. So müsste keiner einen Verdacht schöpfen. Und pass mit dem Elf da auf!“ , erinnerte ihn Shayia.
Dann betrat zuerst Naab, gefolgt von dem Fremden und Shayia das Lokal. Die knarrende Tür verriet sie schon vor ihrem Eintreten. Die Augenpaare der Gäste beobachteten sie neugierig und die zusammengekniffenen Augen des Wirtes verfolgten sie bis an die Theke.
„Was kann ich für euch … drei tun? „, fragte er nur behelfsmäßig höflich.
„Wir hätten gerne ein Zimmer mit zwei Betten, wenn das möglich ist“, sagte Naab.
„Und auf welchen Namen? Wartet mal … wusstet ihr, junges Fräulein, dass ihr der Prinzessin sehr ähnlich seht? Zumindest, was man mir über ihre Schönheit geschildert hat“, sagte der Wirt und sah sie misstrauisch an, bevor er schelmisch zu grinsen begann.
„Aleycander Kane“, antwortete Naab gepresst.
„Gut, Aleycander, ein Zimmer mit ZWEI Betten. Hier habt ihr den Schlüssel. Das macht dann 15 Goldmünzen“, lachte der ziemlich dreckig wirkende Wirt und legte den Schlüssel mit seiner dicken Hand auf den Tresen. Shayia bemerkte, warum der Wirt so lachte und ihre Wangen begannen zu glühen. Auch der Fremde lachte kurz auf. Naab jedoch war seine Tat nicht aufgefallen und er legte die Münzen auf den Tisch, bevor er den Schlüssel nahm.
Als er sich von dem Tresen weggedreht hatte stand auch schon der Wirt vor ihm. Anscheinend waren die drei seine heutige Belustigung und so war er nicht zu faul, um ihnen ganz genau zu zeigen, wo ihr Zimmer lag. Nach den Stiegen, die sie in den nächsten Stock geführt hatten, bog der Wirt in das zweite Zimmer auf der rechten Seite.
Naab war der erste, der nach ihm das kleine Zimmer betrat.
„ Wie ihr es wolltet, zwei Betten“, lachte der Wirt und wartete bis alle das Zimmer betreten hatten, bevor er mit seiner Führung fortsetzte, „ein Doppelbett und ein Einzelbett. Gute Nacht und viel Spaß!“, rief der Wirt ihnen hinterher, als er den Gang zurück zu seiner Theke ging. Sein glucksendes Lachen hallte noch, als er schon längst das Geschoss verlassen hatte.
Erst jetzt schien Naab zu begreifen, was der Wirt gemeint hatte und kratze sich verlegen am Kopf. Shayia schlug die Tür zu und ließ sich auf die eine Hälfte des Doppelbettes fallen. Der Fremde setzte sich auf das Einzelbett in einer Ecke und streckte sich.
„Langer Ritt, was? Ach ihr musstet ja gehen. Das tut mir jetzt aber sehr leid“, murmelte der Elf vor sich hin und lehnte sich gegen die Wand.
„Ignorier‘ ihn einfach“, sagte Shayia und lächelte. Naab schien sein kleiner Fehler noch immer unangenehm zu sein und er wäre fast aufgesprungen um sich mit dem arroganten Elfen zu prügeln.
„Das mit den Betten…“, begann er und der Elf platzte ihm ins Wort.
„… war sehr gerissen, muss ich zugeben. Wenn ich das nächste Mal ein Mädchen ins Bett bekommen will, darf ich die Idee doch von dir ausborgen, oder? Sehr gut überlegt“, grinste er und zeigte mit seinem Zeigefinger gegen seinen Kopf. Dann legte er sich auf sein Bett und schloss die Augen. Naab war rot vor Scham und Wut und wollte diesmal wirklich aufspringen, aber Shayia zog ihn zurück und er fiel neben ihr auf das Bett. Lachend sahen sich die beiden an. Es war ein angenehmes Gefühl beschützt zu werden. Aber gleichzeitig wusste sie, dass Naab ihr niemals wehtun würde.

Als die Sonne dann einige Minuten später hinter dem Horizont verschwand, kehrte Dunkelheit in das Zimmer ein. Der Fremde war schon längst eingeschlafen, die Türe abgesperrt und Shayia machte sich gerade daran eine Kerze anzuzünden.
„Er könnte uns im Schlaf töten“, sagte Naab in der eingekehrten Stille. Als Shayia die Kerze auf ihren Nachttisch gestellt hatte und sich wieder in ihre Decke kuschelte, sah sie ihn an.
„Vielleicht würde er es versuchen, aber dann würde ich es merken. Ich schlafe nicht fest und schon der kleinste Lärm, würde mich wecken“, antwortete sie. Dann sah sie zu Naab, der sich gerade aus seinen Stiefeln befreite und auch sein Hemd auszog. Shayia ertappte sich dabei, wie sie seine Bauchmuskeln anstarrte und sah sofort weg. Auch sie setze sich jetzt mit dem Rücken zu ihm auf den Bettrand und zog sich ihre Schuhe und ihr Oberkleid aus. Darunter kam ein weißes Unterkleid zum Vorschein. So schnell es ging rutschte sie wieder unter die Decke und zog sie sich bis über die Schultern. Irgendetwas machte sie unsicher. Es war doch bloß Naab. Ihr Naab, der nicht anders war als sonst auch. Vielleicht verunsicherte sie aber die Anwesenheit dieses Boten.
„Was machst du da? „, fragte Naab sie neugierig, als sie sich gerade konzentrierte um den Fremden zu verhexen. Dann zeigte sie auf den schlafenden Elfen in der Ecke vor ihnen und ein heller Strahl zog sich wie eine Kuppel über ihn und sein Bett.
„Ich hab ihn gerade eingesperrt … denke ich“, antwortete sie ihm unsicher und lachte. Naab sah sie fragend an. Er lachte auch und schlüpfte wieder unter die Decke.
„Wenn alles gut gegangen ist, dann wird er nicht aus seinem Bett aufstehen können, bis ich ihn wieder befreie. Morgen hast du dann noch genug Zeit ihn ‚auszuquetschen‘ “, erklärte sie ihm und er verstand.

„Wir sollten schlafen, damit wir morgen nicht müde sind“, riet Shayia Naab, der noch immer an die Decke starrte und nachdachte. Er drehte seinen Kopf zu ihr um. Shayia wartete auf eine Äußerung, doch er sagte nichts und sah sie einfach weiter an. So verharrten sie mindestens zehn Minuten, bevor Shayia die Kerze nahm und sie ausblies. Von dem Licht der Kerze geblendet tappte sie mit ihren Händen in der Dunkelheit und wollte den Anfang ihrer Decke finden.
„Hey, das ist meine“, sagte Naab plötzlich hinter ihr. Shayia blinzelte in die Dunkelheit und erkannte nur das Fenster, das am anderen Ende des Zimmers war und durch das der Mond schien. Sie konnte sich ein Lachen nicht verkneifen.
„Tut mir leid“, gluckste sie vor sich hin, weil sie keine Ahnung hatte, wo Naab genau war. Aber langsam lichtete sich die Finsternis vor ihren Augen und sie legte sich auf ihren Polster und zog ihre Decke über sich.
„Gute Nacht, Naab“
„Gut Nach‘, Shy“

Das nächste was sie bemerkte, war, dass jemand sie von hinten umarmte, und ihr Herz blieb für einen Moment stehen. Hatte sich der Fremde doch befreit und Naab getötet? Wollte er sie jetzt auch töten? Einige Augenblicke vergingen und sie blieb erstarrt. Nichts passierte, aber die Hand um ihre Taille löste sich auch nicht. Bis sie dann die langen und gleichmäßigen Atemzüge hinter ihrem rechten Ohr bemerkte.
„Naab?“, fragte sie leise.
„Mhmm“, war das einzige, dass er in seinem Halbschlaf dahinbrummen konnte.
Erleichtert holte sie tief Luft. Es war nur Naab. Dann spürte sie, wie er sie an sich heranzog. Sie könnte seine Bauchmuskeln deutlich an ihrem Rücken spüren. Sogar sein rechtes Bein legte er über ihre. Regelmäßige Atemzüge spürte sie an ihrem Ohr vorbeiziehen. Er musste ganz nah hinter ihr liegen. Wärme durchfuhr sie und ein beruhigendes Gefühl machte sich in ihrer Magengegend breit. Niemand konnte ihr etwas anhaben. Er war da. Er würde sie mit seinem Leben beschützen. Diese Sicherheit gab ihr soviel Geborgenheit, dass sie sich nie wieder von ihm lösen wollte, nie wieder aufstehen wollte. Mit jedem seiner Herzschläge versank sie mehr im Land der Träume, aber keines konnte so schön sein wie dieser Moment.

Heimkehr und Abschied


17. Kapitel

Es stimmte also. Sie hielten mich für tot. Naja, wahrscheinlich nicht für ganz mausetot aber immerhin gefährdet zu sterben.
Ich musste auf jeden Fall mit Vater sprechen. Irgendetwas scheint hier nicht zu stimmen. Hatten wir etwas verbrochen? Waren die magischen Waffen eigentlich gestohlen und die sprechenden Tiere nur Einbildung?
Es fühlt sich an, als wäre man hunderten heißen Strahlen ausgesetzt, die einen von jeder Seite, jedem Winkel, durchlöchern. Wie viele Augenpaare hefteten an uns? Zweihundert? Fünfhundert, mit denen in den Häusern und denen die wir nicht sahen?
Was war geschehen?

Sie ritten auf Goliath die Hauptstraße entlang. Wären sie bunte Hunde gewesen, hätte das wohl an der Anzahl der Augenpaare nicht viel geändert. Kaum hatten sie das Stadttor durchquert, begannen die Leute zu flüstern. Ganze Scharen kamen auf sie zu. Man munkelte über ihre Entführung durch einen Verachteten, dass es ein Lösegeld gab und Shayia deshalb frei war. Erschrocken sah sie zu Naab. Sie rechnete mit allem: seufzen, Traurigkeit oder gar Verachtung für die Nichtwissenden. Doch da täuschte sie sich. Er schien neugierig zu sein, interessiert sich zu zeigen und als ob er beweisen wollte, dass er nichts verbrochen hatte. Manchmal huschte sogar ein Lächeln über die Lippen, wenn er Familien sah, die mit ihren Kindern spielten und deren Aufmerksamkeit ganz den Kleinsten gewidmet war und nicht ihm. Shayia strafte die Menge mit bösen Blicken und umarmte Naab. Sollten sie sehen, dass er viel mehr an Höflichkeit besaß als die meisten von ihnen, dass er freundlich war.

„Holt die Prinzessin herunter. Vielleicht überlegt er sich es ja noch und tut ihr etwas an!“, schrie einer der Briefkuriere, die sich mit versammelt hatten. Schon begannen dutzende Hände an ihrem linken Fuß zu ziehen. Eigentlich hatte sie sich vorgenommen einfach weiterzureiten aber jetzt war es genug. Sahen sie denn nicht, dass keine Gefahr drohte?
„Bitte hört doch auf! Ihr verletzt mich, ihr verletzt Naab. Könnt ihr uns bitte nur passieren lassen? Lasst meine Füße los und macht uns den Weg frei! Er wird niemandem etwas tun, schon gar nicht mir. Er hat mich gerettet!“, rief Shy den Dorfbewohnern zu. Die Mienen der Leute wechselten von erstaunt zu beschämt bis hin zu verärgert, dennoch hatten sie ihre Hände um ihre Fesseln nicht aufgegeben. Sie sah sich hilfesuchend um. Jemand aus dem Schloss würde doch jetzt hier sein. Aber die Menge nahm ihr jede Sicht auf die Metzger, Bäcker und Schmiede. Sie hörte nur viele Schritte und manche Leute kamen dazu oder verließen die Menge schlagartig, um ihren Familien zu berichten, dass die Prinzessin aufgetaucht war. Doch hinter dem letzten Elf, der sich um sie scharte, sah sie ein wehendes Kleid und eine junge Frau, die auf dem Pfad hinauf zum Schloss verschwand. War das ihre Rettung? Hatte sie jemand erkannt und rannte ihnen zu Hilfe?

Was hätte ich wohl an Naabs Stelle getan?
Vielleicht wäre ich durch solche Anschuldigungen wirklich zum Mörder geworden. Wie kann er nur so leicht damit umgehen? Gut, dass er versucht, die Menge nicht gegen sich aufzubringen. Aber warum denken sie, er hätte mich entführt? Was um Himmels willen lässt sie so etwas von ihm vermuten?

Naab und Shayia tauschten kurz einen Blick. Die Leibwache des Königs traf ein, unter ihnen auch Oberst Graf von Nachtenburg. Er war der erste, der die Menge aufscheuchte und Platz für Goliath machte. Sein Pferd kam wiehernd zum Stillstand und er verbeugte sich leicht.
„Welch Vergnügen euch in Avana wieder begrüßen zu dürfen, Hoheit. Darf ich euch mein Lob für eure reizende Gestalt aussprechen? Bevor wir hier anwurzeln sollten wir uns schleunigst auf den Weg machen. Euer Vater wünscht euch sofort zu sehen. Der ganze Hofstaat hat sich bereits versammelt!“, sprach Oberst Nachtenburg in guter Laune. Shayia kannte niemanden der mehr Höflichkeit, Manieren, Anstand und Taktgefühl besaß als er. Schon vor und während ihrer Schulzeit unterrichtete er sie fast wöchentlich genauestens über die Vorgänge im Schloss und was in ihrer Abwesenheit geschah. Er hatte sich nach dem Verlust ihrer Mutter am meisten um sie gekümmert. Natürlich hatte ihr Vater sie geliebt, aber die Traurigkeit und die Arbeit nahm ihm Zeit und Willen für sie zu sorgen.
Der in die Jahre gekommene Graf gab dem Pferd die Sporen und bedeutete ihnen ihm zu folgen. Die Blicke der Menschen hefteten noch lange an ihnen, sogar als sie die Dorfstraßen schon längst verlassen hatten und die Viertel der gehobenen Gesellschaft durchritten. Es war langer Marsch zu Fuß vom Stadttor zum Schloss. Je weiter sie kamen, umso prunkvoller und größer wurden die Häuser. Sie sahen denen aus dem Traum von Adra sehr ähnlich. Ihre Familie musste von fürstlichem Geblüt gewesen sein. Hatte sie das gewusst?
Jetzt war nicht die Zeit um darüber nachzudenken, denn in Kürze würden sie beide vor den ganzen Hofstaat treten. Shy war das gewohnt und sich ihrer Sache bewusst, auch dass sie Macht besaß, die sie ausüben konnte. Es galt die Wahrheit zu verteidigen, aber Naab schien nervös zu sein.
Wenn man sich in seine Lage versetzte, so war es ja kein Wunder:
Er war Aussätziger, seine Herkunft allein schon sein Todesurteil in Ceartly Branch. Dennoch hatte er einen Bürger Avanas verletzt und damit die Regeln gebrochen.
Das normale Strafmaß wäre erträglich gewesen. Arbeit in den Hofbestallungen oder Aushilfe in der Schule. Aber dadurch das auch Shayia mit ihm geflohen war und die Menge die Meinung vertrat, er habe sie zu alledem auch noch entführt, sah die Chance für ihn nicht gut aus. Allein durch seine Abstammung jedoch wäre es ein Wunder, würde er davonkommen. Das wiederrum könnte hier also sein Ritt in den Tod sein.
Als Shy das dämmerte, war es aber schon zu spät um umzukehren. Nun waren sie schon weiter als die zweite Absperrung, die das Viertel der Adeligen von allen anderen trennte. Das große Tor war genau hinter ihnen geschlossen worden. Hätte sie nicht jetzt mehr denn je an die Vernunft ihres Vaters gehofft, so könnte fast der Verdacht an eine Falle entstehen. Oberst Nachtenburg blickte nicht ein einziges Mal zurück um nach ihnen zu sehen. Er war sich ihres Bleibens also sicher. Bildete sie sich das alles nur ein?
Seine Nackenmuskeln spannten sich an, als ihm ein Schauer über den Rücken lief. Shayia war sich sicher, dass er gerade etwas sagen wollte, aber kein Wort drang an ihr Ohr. Er hatte Angst. Seine Stimme würde ihn verraten, sollte es so sein.
Sie wollte ihn beschützen und ihm sagen, dass alles in Ordnung war, jedoch war sie sich da selbst nicht sicher. Der Ort ihrer Kindheit war für sie nie etwas gewesen, vor dem man Angst haben müsste. Mehr als zusätzlicher Unterricht kannte sie als Strafe nicht. Aber sie wusste, wie gnadenlos der König war. Unerlaubt hatte sie mit angesehen, wie Diebe zum Tode verurteilt wurden. War es das, was auf Naab wartete? Die Schlaufe am Ende des Ganges?
Sie verdrängte die alten Erinnerungen, die in einem Wall über sie hinweg schwemmten.
Wenn sie ihn erst nach ihrer Trennung beim König gefangen nahmen, so würde sie es vielleicht verhindern können.

Der Weg endete in dem ihr nur allzu bekannten Hauptplatz, dessen Mitte ein riesiger Springbrunnen schmückte. Figuren von Zentauren und Schmetterlingselfen tanzten fröhlich zu der Flötenmelodie eines Fauns. Dieses Szenario lenkte nur kurz von dem eigentlichen ab. Dahinter drängten sich Hofdame um Hofdame in die erste Reihe, Mägde und Dienerschaft zupften ihre Kleider zurecht. Sobald Oberst Nachtenburg vor ihnen verschwand, ertönten Trompeten und der Hofschreier kündigte Shayias Ankunft an. Bevor sie in die Sichtweite der Versammlung kamen, spürte sie wie er schwer schluckte. Sie musste doch etwas tun können. Entschlossen ließ sie ihn los, saß kurz ohne Halt, griff dann aber weiter nach vorn und berührte mit ihren Händen seine, die die Zügel hielten. Er schwenkte den Kopf leicht zu ihrer Seite und sah sie durchdringlich an. Seine Hände waren riesig, im Gegensatz zu ihren, und warm.
„Wir schaffen das schon“, sagte sie leise und drückte leicht seine Hände. Er atmete tief aus und nickte.

„Meine Liebe, wie lange ist es her? Drei – vier Jahre? Viel zu lang! Schön dich zu sehen!“, sagte eine freundliche, weibliche Stimme. Ein Teil von Shayia sträubte sich gegen diese süßliche Falschheit. Herlana trat aus dem Schatten des lächelnden Königs. Ihr Anblick gab ihr wenig Hoffnung auf Gerechtigkeit. Wie sollte sie Herlana überzeugen, etwas zu tun, was in ihrem Interesse war?
„Ja, so in etwa. Schön wieder hier zu sein“, antwortete Shayia abweisend. Ihr Benehmen war gerade ihre kleinste Sorge. Denn so wie alle Naab beobachteten, konnte sie sich zusammenreimen, was sie gehört haben mussten. Ihr Herz sackte nach unten.

Mit einem leisen Knarren öffnete Shayia die Tür zu ihrem alten Zimmer. Neugierig suchte sie das Bett, die Kommode und den Kasten nach besonderen Merkmalen ab. Vielleicht gab es ja irgendetwas, das sie an ihre Mutter erinnerte, die hier sicher Stunden verbracht hatte.
Nichts. Warum kam ihre Erinnerung jetzt nicht zurück? Nicht einmal ein Déjà-vu. Hoffnungslos ließ sie den Kopf hängen. Sie betrat nun das Zimmer ganz, schlug die massive Holztür hinter sich zu und setzte sich auf das große Bett. Der Raum war zeitlos. Es sah aus, als wäre er gerade eben erst verlassen worden und doch hatte ihn schon seit sovielen Jahren keiner mehr betreten. Es war vergeblich. Gab es denn keine anderen Bilder?
Shayia öffnete die Laden des Nachttisches und strich mit dem Zeigefinger leicht über dessen Boden, auf dem sich schon winzige Staubkörnchen häuften. Sie war leer. Traurig zog sie ihre Hand wieder hinaus und hinterließ eine kurze Spur, auf der die mahagonifarbene Holzmaserung zum Vorschein kam. Dann schloss sie diese Lade und öffnete die untere. Ohne große Erwartungen zog sie an dem Knauf. Was sie dann sah, war mehr als sie zu hoffen gewagt hätte. Fast wäre sie aufgesprungen und hätte geschrien. Aber nachdem sie einmal geschluckt hatte, atmete sie tief ein und griff nach den Dingen. Da stand ihr Name, geschrieben in einer schönen schnörkligen Schrift. Es war ein Brief. Durch dieses Zeichen war sie sich sicher, dass auch die Dinge darunter für sie bestimmt waren. Sie nahm ein kleines Päckchen und einen Bilderrahmen heraus und legte ihn neben sich und den Brief auf das Bett.
Konnte das von ihrer Mutter sein? Hatte Selina ihren Namen geschrieben?
Eine Welle der Glücksgefühle durchfuhr sie erbarmungslos. Nichts und niemand konnte ihr diesen Augenblick nehmen. Bevor sie den Brief nahm schloss sie die Augen und versuchte sich diesen Moment einzuprägen. Was sie fühlte, was sie roch, was sie zuvor gesehen hatte, wie sich das Papier anfühlte, wie ihr Name geschrieben war. Dann öffnete sie langsam den Umschlag und zog das leicht vergilbte Briefpapier heraus. Den Umschlag legte sie wieder sacht zu den anderen Dingen neben sich, während sie den Brief entfaltete. Das war das, nachdem sie sich schon so lange sehnte. Worte ihrer Mutter die nur an sie gerichtet waren.

Liebe Shayia Sulight!
Es ist so schön, deinen Namen zu schreiben, auch weil er etwas ist, das uns beide verbindet. Wenn du diesen Brief liest, dann bin ich wahrscheinlich nicht mehr unter euch. Es kann vermutlich auch sein, dass du erst vor kurzer Zeit von mir erfahren hast. Und ich muss dir eines sagen, liebe Shayia: Es tut mir leid.
Wirklich sehr, denn ich habe verpasst, wie du erwachsen geworden bist. Wir könnten uns genauso gut nicht kennen, aber bitte vergib mir. Du warst immer mein Leben. Ich habe und werde dich immer lieben. Aber eine sehr schwere Angelegenheit wird mich von dir reißen. Ich weiß noch nicht wann, aber in den nächsten Stunden oder Tagen muss ich fort. Wir Engel spüren so etwas.
Zurück zu uns beiden. Jetzt sehe ich dich noch wie du schläfst und wie zauberhaft sich das Licht in deinem goldenem Haar bricht. Sobald du aufwachst, wirst du mich wieder mit Fragen bestürmen, so wie jeden Morgen. Vielleicht kannst du dich noch an das erinnern. (Shayia musste kurz Luft holen, denn sie hatte den ganzen Text über die Luft angehalten)

Nun zu dem eigentlichen Grund, warum ich dir, und ausschließlich dir, diesen Brief schreibe:
Du bist etwas ganz besonderes. In dir steckt gleich viel Engel wie Elf. Und das macht dich unverletzbar gegen Magie. Waldelfen ist es normalerweise nicht möglich Zauber zu wirken bzw. zu verstehen oder zu erlernen. Aber der Engel in dir kann Magie beherrschen, von der du noch keine Ahnung hast. Zu dieser Zeit brauchst du auch noch nicht darüber Bescheid wissen, wie mächtig du bist. Und deshalb habe ich eine Aufgabe für dich. Es tut es mir leid, dass ich dir etwasso Schweres aufbürden muss, aber du kannst uns alle befreien.
Bevor ich dir alles genauer erkläre, versprich mir, dass du niemals allein nach Harloc suchen wirst. Das ist das Schlimmste was du tun kannst. Er wird dich finden, wenn du soweit bist.
Bis dahin, bitte deinen Vater, er solle dir Soldaten unter dein Kommando stellen, falls du sie brauchen wirst. So wie ich ihn kenne, wird er es ohne zögern tun, auch wenn er nicht weiß, warum.
Dann brauchst du einen Lehrer für deine Kampfausbildung sowohl mit Waffen als auch mit Magie. Leider kann ich diesen Teil nicht mehr übernehmen. So gerne hätte ich dir all diese Sachen beigebracht. Du wirst sehr begabte Lehrer finden, da mache ich mir keine Sorgen.
Zuletzt eines noch: Egal was dir gesagt wird, dein Vater und ich lieben dich! Und wenn du dich selbst jetzt sehen könntest, schlafend und so unschuldig, dann wüsstest du, dass jeder in diesem Schloss bereit ist, sein Leben für deines zu opfern. Spätestens jetzt wirst du verstehen, warum ich gehen musste. Ich musste dich beschützen. Wäre ich geblieben und Harloc hätte dich gefunden, dann würdest du nicht mehr leben. So konnte ich ihn wenigstens so sehr schwächen, dass du lebst und diesen Brief lesen kannst. Aber wenn er noch nicht tot ist, dann wird er wiederkommen. Noch ist kein Grund zur Sorge, denn wenn du jetzt noch nichts Ungewöhnliches bemerkt hast, so wird er noch eine Weile brauchen,
bis er wieder versucht anzugreifen.
Ich wünsche dir nichts sehnlicher, als ein Leben in Frieden, an der Seite eines wunderbaren Mannes, der nur halb soviel Mut und Stärke, Liebe und Aufopferung besitzt wie dein Vater, und Kinder, die dir in nichts nachstehen. Du wirst sehen, am Ende wird immer jemand da sein, der dir seine Hand reicht.

In unbesiegbarer Liebe,
deine Mutter

Selina Sulight

Es war, als würde Shayia ertrinken. In ihrem tiefsten Inneren hatte sie all das schon gewusst. Aber hätte sie wirklich daran geglaubt, hätte auf sie vielleicht Enttäuschung gewartet.
Deshalb hatte sie sich immer nur an ein kleines Fünkchen Optimismus geklammert. Dieser Brief, der eindeutig die Handschrift und die Gedanken ihrer Mutter übermittelt, war wir ein Sturzbach, der einen ausgetrockneten, kleinen Teich überflutet. Es war einfach zu viel dieser wunderschönen Erinnerungen auf einmal. Wie konnte man ihr nur so etwas Wunderbares geraubt haben? Ihr Herz krampfte sich in diesem Überschwall an Freunde und ungebremster Traurigkeit zusammen und ließ einfach nicht mehr locker. Tränen rannen aus ihren Augenwinkeln und sie sah verzweifelt auf. Dann holte sie tief Luft und ein Schluchzen entfuhr ihr.

Woher wusste Selina das alles schon, obwohl sie diesen Brief vor gut dreizehn Jahren geschrieben hatte. Engel hatten also Begabungen, die mit der Zukunft zusammenhingen. Wie deprimierend musste er für sie gewesen sein, ihren eigenen Tod vorauszusehen und diesen Brief zu schreiben. Zu wissen, dass man seine Familie verlieren wird und der einzige Weg dieser war, um ihnen noch einmal zu zeigen, wie sehr man sie geliebt hat.
Shayia musste das vergilbte Stück Papier zur Seite legen, um es vor dem Schwall an Traurigkeit zu beschützen, der sie gerade zu ertränken versuchte. Sie zog ihre Beine auf das Bett und vergrub ihr Gesicht zwischen ihren Knien. Eigentlich wusste sie, dass all dies veranlasst wurde, um sie zu schützen, aber in diesem Moment kam ihr alles so furchtbar dumm vor. Warum war ihre Mutter nicht geblieben, um sie hier zu beschützen. Hätte Harloc es wirklich gewagt, ein anders Volk zu bedrohen?
Eine glasige Perle nach der anderen rannten ihr über ihre Wangen und tropften auf ihr Kleid. Sie konnte nicht aufhören, den Schmerz an sich heranzulassen. Es war, als wollte sie sich ihm freiwillig aussetzen. Nie hatte sie um ihre Mutter geweint.
Es war in Ordnung. Sie durfte sich diesem Elend hingeben und musste nicht versuchen tapfer zu sein. Nicht so wie die letzten Jahre, in denen sie immer der Fels in der Brandung sein musste. Sie durfte sich diesen Augenblick der Schwäche erlauben.
Die Zeit hatte in diesem Spiel der Trauer nicht viel mitzureden. Wie viele Minuten waren vergangen seitdem sie das Zimmer betreten hatte? Wie lange lag sie schon auf dem Bett und vergrub ihre Tränen in den Kopfpolstern? Sie wusste es nicht, es war ihr gleichgültig.
>> Hast du geweint, als du gestorben bist? War es ein schlimmer Schmerz? Wie lange warst du noch bei Bewusstsein? << fragte Shayia schluchzend in die Luft. Ihr schien ihr eigenes Leben zu viel zu werden. Wenn sie ginge, dann wäre es für alle leichter. Sogar Harloc selbst hätte keinen Grund mehr ihren Vater anzugreifen oder Unschuldige zu verletzen.
Doch bevor sie noch diese Gedanken zu Ende gedacht hatte, waren ihre Tränen versiegt und ihre brennenden Augen hatten sich geschlossen. Die Träume hatten sie zu sich genommen um sie zu trösten und all ihren Schmerz für eine Weile zu vergessen.

Vor dem Schloss verschwand die Sonne als rote Kugel am Horizont und zog all die hellen Strahlen mit sich hinunter, unter die Erde. Man sprach davon, dass nun in der Unterwelt der Tag anbrach.

Naab ging eine Runde im Schloss umher. Es war nicht sehr voll und die einzigen, denen er begegnete, waren Mägde und Angestellte. Er hatte sich damit abgefunden, dass ihn allesamt ignorierten. Was hatte er sich auch vorgestellt. Nicht einmal dem König war es recht, dass er mit seiner Tochter befreundet war, geschweige denn seinem Personal.
Als er an der Empfangshalle angekommen war, sah er noch in den Speisesaal, der gerade für das Abendessen gedeckt wurde. Fraglich ob er hier mit den anderen sitzen würde, oder in einer verrosteten alten Zelle. Missmutig verließ er das Schloss und setze seinen Spaziergang in den Gärten fort.

Zum Abendessen wurden beide in den Festsaal gerufen. Er war festlich geschmückt worden, denn wie Shayia schon gehört hatte, war ihre Ankunft schon länger bekannt gewesen. Zumindest lange genug um alles vorzubereiten. Man brachte ihr schöne neue Kleider, denn die alten, die noch in ihren Schränken hingen, passten ihr schon seit einigen Jahren nicht mehr.

Zu seiner Überraschung brachte man Naab auch schöne Gewänder. Nachdem alles an seinem Platz war und die Sonne schon hinter dem Horizont verschwunden war, schloss er die Tür seines Zimmers. Nachdenklich und mit einem flauen Gefühl im Magen zupfte er noch nervös an seinem Hemd herum, als er hinter sich eine andere Tür ins Schloss fallen hörte.
„Du siehst… du siehst einfach… umwerfend aus, Shy“, stammelte Naab, als er sie kommen sah. Sie lächelte verlegen und verbeugte sich leicht. „Du aber auch!“, antwortete sie und hakte sich bei ihm ein. „Du kennst deinen Vater besser. Was glaubst du wird er dazu sagen?“, fragte er unsicher während sie beide die Stiegen hinunter schritten. „Zu was?“, fragte Shayia wissend, was er wohl darauf sagen würde. Farbe kam plötzlich in sein Gesicht, aber es war doch nicht das Thema, welches Shy erwartete hatte, denn anstatt eines verlegenen Gesichtsausdrucks, verzogen sich seine Lippen zu einer dünnen Linie und er starrte vor Zorn gerade aus. „Muss ich dem Bastard denn auch noch einen Namen geben? Du weißt ganz genau was ich meine. Sie werden eine Erklärung verlangen oder, besser, vielleicht hat Christobal ja eine Lüge verbreitet und wir, nein eigentlich ich, werde gleich in euren Kerker geworfen. Shayia“, ermahnte er sie schon fast und in seiner Stimme schwang so viel Ärgernis mit, dass sie sich ganz dumm fühlte, es nicht gleich erraten zu haben. Aber ihr war ein anderes Thema fast vorrangig gewesen. In ihren Gedanken verschob sie dies auf später. Er hatte Recht. Jetzt stand einmal ein schreckliches Kreuzverhör an. Sie betraten ineinander gehakt den großen Saal, der vollends mit Leuten gefüllt war, die Shayia alle unbekannt waren. Dennoch konnte man die Luft fast durchschneiden, so dick war sie schon geworden.
Die beiden sahen sich an und verbeugten sich gemeinsam. Mauren stand auf und mit ihm alle anderen Gäste. „Schön euch wiederzusehen, Prinzessin Shayia.“, hallte es aus verschiedenen Mündern wieder. Was auch immer jetzt geschehen würde, sie würden es gemeinsam durchstehen. Und sie würde es nicht zulassen, dass Naab irgendetwas zustieß, wenn dies auch bedeutete gegen ihre eigene Familie zu kämpfen.

Zuhause


18. Kapitel

Ja, es fühlt sich definitiv nicht wie Zuhause an. Eigentlich hatte ich lange darüber nachgedacht, was ich fühlen werde, wenn ich durch die Hallen wandere. Nichts. Und jetzt sitze ich neben versteinerten Masken, unheimlich dreinblickend starren sie mich an. Hier gehöre ich nicht her.
„Kannst du uns heute aufklären? Warum bist du weggelaufen? Wir haben uns solche Sorgen gemacht!“
Herlana war die erste, die das Wort ergriff und klang dabei nicht weniger glaubwürdig als ein Henker, der auf Unschuldig plädiert.
„Es war nicht Naabs Schuld“, sagte Shayia, „ich kann mir denken was man euch allen erzählt haben muss.“
Naab sah sie mit vor Schreck geweiteten Augen an und schluckte merklich. Mauren beobachtete seine Reaktion auf Shayias Worte und sah ihm aufmerksam zu. „Bitte, dann öffne uns die Augen für die Wahrheit, Tochter“, antwortete Herlana.
Shayia ordnete ihre Gedanken und als sie den Entschluss fasste zu antworten, blitze etwas in ihren Augen auf, was unverkennbar viele falsch interpretierten. „Christobal, er trägt die Schuld für all diese Geschehnisse. Naab, er“ Shayias Stimme setzte aus, als sie sich verhaspelte, aber dies war der Augenblick, den Herlana nutzte und ihr ins Wort fiel.
„Wachen? Wachen!“, schrie sie und alle sahen sie erschrocken an.
„Aber, was tust du?“, fragte Mauren und behielt dabei gerade noch die Fassung. „Es ist noch nichts entschieden. Dies ist mein letztes Wort!“
Herlana wusste nicht, was sie tun sollte und zögerte, aber schließlich beugte sie sich der Autorität des Königs und setzte sich wieder auf ihren Platz.
„Was dachtest du in meinen Worten zu hören, außer die Dankbarkeit gegenüber ihm?“, fragte Shayia ihre allzu verhasste Schwiegermutter.
„Denkst du denn wirklich, dass er dir so ohne Hintergedanken geholfen hat? Wer weißt, die Sache hätte auch geplant sein können. Schatz über-“, Mitten im Wort wurde sie durch Shayia unterbrochen. „DU kennst ihn nicht so wie ich. DU hast ihn heute zum ersten Mal gesehen. Wage es nicht ihm etwas zu unterstellen, du-“
„Es reicht Shayia! Ich schlage vor, wir setzen dieses Gespräch in meinem Arbeitszimmer fort“, Mauren sah sie durchdringlich an. Sie nickte.
„Naives Mädchen. Und du glaubst, du kennst ihn?“
„Herlana, es ist genug! Ein Wort noch“
Herlana hatte ihn an der Schulter gefasst und aufgehalten.
„Nun, alle haben das Recht, die Wahrheit zu erfahren!“, sie blickte in die Runde. Viele nickende Gesichter waren in der Menge.
„Dies ist kein Gespräch für eine Tafel, Liebste. Es tut mir leid, aber ich werde diesem Essen für heute nicht mehr beiwohnen. Naab, Shayia? Wir haben noch eine Menge zu bereden.“

Die schwere Holztür des Arbeitszimmers schlug hinter den dreien zu. Naab fühlte sich hier behaglicher. Shayia betrachtete die vielen hohen Bücherregale neugierig und las den einen oder anderen Titel. Dieses Zimmer kannte sie aus Träumen. Sie waren also doch keine Illusion gewesen.
Einmal nahm sie ein schweres, dickes Buch aus einem der Regale. Es hatte einen satten roten Einband und trug den Titel Der Kontinent Amalteron – Landkarten und Erklärungen.
Sie öffnete es vorsichtig und schlug gleich eine der Landkarten auf. Abgebildet waren die nordwestliche Grenze von Ceartly Branch und das beginnende Nachbarland Ebós. Neugierig studierte sie die eingezeichneten Punkte, die unter anderem Orte, Berge, Flüsse und Seen darstellten.
Mauren hatte geduldig gewartet, Naab sich schon auf einen der Sessel vor den Schreibtisch gesetzt und beide hatten sie schon länger beobachtet.
„Ich bin mir sicher, da ist noch so einiges Mehr, das ihr mir erzählen wollt.“, sagte der König ruhig und sah Shayia erwartungsvoll an. Sie sah von dem Buch auf und schlug es zu.
„Sehr wohl“ Sie legte es auf den kleinen Tisch vor ihr, bevor sie hinüber ging und sich neben Naab auf den anderen Sessel setzte. „Es fehlt vieles. Versprich bitte, nicht gleich herumzuschreien oder dein Heer loszuschicken. Aber bevor ich dir den Rest erzähle, musst du mir sagen, was mit Christobal geschehen wird oder ist.“

Maurens Augen verengten sich. „Das kommt ganz darauf an, was du mir erzählst. Derzeit ist er noch auf der Schule in den Mondwäldern. Aber ich darf doch in Hinsicht auf ihn handeln, wenn ich die Wahrheit kenne?“
Sie nickte und sah zu Naab. Es war wie eine Aufforderung zu sprechen, denn die Geschichte begann mit der seinen.
„Ich kam auf Shayias Schule, weil mein Vater mich aus dem Exil verstoßen hat“, begann Naab und sah niemanden in die Augen, aber Maurens Gesicht verhärtete sich und ein kleiner Vorwurf lag darin, als er sich an Shy wandte. „Aus dem Exil?“
„Ja, ich bin der Sohn von Ania und Mikon Araxo. Aber ich bitte Sie nicht zu vorschnell zu urteilen, zumindest nicht über meine Mutter. Denn sie befreite mich von dem Bann. Sie gab ihr Leben für meines.“
„Das ändert nichts daran, dass sie versuchten, mich zu töten. Es tut mir leid für dich, in so einer Umgebung aufwachsen zu müssen. Ich werde gewiss nicht vorschnell urteilen und es ist bekannt, dass meine Entscheidungen stets gerecht sind. Wenn meine Tochter dir vertraut, so werde ich es ihr nachtun. Nun aber sprich weiter, mein Sohn!“
Naab erzählte ihm alles. Von den Abgrenzungen der anderen Mitschüler und dem Hass, welchen sie gegen ihn richteten, bis zu den Gesprächen zwischen Shayia und Adra, wobei er da immer eine Pause machte und die Prinzessin erklären ließ, was genau gesagt wurde.
Mauren war höchst interessiert daran und allen Signalen nach zu urteilen, glaubte er ihnen ohne zu fragen. Naab und Shy blickten sich öfters nervös an, vor allem an den Stellen da sie ihm schilderten, dass die Königin ein Engel war. So sehr sie sich auch anstrengte, sie konnte nicht in seinen Gesichtszügen lesen, was der König dachte. Manchmal wäre es ihr lieber gewesen, vorauszuahnen, was seine nächste Antwort war, denn er sagte Dinge, die sie nie von ihm erwartete hatte. Wie konnte sie sich nur so in ihrem eigenen Vater getäuscht haben? Er war keinen Augenblick lange abweisend, kaltherzig oder eingebildet. Weder vor ihrem Gespräch, noch während. Wie sehr musste ihr eigener Stolz durch Herlana und Quinn verletzt worden sein, dass sie ihn mit verurteilte, ihn mit den zweien in ein und dieselbe Schublade steckte? Erst jetzt fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Kein einziges Mal, an dem sie ihn besucht hatte, war ihr aufgefallen, wie wenig er für Herlana übrig hatte, wenn sie dabei war. Wie wenig er Quinn beachtete, auch wenn sie noch so sehr um seine Aufmerksamkeit kämpfte.
Wenn sie dabei war, waren ihm alle diese Eindringlinge gleichgültig.
Es war, als lichtete sich der Schleier. Keinen Moment war sie jemals allein gewesen.
„Auf unserem Weg nach Weißenstein, wo wir eigentlich vorgehabt hatten Vorrat zu besorgen und einen Sattel“, er und Shy schmunzelten, „wurden wir von den Malauki entführt. Jedoch wollten sie uns nicht gefangen halten. Es war ihr Auftrag gewesen, Shayia zu retten, sollte sie jemals Hilfe brauchen.“
Mauren zog beide Augenbrauen hoch und starrte sie fast schon geschockt an. „Ihr habt sie gesehen?“
„Ja, die Ureinwohner von Ceartly Branch, Vater! Und es sind mehr als nur einer.“
Diese Antwort besserte nicht gerade die Situation, dennoch erkannte man in seinem Blick seine Selbstbeherrschung. „Und auf welchen Befehl hin haben sie gehandelt?“
„Auf die Bitte Ihrer Frau“, antwortete Naab. Für beide war von Beginn an klar gewesen, dass es nur eine richtige Königin gab.
„Bei aller Freundlichkeit, die Herlana Shayia gewöhnlicher weise entgegenbringt, glaube ich auf keinen Fall, dass sie auch nur im Entferntesten dazu Imstande wäre, mit den Ureinwohnern einen Pakt zu schließen. Nicht einmal wenn es ihr eigenes Leben retten würde. Nun ja, sie ist nicht wirklich sehr…“, er dachte kurz nach, bevor er es so ausdrückte, dass sie beiden verstanden, „interessiert daran, mit Gesellschaften dieser Art und dieses Ranges zu verkehren.“
Shayia sah ihren Vater mit großen Augen an. So abfällig hatte er noch nie über seine eigene Frau gesprochen.
„Wie denkst du jetzt über mich, mein Kind?“, fragte Mauren bitter. „Bist du sehr enttäuscht über mich?“
„Du bist mein Vater. Du wirst mich nie enttäuschen. Ich habe dir soviel Unrecht getan… All die letzten Jahre. Es tut mir so leid, bitte verzeih mir.“
Der König stand auf und in seinen Augen schimmerten Tränen.
„Wie lange ist es her, dass wir so miteinander gesprochen haben, Shayia?“
„Ich weiß es nicht mehr, aber von nun an wird alles anders! Ich verspreche es“, flüsterte Shayia und lächelte.

Der erste Eindruck war Wärme. Der zweite Eindruck grelles Licht. Es fühlte sich so… vollkommen an. Shayia lächelte zufrieden, streckte sich und kuschelte sich weiter in etwas Weiches, Flauschiges.
Flauschig??
Vorsichtig öffnete sie die Augen. Das Licht blendete sie und sie konnte einen Moment lang nichts erkennen, aber als sie sich auf die andere Seite drehte, verschluckte sie der Schatten.

Ein Bett. Mein Bett.
Beruhigt ließ sie sich wieder in ihren Polster zurückfallen und atmete entspannt aus. Aber irgendwas war anders. Sie setzte sich wieder auf und erkannte nun, woher der starke Duft kam, den sie erst jetzt bemerkte. Ihr ganzes Zimmer war voller Blumenarrangements, kunstvoll zusammengesteckt und herrlich duftend. Die Beerentöne waren wohl kein Zufall, ihr Vater wusste also noch immer was ihr gefiel. Ein Lächeln huschte über ihre Lippen, als sie die weiche Decke zur Seite schlug und leicht wankend aus ihrem Bett stieg. Sie ging von Einem zum Nächsten und roch an den süß-duftenden Blüten, die ihr entgegen strahlten.
Unter dem letzten, welches am nächsten zum Fenster stand, lag ein kleiner Zettel:

Guten Morgen, mein Engel.
Ich hoffe, du hattest eine angenehme Nacht.
Natürlich hast du schon meine kleinen Geschenke gesehen.
Es waren doch diese deine Favoriten unter den Blumen und Farben. Falls nicht,
tut es mir sehr leid und ich hoffe inständig, dass dir die Aufmerksamkeiten dennoch gefallen.
Sobald du fertig bist, erwarten wir dich im kleinen Saal zum Frühstück.
Ich liebe dich
dein Vater

Hmm…Wir erwarten dich im kleinen Saal. Wir? Naab war schon auf? Oder meinte er Herlana und Quinn. Aber so wie er mich kannte, würde er so etwas nie tun. Zumindest würde er sich nicht mit ihnen wir nennen, wenn er mir schrieb. Na dann beeile ich mich eben. Wie lange sie wohl schon warten… Wann waren sie überhaupt in mein Zimmer gekommen? Sie mussten so leise gewesen sein. Eins, zwei, drei … acht, neun… neun Arrangements, neun Mal.

Erstaunt zog sie eine Augenbraue hoch, dann nahm sie die Karte und küsste sie einmal, steckte sie in das letzte Blumengesteck und schlug die Tür hinter sich zu.

„Naab?“, fragte Shayia leise an der ersten Tür rechts von ihrer. Nichts. Vielleicht, fragte sie sich, war er in einem anderen Zimmer untergebracht worden. Shayia wusste nicht mehr genau, was gestern noch geschehen war. Nachdem ihr Vater alles erfahren hatte, unterhielten sich er und Naab, während sie in ihrem großen, bequemen Stuhl eingenickt war. Kurz war sie aufgewacht, da waren beide noch wach und hatten über eine Legende lebhaft diskutiert. Als Naab gemerkt hatte, dass sie wach gewesen war, hatte er ihr über die Haare gestrichen und sie angelächelt. Es war ein anderes Lächeln. Dann hatte sie bemerkt, dass sie woanders waren. Mauren saß auf dem großen Ohrensessel vor dem Kamin, in dem die Flammen hoch züngelten, während Naab auf der Bank gegenüber saß und Shy mit dem Kopf auf seinem Schoß lag.
Was sie gefühlt hatte, so nah bei den beiden wichtigsten Männern ihres Lebens zu liegen, noch halb betäubt vom Schlaf, war mehr als Glück gewesen. Es war das Gefühl, endlich ihr wahres Zuhause gefunden zu haben. Endlich…

„Naab, bist du schon wach?“
Sie hörte jemanden den langen Flur entlang gehen. Die Schritte hallten von dem Marmorboden wider und sie kamen immer näher.
Das Geräusch erstarb plötzlich. Aber als sie versuchte sich zu konzentrieren, konnte sie die Atemzüge hören.
„Hallo? Wer ist da?“
„Shayia!“
-„Naab?“
„Was dachtest du denn?“, fragte er fröhlich und tauchte hinter einer der Mauern auf. Obwohl sie wusste, dass er um die Ecke kam, fuhr sie erschrocken zusammen, als sich auf dem weißen Marmor ein dunkler Kontrast auftat und sie ein Gesicht erkennen konnte. „Schlecht geträumt, mein Engel?“
Kurz war sie durcheinander, dann folgte sie seinen Augen und sah in der Spiegelung des Bodens, was er sah: Ein verträumt und gleichzeitig erschrocken dreinblickendes Mädchen in einem weißen Kleid und langen, blonden Haaren, deren Augen ihn mit einer unbeschreiblichen Tiefe beobachten.
Als er merkte, dass sie wusste, wie er sie ansah, breitete sich Röte in seinem Gesicht aus. Shy entfuhr ein Lachen und er sah sie verwirrt an.
„Du weißt nicht zufällig noch, wie ich ins Bett gekommen bin und“, sie blickte an sich herunter, „wer mich umgezogen hat?“
Jetzt lachte auch er und kam auf sie zu. „Wenn du öfters ohne Schuhe auf dem kalten Steinboden herumspazierst und an fremden Zimmern lauschst, wirst du dich bald erkälten!“
Das war also seine einzige Stellungnahme zu dem Fall.
„An fremden Zimmern? Es ist also nicht deines?“, fragte sie.
„Kann schon sein. In diesem Schloss hier gibt es wahrlich mehr Zimmer, als man in seinem Leben je benützen könnte. Vorausgesetzt man hat keine dreihundertfünfundvierzigköpfige Familie.“, antwortete er gelassen, während er vor ihr stehen blieb.
„Warst du an der Blumenmission beteiligt?“
„Kann schon sein“, antwortete er in dem gleichen Tonfall wie bei der Frage zuvor. Es war zum Bäume ausreißen. Bekam man hier denn gar keine Informationen mehr?

Doch bevor Shayia auch nur ein Wort sagen konnte, verlor sie den Boden unter den Füßen und ein Mal blinzeln später stand sie vor ihrem Kleiderschrank. „Aber wie…?“
„Psst, sag nichts und such dir was Schönes zum Anziehen aus! Wir treffen uns beim Frühstück unten.“
Heute sprühte er vor Charme und Geheimnissen. Irgendetwas hatte ihn dermaßen verändert. Und was bitte sollte ich aus meinem Kleiderkasten anziehen? Da sind doch noch immer die Kleider meiner Kindheit verstaut, außer ein bis zwei Ausnahmen.

Als Shayia jedoch die massige Holztür aufzog, konnte sie ihren Augen nicht trauen. Das war definitiv nicht ihr Kleiderschrank! Soviele wunderschöne Kleider in den verschiedensten Farben. Was war in dieser Nacht geschehen und wie viel von dem allen wusste Naab? Was verheimlichte er noch?
Sie schloss die Augen und streckte ihre Hand aus. Sie spürte einen weichen, angenehmen Stoff unter ihren Finger. Shayia nahm es aus dem Schrank heraus. Es war ein himmelblaues Kleid, zum Glück ohne Rüschen, und hatte ein dunkelblaues Band an der Hüfte. Ein erneutes Glück war es, dass es nicht so bombastisch groß war, wie ihre sonstige Bekleidung und sie hatte auch ganz sicher nicht vor, einen Reifrock zu tragen. Als sie das Zimmer verließ, war sie ganz zufrieden damit, was sie in ihren neuen Sachen so zusammengefunden hatte.
Während sie die Gänge abschritt, griff sie die Gedanken von vorhin auf und dachte über das nach, was er gesagt hatte. Engel. Er hatte Shayia Engel genannt. Natürlich war es das Naheste und eigentlich kein Kosenamen für sie, denn was sie war, konnte man nur als Engel bezeichnen, ohne hochmütig zu wirken. Trotzdem lag in seinen Worten mehr. Ein neuer Ton, den sie vorher nicht gekannt hatte.
Shayia bog nach rechts in den nächsten Gang.
Sollte sie sich jetzt darüber freuen oder sich Sorgen machen? War sein ganzes Benehmen vorhin nur gespielt, oder konnte sich jemand wirklich in einer Nacht so sehr verändern? Soviele Fragen und auf keine eine Antwort. Und was hatte die neue Freundschaft zwischen dem König, ihrem Vater, und Naab zu bedeuten? Übte sie einen so starken Druck auf ihn aus?
Und was hatte er heute mit ihr vor? Egal was es war, sie würde ihn beobachten und herausfinden, was falsch lief.
Sie bog nach links ab und stand nun vor der großen Stiege die direkt in den Festsaal führte. Von dort vorbei an der Küchentür, war es nur noch ein Raum bis zum kleinen Speisesaal. Als sie gedankenverloren die Stiegen hinabging, bemerkte sie Naab zuerst nicht, der am Ende der Treppe stand und auf sie wartete, während er sie mit großen Augen beobachtete.

„Du hörst wohl nie auf zu Träumen, nicht einmal, wenn du wach bist.“, sagte er zu ihr und sie erschrak ein wenig als sie bemerkte, dass er neben ihr stand. Es klang nicht wie ein Vorwurf, eher wie eine Feststellung.
„Niemals“, antwortete sie ihm.
„Frühstück?“
„Ja, ich sterbe vor Hunger!“

„Danke, für die schönen Blumen in meinem Zimmer und auch für all die hübschen Kleider!“, sagte sie zu ihrem Vater, als die Bediensteten schon begannen, die Frühstückstafel abzuräumen.
„Es war das Mindeste, was ich tun konnte, mein Engel. Immerhin warst du es, die mir all die Jahre verziehen hatte. Erinnere mich bitte später, nach Lady Sierra und Direktorin Adra schicken zu lassen. Und was deinen Freund hier betrifft“
Shayia verzog den Mund, bei der Art, wie er Freund aussprach. „Bester Freund, Vater“
„Wie auch immer, ich bin sehr positiv überrascht, dass muss ich wirklich zugeben. Es soll jetzt hoffentlich wie ein Lob klingen, aber ich dachte nicht, dass er so bescheiden ist. Nimmt nur wenige meiner Geschenke an und besteht darauf, dir deine persönlich zu bringen.“
Shayia starrte Naab ungläubig an. „Aber ich dachte, du hättest geholfen, sie zu bringen. Nicht dass du alle heraufträgst. Die waren doch sicher schwer. Naab, was…“
Naab drückte ihr einen Finger an die Lippen und bedeutete ihr still zu sein. „Ich wollte das tun. Außerdem wusste ich, wie leicht du aufwächst, also habe ich versucht, sehr, sehr leise zu sein. Und so hatte ich Gelegenheit, dich neun Mal zu beobachten. Immer wenn ich das Zimmer betrat, gehörte ein Blick ganz dir. Zuletzt, sah ich dich zwei Mal an. Das Schwierigste an der ganzen Mission, wie du sie nanntest, war, die Tür nach dem neunten Blumenstrauß zu schließen.“
Shayia starrte ihn noch entgeisterter an als zuvor.
„Ein Gentleman durch und durch. Hast du das gewusst? Kanntest du diese Seite von ihm? Er hat eine Überraschung für dich. Deshalb“, sagte Mauren und stand auf, „werde ich mich jetzt in mein Arbeitszimmer zurückziehen. Viel Spaß euch beiden und bis zum Abendessen!“
Dann verschwand er hinter der nächsten Tür.

„Wer bist du und was hast du mit meinem Naab gemacht?“

Tiefer Fall


19. Kapitel

„Mach‘s nicht kaputt.“
„Wenn ich wüsste, was ich nicht kaputt machen soll, dann würde ich natürlich aufhören.“ Shayia sah ihn belustigt an. Was hatte er vor? Und warum hielt er es vor ihr geheim? Und warum wusste es ihr Vater? Wie viel wusste er? Ein Gefühl das Zorn nahe kam, durchfuhr sie. Jeder wusste mehr als sie. Trotzig sah sie ihn an, aber ihre Augen verrieten, dass sie sich weit entfernt befand.
„Du machst es schon wieder“, sagte er, sah sie übertrieben beleidigt an und schmollte.
Sie zog die wunderschön geschwungenen Augenbrauen zusammen und blickte zu ihm auf. Die Worte Was-hab-ich-getan standen ihr wie ins Gesicht geschrieben. Er blieb an ihren Augen hängen und strich mit seinem Handrücken über ihre Wange.
„Du bist so…“ Naab seufzte und ließ ihr einen Moment Zeit ihn zu unterbrechen.
„So verträumt, ich weiß.“ Sie machte eine abwinkende Geste mit ihrem Arm und lächelte.
„So Shayia. Warum mich das noch überrascht?“ Er redete mehr zu sich selbst, als zu ihr.
„Komm, wir wollen doch nichts verpassen!“, sagte Shayia und hakte sich bei ihm ein.
Er berührte ihren Arm, der in seinen verschränkt war, und lächelte.
Spätestens als sie an den Hofstallungen angekommen war, hatte Shayia so etwas wie eine Ahnung. Naab ließ ihren Arm los, den er den ganzen Weg über gehalten hatte und begann Goliath zu satteln. Als er wieder zu ihr stieß, hatte er in der rechten Hand die Zügel und half ihr, in den Sattel zu steigen.
„Wohin reiten wir?“ Shayia war sich nicht mehr so sicher, was sie davon halten sollte. Schöne Kleider, Blumen, ein Reitausflug? Was steckte hinter all dem? Ihre Gedanken schweiften weit ab und sie bemerkte nicht mehr, wie schnell die Landschaft an ihr vorbei raste. Sein Lachen hallte in ihren Ohren nach, ungewiss, ob es ihren Erinnerungen oder der Gegenwart entkam.
Naab selbst genoss den Gegenwind, der ihm die Haare aus dem Gesicht strich während Goliath unter ihm dahin preschte. Obwohl es nicht so wirkte, als würde er laufen. Vielmehr sah es für einen Außenstehenden so aus, als würde die Erde sich plötzlich schneller drehen und die drei nur in der Luft verharren. Es war ein friedliches Bild.
Noch waren sie umgeben von haushohen Baumstämmen, deren Kronen sich in den Wolken verloren. Sattes Grün wohin sie auch blickten. Plötzlich, ohne ein Vorwarnung von Naab oder ein Zwitschern aus den Kronen, brach der Wald ab und wurde von einer völlig unbekannten Szene abgelöst. Jetzt hüllten sie die verschiedensten Farben ein: von hellrosa zu den blassesten Lilatönen, ab und an auch mit kleinen orangen Punkten. Aber alles war lebendig! Alles um sie herum flatterte. Wo waren sie? Shayia vergaß fast, dass sie noch immer dahin galoppierten, denn sie löste ihre Umarmung von Naab und starrte nur in die Luft. Wie die langen Äste einer alten Weide wogen sie sich in der Luft, während sie vor Goliath ängstlich auseinander stoben.
Shayia streckte einen Arm über ihren Kopf und berührte die, in sich verlaufenden, Farbmuster, welche stetig wechselten. Alles sah so surreal aus, als wäre es aus einem Traum geboren.
Es war weich.
Ihre Finger streiften die Oberfläche des sich wandelnden Strudels. Ja, es fühlte sich an wie die Daunenfüllung ihres Polsters. Plötzlich verschwanden die Muster und das flatternde Universum um sie herum verwandelte sich in eine riesige, weite Welt. Sie standen an einem sehr tiefen Abhang, dessen Ausblick jedes erdenkliche Maß an Schönheit übertraf. Goliath stieg in die Höhe und stieß ein ängstliches Wiehern aus. Unter dem Felsen zogen Vogelschwärme vorbei und verloren sich ab und an in einzelnen Wolkenfetzen, deren Enden sich mit anderen vermischten und ein riesiges Netz aus weißer, flauschiger Watte bildeten.
„Ich hoffe, dir gefällt die Aussicht. Hab’s heute früh entdeckt und dein Vater hat“
„Was hat mein Vater? Dir zufällig gesteckt, dass ich Schluchten wie diese faszinierend finde? Oder hast du gar danach gefragt? Naab, was um Himmels Willen ist los mit dir? Wo ist mein Naab hin?“, fragte sie aufgebracht und war fast soweit ihm direkt ins Gesicht zu schreien vor Angst. Angst, den zu verlieren, den sie liebte. Bruderliebe. Aus Verzweiflung und Machtlosigkeit stiegen ihr die Tränen in die Augen und sie wandte sich von ihm ab und sah in die Tiefe, die Goliath so ängstigte.
Sie kannte diese Schlucht aus einer verschwommenen Vergangenheit, die sie lange zuvor schon als Traum abgetan hatte. Aber jetzt, da sie den schiefen Baum sah, welcher, halb entwurzelt und nur mit einem Hauptast, in den Abhang hing, kam diese Erinnerung wieder zurück. Die Aussicht hatte sich wirklich verändert. Der Wald war gewachsen, die Flüsse hatten sich verdoppelt. Aus dieser Höhe sah alles aus wie ein riesiges Lebewesen, in dem die Flüsse die lebenswichtigen Adern bildeten. Wo wohl Ceartly Branch endete? Hinter dem nächsten Gebirge? Oder dem Übernächsten?
Sie ignorierte ihn absichtlich. Neben den Gedanken über ihr zukünftiges Königreich mischte sich auch der pochende Instinkt, einfach davonzulaufen. Shayia konnte auf sich aufpassen. Aber eine Enttäuschung mehr, eine die sie auch noch verursachen musste, konnte sie nicht ertragen.
Sie spürte seinen drängenden Blick in ihrem Nacken.
„Es tut mir sehr leid. Falls ich dich verletzt haben sollte. Ich meine, was… wie… was soll ich dir denn sagen?“, fragte er hilflos. Ein Schuldgefühl drängte sich in den Vordergrund. Im nächsten Moment schluckte sie es hinunter.
Die Wahrheit war wichtiger als ihn nicht zu verletzen.
„Naab, es ist einfach nur so, dass du dich so anders benimmst seit wir hier sind. Als wolltest du es allen leichter machen, dich zu mögen. Aber du bist doch in Ordnung, so wie du warst, mehr als nur in Ordnung!“, sagte sie bedrückt, „Und warum all das? Du weißt, wie gern ich dich habe und dass du seit dem ersten Moment zu meiner Familie gehört hattest. Du bist der Bruder, den ich nie hatte. Mach du das jetzt nicht kaputt!“
Shayia traute sich nicht, ihn anzusehen. Hatte sie zu viel gesagt? Oder ihm gar sehr verletzt? Hätte sie es nicht getan, wäre es irgendwann zu einem großen Problem geworden. Nach Abwegen der Tatsachen, war sie sich sicher, dass das, was sie getan hatte, richtig war. Sie atmete tief ein und drehte sich zu ihm um. Er hatte sich hinter sie gestellt gehabt und jetzt war er nur eine Fingerlänge zwischen ihnen.
„Glaubst du, es ist so einfach, wie du denkst? Du kommst hierher und bist Zuhause. Ich komme hierher und bin Staatsverräter. Es hätte genauso gut sein können, dass dein Vater mich umbringen lässt. Oder deine Schwiegermutter. Da bin ich lieber übervorsichtig bevor mich ein zu früher Tod ereilt, wenn du verstehst.“
„Aber sie haben dich nicht hingerichtet, weil du mein Vertrauen gewonnen hast. Du standest schon unter deinem eigenen Schutz, bevor du Avana überhaupt betreten hast. Nur hast du es nie bemerkt. Ich fühlte es selbst erst hier. Wie eine Aura erstreckte es sich über dich, ein undurchdringbares Schutzschild für die Mitglieder der königlichen Familie und deren Anhänger. „
Er starrte sie unverwandt an und in seinen Augen war unverkennbar lesbar, dass er nicht glauben konnte, was sie da sagte. „Es bestand nie eine Gefahr?“
„Niemals. Außer du hattest vor, dich gegen mich zu verschwören.“, antwortete sie ihm und bei den letzen Worten huschte ein Lächeln über ihre Lippen.
Naab stand noch immer verdattert da und blickte über ihre Schulter in den tiefen Abgrund.

„Ein Zauber? Ein Schutzmechanismus? Shayia? Was ist das?“
„Unsere Verbindung. Ganz simpel, dass was du fühlst. Es ist wie ein Impuls, der durch deine Umgebung streift. Der, der es wie eine Aura fühlen kann, bemerkt, welche Kraft dahinter steckt. Du wirst nicht angegriffen. Ganz einfach.“, antwortete ihm Shayia ohne Umschweife.
„Ganz einfach.“, wiederholte er ihre Worte, aber in einem völlig anderen Tonfall. Es war, als ob er sie selbst erst begreifen musste.
Der Wind hatte inzwischen gedreht und die Sonne war hinter den Wolken verschwunden. Es wurde kälter. Ein Blick über Shayias Schulter genügte und ihre Gänsehaut erreichte epische Ausmaße, denn Naab war ihr nicht ausgewichen und so stand sie schon eine ganze Weile am Rand zur Schlucht. Am liebsten würde sie fliegen können, diesen Moment ausnutzen und sich gefahr- und angstlos die Felsen hinunterstürzen und den Wind auf der Haut spüren.
Nachdem sie aber nicht imstande war zu fliegen, war ihr eher nach mehr Festland.
„Wie geht es jetzt weiter?“, frage er nach einer Weile und sie nutzte den Augenblick um sich an ihm vorbei zu schleichen.
„Was genau meinst du damit?“, fragte sie und etwas in ihrer Magengrube verriet ihr, dass es nichts Gutes zu bedeuten hatte.
„Hier, mit uns, mit deinem Auftrag? Wie soll das ganze jetzt weiterlaufen? Was steht als nächstes an?“
Shayia überlegte einen Augenblick und kam zu der Auffassung, sie sollten wieder ins Schloss zurückkehren. Aus irgendeinem unerklärlichen Grund war ihr dieser Platz nicht mehr geheuer. Ein Gedanke schoss ihr durch den Kopf.
„Weißt du, wo Herlana heute Morgen war? Hast du sie gesehen oder etwas gehört?“ ihre Tonfall ließ ihn aufhorchen.
„Nein, wieso? Sollte ich?“, fragte er überrascht, “Was ist denn los Shy?“ Er drehte sich zu ihr um und sah sie fragend an.
„Irgendetwas stimmt hier nicht. Kannst du es fühlen?“
Jetzt war sie nur noch beunruhigt, und sein Gesichtsausdruck half nicht gerade dabei, das Gefühl loszuwerden. Naab verzog die Augen zu Schlitzen und griff zu seinem Schwert in seinem neuen Schwertgurt, ein Geschenk des Königs. Shayia folgte seiner Bewegung und glich sie mit seiner ab. Sie griff in die Satteltasche und holte den magischen Bogen heraus. Zwar hatte sie keine Ahnung, wie sie damit umgehen sollte, aber eine Intuition verriet ihr, dass ihr nichts geschehen konnte, solange sie einfach nur die Sehne spannte und zielte. Genau das hatte sie vor.
Ein Augenblick lang war es mucksmäuschenstill. Dann hörten sie beide im gleichen Moment Stimmen hinter den Bäumen schreien.
„… was ist das?“ „…gottverdammte…“
Mehrere verschiedene Männerstimmen hallten durch die Baumwipfel, aus denen, ängstlich und verstört, viele Vögel emporstiegen.
Ihre Blicke streiften sich für weniger als eine Sekunde und alles war glasklar. Shayia schickte Goliath fort. Die beiden selbst jedoch versteckten sich am Waldrand vor ihnen. Kurze Zeit später stoben Millionen von Schmetterlingen an ihnen vorbei aus dem Unterholz. Farben überall um sie herum, wie ein Meer aus fliegenden Rosenblüten. Sie machten sich das zu nutzen und griffen die ersten Ritter an, die durch den Waldweg auf sie zukamen. Unvorbereitet stießen sie in den rosa Regen und waren nicht gefeit gegen ihren Angriff. Das Pferd rannte aus Angst weiter und stieg – wie Goliath zuvor – in die Höhe, als es die Schlucht ausmachen konnte. Ihr Reiter, getroffen von einem der magischen Pfeile, stürzte hinab in die Tiefe. Dem nächsten erging es ähnlich, nur griff Naab ihn zuerst an. Ihm folgten mehrere Reiter und Fußsoldaten. Den letzten, der durch die Bäume schlitterte, nahmen sie gefangen und Naab bedrohte ihn mit seinem Schwert. Er war ruhig gestellt und litt unter Todesängsten, die nicht unbegründet waren. So wütend hatte sie Naab selbst noch nie erlebt.
„Wer hat dich geschickt? Rede, du kleiner dreckiger Wurm!“, schrie Naab und auf seiner Stirn traten Adern hervor. Die Augen des Opfers weiteten sich und er bewegte den Mund.
„Befehl“, antwortete er leise. Zu leise nach Naabs Geschmack.
„Lauter! Und wer um Gottes Namen hat dich geschickt?“
Hilflos blickte er um sich und blieb an ihren Augen hängen. Sie wendete sich ab. Naab schrie ihn weiter an, aber er antwortete immer nur mit Befehl. Sie sah nicht hin, als er ihm das Wappen an seinem Ledergewand hinunter schnitt und dann in die Tiefe stieß.
Es machte ihr Angst, wie gefühllos er sein konnte. Als er auf sie zu kam, sah sie ihm nicht in die Augen, denn sie wusste, wen sie erblicken würde. Den ignoranten, bösartigen Naab.
„Kommt dir dieses Zeichen bekannt vor?“, fragte er mit frostiger Stimme und hielt ihr den Stofffetzen hin. Ihr Blick fiel auf das bunte Bild und brennte fast schon ein Loch hinein, so sehr starrte sie es an. „Unmöglich“, stammelte sie nach wenigen Minuten.
Er nahm ihr das Wappen wieder aus der Hand und sah es sich genauer an.
„Was stimmt damit nicht? Kennst du das Wappen?“, fragte er nachdenklich und blickte nicht auf, sonst hätte er gemerkt, dass ihr Gesicht kreidebleich geworden war und sie kurz davor war umzukippen. „Es ist das Zeichen meines Vaters“, antwortete sie langsam, „nicht direkt, aber dass seiner Armee, meiner Armee. Des Heeres von Ceartly Branch. Sie wollten uns töten.“
Naab sah auf und schloss sie sofort in seine Arme, denn er wusste wie es um sie stand. Gleichzeitig entwich ihren Mündern der gleiche Name: „Herlana“.
Der Zeitpunkt für Flucht und Rache war gekommen.

Der Retter


20. Kapitel

Er rannte. Sein Herz pochte, schlug ihm bis zum Hals, aber er blieb nicht stehen. Er war schon zu lange unterwegs und nur noch Meter von seinem Ziel entfernt.
Das riesenhafte, in die Dunkelheit getauchte, Gebäude ragte in den Nachthimmel. Die Türme zerschnitten die feuchte Luft und streckten sich nach den Sternen, die den Spitzen nur Zentimeter entfernt zu schweben schienen.
Er war endlich hier. Würde sie auch hier sein? Würde man es ihm so einfach machen? Waren die Männer seines Vaters schon auf den Fersen oder betraten sie dieses Land noch nicht?
Marus zog sich seine Kapuze weit in die Stirn und näherte sich dem Schlossgarten. Irgendetwas verriet ihm, dass er es schaffen würde. In seiner Brust schürte sich ein loderndes Feuer. Er hatte als einziger die Macht ihn zu stürzen. Seinen verhasstesten Feind.
Er entdeckte Licht und war hinter dem nächsten Gewächs verschwunden. Es hatte also doch Vorteile ein Dämon zu sein. Zwei Personen stritten sich heftig. Die eine eindeutig eine Frau mit unausstehlicher Stimme und einem Jüngling in Marus Alter. Er schlich näher zum Eingang.
„Ihr habt was getan? Sie entwischen lassen? Warum bist du nicht gleich dort verreckt, du Idiot.“, schrie die Frau. Dem Jüngling stockte der Atem. Noch ein Vorteil dieser Verdammnis, außergewöhnlich gute Ohren.
„Alles muss man selbst erledigen. Sind sie auf dem Rückweg oder schon geflohen?“
-„Sie reiten zurück, Majestät!“, antwortete er leise und unsicher.
Dann war das Gespräch zu Ende. Armer Kerl.
Marus stand auf und schlich zur Türe, warf einen kurzen Blick in die leere Küche und öffnete sie leise. Es war wie eine Einladung.
Dieser Flügel war wie ausgestorben. Es hab keine Dienerschaft, keine Hofdamen und schon gar keine königliche Familie. Würde er sie finden? Hatte er denn so viel Zeit sie zu suchen?
Durch eine Flügeltür spähte er in den nächsten Raum, der sich als Festsaal entpuppte. Niemand war zu sehen aber es wäre zu riskant. Er folgte den Gängen aus der Küche in einen weiteren Raum, der auch eine Tür in den Garten besaß. Wäschekörbe stapelten sich in der Ecke neben der Türe und Stoffe hingen über den Tisch, der die Mitte des eher ländlich wirkenden Raumes kennzeichnete. Diese Zimmer des Schlosses waren mit allergrößter Sorgfalt von den Räumen welche die Adeligen betraten, abgetrennt, sodass man die Dienerschaft nicht dabei beobachten musste, wenn sie arbeitete.
Wenn er sich in diesen Räumen bewegte, so drohte ihm weniger Gefahr.
Sicher war er sich nicht.
Er setzte seinen Weg fort mit einer Hand an dem Dolchschaft. Schnelligkeit und Kraft, alles was er brauchte um nicht entdeckt zu werden.
Nahe dem Hauptportal, flankiert von Wachen, hörte er ein Pferd vorbeigaloppieren – aufgeregtes Stimmengewirr drang durch die Mauern. Etwas stimmte nicht mehr. Blech schlug auf Blech, der marmorne Boden vor ihm bebte. Scharen an Soldaten rannten an ihm vorbei. Er drückte sich mit all seiner Kraft gegen die Mauer und zwang sich, hinter dem schmalen Vorhang zu verschwinden. Ohne ein Wort rannten sie. Sein Gefühl sagte ihm jedoch, dass sie nicht zum Schutz der königlichen Familie unterwegs waren. Etwas sagte ihm, dass das hier ganz sicher nicht in die richtige Richtung lief.
Sie suchten nicht ihn. Sie waren auf dem Weg zu dem Pferd, das vorbeigaloppiert war und seinen Reitern. Ja, es waren zwei. Er hatte sie reden gehört. Das war sein Stichwort. Ohne den Wachen einen weiteren Blick zu schenken, stürmte er durch den Torbogen in die Diele des großen Eingangs. Hinter ihm stand das Schlossportal weit offen, aber alle Soldaten waren schon in der Dunkelheit der sternenklaren Nacht verschwunden. Jetzt war seine Zeit gekommen.
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„Wenn ihr sie findet, bringt sie in den Kerker. Aber seit darauf bedacht leise zu sein. Ihr habt die Königin gehört!“ Der Befehl wurde bejaht, dann war die Gruppe aufgebrochen.
„Fühlt ihr das auch? Die Gewissensbisse? Warum tun wir das hier?“, fragte einer der Soldaten, nachdem sich die Gruppe gespalten hatte. Er klang traurig.
„Weil wir sonst selber dran sind, Haem, und das weißt du. Befehl ist Befehl. Er wird ausgeführt. Lass deine Gefühle da aus dem Spiel. Und dein Gewissen erst recht!“, antwortete jemand hinter ihm. Haem blickte sich um und lief weiter. „Meine Gefühle – ha! Es geht um unser Heimatland! Ich fühle, dass sie ein großer Teil des Ganzen ist. Wir nehmen jedem damit die Hoffnung. Durchschaut ihr denn nicht die Taktik der Königsgemahlin? Sie will alleine herrschen. Ein leichtes die Stieftochter verschwinden zu lassen, wenn ein ganzes Heer hinter einem steht – oder einfach nur ein hinterhältiger Hauptmann.“
Es wurde ganz still. Haem erkannte, dass diese Gedanken wohl lieber Gedanken hätten bleiben sollen. Dennoch wussten alle, er hatte die Wahrheit ausgesprochen. Aber als Fußsoldat hat man kein Recht, seine Meinung zu äußern und würde er seine Zunge nicht zügeln, dann wäre dies sein Todesurteil. Sie waren Ameisen im Reich der Elefanten.
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Naab kannte den Weg nicht, noch nicht, deshalb folgte er ihr mit Bedacht und prägte sich alles ein, was er sah. Den riesigen Rosenstrauch vor einem Fenster des Schlosses. Neben ihm war ein Vogelbad aus Keramik mit goldenen Akzenten angebracht. Zu seiner Verblüffung öffnete Shayia nicht das Fenster, um vom Schlossgarten in das Schloss zu kommen, sondern drückte auf den Grund des Vogelbades. Soweit er etwas erkennen konnte bzw. hören, denn das traf eher zu, schob sich ein kleines Stück der Fassade zur Seite und vor ihnen war komplette Dunkelheit. Doch nicht annähernd so erschreckend war es im Gegensatz zu der Tatsache, dass Shayia in ihrem eigenen Land, in dem Schloss ihres Vaters gejagt wurde wie eine Diebin.
Stimmengewirr tauchte hinter ihnen auf und schnell schlüpfte sie durch den Spalt mit Naab im Schlepptau.
„Drück dagegen, schnell!“, befahl Shayia nüchtern. Ihr war weder Angst noch Panik anzuhören, aber was hatte das schon zu bedeuten?
Naab stemmte sich gegen die geöffnete Fassade und mit einem leichten Seufzer glitt sie zurück in ihre alte Position, der Riegel fiel ins Schloss, ein Klicken erklang. Beruhigt atmete sie aus. Der erste Teil war geschafft. Plötzlich hörten sie eine Stimme direkt vor dem Eingang zu diesem Versteck sprechen und schreien. Bange Sekunden vergingen, in denen keiner von beiden wusste, ob sie hier sicher sein würden. Erst nachdem Shayia aufstand und ihn antippte drehte er sich auf ihre Seite und erhob sich ebenfalls. Dies war kein Versteck, es war ein geheimer Tunnel. Verblüfft stolperte er hinter ihr her, wohl wissend, dass sie hier jede Stufe und jeden Stein im Schlaf kannte.
„Wo führt er hin?“ Er brauchte nicht näher zu erläutern was gemeint war.
Sie ging schnurstracks weiter, flüsterte etwas wie Kerker und dann war sie wieder weder zu sehen noch zu hören. Nur ihr Arm, der seinen berührte, sagte ihm, dass sie nicht schon längst in der Dunkelheit verschwunden war.
Es war verwirrend, sich so hilflos zu fühlen. Sein Mut half jetzt wenig, denn er wusste nicht, was auf ihn zukam, und Shayia selbst fühlte sich unbehaglicher denn je. Wer weiß, wie oft sie vorgegeben hatte im Garten zu spielen um dann durch diesen Tunnel heimlich bei den Exekutionen zuzusehen. Sie war zu still. Wenn Naab sich anstrengte, konnte er ihre langen, flachen Atemzüge hören. Aber das war auch schon alles.
Ohne Vorwarnung blendete ihn ein gleißendes Licht, dass direkt aus dem Tunnel vor ihm zu kommen schien. Etwas Metallisches kratze auf einem Steinboden. Dann war da nichts als weiße Leere. Naab musste blinzeln. Shayia hatte seine Hand fester gepackt.
Langsam verschwand der Schleier vor seinen Augen und offenbarte eine Zelle, deren Enden mit Gitterstäben gesäumt waren. Als er den Eingang zu dem Tunnel suchte, aus dem sie gerade gekommen waren, war da nur eine massive Steinmauer. Verwundert starrte er an die Stelle aber es schien sich keine Lösung zu ergeben.
Shayia sprach immer noch kein Wort, aber sie ließ Naabs Hand auch nicht los. Eine unbekannte Angst durchfuhr sie und ihr Körper begann zu zittern.
„He Shy, was ist los? He, schau mich an“, flüsterte er ihr zu.
Aber als sie ihm ihren Kopf zuwandte, waren ihre Augen leer. Erschrocken fuhr Naab zusammen. Etwas stimmte nicht mit ihr.
„Shayia? Sieh mich an. Was ist los?“, fragte Naab angsterfüllt. Sie antwortete ihm nicht. Wie lange ging das schon so? Seit dem Tunnel war sie so still. Er strengte sich an, aber er konnte nicht einmal mehr das flache Atmen hören.
Er nahm sie fest bei den Schultern und sah sie angestrengt an.
„Was mach ich nur mit dir?“
Ihre Augen wanderten plötzlich zu seinen und es war, als würde ihre Seele langsam wieder in ihren Körper zurückkehren. Sie begannen zu leuchten und ein abwesendes Schluchzen entfuhr ihrer Kehle. Sie sackte einfach in seinen Händen zusammen. „Shayia? Shy!“, rief er aber sie reagierte nicht.
Schritte hallten durch den Kerker. Jemand rannte die verwinkelte Wendeltreppe herunter. Seine Stiefel stöckelten über den marmornen Grund. Der Lärm war noch entfernt, denn hier unten bestand der Boden nicht aus Marmor, sondern aus abgetretenen Steinpflastern, zwischen denen es vor Dreck triefte. Panik packte ihn. Was, wenn sie sie doch beobachtet hatten, als sie den Geheimgang betraten? Was, wenn sie wussten, wohin dieser führte und sie jetzt schnappen wollten? Naab blickte von Shayias verwirrtem Gesicht zu den Stufen und wieder zurück.
„Kannst du mich verstehen? Wir müssen hier weg. Sie haben uns gefunden. Das wird Herlana sein!“, sagte Naab und war selbst erstaunt darüber wie gefasst er klang. Sie nickte und blickte ebenfalls zur Treppe. Das klackernde Geräusch war verschwunden. Wer auch immer auf dem Weg zu dem Kerker war, hatte nun die letzten Stufen vor sich.
„Wir sind hier gefangen, Naab!“, antwortete Shayia mit gleichgültiger Miene. Nichts an ihr verriet ihre wahren Gefühle. Als hätte man ihr jegliches Gefühlsempfinden geraubt und nur das mechanische Handeln zurückgelassen.
„Was?“ Seine Stimme versagte.
„Es gibt keinen Ausweg. Der Tunnel. Du hättest ihn nicht schließen dürfen. Er ist eine Schutzeinrichtung. Man kann ins Schloss flüchten, aber nicht durch denselben Weg zurück. Es wäre doch höchst unvorteilhaft, in einem Kerker einen Fluchtschacht einzuplanen. Naab, wo hast du nur deine Gedanken.“, erklärte sie still, “Zieh dein Schwert, wir werden kämpfen!“
Naab war nicht darauf vorbereitet gewesen in der Falle zu sitzen. Immerhin war das ihr Schloss. Sie musste einfach jeden Winkel, jede Gasse und jeden noch so kurzen Geheimweg kennen. War das ihr Ende? Ermordet von ihrer eigenen Stiefmutter im Kerker ihres eigenen Schlosses? An sich hatte er spätestens an der Klippe aufgehört zu denken. Seit seiner Ankunft war er in Ungnade. Und nun, da sich herausstellte, wer hier wirklich die Zügel in der Hand hatte, war es ein Wunder, dass sie so lange überlebt hatten. Plural war Absicht, denn Herlana sah in ihrer Stieftochter die gleiche Bedrohung wie in Naab. Somit machte sie keinen Unterschied wer zuerst starb, hauptsächlich, so vermutete er, wollte sie beide beiseite haben. Jetzt da das Ende so nah war wie noch nie, sah er seiner Familie in die Augen und wünschte sich, er könnte für sie alleine lang genug leben um alle Feinde zu töten. Wenn er nur ihr Leben retten konnte, so rettete er seine Welt. Der Rest war Bonus.
Die Schritte kamen näher und er wurde unruhig. Es hallte kein metallisches Klirren durch die Flure. Kam etwa nur einer? Hielt Herlana sie für so schwach?
Gereizt und hilfesuchend zugleich blickte er rund um sich und erkannte zwar Fenster mit Eisenstangen davor, durch die die Dunkelheit der Nacht drang und eine leichte Brise strich, aber keinen Ausweg. Die Fackeln an den Wänden beugten sich in den Windströmen und leuchteten auf. Kurz war der Raum mehr erhellt als zuvor und er erkannte mehrere leere Zellen nebeneinander, rostige Ketten und Werkzeug der Folterer. Alles war so … verlassen. Es machte den Anschein, als wäre dieser Teil des Palastes geschlossen worden. Und zwar schon vor langer Zeit.
Aus dem Schatten der Wendeltreppe trat eine dunkle Gestalt. Naab konnte das Gesicht nicht erkennen, aber er spürte die pulsierende Aura. Shayia stand wie angewurzelt da, noch immer zitterten ihre Hände und sie ballte sie zu Fäusten.
„Wer bist du?“, fragte Naab und starrte ihn an.
„Lass sie frei“, forderte die dunkle Gestalt, „Du machst einen großen Fehler!“
Beide sahen sich verständnislos an, bevor Shayia auftaute und ihren Bogen zog.
Hinter der dunklen Gestalt ertönte plötzlich ein Horn. Sie hatten sie gefunden.
Shayia zielte und schoss einen der Pfeile ab, die wie eine Sternschnuppe durch den nur mäßig erhellten Korridor zischte. Er verfehlte sein Ziel nicht und einer der Soldaten stürzte tot zu Boden. Jetzt verstand Naab nichts mehr. Warum schoss sie nicht auf den verhüllten Fremden? Vielleicht suchten sie ja eigentlich diesen Eindringling. Ein wenig Hoffnung stieg in ihm auf, obwohl er sich bewusst war, dass dies wohl nicht der Fall sein würde.
„Wir müssen sofort zu meinem Vater. Er ist vielleicht der einzige in Ceartly Branch, der uns helfen kann!“
Der Fremde nickte.
„Wer bist du, Kapuzenträger?“, schrie Naab und war außer sich.
„Wie es scheint bin ich eure einzige Rettung, los folgt mir!“
Skeptisch musterte Naab seine Erscheinung. Wie konnte er einem mysteriösen Unbekannten folgen, jetzt, da sie so in Gefahr waren?
Shayia drehte sich zu ihm um. Ihre Augen hatten ihren Glanz wieder und leuchteten, durchdringend starrte sie in seine. Es war eine Aufforderung. Sie vertraute ihm. Naab war nicht wohl dabei, aber er gab ihrem Flehen nach und nickte. Wie sollten sie sonst entkommen? Vielleicht war er wirklich ihre letze Chance. Sie würden es bald erfahren.

Eine Welt für einen Prinzen


21. Kapitel

„Hat er schlechte Bewertungen bekommen?“, fragte Harloc gelangweilt, während einer der Reitlehrer vor ihm stand und sich über die Lippen leckte.
„Nicht direkt, Hoheit“, antwortete ihm der schlanke, ältere Mann. Sein Haar färbte sich am Ansatz schon leicht grau, das dunkelbraune Haupthaar war ordentlich zurückfrisiert. Alles in allem sehr vertrauenswürdig.
Harloc sah von dem Abendjournal auf, welches er gerade aufgeschlagen hatte. Sein Blick versteinerte, wurde kalt und rau. Alles menschliche, soweit ein Dämon diese Eigenschaften besaß, war verschwunden. Jetzt sah er wirklich wie das Abbild seinesgleichen aus.
„Was ist passiert?“, fragte er eindringlich, seine Stimmlage könnte Mauern schmelzen.
„Nun ja, er versäumte den Reitunterricht. Und auch die Stunde davor. Wir wissen nicht, wo er sich derzeitig aufhält.“ Er räusperte sich verlegen.
Harloc überlegte länger als notwendig, seine Augen waren starr und leer, bis er lachend in seinen Sessel zurücksank und die Zeitung weiterlas. Verständnislos stand der Professor vor Harlocs Schreibtisch. „Aber Hoheit…“
„Ihr kennt wohl nicht das Temperament meines Sohnes, Drake. Er hatte wahrscheinlich keine Lust zu kommen. Lasst ihm einen Tag Zeit. Sein übernatürliches Gespür für Richtig und Falsch wird ihn wieder zurückbringen. Ihr könnt jetzt gehen!“ Dies war kein Vorschlag, sondern ein Befehl.
„Hoheit? Woher wisst ihr das? Wenn ihm etwas zugestoßen ist?“ Anscheinend, so dachte Drake, machte er sich mehr Sorgen um den Prinzen, als sein eigener Vater. Harloc sah auf, und es war kein Blick der Gnade. „Ihr sollt verschwinden, oder habe ich mich nicht klar ausgedrückt?“
„Sehr wohl, sehr klar, Hoheit!“ Mit diesen Worten verließ er den Raum.
Genervt schüttelte Harloc den Kopf und las weiter.
Sein Sohn und etwas zustoßen, Ha! Vorher erobern die Engel das Schattenreich. Er musste schmunzeln. Der konnte schon auf sich aufpassen, dachte er, immerhin war er der begabteste seines Alters. Kein Grund zur Sorge.

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Die erste Treppe hatten sie geschafft. Bis dahin war ihnen auf diesem Weg niemand begegnet, durch dessen Anwesenheit ihre eigene entdeckt worden wäre.
Shayia vertraute ihm. Aus einem unbestimmten und irrationalen Grund. Sie wusste seinen Namen nicht, wie er aussah oder welcher Wunsch ihn hierherführte.
Als die Dunkelheit des Tunnels Naab und sie verschluckt hatte, war sie plötzlich in eine Vision hineingezogen worden. Sie hatte die Anwesenheit eines jungen Mannes im Schloss wahrgenommen. Kaum hatte dieser Eindruck ihren Verstand erreicht, war sie schon in dessen Erinnerung eingedrungen. Sie konnte sich noch immer nicht erklären, was diese Vision ausgelöst haben könnte, denn sie brauchte Kontakt mit den Dingen, bevor sie deren Geschichte sehen konnte.
Aber es war anders. Diesmal. Sie spürte sofort seine dunkle Aura, die, wie ihr schien, einen leichten Stich ins Rote besaß. Ein Dämon. Sie pulsierte stärker als die restlichen im Schloss. Was sie abhielt ihn zu meiden, waren die Gefühle, die er ausstrahlte. Er hatte nichts zu verbergen, so schien es Shayia. Er hatte gewusst, dass sie ihn wahrnahm, und plötzlich war es ihr Bedürfnis ihn zu finden. Durch die drohende Gefahr von außen, hatte er Naab wohl für einen Feind gehalten. Was für eine Vorstellung, dachte sie.
Auch jetzt sprach er fast nie ein Wort, aber sie wusste um seinen Willen. Ihre Ziele stimmten überein: überleben.
Naab konnte ihn nicht ausstehen. Alles, das sie an seiner Ausstrahlung so anziehend fand, war für ihn wohl wie ein falsch gepolter Magnet. Abstoßend. Er folgte Shayia und versuchte immer wieder, kurz mit ihr zu reden, aber sie ließ ihm nicht genug Zeit, um Zweifel zu sähen. Sie wusste, was er sagen würde und sie kannte ihre Antwort. Shayia glaubte selbst zu wenig an ein Glück und hatte wenig Stichhaltiges in der Hand, um so eine Aktion durchzuführen. Aber ab diesem Zeitpunkt war eines klar. Würden sie erwischt werden, dann wäre das ihr aller Todesurteil. Nicht nur, dass man Naab Gnade gewährte, die er angesichts des Verschuldens seiner Eltern nicht verdiente, hatten sie sich still mit einem Dämon verbündet. Der ewige Feind im Kampf um die Herrschaft. Das Böse schlechthin. Shayia lachte, aber es war mehr eine verzweifelte Grimasse. Ihre Stiefmutter war im Recht. Sie würde ihr es ihr vorwerfen können, sie würde sie töten können und Shayia könnte sich nicht verteidigen. Niemand könnte es.
Die Stiegen in die Eingangshalle waren nun hinter ihnen. Shayia musste es einfach gelingen in das Arbeitszimmer des Königs zu kommen. Naab stürmte aus ihrer rechten Flanke, Metall kreischte durch die Luft. Schwert prallte auf Schwert, während Shayia die ausladende Treppe zum Arbeitszimmer des Königs hinaufrannte. Warum mussten es so viele Stufen sein? Langsam aber doch ärgerte sie sich über den Architekten. Was für eine Verschwendung. Ihre Muskeln brannten und der Schmerz in ihrer Magengrube hatte sie fast vergessen gehabt. Natürlich, ein Gedanke, und schon war er wieder da; rebellierte in ihrem Bauch, während ihr Gehirn immer langsamer schaltete. Im oberen Viertel der Treppe stolperte sie, über den Saum ihres verschmutzten Kleides. Ein reißendes Geräusch, und ein blauer, dicker Seidenstreifen schwebte die Stiegen hinab.
Verärgert sprang sie die letzte Stufe hinauf. Anstatt der Ruhe, wurde sie gejagt; vertraute in ihrer Verzweiflung schon Fremden, und würde bald freiwillig mit in den Kerker gehen.
„Mauren? Majestät?“, rief Shayia, bedacht darauf, von niemanden gehört zu werden und kein großes Aufsehen zu erregen. „Ja, hier herinnen“, antwortete eine tiefe, ruhige Stimme. Zu ruhig für das, was sich in seinen Wänden abspielte. Sie betrat das Arbeitszimmer langsam, vorsichtig sah sie sich um. Es fiel ihr nichts Ungewöhnliches auf. In der Ecke vor seinem Bücherregal wartete er.
„Was kann ich für Sie tun? Ah, Shayia, Schatz!“ Als er sie erblickte, veränderte sich sein Blick. Er wurde weich und liebevoll. „Wie siehst du denn aus! Was ist passiert?“
Erst jetzt sah Shayia an sich herab und bemerkte ihr schmutziges Kleid, die Löcher und Fäden, die daran herabhingen. Aber es zeigte eindeutig, dass hier etwas falsch lief.
„Das ist die Schuld deiner Soldaten, Vater! Sie haben Naab und mich angegriffen!“, sagte sie gezwungen ruhig, aber die Hysterie ließ sich nicht ganz aus ihrer Stimme vertreiben.
„Was ist geschehen?“, fragte er sachlich. Seine Miene hatte sich wieder verändert. „Wir standen gerade an der Menao-Schlucht, als wir sie kommen hörten. Sie griffen uns an und wir konnten entkommen. Aber selbst hier im Schloss verfolgen sie uns. Du musst etwas unternehmen! Sie kämpfen noch immer! Sie werden uns töten, Vater! Bitte“, flehte sie und die Verzweiflung gewann Oberhand über ihre restlichen Gefühle.
„Aber, Liebes! Was redest du denn? Hier kämpft niemand, sonst würde ich dies doch hören. Du bist sicher noch wirr von der Sonne. Heute war ein schöner Tag. Leg dich ein wenig hin, ich schicke dir Pínta!“, antwortete der König, nicht ihr Vater. Der liebevolle Blick war einem gleichgültigen, fast gelangweiltem gewichen. „Wie? Nein, Vater! Sieh doch selbst, komm! Komm!“ Sie nahm ihn an der Hand, zögerlich folgte er ihr an die Brüstung der Galerie. Erschrocken erblickte sie die Toten, die Kämpfenden und die Verletzten. Es waren alles Seelen ihrer Art, ihres Volkes, die dort unten ausgelöscht wurden.
„Wie ich dir sagte, hier ist niemand. Ich bitte dich nun nicht mehr, das ist eine Anordnung. Du legst dich ins Bett. Mit Halluzinationen herumlaufen… Ich werde später nach dir sehen.“
Außer Stande etwas zu erwidern, blickte sie zu den Blutlachen am Steinboden, und nahm das metallische Klirren nur noch gedämpft wahr. Er hatte gesagt, hier sei niemand. Ein hysterischer Laut entkam ihrer Kehle und brach sich an den schweren, vergoldeten Statuen und den Mauern. Er konnte sie nicht sehen, seine Armee, Naab und den Fremden. Tränen traten aus ihren Augen. Ihre einzige Überlebenschance glaubte sie hätte Halluzinationen. Herlana hatte gewonnen.
Drehte sich die Erde plötzlich schneller? Oder waren ihre Knie aus Butter? Angenehme Kühle legte sich über ihr Gesicht und ihre Schulter. Plötzlich war es egal. Alles um sie herum. Shayia sank auf den marmornen Boden, die Hände noch in der steinernen Brüstung verkrallt. Es war vorbei. Ein großer Stein fiel ihr vom Herzen. Konnte das Ende so befreiend sein? Um so viel schöner als ihr Leben bis dahin? Einsamkeit und Dunkelheit schloss sich um sie, hüllte all ihre Sinne in einen traumlosen Schlaf.
Es dauerte nicht lange, da verklangen die Geräusche in der Halle. Der König hatte zwei seiner Wachen gerufen, die Shayia in ihr Bett trugen. Es waren diejenigen, die sich noch nicht von Herlana unterjochen ließen. Aber dies bedeutete ein Tanz mit dem Tod, den sie leider nicht gewinnen konnten. Ohne Herzschlag und Atemzug fielen sie zu Boden. Die Türe ihres Zimmers öffnete sich knarrend und zwei Männer traten hinein. Shayia war noch nicht aufgewacht, aber das bedeutete für die zwei wenig. Sie traten näher an ihr Bett, schlugen die Decke zur Seite und der Jüngere hauchte etwas in ihr Ohr. Vor Schreck fuhr sie in die Höhe. „Ihr habt WAS getan?“, fragte sie entsetzt.
„Uns blieb nichts anderes übrig. Was hätten wir tun sollen? Zusehen, wie sie alle starben? Wie du sterben würdest?“ Er sah sie verwirrt an, als der Ältere zu sprechen begann. „Uns war nicht bewusst, dass Ihr es für so unangebracht halten würdet. Es tut uns leid, Prinzessin.“

Unwillkürlich flogen ihre Augen zu seinem Gesicht, welches ihr solange unentdeckt war und stille Bewunderung durchfuhr sie vom Kopf bis in die letzte Zehe. Er war wunderschön. Seine dunkelbraunen Augen betrachteten sie mit einem besorgten, freundlichen Blick, die braunen Haare umrahmten sein Gesicht in einer leichten Welle. Seine Rüstung war eindeutig die eines Edelmannes, auch wenn er sich gerade einmal einen Mann nennen durfte. Unbewusst klappte ihr Mund auf und sie starrte ihn an. Warum hatte er eine so anziehende Aura?
„Wie heißt du, Fremder?“, fragte sie, aber es klang nicht halb so erhaben, wie es sollte. Naab grinste in sich hinein.
„Das ist Marus. Mehr hab ich auch nicht aus ihm rausgebracht. Aber zwischen zwei Schwerthieben bleibt nicht viel Zeit für Small-Talk. Er kommt von weit her. Wie hieß das nochmal?“
Shayia lächelte und hielt ihm ihre Hand hin. Marus nahm sie sanft und half ihr aus dem Bett. „Bevor wir ihn ausfragen, lasst mich lieber etwas anderes anziehen. Damit kann ich nicht kämpfen!“, sagte sie und lachte. Beide betrachteten sie und kamen dann zu dem gleichen Schluss. „Aber, hätte ich es in dem Zustand betrachten können, indem ihr es mit Freuden getragen habt, so hätte es bestimmt noch ihren Reiz gehabt.“, fügte Marus hinzu. Naab verdrehte die Augen und ging schon zur Tür. „Überhäuf sie nicht gleich mit SO viel Schleim“, rief er ihm zu und verschwand.
Den König in seinem eigenen Schloss gefangen nehmen. Klingt unrealistisch und ziemlich unmöglich. Anscheinend existieren noch Wunder. Was um alles in der Welt haben sie sich gedacht? Oder haben sie das gar nicht? Shayia war noch immer nicht in der Lage etwas dazu sagen zu können. Nur eines hatten sie richtig gemacht: Eingeschätzt. Man muss ihnen schon zugestehen, so sehr sie sich auch nicht leiden konnten, war ihnen eine Aktion gelungen, die noch nie jemand geschafft hatte. Wenigstens konnte sie jetzt auf Mauren einreden und ihn überzeugen, dass ER wohl derjenige war, der Halluzinationen hatte und nicht umgekehrt.

Zum anderen, fast gleichbedeutenden, Problem: Marus. Sie hatte in seinem Kopf auf Hass und Ablehnung getroffen. Dennoch waren seine Gefühle gebändigt, fast triumphierend, auch jetzt noch. Er war schwer zu durchschauen. Das Problem lag aber nicht allein an ihm, sondern an auch an ihren Fähigkeiten als Engel und der Tatsache, dass er der erste seiner Art war, dem sie begegnete. Woran soll sie ihn schon messen, wenn es keinen Maßstab gab?
Leise, wie Schatten, schlichen sie durch die Galerie, von einem dunklen Fleck zum anderen. Erleichtert stellte sie fest, dass sie ihn auf den Dachboden des Schlosses gebracht hatten. Dort würden sie auf niemanden treffen.
Die schwere Holztür öffnete sich schleppend und ein wütender König starrte sie an. „Vater?“, fragte Shayia vorsichtig. Man wusste ja nie, ob die Halluzinationen nicht seine ganze Wahrnehmung trübten. Marus glitt sanft an ihr vorbei und Naab schloss die Tür vorsichtig. Der Fremde befreite den König von seinen Knebeln und zog sich dann hinter sie zurück. Sie war sehr froh, dass er keine Fragen stellte. Noch nicht. „Shayia, ist das alles hier deine Idee?“, fragte er erzürnt. Am liebsten würde sie es verneinen und ihm alles erklären, anstatt seine Standpauke zu ertragen, die zu diesem Zeitpunkt nun wirklich unangebracht war. Aber sie musste es zugeben. Wären ihr Marus und Naab nicht zuvorgekommen, hätte sie keine andere Möglichkeit gesehen. „Vater, bitte lass mich alles erklären. Du musst so einiges wissen, dass dir, bei all deiner Großmütigkeit, leider entgangen ist und du musst mir versprechen, mich nicht zu unterbrechen. Alles zu seiner Zeit. Ist das in Ordnung?“
Der König schätzte in Gedanken ab und dann gab er sich mit dem Vorschlag zufrieden, auch wenn seine Lippen noch immer zusammengepresst waren.
„Versuch, mich zu überzeugen, Tochter“
„Du denkst, ich halluziniere, entführe dich in meinem Wahn. Aber das alles ist falsch. Es läuft gar in eine sehr abstrakte Richtung. Du musst mir glauben, was ich dir erzähle, sonst weiß ich nicht, ob der Tod wirklich schlimmer ist. Bitte.“
Sie wartete kurz, sah ihn gepeinigt an. Sein Blick war stur auf die Wand hinter ihr gerichtet, aber er selbst ertrug es nicht, wenn sie Schmerzen hatte. Seine Augen hafteten nun an ihren und sie sah seine Zustimmung.
„Zuerst zum kleineren Problem“, sagte Shayia und seufze.
„Das Kleine?“ Maurens Augen verengten sich. „Vater? Was hatte ich gesagt?“
Entschuldigend nickte er. „Sprich weiter, mein Kind!“
„Eigentlich hängen die beiden Probleme zusammen. Aber mal zum einen: Wie wir hier wegkommen, ohne von Speeren und Pfeilen durchlöchert zu werden.“
„Verzeih mir meine Ungeduld, aber was soll dann das größere Problem sein?“
Shayia drehte sich zu Naab um und wusste, dass nun der schwierigste Teil auf sie zukam. Marus blickte entspannt, fast schon gleichgültig. Was ging in diesem Jungen nur vor? Seine Gefühle waren zu verwirrend um sich länger darauf einzulassen. Nicht jetzt.
„Deine Frau“

Prinzen sind auch nur Dämonen


22. Kapitel

„Was sagst du? Deine Abneigung gegen Herlana sollte nicht solche Ausmaße annehmen, sonst bin ich gezwungen, etwas dagegen zu unternehmen. Es ist immer dasselbe Thema, Shayia. Du kannst meine Liebe zu ihr nicht verstehen und du willst sie nicht akzeptieren, weil sie nicht deine Mutter ist. Ich kann verstehen, dass du sie vermisst und auch, dass es schwer für dich sein muss, sie als Mutterersatz hinzunehmen. Aber so ist es nun mal. Ich will mir das nicht länger anhören. Lass mich sofort gehen!“
Naab sah besorgt zu Shayia, die ihren Vater anstarrte, als wäre er Harloc.
„Du bleibst, bist du verstehst! Naab, bitte bleib auch hier, ich hole meine Sachen, um so schnell wie möglich von hier zu verschwinden!“ Naab nickte und erstarrte an der Stelle, wo er stand. Er wusste, dass sie eigentlich sagen wollte, er solle aufpassen, dass der Gefangene dort blieb, wo er war. Ein Blick, Marus war an ihren Fersen und schloss die Tür hinter ihnen beiden.

„Warum wolltest du, dass ich dich begleite? Wäre Naab nicht viel vertrauenswürdiger?“ Ein Lächeln huschte über seine Lippen.
„Eben deshalb soll er ja auf den König aufpassen.“
„Hast du keine Angst vor mir?“, fragte Marus mit hochgezogener Braue.
„Sollte ich denn?“ Ihre Gleichgültigkeit ihm gegenüber stachelte ihn nur mehr an.
„Du weißt was ich bin. Und du wärest das erste Wesen auf Erden, dass keinen abgrundtiefen Hass gegen mein Volk hegt.“
Marus lehnte sich an den Türrahmen ihres Zimmers und sah sie ernst an. Sie drehte sich um, die Hände schon im Gewand verkrallt und blickte tieftraurig und wütend zu ihm auf. „Was willst du von mir, Marus? Dass ich dir all die Worte an den Kopf werfe, die du verdienst und herausforderst? Treib deine Neugierde nicht zu weit, denn auch meine Selbstbeherrschung hat Grenzen.“
Und als ihre Augen die seinen fanden, zog sich sein Herz schmerzhaft zusammen. So also sah es aus, wenn Engel weinten. Sofort bereute er die Fragen, wünschte, er könnte ungeschehen machen, was er angerichtet hatte. „Ich kenne deine Trauer. Es tut mir leid, was ich sagte. Bitte verzeih mir meine Unschicklichkeit“, antwortete er ihr und senkte sein Haupt als Zeichen seiner Demut vor ihr, obwohl er sie gewiss noch mindestens um einen Kopf überragte.
Ihre Gedanken waren dem Moment meilenweit voraus und jetzt spürte sie plötzlich, was er gemeint hatte. Die Anziehung seiner Aura verwandelte sich in Angst. Wer war er wirklich? Woher kannte er sie? Ihr Verstand durchwühlte die letzten Augenblicke nach Informationen, durchsuchte jedes seiner Wörter auf Ungereimtheiten. Aber da war nichts. Er war nur neugierig. Eine gewisse Neugierde konnte man doch jedem zusprechen. Sie verwarf den Gedanken wieder; die Angst verschwand so schnell sie gekommen war.
„Erzähl mir von dir“, forderte sie, während sie ein paar Kleider aufs Bett warf und nach einer Tasche suchte, die Goliath tragen konnte. Daher merkte sie auch nicht, dass es einen kurzen Moment so schien, als überlegte sich Marus, ihr die Wahrheit zu erzählen. Alles. Aber dieser Augenblick währte nicht lange und er hatte sich schneller wieder in der Gewalt, als sein Mund sprechen konnte.
„Sagen wir es einmal so: mein Zuhause ist mir Fremd geworden, ich musste einfach fort. Wir vertraten zuletzt nicht mehr dieselben Ansichten. Mehr gibt es zu mir nicht zu sagen. Erzähle mir von dir“, antwortete er. Es war keine Lüge, aber auch nicht die reine Wahrheit. Am liebsten würde er sich alles von der Seele reden, aber dies war noch nicht der richtige Zeitpunkt. Es gab noch so viel mehr zu erzählen, aber ob er ihr Vertrauen dann noch verdient hatte, war fragwürdig. Ebenso, wie die Tatsache sie schockieren würde, dass er der direkte Nachkommen desjenigen Monsters war, dass ihre Mutter damals fast getötet hätte.
Sie wandte sich ihm nicht zu, als sie begann zu sprechen. „Ich dachte, du kennst mich, Ausreißer! Wie ich sehe, bin ich wieder im Nachteil, was die Quelle meiner Informationen anbelangt. Ich weiß deinen Namen, Marus, weiß, dass du ein Dämon bist. Zu meinem Glück wahrscheinlich der Prinz aller Dämonen, “ Marus räusperte sich, sie sah ihn an und packte weiter, als wäre nichts gewesen.
Wie recht sie in diesem Moment nur hatte!
„Und es würde mich bei meinem Glück gar nicht mal wundern.“
Was sollte er nur darauf antworten? Darf ich mich vorstellen, Prinz Marus, Sohn des Harloc und Prinz der Schattenwesen, zu ihren Diensten, Madam!
„Du kannst mich ruhig auslachen. Man soll doch lachen, wenn einem zum Schreien ist. Was macht ein Dämon hier, in Avana, der Metropole aller eurer Gegner?“
Er wich ihr noch immer aus. „Du vergisst, unsere größten Feinde sind die gefiederten Sonnenanbeter. Und diese leben nicht hier.“ Er gab die Stellung an der Tür auf und kam zu ihr ins Zimmer.

„Und was bin ich dann?“, fragte sie, als sie die lederne Tasche schloss und sie schulterte, „ Du sagst nicht die Wahrheit. Deine Augen sind viel zu gesprächig, weißt du. Sie reden die ganze Zeit, während es scheint, als wäre dein Mund verschlossen. Was verschweigst du, Dämon?“
Es war, als hätte er mit seinen Fragen in ihr einen Schalter umgelegt. Plötzlich starrten sie sich gegenseitig an. Keiner der beiden gab auf; Shayia nicht, weil sie auf seine Antwort wartete und Marus nicht, weil er nicht wusste, was er antworten sollte. Die Spannung zwischen ihnen war schon fast in der Luft messbar. Sollten bald Funken durch das Zimmer springen, wäre es kein Wunder. Seine Augen waren plötzlich diejenigen, die das Duell aufgaben, obwohl er nicht aufhörte sie anzusehen. Die kleine Falte auf seiner Stirn glättete sich langsam und seine Augen gaben für eine Sekunde seine Seele frei. „Du bist kein Dämon, du kannst keiner sein. Keiner dieser geflügelten Teufel hat eine Seele.“ Shayias Worte wurden zu einem Monolog. Er unterbrach sie nicht. „D-du kannst kein Dämon sein, hast du verstanden? Sieh dich einmal an! Da, deine Augen. Was verschweigst du mir?“, fragte sie aufgebracht und verzweifelt. „Wir sollten gehen, bevor wir hier die Gefangenen sind“, sagte er sacht und lachte, „Komm, kleine, naive, verwirrte Prinzessin!“ Bevor Shayia noch aus ihren Überlegungen aufgewacht war, hatte er sie schon an der Hand genommen und war mit ihr aus dem Zimmer verschwunden.
„Ich bin … durcheinander. Was brauchen wir noch? Immerhin werden wir jetzt länger unterwegs sein. Marus?“ Shayia sah ihn an, während er zügig die Stufen ins Dachgeschoss emporstieg. „Du hast noch keine Verpflegung. Du kennst den schnellsten Weg in die königlichen Vorratskammern. Wir müssen erst deinem Vater alles klarmachen. Er ist unser stärkster Verbündeter.“, antwortete Marus und öffnete leise die massive, alte Holztür mit den schmiedeeisernen Ornamenten.
Mauren blickte auf und sah etwas milder gestimmt aus, als noch vor ihrem Abgang. Shayia hörte ein Luftschnappen. Es war so leicht, dass Wesen ohne ihre Begabungen es wahrscheinlich gar nicht wahrgenommen hätten. Natürlich konnte Marus genauso gut hören und suchte im gleichen Augenblick nach dem verschreckten Gesicht. Er fand es vor ihr und mit einem Ruck drückte er seine rechte Hand wieder an sich und auf seinem Gesicht lag ein merkwürdiger, gleichgültiger Gesichtsausdruck. Dennoch brach seine Maske an manchen Stellen und etwas flackerte hindurch. Shayia folgte seinem Blick und traf auf Naabs Augen, die ihn anvisierten, als würde er gleich auf ihn einschlagen.
Oh. Er war eifersüchtig. Naab war auf einen Dämon eifersüchtig, einen Fremden. Scham stieg in ihr auf. Wie Marus sagte, naiv. Das war sie. Warum hatte sie nicht daran gedacht? Sie schüttelte den Kopf als Reaktion auf ihre eigenen Gedanken, legte sich Wörter, Sätze beiseite, die sie Naab sagen konnte, aber kein Laut kam aus ihrem Mund. Wie konnte er nur so denken?

Mauren sah sie an, sein Blick war klarer. Es lag vielleicht auch daran, dass seine Wut verraucht war. „ Es tut mir leid, Tochter! Ich hätte dich nicht so behandeln dürfen. Erst jetzt kann ich deine Taten und deine Worte nachvollziehen. Ich kümmere mich viel zu wenig um dich. Könnte mich deine Mutter jetzt sehen, wäre sie enttäuscht. Es tut mir leid, du musst nicht länger um meine Aufmerksamkeit kämpfen. Dir gehört sie, seit du deine Augen das erste Mal geöffnet hast!“
Sie hatte nicht mit dieser Antwort gerechnet. Vielmehr auf einen Wutausbruch oder auch Erkenntnis. Dass sie die Wahrheit sagte, dass er ihr glaubte.
„Du hast mir noch nie etwas über meine Mutter erzählt, weißt du das? Warum?“, fragte sie traurig und vorwurfsvoll. Sein Gesicht verriet Hilflosigkeit, während seine Augen ein klares Ziel zu haben schienen. „Es war schwer. Ich mied ihren Namen jahrelang. Sie brach mir das Herz, als sie fortging, ließ mich mit dir alleine zurück. Und dann kam Herlana. Sie war die einzige, die mich retten konnte, die den Schmerz heilte. Du lebtest immer in deiner eigenen Welt, warst so unbekümmert und unbeschwert. Du hattest deine Seifenblase und warst glücklich. Dass wollte ich dir auf keinen Fall nehmen, Shayia. Es war das einzige, was dich vor der Welt schützte. Was ich brauchte, um nicht daran zu zerbrechen, war alles, was du bereits besaßt.“
So hatte sie es noch nie gesehen. War es wirklich besser, nichts zu wissen und glücklich zu sein, als alles zu wissen, und todtraurig?
„Kam sie nie mehr zurück? Starb sie im Krieg?“, fragte Shayia. Noch nie hatte ihr Vater mit ihr über dieses Thema gesprochen, geschweige denn so viel von damals preisgegeben. Mit ihrer Frage hatte sie ihn verwirrt. Er war sich unsicher, was er antworten sollte. Naab fühlte sich wie ein Eindringling als Zuhörer und Marus sah gequält zu Shayia.
„Die Vergangenheit ist für mich nur Leere und Dunkelheit. Ich habe so lange versucht, sie zu verdrängen, bis ich begriffen habe, dass ich nichts von damals vergessen will. Aber ich kann mich nur an Bruchstücke erinnern. Mein Schatz, ich weiß es nicht.“ Der König war gebrochen. All sein Glanz und seine Ausstrahlung waren verschwunden. Jetzt saß nur noch ein trauernder Mann, ein Witwer, vor ihnen, der mit dem Königshaus und seiner Erhabenheit nicht verwandt zu seien schien.

Das war ihre Chance. So weh es ihr auch tat, diesen Moment zu ihren Gunsten auszunützen, so sehr musste es geschehen. „Warum liebst du Herlana, Vater? Liebst du sie jetzt?“ Shayias Miene war unergründlich. Er musste verstehen.
„Warum fragst du so etwas? Du weißt, wie viel sie mir bedeutet. Alle wissen das. Sonst hätte ich sie nicht geheiratet!“, antwortete Mauren leicht wütend. Er wusste nicht, worauf sie hinauswollte. Naab begriff langsam, Marus beschäftigte anscheinend auch etwas, aber er sagte noch nichts.
„Beschreibe mir, wie du fühlst!“, forderte Shayia. Ihr war klar, dass sie alles damit nur schlimmer machte, aber wenn er jetzt nicht begriff, wie sehr sie ihn ausnützte, würde es zu spät sein.
„Sie gehört in mein Leben. Sie gehört dazu wie das Regieren und das Beschützen zu meinem Leben gehören. Ohne sie würde ich wieder in dieses schwarze Nichts zurückfallen, dass sich meine Vergangenheit nennt, Shayia. Das Licht ist schon lange Zeit verschwunden.“, antwortete er, als würde er es einem Kind zum tausendsten Mal erklären.
„Genau das ist das Problem, Vater. Hör dich doch an, wie du über sie sprichst. So spricht kein Liebender. Sie ist dir eine Pflicht geworden, keine Freude. Du empfindest so, weil deine Angst vor der Leere so stark ist, nicht deine Liebe. Irgendetwas macht sie mit dir, sie bindet dich an sich und das kann und will ich nicht zulassen. Das ist keine Liebe.“, erklärte sie eindringlich.
Er wollte etwas antworten, aber er war sprachlos. Wie konnte ein so junges Mädchen über ihn urteilen und Recht behalten? Wusste sie denn, was Liebe war, wie es sich anfühlte und wie man sie beschrieb? Aber sie sagte die Wahrheit. Durch ihre Augen betrachtete er Herlana und erschrak. Er hatte sie immer als Konstante gesehen, etwas Unausweichliches in seinem Leben, das immer bestehen würde. Sie gab ihm Halt und Sicherheit. Aber keine Liebe, wie er sie kannte. Kein warmes Gefühl stieg in seiner Brust auf, wenn er sie betrachtete.
Das brennende Feuer, dass er für Shayias Mutter empfunden hatte, die selbstlose Liebe, die ihn nach ihrem Abschied zerbrach, war unerreichbar. Niemand konnte ihm je wieder dieses Gefühl geben.
„Vater? Geht es dir gut?“, fragte Shayia besorgt, während ihre Begleiter beharrlich schwiegen.
Mauren seufzte und fuhr sich mit der Handfläche über das Gesicht.
„Ich kann deine Sicht der Dinge verstehen und das beunruhigt mich. Was hast du jetzt vor? Willst du mich wieder verlassen?“
Shayia blickte von ihrem Vater zu ihren Begleitern. Sie hatte keine Ahnung was passieren würde, außer dass sie alle so schnell wie möglich hier weg mussten.
„So sieht es aus. Es ist der einzige Weg um das zu wagen, was wir erreichen wollen. Wenn du mir vertraust, dann bitte, hilf uns! Ich werde wieder zurückkommen.“
„Was muss ich tun?“, fragte Mauren. Naab öffnete die Knebel um die Fesseln des Königs. Er rieb sich die Gelenke und stand auf.
„Ich brauche Truppen, eine Armee. Ja, das ist mein Ernst! Und deine Hilfe! Bitte! Glaub mir, es ist wichtig, dass du mir vertraust. Ich weiß nicht, wann ich wiederkommen werde“, sagte Shayia so ruhig sie konnte und wollte schon hinzufügen „oder ob“, „Ich werde dich irgendwie benachrichtigen. Und dann musst du mir glauben, bitte!“
Mauren beobachtete sie, erschrak, als sie ihn um die Übertragung seiner Truppen bat. „Was hast du getan, Shayia?“, fragte er schockiert.
Naab griff ein und stellte sich schützend neben Shayia, einen Arm zwischen den König und ihr ausgestreckt.

„Es ist … kompliziert, Majestät“, wandte Naab ein.
„Mein Sohn, hast du damit auch zu tun? Kann man mir bitte erklären, um was es geht? Und bitte, nenn mich nicht Majestät, Naab, nicht hier, wenn wir in dieser Lage sind. Für was, um Himmels Willen, brauchst du die königliche Armee, Shayia?“
Shayia sah Naab bittend an und drückte seinen Arm aus dem Weg.
„Wenn ich dich etwas über Selina fragte“, sie sah, wie er schwer schluckte, als sie ihren Namen sagte, „hast du mir immer geantwortet, dass es jetzt keine Priorität hat, und genau das trifft auch bei dieser Sache zu. Ich werde es dir erklären. Ich werde dir schreiben. Aber jetzt muss ich fort. Vergiss mich nicht, ich hab dich lieb, Vater!“ Sie umarme ihren verdutzten Vater, der noch nicht realisierte, was hier geschah. Shayia streckte sich, um ihm etwas ins Ohr zu flüstern: „Wir werden durch die Vorratskammern flüchten. Bitte hilf uns!“
Shayia ging an Naab vorbei zur Tür und Marus war ihr Schatten. Naab drehte sich zum König um. Er war wohl der einzige, der den Schmerz in seinem Gesicht las, als Shayia durch die Tür verschwand.
„Ich pass auf sie auf. Versprochen.“ Dann verschwand auch er durch die massive Holztür.
„Wachen? Wachen!“, rief Mauren, als er in seinem Arbeitszimmer ankam. Er wusste, Shayia würde den Gang zu den Verließen nehmen und dann zurück durch die Halle müssen, um zu den Ställen zu gelangen. Er musste alle lang genug hinhalten. Was tat er nur? Er half ihr etwas zu tun, das vielleicht die Kräfte seiner ganzen Armee erforderte.
Rüstungen klirrten in der Eingangshalle, durch die später die drei hindurch mussten, und kamen näher. „Ein Eindringling war hier. Er flüchtete durch das Fenster. Sofort hinterher!“ Die Soldaten sahen sich gegenseitig an und riefen die Wachen des Schlossportales, um von außen zum Fenster zu laufen und nach dem Rechten zu sehen. Mauren hoffte, dass es ausreichte und dass sie schnell genug waren.

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Shayia rannte so schnell sie konnte. Die Vorratskammern waren gleich hinter dem Gang zu den Verließen. Die einzigen, denen sie begegnen konnten, waren Bedienstete. Marus war an ihren Fersen, während Naab das Schlusslicht bildete und ihnen Rückendeckung gab. Es war alles wie ausgestorben. Vielleicht konnte es ihnen doch gelingen zu flüchten. Die Treppe in den Keller war leer. Sie nahm zwei Stiegen auf einmal und ließ die letzten drei ganz aus. Unten stieß sie mit einer Dienerin zusammen, die gerade einen Sack Mehl in den Händen trug. Er fiel zu Boden und platzte. Eine Staubwolke überzog die beiden, die hustend mit den Händen wedelten. „Pínta?“
„Princesa? Perdone! Verzeihen Sie!“, schrie sie ängstlich.
„Psst, Pínta, du musst leise sein! Wir müssen hier weg. Leise!“, flüsterte Shayia beruhigend. Naab kam die Treppe heruntergelaufen. „Was ist los? Wir müssen uns beeilen!“, sagte er und kam zu Shayia.
„Packt ein, was ihr finden könnt! Und beeilt euch. Naab hat Recht!“, antwortete Shayia und ging mit Pínta zur Seite.
Als sie außer Hörweite der anderen waren, flüsterte sie der Dienerin zu: „Was ich dir jetzt erzähle, bleibt geheim. Niemand darf davon erfahren. Achte auf Herlana und wie sie sich dem König gegenüber verhält. Sollte sie ihn vergiften wollen, ihm etwas ins Essen tun, bitte, versuch es zu verhindern. Ich möchte, dass du sie beobachtest! Halte einfach die Augen offen! Ich komme zurück und dann verspreche ich dir, dass alles gut wird!“
Dann verschwanden sie zurück über die Treppe und liefen Schnurstraks durch die Eingangshalle. Diesmal führte Marus sie an. Aus irgendeinem Grund ließ sie ihn. Er wusste, was er tat. Woher kannte er das Schloss so gut? Und was war sein Auftrag?
Durch die Räume der Bediensteten flohen sie in die Ställe. Niemand war zu sehen. Vorher hatten sie Gerede aus dem Obergeschoss gehört.
Als sie bei Goliath ankamen, hüpfte Naab zuerst in seinen Sattel. Neben ihm war noch ein anderes Pferd angebunden. Ein schwarzes, wunderschönes Ross mit geflochtener Mähne und Schwanz. Sie wieherte auf, als Marus ihre Zügel losleinte. Hinter ihnen hörten sie metallisches Klirren. Sie wurden verfolgt.
„Komm, nimm meine Hand, schnell!“, rief Marus Shayia zu. Naab war schon einige Meter weit weg. Er beobachtete den Weg hinaus aus dem Hof. Shayia reichte ihm ihren Arm und er zog sie vor sich auf die wunderschöne Stute. Beide galoppierten gleichzeitig los und verschwanden kurz darauf im umliegenden Wald. Einen letzten Blick erhaschte sie noch auf ihr Zuhause, bis es ganz hinter grünen Mauern verschwand. Jetzt hatte sie wohl genug Zeit, ihn auszufragen.

Feuer, Angst und dunkle Prinzen


23. Kapitel

Ihre Arme um ihn geschlungen ritten sie dahin. Sein hellbraunes Haar flog im Wind. Lichtspiele tanzten vor ihren Augen, es war nie lange genug hell um etwas zu erkennen und nie lange genug dunkel, um sich daran zu gewöhnen. Also blieb ihr nichts, als sich mit geschlossenen Augen an seine Schulter zu schmiegen und den Hufschlägen zu lauschen. Ihr Rhythmus war angenehm und veränderte sich geringfügig bis gar nicht. In ihrer Trunkenheit wäre es ihr auch nicht aufgefallen. Der Schlaf bekam immer mehr Macht über sie. Langsam trug er sie in eine Welt, in der Sorgen und Kummer, Schmerz und Traurigkeit keinen Platz hatten. Eine heile Welt.
Aber sollte man nicht sein Bewusstsein für eine Weile abgeben und nur dahin träumen? Oder zumindest in das schwarze Nichts hinübergleiten? Anstatt dessen spürte sie den Sattel und die Bewegungen des Pferdes unter sich viel intensiver und der Wind wurde unangenehm laut.
Sie fuhr hoch, entging knapp einem Sturz von Sternflamme. „Naab?“, fragte sie und drehte sich hilfesuchend nach ihm um. Aber hinter ihr am Sattel saß niemand geringeres als der fremde Dämon, der ihnen geholfen hatte, zu flüchten. Ein Fremder, pochte es in ihrem Kopf wider. „Prinzessin? Shayia?“, fragte er besorgt und zog die Zügel straff, die ihre Seiten streiften wie Arme, die sie umschlungen hielten. Es war ein Traum gewesen.
„Naab?“, diesmal war es die kräftige, laute Stimme des Dämons. Vor ihnen wieherte Goliath und er kam galoppierend um die nahe Kurve geschossen. Nahe genug, um mit ihnen im nächsten Moment zu kollidieren, stieg Goliath in die Höhe und grub seine Vorderbeine in die weiche, feuchte Erde.
„Was ist passiert? Ist was nicht in Ordnung mit ihr? Shayia? Kannst du mich verstehen?“, fragte er zuerst wild entschlossen und schließlich wurde er immer ruhiger. Wie schrecklich musste ich aussehen, dachte sich Shayia, wenn er zu diesem Schluss kam, ohne etwas zu wissen.
„Es…“ Sie zögerte kurz, nachdenklich, was sie ihm antworten sollte. „Ich bin nur müde. Wir sind sicher schon Stunden unterwegs.“ Naab sah sie besorgt an, den Blick kannte sie nur zu gut. Es war derselbe, den ihr Vater ihr schon oft zugeworfen hatte. „Ja, ich schätze, es wird schon früher Abend sein.“ Er legte den Kopf in den Nacken und starrte auf die in sich verwachsenen Äste. Zweifelnd wandte er sich wieder ihnen zu. „Wenn wir nur eine Lichtung finden könnten…“
Er zog Goliaths Zügel zu sich und verfiel in leichtes Traben. „Haltet die Augen nach einem Stück Himmel offen.“ Hinter Shayia zog Marus an den Zügeln und zugleich erhob sich ein Wiehern in die Luft. „Scht, ruhig, Sternflamme. Bald hast du es geschafft!“, sagte er leise. Vielleicht dachte er, sie könnte ihn nicht hören. „Ein schöner Name“, sagte Shayia und strich ihr über ihre schwarze Mähne. Es war schwer, mit jemandem über die Schulter zu sprechen.
„Ja, nicht wahr? Er ist ihrer würdig.“ Shayia dachte, ein Lächeln in seiner Stimme zu hören.
Naab fand nicht weit entfernt eine Stelle, an der sich die Bäume samt ihrem Netzwerk aus Ästen lichteten. Wie schon angekündigt, nahte der Sonnenuntergang unaufhörlich. Sternflamme trabte dicht hinter Goliath her, während Naab vom Weg ins Dickicht bog und sich zwischen Baumstämmen hindurch schlängelte. Nachdem er sicher war, dass niemand der diesen Weg entlang kam, sie sehen oder hören konnte, blieb er stehen.
Naab stieg zuerst ab und war sofort bei Sternflamme, um Shayia zu helfen. Während Marus ihn verdutzt beobachtete und schwieg, sträubte sich Shayia gegen die Vorstellung, wie ein Kind behandelt zu werden. „Ich kann das auch alleine, Naab!“, antwortete sie ihm und sah dabei auf seinen ausgestreckten Arm. Marus war schon abgestiegen. Naab schien sie nicht gehört zu haben, er bewegte sich keinen Millimeter und ohne auf seine Hand zu achten, rutschte sie von Sternflamme.
Marus zog zwei Decken aus den Satteltaschen seiner Stute hervor. „Sie sind für einen gedacht, aber wenn wir sie ausbreiten, sollten sie für uns drei reichen.“, sagte er und ließ sie neben sich zu Boden fallen. Naab ignorierte ihn jetzt nicht mehr, er begann seine Existenz zu verleugnen. Shayia verdrehte nur noch die Augen. Am liebsten hätte sie bei den Pferden geschlafen. Ihr begann die Idee zu gefallen, und nach wenigen Momenten war sie sich dem Vorhaben sicher. Und wenn sich die beiden umbringen, dachte Shayia, sie würde heute Nacht gut schlafen. Gedankenverloren sattelte sie Goliath ab, während Naab im Wald verschwand. Marus war wie sie daran sein Pferd abzusatteln, bemerkte ihren Blick auf ihm und streifte ihn, bevor er sich geschäftiger als zuvor an die Arbeit machte.
Sie wusste nicht, wie viele Minuten vergangen waren, seitdem die Sonne hinter dem Horizont verschwunden war, aber plötzlich tauchte Naab aus der Finsternis auf. Ein Haufen Feuerholz ragte fast bis über seinen Kopf. Shayia ging auf ihn zu, wollte ihm helfen, aber er ließ die Äste fallen, noch bevor sie ihn erreicht hatte. Kindisch. Stumm starrte sie ihn an, dann wandte sie sich genervt wieder ab. In dieser Laune war er einfach nicht zu ertragen.
Das Feuer züngelte hoch, als sich alle schlafen legten. Shayia hatte sich schon von ihnen abgespalten und lag am anderen Ende der Lichtung. Die Pferde waren nach dem langen Ritt so erschöpft gewesen, dass sie jetzt am Boden neben ihr lagen. Ihre langsamen Atemzüge erzeugten ein so regelmäßiges Geräusch, dass sie sie leicht ausblenden konnte. Kurz darauf stießen beide gleichzeitig einen tiefen Seufzer aus, während Sternflamme schon in den Schlaf hinüber glitt schüttelte Goliath noch einmal seine Mähne in der leichten Brise, um es ihr danach gleichzutun. Shayia merkte, dass Marus verwirrter Blick an ihr haftete, während Naab, der so weit wie möglich von ihm abgerückt war und nun nur noch den Saum der Decke als Schlafplatz nutze, verbittert in den Wald hinein starrte. Das müßige Licht des Feuers, welches Flamme um Flamme ausspuckte, erhellte sein Gesicht mehr schlecht als recht, aber es reichte aus, um seine zusammengezogenen Augenbrauen zu erkennen. Er tat ihr auf eine gewisse Weise leid. Sie wandte schließlich den Blick von den beiden ab und kuschelte sich noch mehr an den kalten Baum. Es würde eine kalte Nacht werden.
Funken stoben in die Luft, als sich der Wind einen Spaß aus dem sterbenden Feuer machte und es aufwirbelte, bis die ganze nächtliche Schwärze von leuchtenden Punkten gespickt wurde.
Sie scheuchten die Pferde, allen voran Goliath, auf, der ängstlich wieherte und aufsprang, dabei unsanft Shayia aus ihrem Schlaf riss. Erschrocken sah sich um, ihr Herz klopfte wild, als sie sich aufsetzte. Erstaunt stellte sie fest, dass sie zugedeckt worden war. Um in der schwachen Glut noch etwas zu erkennen, bedarf es gewiss besseren Augen, als ihre verschlafenen. Sie bemerkte Goliath, der neben ihr stand und verärgert schnaubte.
Alles, das ihre Sicht freigab, war ein brauner Haarschopf und eine Decke, ähnlich der ihren. Sie streckte sich und, als ihr die Decke von den Schultern rutschte, fröstelte sie schon ein bisschen. Verschlafen gähnend wickelte sie sich in die Decke ein und stand, noch etwas wacklig auf den Beinen, auf, um nach ihrem Wohltäter zu sehen. Aber an seinem Schlafplatz war nichts mehr von ihm zu erkennen. Verdutzt schaute sie sich um, erkannte aber durch die allgegenwärtige Dunkelheit nicht viel von der Lichtung.
Irgendwo im Osten stiegen Vögel aus den Bäumen auf. Zitternd schmiss sie die noch verbliebenen Äste ins Feuer und beobachtete seine Wiedergeburt mit freudiger Erwartung auf die Wärme.
Sie sah zu Sternflamme hinüber, in deren Augen sie meinte, etwas aufblitzen zu sehen. Unablässig starrte die Stute einen Teil der Lichtung an. Shayia drehte sich um und bemerkte einen Weg. Neugierig geworden beschritt sie ihn langsam, sorgsam. Aber, als sie einen Ast zerbrach und das Geräusch laut durch den Wald hallte, war ihr gleich ganz anders zu mute. Sie zog die Decke enger um sich und blieb wie erstarrt stehen, als sie Schritte auf sich zukommen hörte. In ihrer irrationalen, von Panik gebeutelten und von Schlaf durchzogenen Vorstellung, dachte sie zuerst an den dunkelsten und schlimmsten Feind, den sie hatte. Harloc. Sie schluckte schwer, als ein Knoten in ihrem Hals ihr das Sprechen oder Schreien unmöglich machte. Shayia spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich und stakste zwei Schritte rückwärts. „Wer ist da?“, fragte die Stimme, die ihr jetzt schon sehr nahe kam.
„I-Ich bins“, antwortete sie stotternd und stolperte über eine Wurzel zurück auf den Lagerplatz. Erleichtert atmete die Stimme vor ihr auf und trat ins Licht. „Shayia, ich dachte, du schläfst!“, sagte er verwundert.
„Das dachte ich von dir auch“, antwortete sie einfallslos und so schnell, dass Marus nicht einmal dazu kam, erleichtert auszuatmen. „Was ist los? Warum konntest du nicht schlafen?“
Er sah sie neugierig an und setzte sich an ihren ehemaligen Schlafplatz an das – zu neuem Leben erwachte – Feuer. „Zu viele Dinge, die mir gerade durch den Kopf gehen.“, antwortete er, ohne sie anzusehen, klopfte aber rechts neben sich auf den Boden. Eine Aufforderung. Shayia ließ sich neben ihm nieder. „Was für Dinge meinst du?“
Er sah sie an, dann wieder zurück ins Feuer. Keine Antwort. Shayia fand den Augenblick zwar nicht sehr passend, aber sie war einfach zu neugierig. „Irgendetwas ist da. Du verheimlichst es uns. Wer bist du wirklich?“
Sie glaubte in seinem Gesicht Erleichterung erkennen zu können, aber es hätte genauso gut das Flackern des Feuers sein können. Er murmelte irgendetwas von wegen angsteinflößender Intelligenz und drehte sich dann ganz zu ihr ihm. Seine Haltung verriet keine Schuld oder Arroganz. Er sah sie mit einem drängenden Blick an, als wollte er sie zwingen, mit dem Gespräch fortzufahren. Shayia war überfordert. Was wollte er? Unablässig starrte er sie an, was ihr mit der Zeit zunehmend Angst einjagte, bis er mit einem Seufzer aufgab.
„Ich habe dich gesucht“, sagte er ruhig, „weil ich wusste, wer du bist und welche Macht du besitzt.“
Shayia war verblüfft, wartete auf eine Fortsetzung. Aber er sagte nicht mehr. „Warum?“, drängte sie.
Er lachte auf, dann wurde seine Miene wieder hart. Ab und zu sah er vom Feuer auf und zu Shayia, dann wieder zurück. „Du bist unsere einzige Rettung. Ich habe schon so viel von dir gehört. Ich war einfach neugierig zu sehen, was an dir so besonders ist.“ Er blickte sie an. „Jetzt verstehe ich ihre Sorgen, aber nicht ihre Absichten.“ Er zog die Augenbrauen angestrengt zusammen.
Geschockt sah sie ihn an, dann entfuhr es ihr zornig: „Wer bist du? Und von was redest du?“
Er war schon nicht mehr bei ihr und starrte wieder ins Feuer. Besonders, wahrlich, bildete sie sich ein, aus seinem Mund zu hören. Sie wartete, bis ihre Fragen bei ihm angekommen waren. Was, um Himmels Willen, war bloß mit ihm los? Sie strafte sich für den Gedanken, denn der zweite schlug ihr noch ein größeres Loch in den Magen, als sie schon durch seine Absicht bekommen hatte. Sie kannte ihn nicht. Wie konnte sie nur so naiv sein. Am liebsten wäre sie in den nächsten Baum gerannt oder noch besser, von einem Abhang gesprungen.
Marus kniff die Augen kurz zusammen. „Weißt du noch, wie du mich im Schloss genannt hattest, als du deine Sachen zusammensuchtest?“
Sie dachte nach, aber konnte sich einfach nicht vorstellen, was davon er meinen konnte.
„Du weißt doch schon längst was ich bin! Ich habe es schon aus deinem Mund gehört!“
„Was meinst du?“
„Ein Dämon“
-„Ich weiß“
„Ich komme aber nicht mit bösen Absichten “
-„Ich weiß, aber…“
„-nicht was dich betrifft.
„Auf was willst du hinaus, Marus?“
„Ich bin der Prinz der Dämonen“

Ein Schlag in Shayias Gesicht hätte nicht offensichtlicher sein können. Natürlich. Jetzt passte alles zusammen. Sein Benehmen, seine Ausdrucksweise, seine Kleidung. Ihr Herz schien für einen Moment zu verharren, als die Erkenntnis ihr kalt über den Rücken lief. „Nein, du kannst nicht… ich meine, das ist nicht möglich…wie…“
Marus atmete ruhig aus. „Harloc ist mein Vater, Shayia.“
Sie sprang auf und lief zu Goliath, bereit aufzusteigen und wegzureiten.
„Wo willst du jetzt hin? Es ist mitten in der Nacht, Shayia! Bitte bleib hier, lass es mich erklären!“
„Da gibt es nichts zu erklären“, pfauchte sie kalt.
„Ich weiß, was er getan hat, Shayia. Glaubst du nicht, dass ich ihn genauso hasse wie du? Dass ich ihn verabscheue? Bitte bleib. Wir alle brauchen dich doch. Shayia.“
Sie zögerte. Seine Aura war so klar, so rein, ohne den Rotstich wäre er wohl eines der vertrauenswürdigsten Wesen, das sie je getroffen hatte. Konnte sie ihm glauben?
„Wie hast du mich gefunden?“, fragte sie, als sie die Zügel von Goliath losließ und sich zu ihm umwandte.
„Ich glaube er hieß Cennad. Hab ihn auf meinem Weg nach Avana in einer Kneipe getroffen. Der Wirt bezeichnete es zwar als Gasthof, aber ja. Auf jeden Fall war es ziemlich einfach, ihm die richtigen Informationen zu entlocken. Immerhin war er ja von deiner Stiefmutter geschickt worden, um dich zu töten.“
Der Bote! Der Schreck fuhr ihr in die Glieder. Es war ein großer Fehler gewesen, ihn am Leben zu lassen. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, ihn einfach zurückzulassen. Der Bote wusste doch über alles Bescheid!
„Du bist Harlocs Sohn, verdammt!“, warf sie ihm entgegen, dann murmelte sie nur noch zu sich selbst, „Weiß er davon? Natürlich…“
„Ja, meine Abstammung kann ich nicht ändern, aber es sagt nichts über mich aus. Ich bin noch immer der, dem du vertrautest und der fühlt“, antwortete er ihr traurig und berührte sie an der Hand. Sie entzog sich ihm, schaudernd.
„Ich kenne dich nicht!“, spuckte sie verächtlich aus. Aber sie konnte ihn fühlen. Als sie sein bestürztes Gesicht sah, tat es ihr fast wieder leid, denn sie wusste so gut wie er, dass er ganz anders war als sein Vater.
„Mein Vater weiß nichts von dem allen.“, er machte eine ausladende Geste um seine gesamte Umgebung zu beschreiben. “Ich bin nicht in seinem Auftrag hier. Ich bin hier, um dich zu finden. Um an deiner Seite zu kämpfen!“, sagte er und klang so, als hätte er geahnt, dass es schwierig werden könnte, sie zu überzeugen.
„Aber warum? Warum stellst du dich gegen ihn. Warum wolltest du zu mir? Wer bin ich schon?“ Shayia fühlte sich plötzlich so unwohl. Was konnte er, Prinz der Dämonen, schon wollen? Er besaß sicher alles, was jemand sich in seinem ganzen Leben nur wünschte. Was konnte er von einem unwissenden, dummen Halbengel mit Problemen, so groß wie Bergketten, schon wollen?
„Ich bin mit deiner Geschichte aufgewachsen. Mit dem Hass und der Demütigung, die dein Name auslöst. Vielleicht kenne ich dich besser als du dich kennst.“, sagte er und sah sie an.
Wie bitte? Was meinte er jetzt schon wieder damit?
„Du kennst mich? Aber …“ Die Worte wurden durch sein schelmisches Lächeln abgeschnitten.
„Glaubst du etwa, nach alldem was vor vierzehn Jahren passierte, lässt man dich irgendwo unbeachtet aufwachsen?“ Sein Lächeln veränderte sich, wurde zu einem Ausdruck des Schmerzes tief in ihm.
„In meiner Welt warst du der Inbegriff des Bösen. Der Feind. Ich hörte Geschichten über dich, da war ich noch keine drei Jahre alt. Ich hatte bis zu einem gewissen Grad Angst vor dir. Sieh mich nicht so ungläubig an, aber du warst sowas wie der Weltuntergang“, sagte er, dann räusperte er sich, „nur etwas kompakter.“ Shayia sah ihn fassungslos an und merkte, dass sie merkwürdig kicherte.
Er wollte weiterreden, aber Shayia versetzte ihm einen Fausthieb gegen den Arm.
„Aua, könntest du bitte aufpassen, wie du Magie einsetzt? Meinst du nicht, dass das zu stark war? Sehe ich aus wie ein Elefant?“, schimpfte Marus und rieb sich die Stelle, an der sie ihn berührt hatte. Überrascht rückte sie von ihm ab, ängstlich ihm noch einmal wehzutun.
„Ich glaube nicht, dass wirklich so viel Vorsicht nötig ist.“, kommentierte er und lächelte. Zögernd rückte sie wieder näher. „Besser. Also. Den größten Schrecken hast du damals Herlana eingejagt…“
Wie bitte? Sie und Herlana verängstigen? „Woher kennst du…?“, fragte sie, aber er redete ihr dazwischen. „Angeheiratete Tante, verwitwet. Hat sich mit Harloc zusammengetan.“
Shayia schrie in ihrem Inneren wild um sich und schmiss Beleidigungen gegen ihre Vorstellung von Herlana. Sie hatte es gewusst!
„Ich weiß, dass sie deine Stiefmutter ist. Mein Beileid. Aber es wäre schon verlockend, sie zu Tode erschrocken zu sehen. Das war sicher ein angemessener Ausgleich für alles!“
Sie sah ihn fassungslos an. Was wusste er alles? Mit Herlana hatte Harloc immerhin einen Spion in den höchsten Reihen. Ihr wurde ganz elend. Das musste unbedingt ihr Vater erfahren. Er war in großer Gefahr in ihrer Nähe!
„Was meinst du? Sie hatte nie Angst vor mir! Schön wäre es gewesen.“
Marus sah sie nachdenklich an.
„Hast du nie Unsicherheit in ihrer Anwesenheit gespürt? Ihren Wunsch, nicht in dem gleichen Raum mit dir zu sein. Dich loszuwerden?“
Es traf alles zu. „Aber ich dachte immer, sie wollte mich nicht dabei haben. Das sie eifersüchtig war.“
Jetzt kamen ihr ihre eigenen Worte kindisch vor. Eifersucht? Was hatte sie sich da wieder eingebildet?
„Ich bin also der Weltuntergang“, wiederholte Shayia und zwang sich über die Bedeutung der Worte zu lachen. Es klang ganz gelassen. Gute Idee.
„Nur kompakter, ja.“, beendete Marus seinen eigenen Satz und lächelte zurück, während er mit einem Stock im Feuer herumstocherte. „Wie geht es dir?“

Seine unpassende Frage machte sie nachdenklich. Konnte man ihre Situation als einfach nur schlimm bezeichnen? Eigentlich, jetzt in diesem Moment zumindest, ging es ihr doch recht gut. Ein bisschen zu viel Informationen auf einmal.
„Es war aufschlussreich. Aber zu viel für eine Nacht. Sonst geht es mir prächtig.“, sagte sie und deutete auf die Decke, in die sie sich noch fester eingewickelt hatte. „Danke“
„Keine Ursache. Ich konnte sowieso nicht schlafen und du sahst aus, als ob du sie nötiger hattest.“
„Das wird mir Naab niemals glauben. Und wenn doch, dann bist du tot.“, schoss es durch Shayias Gedanken und war schon ausgesprochen. Erschrocken sah sie ihn an.
„Du solltest dir darüber jetzt noch keine Sorgen machen. Das klären wir Morgen.“
Was hatte er vorhin gesagt? Sie hatte ihm einen Schlag mit Magie versetzt. Sie starrte auf ihre Hände, drehte ihre Handflächen nach oben und unten, wartend, dass irgendetwas spektakuläres passierte. Aber nichts geschah. Keine Blitze, keine Feuerbälle. Es fühlte sich merkwürdig an. Würde sie sich jetzt wieder in einen Engel verwandeln, so wie vor Elena? Ihm wehtun? Naab verletzen? Ängstlich hörte sie in sich hinein. Keine Wut. Bloß Feuer. Feuer? Marus sah sie schon fragend an. Sie riss sich zusammen. Ja, in ihrem inneren brannte es. Aber sie konnte das Feuer nicht löschen oder kontrollieren. Flackernd bebte es in ihr. Sie betete, dass das nicht die Anzeichen für eine bevorstehende Verwandlung waren, denn noch weniger konnte sie die Magie kontrollieren, die dann freigesetzt wurde.
„Was ist los? Shayia?“, frage Marus. Ehrlich besorgt sah er sie an.
Langsam, wie dickflüssige Lava, sickerten die Informationen in ihren Verstand. Erst jetzt begriff sie die Tragweite seines Handelns und seiner Abstammung. Erneut versetzte der Gedanke an seinen Vater ihr einen Schock. Und wenn es nun doch ein Hinterhalt war?, hallte es von der einen Seite ihres Gehirns. Dazu ist seine Aura und sein Benehmen viel zu ehrlich und gelassen, hallte es von der anderen. Wirklich besorgt blickte Marus zu ihr und überlegte sich zuerst, sie vielleicht wach zu rütteln. Dann kam ihm ein besserer Gedanke. Er legte langsam und sachte seinen Arm um ihre Schulter und zog sie zu sich her. Ohne Widerstand ihrerseits. Sie war noch immer in Gedanken. Er konnte ihr bei ihrem inneren Kampf nicht helfen. Er konnte nur warten und hoffen. Aber jetzt da er sie im Arm hielt, fühlt er sich nicht mehr so nutzlos. Immerhin konnte er sie festhalten, stützen und hoffen, dass sich all seine Bemühungen und Taten ihr helfen würden.
Dass sein Charakter seine Abstammung aussticht und sie sich für ihn entscheiden würde, nicht gegen ihn. Denn ab diesem Zeitpunkt gab es für ihn kein Zurück mehr.
Shayia spürte seine Umarmung durch das Gedankengeflecht in ihrem Verstand hindurch und erwiderte sie. Erst jetzt merkte sie, wie sehr ihr körperliche Nähe fehlte. Ein Schluchzen entfuhr ihr, unkontrolliert. Erschrocken über sich selbst blickt sie auf und traf auf seinen besorgten, ringenden, weichen Blick. Sie durfte sich nie wieder so gehen lassen, so schwach sein. Nie wieder, schwor sie sich. Dann lenkte sie etwas von den trübseligen Gedanken ab. Hatte er vorher auch schon so gut gerochen? Noch immer hielt sie seinem Blick stand. Er verbarg seine Gedanken und Gefühle jetzt besser vor ihr. Aus seinem Gesicht ließ sich nicht mehr lesen, aber aus dem was er tat.
Marus lächelte sie sanft an, dann neigte er den Kopf zu ihrem und küsste sie auf die Stirn.
„Schlaf jetzt und sei unbesorgt. Ich passe auf dich auf. Niemand wird dir etwas antun heute Nacht. Schlaf gut, meine Prinzessin!“, flüsterte er und sie bemerkte verstört, wie seine Aura einen kräftigen Stich ins Schwarze bekam. Aber sie war zu müde, um sich jetzt darüber Sorgen zu machen. Gähnend wünschte sie ihm auch eine gute Nacht und machte es sich auf der Decke bequem. Zufrieden und in wohlige Wärme gehüllt glitt sie hinüber in das unendliche Reich der Träume, während Marus nachdenklich noch ein paar Äste ins Feuer warf.
Seine Mission begann jetzt erst.

Der Anfang


24. Kapitel

Irgendwann hatte sie aufgehört zu glauben, dass dies die Realität war. Sie saß neben einem hoch züngelnden Lagerfeuer und sah fasziniert und beunruhigt zu, wie sich Szenen in ihm abspielten. Herlana verzog angeekelt das Gesicht, bevor eine Flamme sie verschluckte. Plötzlich wechselte die Farbe des Feuers zu grün und der Kopf von Naab tauchte auf, der an der Stelle ihrer neben ihrem Vater stand und gekrönt wurde. Erschrocken sprang sie auf, als dunkle Gestalten durch das Feuer liefen, das indessen wieder seine orangene Färbung angenommen hatte. Riesige Flügel ragten aus ihren Körpern und sie flogen durcheinander. Ohne zu merken, dass sie wieder näher gekommen war, streckte sie die Hand aus, um die fremden angsteinflößenden Gestalten zu berühren, die ihr doch so vertraut vorkamen.
Spätestens jetzt hätte ihr Verstand registrieren müssen, dass es nicht mit rechten Dingen zuging, weil sie die Flammen nicht spürte. Es war eher als würde sie die Hand in den Wind halten. Mit der Berührung des Feuers passierten zwei Dinge gleichzeitig: sie spürte plötzlich, wie etwas ihre Hand berührte und das Feuer färbte sich schwarz. Aus den Tiefen ihrer persönlichen Hölle stieg sein Gesicht empor, glutrot leuchtend lächelte er ihr aus dem schwarzen Feuer entgegen, das den Kontrast nur noch verstärkte. Zu Tode erschrocken riss sie ihre Hand aus den Flammen, als sich plötzlich etwas um ihre Finger schloss. Einen Moment lang blieb ihr Herz bei dem Gedanken daran stehen, dass es Harloc war, der ihre Hand ergriffen hatte. Aber mit ihr vom Feuer entfernt stand plötzlich Marus, der Augenblicke zuvor aus dem Feuer gestiegen war. Harlocs Gesicht war wie zertreten und das Schwarz färbte sich plötzlich dunkelrot, ohne jemanden zu zeigen. Hatte es sich durch Marus verfärbt? War er die Vision? Lächelnd strahlte er ihr entgegen. Ohne mit der Wimper zu zucken hielt er ihre Hand fester, die er seit der Berührung im Feuer nie losgelassen hatte, und sah sie an. Ein erschrockener Laut blieb ihr im Hals stecken. Was wollte er ihr sagen?
Er zog sein Schwert und ließ ihre Hand los. „Du musst kämpfen!“
Mit diesen Worten wandte er sich den Flammen zu und begann sie zu zerschneiden. Verständnislos starrte sie ihn an. „Ich kann nicht!“, schrie sie verzweifelt und wollte ihn aufhalten. Sie zog an seiner Rüstung. Marus drehte sich in Windeseile um und packte ihre Hand. „Dann lerne es!“, antwortete er eindringlich und mit tiefer, ruhiger Stimme. Sie nickte benommen bevor ihr schwarz vor Augen wurde. Das letzte was sie spürte, war, dass ihre klammernden Finger an seiner Rüstung erschlafften und sie zu Boden sank. Aber es gab keine Berührung und sie verlor sich in der Finsternis.

Ihre Sinne erwachten langsam aus ihrem unruhigen Schlaf, als ganz nah ein Ast zerbirst. Shayia schreckte hoch. Die Sonne war noch am Anfang ihrer Reise und Rauch stieg neben ihr in nebligen Spiralen zum grauen Himmel empor. Plötzlich schob sich eine Hand vor ihren Mund. Ein Schrei erstarb, bevor er verhallen konnte. „Leise, Prinzessin“ Marus war es. Erleichtert atmete sie auf bevor ihr der nächste Schreck in die Glieder fuhr. Was hatte er vor?
Naab saß nicht weit entfernt in geduckter Halter und suchte angestrengt im Dickicht des Waldes nach etwas. Shayia, die beunruhigt die Hand des Dämons von ihrem Gesicht nahm, streckte sich behutsam nach ihrem Bogen. Fest umschlossen zog sie ihn zu sich und fühlte sich gleich viel sicherer. Irgendetwas stimme nicht. „Was….“ Naab hob beschwörend den Finger an die Lippen, zeigte dann aber vor sich zwischen die Bäume. Jetzt konnte sie das Geräusch auch vernehmen, welches unbestritten die klirrenden Kettenhemden von Kriegern verursachte. Wurden sie verfolgt und hatten es nicht gemerkt? Wie töricht von ihr, dass sie schon rasten wollte. Wären sie gestern doch nur weitergeritten.

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„Haben sie ihn gefunden? Sind sie schon zurückgekehrt?“ Harlocs Stirn lag in Falten und seine Augen hafteten konzentriert an Kataska, während er sprach. Sie sah ihn ruhig an. Die Nachricht, die sie zu überbringen hatte, war weder erfreulich noch erhöhte es ihre Überlebenschance. Dennoch blieb ihr keine Wahl.
„Nein, Herr. Meister Nodal schickt mich um Ihnen auszurichten, dass die nächste Gruppe bereits die Mauern überquert hat.“ Kataska war erst seit kurzem hier, dennoch wusste sie um die Launenhaftigkeit ihres Herrn. Nodal, sein Hauptmann, hatte sie selbst davor gewarnt, was auch dazu führte, dass die Stelle als Bote lange Zeit unausgefüllt war und sie die Chance hatte, hier angestellt zu werden. Mit neunzehn Jahren war es schon bitter notwendig auf eigenen Füßen zu stehen, da sie sonst ihre Eltern nicht mehr hätten ernähren können.
„Gut“ Der mächtigste Dämon wandte sich von ihr ab. Kein Gebrüll, nur ein Seufzer. Kataska verbeugte sich tief und verließ das Arbeitszimmer so schnell sie konnte.

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„Ihr wisst, was ihr zu tun habt!“ Ein Laut der Zustimmung erfüllte die Luft, ähnlich eines Grunzen und einem Seufzer. Warnend blickte sie durch die Reihen ihrer Krieger. „Leise!“ Dann gab sie ein Zeichen, woraufhin ihr alle folgten. Es war schwer von so einer Meute von Rebellen Herr zu werden und sie in ihre Schranken zu verweisen. Das Einzige, und da war sie sich todsicher, das ihr zusätzlich Autorität verlieh und half, den Auftrag auszuführen, war ihre Blaublütigkeit.
Nesma lachte in sich hinein. Ohne dieser Tatsache und ihrem Selbstbewusstsein, wäre sie der Rolle der Anführerin unter Männern nicht gewachsen gewesen. Aber sie musste sich jetzt konzentrieren. Lautlos bewegten sie sich, abgestimmt als wären sie ein einziges Wesen, durch das Unterholz. Alle Krieger der fünfzig Mann starken Gruppe hatten gewusst, dass dieser Tag kommen würde. Endlich die verdiente Rache nehmen zu können. „Warum schneidest du so eine Grimasse, Nesma?“ Einer der in schwarzen Umhängen gehüllten Männer war auf sie zugeschlichen. „Horus, ich dachte an Vergeltung und Buße.“ Damit war alles gesagt. Horus kannte sie zu gut, um auf eine weitere Erklärung zu hoffen und wandte sich, wie elektrisiert, im Einklang mit den anderen um. Er konnte ihre Auren spüren, pulsierend und so absonderlich, dass sie sich in ihrer Vermutung nicht täuschen konnten. Angriff!

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Es war plötzlich totenstill geworden. Kein Vogel traute sich mehr, seine Stimme zu erheben, keine Eichhörnchen, die über das Astwerk turnten. Als würde sich die ganze Lebensenergie des Waldes irgendwo sammeln, um sich dann in einer Explosion zu entladen. Bei dem Gedanken wurde ihr ganz unwohl. Shayia blickte sich um und sah Marus rechts und Naab links von ihr auf die Fläche zupirschen, aus der die Geräusche kamen. Einzelne Sträucher streiften ihre Hände und Füße, Dornen zogen unermüdlich an ihrem Kleid und kurz darauf strich sie gegen den Stamm eines Baumes. Auf einmal war es, als könnte sie spüren, wie der Baum immer schwächer wurde. Sie blieb stehen und fühlte seine harte, krustenartige Rinde unter ihren Fingerspitzen. Neugierig geworden, bat sie seine Seele um Einlass. Ohne Vorwarnung riss es sie von den Beinen, aber das merkte sie längst nicht mehr, denn sie war schon in dessen Bewusstsein (im weitesten Sinn) eingetaucht. Es fühlte sich an, wie in einem Tunnel zu stehen. Zu beiden Enden brannte Licht, nur dort wo sie sich befand war es nur spärlich beleuchtet. Schwarz war die vorherrschende Farbe. Kaum hatte sie sich von dem Umgebungswechsel erholt, drängte sie wieder in eine Richtung. Es war wie eine Aufforderung. Etwas zog und zerrte sie auf das eine Licht am Ende des Tunnels zu. Unaufhörlich flog sie durch die Dunkelheit, wobei sich das Licht nicht näherte und sie nicht von der Stelle zu kommen schien. Wäre da nicht der Wind, der angenehm ihr Gesicht liebkoste. Mit einem Mal verschwand er und an diesem Zeichen erkannte sie, dass sie angekommen sein musste. Das satte Schwarz um sie herum begann zu verblassen und ein angsteinflößendes Bild zeigte sich ihr. Dunkle vermummte Gestalten schlichen durch das Dickicht. Das müssen die Krieger sein, die sie gehört hatten. Sie musste unbedingt zu den anderen, um es ihnen zu sagen, aber der Baum gab sie nicht frei. Sie spürte, wie unter ihren Füßen etwas dahinfloss, aber es war nicht nass. Shayia fühlte sich mit jedem Augenblick ausgeruhter und lebendiger als zuvor. Das musste die Lebensenergie sein, die sie gespürt hatte. Forschend blickte sie noch einmal auf die Krieger auf. Wie bitte? Aufblicken? Erst jetzt merkte sie, dass sie die ganze Szene von unten betrachtete, weshalb ihr alles so groß vorkam. Sie musste … die Wurzeln des Baumes! Entsetzt über die Entwicklung wandte sie ihren Kopf ab, entschlossen zurückzukehren, stampfte sie gegen die Stromrichtung des Lebensflusses. Wenn ihr ihre Magie schon nicht half, konnte sie wenigstens versuchen mit ihrer Kraft weiterzukommen. Sie waren schon so nah an dem Feind, sie konnte nicht zulassen, dass ihren beiden Gefährten etwas passierte.
Aber warum verlor das Gehölz so viel Energie? Wer wollte sie? Es konnte auf jeden Fall nichts Gutes bedeuten. Mit einem Satz sprang sie in die Luft… nein,… der Boden war plötzlich weg.

„Shayia?“ Naab kniete besorgt neben ihr, während Marus Ausschau hielt. „Was war los?“
Nach einem kurzen Augenblick des Schweigens und der Verarbeitung kam sie zum dem Schluss, dass sie es genauso erzählen sollte, wie es war.

Nachdem sie geendet hatte, und das war sehr bald, denn sie wusste wie nahe die Krieger schon waren, sah Naab sie nachdenklich an. Marus hingegen wirkte verstört und schien mit sich selbst zu ringen. „Ist alles in Ordnung?“, fragte Shayia vorsichtig. Marus schüttelte den Kopf: „Nein“
Naab sah ihn jetzt auch an. Vermutlich war er zu keinem Schluss gekommen. „Was weißt du?“, fragte Naab überraschend zornig.
Bei dem Gedanken, was Naab alles über Marus nicht wusste, lief es ihr kalt den Rücken hinunter. Marus zögerte einen Moment, als würde er mit sich selbst ringen, dann wandte er sich ihnen ganz zu und seufzte. Sein Gesichtsausdruck ließ alle Hoffnung im Keim ersticken. Sie waren verloren!
„Assassine“

Krieger des Lichts


25. Kapitel

Aus den langen Schatten brachen Gestalten mit gezückten Schwertern hervor und überraschten eine Meute rastender Dämonenkrieger. Überrumpelt von ihrem plötzlichen Erscheinen sprangen die wenigen Wachen auf, um sich zu verteidigen. Tänzelnd schlugen die Assassine Furchen in die Reihen und außer den wenigen kurzen Schreien der sterbenden Krieger, war kein Laut zu vernehmen. Nesma stieß ihr Kurzschwert präzise durch die leichte Rüstung ihres Gegners und bohrte es direkt in sein Herz. Mit vor Schrecken geweiteten Augen ging er in die Knie und sackte dann tot am Boden zusammen. Es war kein angenehmer Beruf, aber Nesma hatte keine Wahl gehabt. Das Töten war ihr eine müßige Pflicht geworden und nach hunderten von Toten registrierte sie kein einziges Gesicht mehr. Dennoch konnte sie jeden Windhauch spüren, der einen nahen Todesstoß ankündigte und wich genauso einstudiert und präzise aus, wie ein Tänzer, der in seiner Choreografie blieb.
Etwas irritiert drehte sie sich nur wenige Minuten später um. Alle hatten ihr Leben gelassen - nur noch ihre Männer standen. Genauso verblüfft betrachteten sie die Toten. Es war viel zu leicht gewesen. Etwas musste faul sein. Nesma suchte angestrengt nach ihren Auren. Sie müssten hier sein! Was hatten sie falsch gemacht? Einen Gedankenruf später löste sich Horus aus seiner Versteinerung und kam auf sie zugelaufen. „Spürst du sie?“, flüsterte sie ganz leise. Warum waren sie darauf nicht vorbereitet gewesen? Und was zum heiligen Antario geschah hier? Sie hätte ihre Männer besser auf die Situation vorbereiten müssen. Wenn dies nun eine Falle war? Nicht, dass dies hier ihr Grab wurde. Aber sie hatte sie so deutlich gespürt, waren ihnen schon so nahe.

Es war alles Marus Idee gewesen. Durch die Sträucher zu brechen und anzugreifen. An sich war Angriff immer die beste Verteidigung, aber damit hatten sie ganz bestimmt nicht gerechnet.
Nichts. Nada. Wald.
„Aber du sagest doch, dass du sie gesehen hast!“, warf ihr Naab vor. Er stand angespannt neben ihr und beobachtete die Umgebung. Es hatte sich nichts verändert. Hier war niemand außer ihnen.
„Und du hast sie doch auch gehört! Wir alle haben sie gehört. Sie sind hier!“, fauchte Shayia und starrte ihn verbissen an. Ach, war jetzt alles gelogen?
Marus sah sich unsicher um, wie Naab es schon die ganze Zeit tat, aber in seinem Gesicht konnte sie keine Spur von Anklage oder Verurteilung erkennen. Er war nur besorgt. „Seid leise! Ihr beide“, schalt er und hob beschwörend und angestrengt nachdenkend den Zeigefinger an die Lippen. Jetzt konnte sie es auch hören. Atemzüge. Sehr viele. Sie waren noch hier.
Idiot, dachte sie selbstanklagend und hob den Bogen auf Schulterhöhe. Sollten sie nur kommen. „Beim besten Willen, ich hör hier nichts. Was…“, sagte Naab zweifelnd, wurde aber von Marus unterbrochen, der ihn jetzt mit einem furchteinflößenden Blick anstarrte. Wie konnten sie nur vergessen, dass Naab nicht die gleichen Gaben besaß wie sie beide. Sie drehte sich leicht zu ihm um und zeigte an die Stelle, wo sie die Assassinen vermutete, aber es blieb ihr keine Zeit mehr, sich auf einen Angriff vorzubereiten.

Es war wie eine leichte Brise im Sommer, wenn die Bäume begannen zu rascheln und sich wieder beruhigten. Aber jetzt standen sie Rücken an Rücken gedrängt, umzingelt von mindestens zwei duzend Mörder, die nichts mehr verlangten als ihren Tod. Das dachte Shayia zumindest, als sie die vor Blut triefenden Schwerter und Dolche sah.
Einer von ihnen trat hervor und streifte seine schwarze Kapuze zurück. Verwirrt über den plötzlichen Wandel der Gefühle, die die dunklen Krieger ausstrahlten, fixierten ihn alle drei mit ihren Blicken, wobei Marus sein Schwert noch immer schützend vor sich hielt und Naab den Schaft des seinigen so stark umklammerte, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Keiner sprach ein Wort. Die bedrückende Erkenntnis schlug ihnen ein Loch in die Mägen und stopfte ihre Münder, so dass kein Laut entweichen konnte. Der große Assassine hob den Kopf und sah Shayia direkt in die Augen. Er musste der Anführer sein, war ihr erster Gedanke. Wenn sie ihn tötete, dann würden die Restlichen vielleicht kurz zögern. Und so zog sie in weniger als einem Augenblick die Bogensehne zu sich heran und spannte sie auf das Unerträglichste. Sie hatte keinen Schimmer, was sie tun musste um ihn zu treffen, aber das war ihr in diesem Moment egal. Plötzlich schob sich vor den Mann mit den kurzen, schlohweißen Haaren eine andere schwarz vermummte Gestalt. Sie war kleiner und zierlicher, hielt Shayia jedoch in keiner Weise davon ab, sie anzuvisieren.
Aber als sie ihre Kapuze ebenfalls zurückstreifte, krampfte sich Shayias Herz so sehr zusammen, dass sie den Bogen willenlos sinken ließ. Dies konnte nur eine Sinnestäuschung sein. Tränen stiegen ihr in die Augen. Seit wann foltern Assassinen ihre Opfer? Es hieß immer, sie brächten den schnellsten Tod.
Oder hatte sie jemand aus den Reihen schon längst getötet, wie sonst würde sie einen Engel vor sich stehen sehen. Der Schmerz in ihrem Herzen ließ nicht nach und ihre nassen Wimpern und Wangen zeugten von ihrer Menschlichkeit und Lebendigkeit wie auch noch Sekunden zuvor.
Sie konnte ganz deutlich spüren, wie ihre Gefährten ebenfalls die Verteidigung aufgaben.
„Seid Ihr es wirklich?“, fragte Shayia vorsichtig. Es hörte sich unnatürlich laut an in diesem stillen Wald, aber die Prinzessin spürte sich selbst nicht mehr. Wer scherte sich schon um die Lautstärke ihrer Stimme.
„Ich fürchte, wen du erwartest, werden wir beide erst wieder im Himmel begegnen. Aber ich kann dich trösten. Ich bin ein Teil deiner Familie.“
Der Klang von Nesmas Stimme erinnerte sie wieder an die lebendigen Fotografien Adras. Sie könnte ihre Verwandtschaft niemals abstreiten.
„Wer seid Ihr?“, war Shayias nächste Frage. Nesma lächelte und kam auf sie zu. Erstarrt blickte sie in das wunderschöne Gesicht und nun, ohne Tränen in den Augen, erkannte sie die Merkmale, die ihre Mutter nicht besaß. „Leider habe ich es versäumt, dir beim Wachsen zuzusehen. Die Welt ist im Wandel. Wir sind nicht mehr, wer wir waren.“ Sie sahen sich gegenseitig neugierig an. „Ich verstehe nicht, wie…“, begann Shayia, wurde aber durch Nesma unterbrochen. „Bald werden wir uns wiedersehen und in naher Zukunft, so glaub mir, vereinen sich die Welten durch deine Hand. Alles wird anders werden, nur sei gewiss, wir werden immer über dich wachen. Lebt wohl, Prinzessin Shayia!“
„Bitte, wartet! Ich will alles erfahren. Könnt ihr nicht noch bleiben?“
-„Leider ist es uns nicht gestattet, in eurer Welt lange zu verweilen. Unsere Anwesenheit wird schnell bemerkt. Es tut mir leid.“
„Aber wer hat es euch verboten? Ich kann mir nicht vorstellen, dass...“
„Der König höchstpersönlich.“, sagte Nesma und klang besorgt. Ihr Blick fixierte Shayia und wartete auf ihre Reaktion.
„Welcher….nein…ich meine…ihr seid mein Fleisch und Blut…das kann er nicht. Wieso? Bleib bitte! Nur noch ein paar Augenblicke! Ihr seid die ersten Engel, die ich jemals getroffen habe. Bitte…“, flehte sie, war jedoch nicht sehr zuversichtlich. Horus schritt auf Nesma zu, zweifelnd wollte er sie an ihre Situation erinnern. Der Engel hob beschwörend die Hand und gebot ihm, stehen zu bleiben. Seufzend atmete sie aus und sah Shayia direkt in die Augen.
„Es tut mir weh, dich so zu sehen. Ohne jede Kenntnis deiner Vorgeschichte oder die deiner Ahnen. Ohne dem Wissen, dass es so viel mehr gibt auf der Welt, als du dir jemals vorstellen kannst. Wenn deine Mutter dich jetzt sehen könnte, dann…“, bedauerte Nesma, aber Horus legte ihr die Hand auf die Schulter. „Es ist spät. Wir müssen wieder los.“ Dann wandte er sich ab und schloss sich den anderen an. Er schien den zweithöchsten Rang in der Gruppe zu besitzen.
„Was hätte sie gesagt? Wie gut kanntest du sie?“ Shayias Herz klopfte wie wild. Sie konnte spüren, dass alle Antworten auf ihre Fragen greifbar nah waren.
Nesmas Blick haftete kurz an ihren Männern, ruhte aber gleich darauf wieder auf ihrer Nichte. „Sie wäre sehr enttäuscht gewesen. Es war immer ihr größter Wunsch, dich in einer heilen Welt aufwachsen zu sehen. In einer Welt, wo Licht- und Erdenwesen gemeinsam in Frieden leben können. Die heutige Welt hätte ihr wohl schneller den Atem genommen, als ihr eigentlicher Tod. Oder es hätte durch ihre Hand vieles verhindert werden können. Niemand kann das wissen…und für uns ist es nicht mehr relevant. Vergangen ist vergangen.“
Sie sog Luft flach ein, dann schloss sie kurz angestrengt die Augen.
„Was ist mit ihr?“ Shayia reagierte unterbewusst, schnell und ohne nachzudenken. Horus Reaktion war einstudierter. Er fuhr herum, seine ganze mächtige Gestalt verschwamm für einige Augenblicke, als er sich neben der Anführerin wieder fand. Erschrocken wich die Prinzessin zurück, Naab schien genauso geschockt zu sein wie sie, während Marus alles aus einer gewissen emotionalen Distanz betrachtete. „Es ist nichts Bedrohliches. Sie spürt andere durch ihre magiegetränkten Auren auf. Und spürt wenn jemand nach der Ihren tastet. Wir sind schon viel zu lange hier. Es kann sehr gefährlich für uns sein!“
Nachdem Nesma sich wieder aufgerichtet und entspannt hatte, wandte sie sich ein letztes Mal an Shayia. Sie wusste, dass sie längst entdeckt waren und mussten schleunigst verschwinden. All ihre Hoffnung konzentrierte sich nun auf die Prinzessin. Sie könnte die Welt wieder gerade richten, wieder alles in Ordnung bringen.
„Nichts ist mir wichtiger als deine Sicherheit. Von nun an kannst du auf mich zählen, Nichte.“
„Sie sind Shayias Tante?“, fragte Naab erstaunt und traute sich nun wieder, seine Stimme so laut zu erheben, dass auch ungeübte und nicht magische Ohren ihn vernehmen konnten.
„In unserer Welt nennt man das Lichtpate, aber du hast Recht. Ich bin Nesma, ihre Tante und somit Selinas Schwester. Gelobt sei ihr Leben!“
Ohne eine Reaktion abzuwarten, trat sie zu Nesma und umarmte sie. Überglücklich endlich ein Mitglied ihrer Familie mütterlicherseits gefunden zu haben. Sie wusste, dass diese Begegnung vielleicht ein Einzelfall bleiben würde, jedoch nahm sie diese Tatsache nicht bewusst war. Ihr Denken schien diese traurige Gewissheit zu verdrängen, um ihr wenigstens ein paar Momente des Glücks zu schenken, die so zahlreich in ihrem Leben waren, wie Schneeflocken in einem Vulkan bestanden. Alles war gesagt und ihre Zeit aufgebraucht. Nicht nur sie konnte es spüren. Auch Naab und Marus wurden ungeduldig. Als sie sich aus Nesmas Armen löste, bemerkte sie einen kleinen Kristall, der sich den Weg über ihre Wange bahnte. Als ihre Tante dies bemerkte, schenkte sie ihr noch ein entschuldigendes Lächeln, bevor sie sich zu Horus umwandte und aus ihrer Welt vielleicht für immer verschwand. Nur allzu zögerlich ließen Naab und Marus ihre Waffen sinken, da sie noch immer Blicke auf sich spürten. Dieses Gefühl hatte auch Shayia, aber es war eines von vielen, die sie jetzt quälten. Diesmal, das schwor sie sich, würde sie nicht zusammenbrechen. Diese Blöße würde sie sich nicht geben, schon gar nicht, da sie jetzt auf sich allein gestellt waren.
Angestrengt durchforstete sie ihre Gedanken, ihre Erinnerungen, um sagen zu können, was jetzt zu tun war. Nun lag es an ihr, sich zu beweisen. „Naab? Marus? Es wird Zeit für einen ausgereiften Plan und dafür brauche ich euch beide gleichermaßen.“ Sie schlossen zu ihr auf und Marus nickte, während Naab ihn nur abschätzend betrachtete. „Wir müssen eine Einheit sein, auch wenn euch das nicht Recht ist. Sonst brauchen wir gar nicht aufzubrechen.“ Naab sah sie gequält an, stimmte ihr aber nach wenigen Augenblicken zu.
„Aber soweit ich mich erinnere, Prinzessin, sind wir schon lange zuvor aufgebrochen. Wir sind schon mittendrin, nur wissen wir noch nicht genau, wie es weitergehen soll.“ Marus lächelte sie an.
„Sag mal, hab ich irgendwas nicht mitbekommen? Du redest von wir, wir, wir. Ich wüsste nicht, dass wir jemals beschlossen haben dir zu vertrauen. Oder,“ Naab stieß einen verächtlichen Laut aus, “hattet ihr schon eine geheime Unterredung, während ich geschlafen habe?“ Er lachte. Marus und Shayia sahen sich an und sie gab ihm zu verstehen, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt dafür war. Marus hingegen übersah ihre Mahnung gänzlich und wandte sich um. „Du wirst es nicht für möglich halten, aber genau dies war der Fall. Vertrauen ist ein viel zu kostbares Gut, als dass man es an irgendjemanden verschenkt. Prinzessin Shayia wird wohl gut genug wissen, wer würdig dafür ist. Und wer es nicht zu schätzen weiß.“
„Wie kannst du es wagen, du…“ Naabs Gesicht war nur noch eine Fingerbreite von dem des Dämons entfernt und seine Farbe begann sich ins rötliche zu verändern.
„Ihr Streithähne! Hört sofort auf damit, oder ihr könnt beide hierbleiben und ich reite alleine weiter!“ Shayias Drohung schien zu wirken. Beide holten tief Luft, wandten sich ihr wieder zu und schwiegen.
„Wir haben ein Ziel. Jetzt brauchen wir nur noch Mittel und Wege, es zu erreichen.“ Sie wandte sich an den Dämonenprinz.
„Soweit ich weiß, werden Pr… ich meine Personen mit deinem Rang besonders gut ausgebildet. Das fehlt uns fast gänzlich. Welche Art von Unterricht hast du genossen, bevor du zu uns gestoßen bist?“ Naab wandte sich erstaunt Marus zu und setzte zu einer frechen Bemerkung an, gab es nach einem kurzen Blickwechsel mit Shayia wieder auf. Gespannt wartete er auf Marus Erklärung.
„Ähm, ja. Mit Magie? Oder meinst du im Kampf?“
„Ich denke, wir werden beides brauchen. Für Naab sind magische Kämpfe sicher auch nicht uninteressant. Beginnen sollten wir aber mit der Kampfausbildung.“
„Beginnen, Prinzessin? Wie?“ Verwirrt sah er sie an.
„Du sollst es uns lehren.“
„Jetzt sofort?“ Seine verdutzte Miene brachte sogar Naab zum Schmunzeln, der sich nun eine Antwort nicht mehr verkneifen konnte: „Junge, haben sie dein Gehirn am Käsebasar ersteigert?“
„Ihr könnt doch reiten, oder nicht?“, fragte Marus einige Zeit später vorsichtig. „Nein, ich bin auf fliegenden Schweinen aus dem Schloss geflohen. Natürlich kann ich reiten!“ Shayia verdrehte übertrieben die Augen und gab damit Naab neuen Grund, über den Dämon zu spotten. Dieser wirkte noch ganz gelassen, als er ihr in den Sattel half. „Es ist nur so, Prinzessin, ich habe euch nie selbst reiten gesehen!“
Shayia lachte. „Mein Lieber, Sie sollten aufhören, mich in dieser hochgestochenen Art und Weise anzusprechen. Meine Wenigkeit fühlt sich dadurch um Jahrzehnte gealtert.“ Lachend gab sie Goliath die Sporen und ritt in den Wald hinein.

Epilog: Der Beginn des Endes


26.Kapitel

Langsam aber doch hielt der Winter Einzug in Ceartly Branch, auch wenn vor den Fenstern des Schlosses der Wind noch seine Spiele mit den alten, rotgetränkten Blättern trieb. Ab und an ließ er von ihnen ab und sie glitten friedlich zu Boden, erschöpft, bevor die nicht ruhen wollende Naturgewalt zurückkehrte und sie weiterjagte. Es war einer dieser Tage, an denen Quinn sich am liebsten in ihrem Bett verkrochen hätte. Nur widerwillig wandte sie sich ihren täglichen Aufgaben zu, was unter anderem auch damit zu tun hatte, dass eine merkwürdig drückende und dunkle Stimmung in den Mauern des Palastes herrschte.

Der König war seit einigen Tagen an starkem Fieber erkrankt und ihre Mutter ging stundenlang in den Fluren umher und dachte angestrengt nach. Erst gestern hatte sie von einer Hofdame gehört, dass Herlana in einem ihrer Zornausbrüche die vererbten Vasen und Gläser aus den Schränken gerissen und zu Boden geschleudert hatte. Niemand war in ihre Nähe gekommen, bis sie ganz plötzlich wieder froher Laune war.

Nichts konnte in dieser Familie normal laufen. Ihre eigene Mutter sagte ihr nicht, was in ihr vorging und dem niederen Volk zu glauben, war einfach zu lächerlich als dass Quinn es überhaupt in Erwägung zog. Sie konnte sich schon vorstellen, welcher Punkt Herlanas Überlegungen ihr wohl ein Schmunzeln ins Gesicht gezaubert hatte und das war wohl nicht die baldige Genesung Maurens. Soweit war sie auf der Seite ihrer Mutter. Sollte der alte Trottel in seinem Bett zu Grunde gehen, sie wären ja doch besser ohne ihn dran.

Bei solch dunklen Gedanken, war ein kurzer Gewissensbiss normal. Aber was hatte sie ihm jemals bedeutet? Nichts. Einfach gar nichts. Keines seiner Worte spendete ihr jemals Trost oder Geborgenheit und eigentlich war er ganz allein daran schuld, was aus ihr geworden war. Ihre übertriebene Eitelkeit ließ sich doch ganz logisch darauf zurückführen, dass er ihr lieber schöne Kleider als eine schöne Kindheit schenkte. Obwohl, für eines musste sie ihm wohl einmal an seinem Grabmal danken. Die Erziehung durch Lady Sierra hatte sie erst zu der gemacht, die sie heute war. Nur sie zeigte ihr, welche massiven Unterschiede es zwischen dem adeligen Blut und Evelunas gab und wie sehr man aufpassen musste, um nicht durch die Berührung mit dem gemeinen Volk von irgendwelchen Krankheiten befallen zu werden. Wie abartig die gleiche Luft atmen zu müssen.

Sollte sich Quinns Verhalten nicht drastisch ändern, würde sie wohl bald mit der Nase in den Wolken stolzieren. Sie jedoch fand, dass genau solche Eigenschaften eine Königin auszeichneten. Die Grenzen zwischen ihr und den Untertanen. Eines störte sie aber noch mehr und das war ihre Stiefschwester Shayia. In ihrem ganzen Leben hatte sie vielleicht drei oder vier Wörter mit ihr gewechselt und dennoch gehrte ein unbeschreiblicher Hass in ihr. Diese eingebildete Eveluna konnte sich herausnehmen, zu kommen und zu gehen, wann sie wollte, ihre Ausbildung abzubrechen und sich mit einem Verbannten zusammenzuschließen und noch immer in der Gunst des Königs weit über ihr zu stehen. Was zum heiligen Antario machte sie falsch? Da sprach er immer von gerechter Vaterliebe, obwohl sie nicht sein Fleisch und Blut war und dann spaltete er ihre Rechte erst wieder so auf, dass Shayia tun und lassen konnte, was sie wollte. Zorn flackerte in ihren Augen auf. Quinn schlug die massive Kastentür so stark es ging zu. Ihre Wut verrauchte langsam mit jedem Atemzug. Etwas musste sie doch ändern können.

Während sie sich noch die Feinheiten an ihrem Kleid richtete und das letzte Band um ihren Rumpf schnürte, versank sie immer tiefer in Anklagen und Verteufelungen gegen ihre Stiefschwester und härteste Konkurrentin um die Thronfolge, zumindest was ihre eigene Ansicht betraf.

Aber was die Absicht ihrer Mutter anlangte, so würde sie nie auch nur einen Zentimeter des Throns betreten dürfen, denn sie beanspruchte ihn für sich selbst. Sollte der König sterben, und damit rechnete sie felsenfest, so würde sie die nächste sein. Wie lange hatte sie schon auf die Königswürde gewartet? Jahrhunderte an Knochenarbeit und endlich war sie ihrem Ziel so nah wie nie zuvor. Ein langes Leben hatte doch ihre Vorteile und einer war auf jeden Fall den König zu überleben.

Ein paar Zimmer weiter saß die Königin schon an ihrem Schreibpult und klopfte nervös mit ihren langen Nägeln auf das Holz. Da war etwas. Sie übersah es die ganze Zeit. Irgendetwas stimmte in Ceartly Branch nicht.

Ein Klopfen an der Tür riss sie aus ihren Überlegungen. „Ja?“. Langsam öffnete sie sich einen Spalt und eine zierliche Dienstmagd lugte hinein. „Hoheit, der Arzt ist jetzt hier“ Sie machte einen tiefen Hofknicks, bevor sie wieder aufschaute und auf eine Antwort Herlanas wartete. Fahrig wandte sie sich um und strafte sie mit einem Blick voller Hass. „Was interessiert mich das?“ Die zierliche Gestalt fuhr bei ihrer plötzlichen ärgerlichen Erwiderung zusammen. „Er hat nach euch gerufen, Majestät!“, flüsterte sie verängstigt. Hm, entweder sein Zustand hatte sich soweit gebessert, dass der Arzt es für mitteilungswürdig empfand und abreiste, oder es gab schlimme Nachrichten. Ein Funke Hoffnung flackerte in ihrer Seele auf und jagte einen warmen Schauer über ihre Haut. Es war wohl soweit.
„Geh und richte aus, dass ich gleich komme, mein Kind!“ Herlanas Gesicht strahlte ihr lächelnd entgegen. Das war wohl fürchterlicher, als von ihr angeschrien zu werden, denn die Magd starrte ihre Herrscherin erschrocken an, bevor sie die Tür wieder schloss und ihre schnellen Schritte immer leiser auf dem marmornen Boden verhallten.

Die Königin wandte sich wieder ihrem Schreiben zu. Bevor sie sich den Kopf noch länger über ein eigenartiges Gefühl zerbrach, konnte sie ja ihren Bericht schreiben. Dank der kurzen Störung wurde sie wieder an ihre Pflichten gegenüber ihrer Familie erinnert. Er wartete doch immer schon so ungeduldig darauf.

Sie lächelte in sich hinein. Wie nah das Ziel nun schon war. Ein wahnsinniges Lachen entfuhr ihrer Kehle, unbewusst wohl und aufgeregt zu gleich. Es wird ihn freuen zu hören, dass der König in so schlechter Verfassung ist. Herlana zog ein Stück Pergament aus einer Schublade und tunkte ihre Schreibfeder in etwas Tinte. Dann begann sie zu schreiben. Jede Bewegung innerhalb der Schlossmauern wurde von ihr aufgezeichnet und auch wenn man es nicht merkte, sie sah alles: wie viel Vorrat eingekauft wurde, welche Waffen der Schmid brachte, welche Strategien die Generäle austüftelten. All das hielt sie fein säuberlich aufgelistet fest und am Ende des Tages war es schon in die feindlichen Provinzen unterwegs. Blindheit ist der Guten Strafe. Naivität wohl das Los eines Volkes, dass nichts zu verteidigen hat. Wenn sie es ihnen so leicht machen, warum nicht? Ihre gute Laune war Herlana heute selbst unheimlich.

Einen Augenblick später war die freudige Erwartung aus ihren Augen einem vereisten Blick gewichen. Ihre innere Warnglocke läutete ziemlich laut. Da war jemand. Jemand unerwünschtes. In ihrem Reich. Es war in letzter Zeit immer öfter der Fall, dass ein unheimliches Gefühl in ihrem Bauch ausbreitete.
Seit einiger Zeit spürte sie etwas, dass ihr einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Ein Umschwung in der magischen Aura ihres Reiches. Als wäre jemand eingedrungen, der hier nichts zu suchen hätte. Ein Feind.

Sie schluckte schwer, als die Erkenntnis ihr ein Loch in die Lunge schlug. Das konnte nicht die Wahrheit sein. Das konnte einfach nicht jetzt passieren! Was sollte sie nur tun? Mit ihrem so nicht-magischen und schwachen Heer war es ihr nicht möglich, auch nur einen Tag gegen diese lichtgetränkten Bastarde von Engeln zu bestehen. Was zum verdammten Daltja wollten sie nur hier? Ein Krieg wäre auf jeden Fall nicht in ihrem Ermessen, immerhin waren sie doch die Guten. Die mit der reinen Weste.
Ganz konnte sie damit ihre Angst nicht ersticken.

Sie setzte die Feder auf ein neues Pergament, tiefe Furchen kratzend schrieb sie schnell und nicht ganz so sauber wie zuvor. Furcht wuchs in ihr heran. Ein ungewöhnliches Gefühl, war sie doch üblicherweise auf der sicheren Seite. Zweifelnd biss sie sich auf die vollen Lippen. Es gab nur eine Möglichkeit. Sicherheit gab ihr eine Armee, die allen anderen überlegen war. Ein Felsen in der Brandung. So viele kannte sie in diesem Zusammenhang nicht. Eigentlich gab es sowieso nur einen.

Harloc.

Impressum

Texte: Alle Texte von Linda Seklehner
Bildmaterialien: Coverillustration von Linda Seklehner
Tag der Veröffentlichung: 19.07.2011

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